Éric Vuillard – Der Krieg der Armen

Der Kabarettist Georg Schramm zitiert in seinen Programmen häufig einen der reichsten Menschen der Welt. So äußerte sich der Investor und Multimilliardär Warren Buffett im Jahr 2006 in einem Interview mit der New York Times auf folgende Art und Weise:

Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.

Warren Buffett im Interview mit Ben Stein. New York Times, 26.11.2006

Erstaunlich offene und martialische Worte, die einer der reichsten Investoren und Profiteur des Kapitalismus hier äußerte. Der Kampf zwischen Reich und Arm, er ist ein weltweites Problem. Schon jetzt besitzt circa 1 Prozent der Weltbevölkerung 44 Prozent des weltweiten Vermögens. 56 Prozent der Weltbevölkerung halten zusammen nicht einmal 1,8 Prozent des globalen Vermögens (Quelle hier). Die Satiresendung Die Anstalt brachte das Problem vor wenigen Jahren auf den eingängigen Slogan: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer mehr.

Statt in die Zukunft blickt Éric Vuillard in seinem Roman Der Krieg der Armen allerdings zurück in die Vergangenheit und findet alle Themen, die uns auch heute umtreiben. Nach dem Bastille-Drama 14. Juli ist es wie auch schon im Bestseller Die Tagesordnung nun wieder die deutsche Geschichte, die es Vuillard angetan hat. Er erzählt in seinem schmalen Büchlein, das gerade einmal 64 locker gesetzte Seiten umfasst, die Geschichte der Bauernkriege und die ihres Anführers Thomas Müntzer.

Dieter Forte - Martin Lutzer & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (Cover)

Jener Thomas Müntzer ist etwas in Vergessenheit geraten. Dieter Forte widmete dem Revolutionär 1970 das Drama Martin Luther & Thomas Müntzer oder Die Einführung der Buchhaltung. Einst ein großer Erfolg, heute jedoch kaum mehr gespielt (zuletzt etwa vor drei Jahren hier am Staatstheater Augsburg).

Doch anders als sein Widerpart Martin Luther konnte Müntzer mit seinem Wirken keine bedeutende Langzeitwirkung entfalten. Auf eine DDR-Banknote schaffte es sein Konterfei, eine Thomas Müntzer-Gesellschaft existiert. Aber hat uns sein Schaffen heute auch noch etwas zu sagen? Vuillard versucht sich in seinem Buch an einer Antwort.

Das Leben des Thomas Müntzer

Der Krieg der Armen ist ein Buch, das ein Leben auf das kleinstmögliche Format komprimiert. So beginnt alles im Leben des Thomas Müntzers mit dem Tod des Vaters.

Sein Vater war gehängt worden. Er war ins Leere gefallen wie ein Sack Körner. Man hatte ihn nachts auf den Schultern tragen müssen, er war schweigsam geblieben, den Mund voller Erde. Dann ging alles in Flammen auf. Die Eichen, die Weisen, die Flüsse, das Labkraut in den Hecken, die karge Erde, die Kirche, alles. Er war elf Jahre alt.

Vuillar, Éric: Der Krieg der Armen, S. 5

Mit der Hinrichtung des Vaters beginnt die Geschichte, mit der Hinrichtung Thomas Müntzers endet sie. Dazwischen wirft Vuillard einen Blick in die Epoche der Bauernkriege, die nicht nur in Deutschland grassierte, wie der Franzose zeigt. Ausgehend von Luthers Ermächtigung und dem Gedanken eines gütigen Gottes, dem anstelle des katholischen Klerus die Verehrung gelten sollte, griff die radikale Idee nach Freiheit um sich. Freiheit von verhassten Institutionen wie dem Klerus und dem Adel. Eine Freiheit von horrenden Abgaben und bedingungslosem Gehorsam. Und so erhoben sich in England die Bauern genauso wie in Deutschland. Sie brachten den lokalen Adel und sogar Könige in Bedrängis – und scheiterten schlussendlich.

Davon erzählt Éric Vuillard, wobei die Person Thomas Müntzer auch nur eine unter vielen ist. So interessiert ihn in diesem Roman die globale Geschichte der Aufstände deutlich mehr, als nur das Porträt eines radikalen Kämpfers zu liefern. Möchte man Der Krieg der Armen als Thomas Müntzer-Biografie lesen, würde man unweigerlich enttäuscht. Denn die komplexe Person des Thomas Müntzers durchdringt Vuillard kaum. Die widersprüchlichen Facetten dieses Reformators, Revolutionärs, Theologen und Drucker bildet das Buch nur unzureichend ab. Das Interesse Vuillards liegt auf einem anderen Aspekt der Zeit und des Wirken Münzers.

Ein Panorama der Bauernkriege

Der Franzose inszeniert sein Buch (das ohne Gattungsbezeichnung vom Verlag versehen wurde) als ein großes Panorama der Bauernkriege. Wat Tyler in England, Jan Hus in Böhmen, Müntzer in deutschen Landen. Vuillard montiert die Szenen und Geschichten atemlos aneinander. Er springt durch die Geschichte, bindet Ereignisse zusammen und erzählt von den Grausamkeiten dieser Kriege und den Hoffnungen, die zusammen mit ihren Kämpfern dann wieder begraben wurden.

Éric Vuillard - Der Krieg der Armen (Cover)

Vuillard bleibt seinem einzigartigen Stil im Guten wie im Schlechten erneut treu. Im Guten, da er interessante Querbezüge auftut, originell schreibt und Geschichte in Geschichten einfach gut vermitteln kann. Im Schlechten, da er seinen Wunsch nach stilistischer Originalität auch hier einmal mehr nicht wirklich einhegen kann. Zwar nicht so ausufernd wie im letzten Buch über den 14. Juli (das ich nach einigen Dutzend Seiten genervt zur Seite legte), aber auch hier wieder manchmal mit einer Spur zu viel. Da ist so manches Mal eine Formulierung drüber oder eine stilistische Pirouette zuviel.

Bei den gerade einmal 64 Seiten Laufzeit fällt das allerdings nicht wirklich ins Gewicht. Vielmehr ist es doch beachtlich, wie diese frankophone Schule der Espresso-Geschichtsliteratur boomt, sei es nun Jean Echenoz oder Éric Vuillard, die diese Literaturgattung pflegen. Solche Stimmen würde ich mir in der deutschen Literatur auch einmal wünschen.

Es ist ja auch für den Literaturstandort Deutschland beschämen, dass solche Aufarbeitungen unserer deutschen Geschichte aus dem Ausland kommen müssen, ehe sie breit gelesen und in den Feuilletons besprochen werden. Großes Lob an dieser Stelle wie immer auch an Nicola Denis, die diesen Roman ins Deutsche übertragen hat.


  • Éric Vuillard – Der Krieg der Armen
  • Aus dem Französischen von Nicola Denis
  • ISBN 978-3-95757-837-2 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 64 Seiten, 16,00 €
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Ein Gang ins Gericht mit sich selbst

Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe

Einmal mehr eine erstaunliche Wiederentdeckung, die dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis da gelungen ist. Susanne Kerckhoffs Berliner Briefe aus dem Jahr 1947. Ein Briefroman, der sich mit Schuld, Sühne, Verdrängung und der Frage auseinandersetzt, ob das geht: passiver Widerstand und aufrechtes Leben in einer Diktatur. Ein Roman, in dem sich in Form von Briefen seine Verfasserin und damit eine ganze Gesellschaft hinterfragt.


Betrachtet man die Nachkriegszeit und die Beschäftigung mit der Schuld der Deutschen, dann geht die Erzählung zumeist ja so: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug die Stunde Null. Verdrängung, Verleugnung und Totschweigen der Ereignisse während des Nationalsozialismus herrschten vor. Das Wirtschaftswunder brachte dem Land wieder den Aufschwung. Zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und der eigenen Schuld kam es dann aber erst durch die 68er-Bewegung und die Hinterfragung der Schuld der Eltern durch ihre Kinder und Enkel.

Der Autor Harald Jähner schreibt über jene Nachkriegszeit, die er in seinem preisgekrönten Roman Wolfszeit getauft hat:

Wo waren sie hin, die stolzen Herrenmenschen, die angeblich lieber sterben wollten, als jedwede Form von Fremdherrschaft zu erdulden? Das fragten sich nicht nur die Besatzer, sondern auch die Deutschen selbst. Die meisten hatten ihre Führertreue mit einem Schlage eingestellt. Sie knippsten ihre ehernen Überzeugungn wie mit einem Schalter aus – und die Vergangenheit gleich mit. Wie sonst hätte jemand keine zwei Jahre nach Kriegsende auf die irre Idee kommen können, zu fragen, warum eigentlich niemand auf der Welt die Deutschen so richtigen leiden könne? „Was macht den Deutschen in der Welt so unbeliebt?“ überlegte tatsächlich im Januar 1947 die Zeitschrift „Der Standpunkt“, als hätte es den Krieg nie gegeben.

Jähner, Harald: Wolfszeit, S. 375

Eine vergessene Autorin wird wiederentdeckt

Doch dass es nicht alle Deutschen mit Verdrängung und Verleugnung bewenden lassen wollten, davon zeugt der Briefroman von Susanne Kerckhoff. Er zeigt eine Deutsche, die sich in Form eines Briefwechsels mit einem emigrierten Freund selbst hinterfragt. Sie geht mit sich selbst ins Gericht – und zeigt eine durchaus schizophrene Gesellschaft. Und das schon im Jahr 1948, zwanzig Jahre vor der Zäsur 68. Ein erstaunliches Buch.

Susanne Kerckhoff - Berliner Briefe (Cover)

Dabei ist schon das Schicksal seiner Autorin außergewöhnlich. Die 1918 geborene Susanne Kerckhoff schloss sich schon zu Schulzeiten der Sozialistischen Arbeiterjugend an, begann ab 1935 zu schreiben (zu Beginn noch weitestgehend unpolitische Prosa) und wurde 1937 Mitglied der Reichsschrifttumkammer. Nach dem Krieg trat sie in die SPD ein, trennte sich von ihrem Mann und den Kindern und wurde 1948 Mitglied der SED. Zugleich erschienen in diesem Jahr auch ihre Berliner Briefe. Ein Jahr später macht sie als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung Karriere. Nach publizistischen und ideologischen Debatten und sinkendem Rückhalt durch die SED-Regierung beging Kerckhoff 1950 schließlich Suizid. Ihr Grab befindet sich auf dem Berliner Waldfriedhof Grünau.

Ihr schriftstellerisches und lyrisches Werk fiel mehr oder minder dem Vergessen anheim, obwohl Monica Melchert und Ines Geipel schon lange für eine Wiederentdeckung dieser Autorin kämpften, wie Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort schreibt. Er hat nun im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis den Versuch unternommen, dieses Buch abermals einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Mit Erfolg, wie auch die Debatte im Literarischen Quartett nun zeigt.

Eine erstaunliche Selbstbefragung

Dass dieses Buch so erstaunlich ist, liegt auch darin begründet, dass es dem altbekannten Narrativ von einer gesamtgesellschaftlichen Verdrängung so offensichtlich widerspricht. Denn wie Susanne Kerckhoff hier mit ihrer Briefeschreiberin Helene und dem ganzen Land ins Gericht geht, und das schon drei Jahre nach Kriegsende, das erstaunt doch sehr. Unbarmherzig befragt sich die junge Frau selbst, indem sie 13 Briefe an Hans schriebt. Dieser hat das Land verlassen – und Helene legt ihm nun die Gründe für ihren Verbleib in Deutschland und die momentane Lage dar.

Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen: der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besigtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:

„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden! „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden! „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (…)

Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten“

Kerckhoff, Susanne – Berliner Briefe, S. 15f

Ihre Schilderungen der Nachkriegsgesellschaft, die Abwesenheit von Schuld- und Sühnebereitschaft, das beeindruckt. Ein wichtiges Zeitdokument, dass der Stunde-Null Erzählung leise, aber umso entschiedener widerspricht. Eine wirkliche Wiederentdeckung, die zurecht in den Medien nun vielfältiges Echo erfährt. Zudem noch ausnehmend toll gestaltet – so wie alle Bücher dieses Verlags.


Informationen zum Buch

  • Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe
  • Herausgegeben von Peter Graf
  • ISBN: 978-3-946990-36-9
  • Erschienen im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
  • 120 Seiten, 20,00 €
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Nazis in Amerika

Ulla Lenze – Der Empfänger

Romane über den Zweiten Weltkrieg, besonders über die Deutschen und ihr Tun und Treiben gibt es wie Sand am Meer. Mal sind sie besser, mal sind sie etwas überflüssiger. Ulla Lenze gelingt es nun allerdings in ihrem Roman „Der Empfänger“, dem Thema des Zweiten Weltkriegs eine wirklich neue Facette abzuringen und einen ganz eigenen Blick auf die Thematik zu werfen. Sie erzählt von einem Deutschen, der sich im Geflecht der deutschen Abwehr in Amerika verstrickt. Ein Buch über Nazis in Amerika und die Frage, wie man vom Mitläufer zum Täter wird.


Ulla Lenze ist eine weitgereiste Schriftstellerin. So war sie schon Stadtschreiberin in Damaskus und wurde mit einem Arbeitsstipendium der Konrad Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Vor vier Jahren bekam sie den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft für ihr Gesamtwerk zugesprochen, das fünf Romane und zahlreiche Aufsätze und Beiträgei in Anthologien umfasst. Das jüngste Werk in ihrem Schaffen ist nun der Roman Der Empfänger. Ein Buch, das den Blick über den großen Teich wagt und von einem Einwanderer und dessen Verstrickung in die Arbeit der Deutschen Abwehr zu Zeiten des Dritten Reichs erzählt.

Die Geschichte des Josef Klein

Ihr Protagonist heißt Josef Klein, ebenso wie Lenzes eigener Großonkel. Im Vorwort stellt sie allerdings fest:

Dieses Buch ist ein Roman. Obowohl ich die Lebensgeschichte meines Großonkels Josef Klein zu großen Teilen verarbeitet habe, ist die literarische Figur Josef Klein meine Erfindung.

Lenze, Ulla: Der Empfänger

Sein Leben erzählt Lenze achronologisch springend in mehrere Teile fragmentarisiert. So erleben wir gleich zu Beginn Josef Klein alias Don José im Jahr 1953 auf Costa Rica, wohin er über Belgien und Casablanca geflüchtet ist. Dann führt uns die Autorin zurück ins Jah 1925, als Klein als Einwanderer ins „Gelobte Land“ Amerika kam. Sein Leben in Harlem im Moloch New York ist anschließend genauso Thema wie sein Aufenthalt bei seinem Bruder in der Nachkriegszeit 1949 in Neuss.

Vieles wird zunächst im Buch nur skizziert. Die wichtigsten Lebensstationen stellt uns Lenze gleich zu Beginn durch die spunghafte Erzählweise dar. Die Verbindungen und das dahinterstehende Leben füllt sie allerdings erst Stück für Stück. Allmählich zeichnet sie das Bild eines Mannes, der nach der Ankunft in der harten Realität der Millionenmetropole New York mehr oder minder ungewollt immer weiter in den Dunstkreis deutscher Nazis im Big Apple rutscht. Was zunächst mit dem Funken als harmlosen Hobby beginnt, führt schon bald zu gefährlichen Verstrickungen Josef Kleins in die Geschäfte der Deutschen Abwehr, die im Auftrag Wilhelm Canaris Amerika unterwandern sollen.

Aufmarsch des Amerikadeutschen Bundes in den Straßen New Yorks 1939

Wie eine Fliege im Netz

Es sind kaum fassliche Szenen, die Ulla Lenze in ihrem Roman schildert. So organisierte der Amerikadeutsche Bund im Jahr 1939 eine Nazi-Kundgebung im Madison Square Garden, an der über 20.000 Menschen teilnahmen. Mit Julius Kuhn als Hautptredner wollte man auf dieser Veranstaltung für den Nationalsozialismus auch in Amerika werben. Hakenkreuze und ähnliche Devotionalien wurden ebenso wie der Hitlergruß gezeigt und ein Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Propagierung des Antisemitismus standen auf der Tagesordnung.

Ein schier unglaubliches Kapitel, an dem Lenze auch ihren Protagonisten Josef Klein teilhaben lässt. Dieser ist zu diesem Zeitpunkt schon in den Dunstkreis des Nazis Schmuedderich geraten. Wie eine Fliege hängt Klein im Netz der Nazis, in das er sich immer weiter verstrickt. Hin und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu Schmuedderich, zu einer jungen Amerikanerin, die er durch das Funken kennengelernt hat und die Furcht vor den Konsequenzen seiner Taten durchstreift er die Häuserschluchten New Yorks. Schlussendlich wird Josef Klein zum Doppelagenten, immer wieder schwankend in der Frage seiner Loyalität.

Ulla Lenze - Der Empfänger (Cover)

Ulla Lenze bringt in ihrem Roman eine mir bislang wirklich kaum bekannte Facette des Zweiten Weltkriegs nahe. Die Unterstützung Hitler-Deutschlands durch den Amerikanischen Bund und die Umtriebe der Deutschen Abwehr in Amerika habe ich so in keinem zeitgenössischen Roman gelesen. Manchmal erinnert Lenzes Werk etwas an Oliver Guez, gerade was die letzten Jahre des Romans 1953 in Costa Rica angeht. Die Beschreibung des Lebens der deutschen Auswanderer in Buenos Aires, die Endstation der Rattenlinie und das Fortbestehen der alten Nazi-Kader lässt schaudern.

Auch ist Lenze besonders stark, was die Skizzierung ihre Charakters Josef Klein angeht. Dieser entzieht sich einer klaren Einordnung. Ist er nun Täter oder nur ein Mitläufer? Zeigt er Reue oder verweigert er sich der Anerkennung seiner Schuld? Die schlussendliche Deutung dieser Figur überlässt Lenze ihren Leser*innen, was durchaus überzeugt.

Fazit

Insofern ein wirklich starkes Buch, das einen komplexen Charakter und ein unbekanntes Stück Geschichte in den Mittelpunkt stellt. Noch dazu interessant montiert. Große Empfehlung für diesen Empfänger!

Ganz anders sieht das im Übrigen der Literaturblog Aufklappen. Und auch die Meinung von Marina Büttner sei hier hingewiesen.

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Ron Corbett – Preisgegeben

Im Oktober ist es (Stand jetzt) wieder soweit: die Frankfurter Buchmesse öffnet ihre Tore. Eine Ankündigung, die ich mit großer Skepsis zur Kenntnis genommen habe. Denn dass das Covid19-Virus beachtet, dass man die Buchmesse von den sonstigen verbotenen Großveranstaltungen ausgenommen hat, das wage ich zu bezweifeln. Ohnehin ist es eine ganz eigene Logik, Veranstaltungen wie das Oktoberfest abzusagen, die größte Buchmesse der Welt hingegen stattfinden zu lassen. Ob die Besucher und Aussteller das Angebot der Messe in Corona-Zeiten annehmen werden, wage ich zu bezweifeln. Insbesondere, da die großen Publikumsverlage wie etwa Randomhouse oder Bonnier ihre Teilnahme schon abgesagt haben.

Es sei wie es sei. Auch wenn die Buchmesse in diesem Jahr von Absagen gekennzeichnet ist, gibt es trotzdem ein Gastland, das sich im Zuge der Buchmesse präsentieren würde. Nachdem im letzten Jahr Norwegen an der Reihe war, liegt nun der Fokus auf Kanada. Um die Literatur aus diesem Land besser kennenzulernen, starte ich in diesem Jahr eine kleine Reihe unter dem Titel #kanadaerlesen.

Den Anfang macht ein Krimi des Journalisten Ron Corbett mit dem Titel Preisgegeben. Der Roman ist der Auftakt zu einer Reihe um den Cop Frank Yakabuski. Nach einigen Fachbüchern zum Thema Angeln ist das Corbetts erster Ausflug ins Genre des Kriminalromans. Und dieser Ausflug ist mehr als gelungen. So gelungen, dass das Buch eine Nominierung beim Edgar Allan Poe-Award erhielt und weitere Bände der Reihe um den angelnden Cop erschienen sind.

In der Einsamkeit Kanadas

Wenn es um originelle Stimmen im weiten Feld des zeitgenössischen Krimis geht, dann ist der kleine Stuttgarter Polar-Verlag eine gute Adresse. Hier erscheinen Bücher von Leonard Pitts jr., Ken Bruen oder Attica Locke. Seit diesem Jahr werden die Hardcover um eine von Jürgen Ruckh herausgegeben Taschenbuchreihe ergänzt. Der erste Band dieser Reihe ist Preisgegeben, der in die schneereiche Einsamkeit Kanadas entführt.

Ron Corbett - Preisgegeben (Cover)

Dort oben im Norden Kanadas liegt das Nest Ragged Lake. Früher einmal ein blühendes Zentrum der Papierindustrie, ist nun mit dem Ende der Industrie auch das Ende des dortigen Dorfs besiegelt worden. Ein kleines Camp für Sportfischer gibt es noch, aber sonst bietet Ragged Lake außer Bäumen und Schnee nicht viel, das einen Besuch rechtfertigen würde.

Ein Baummarkierer macht bei seiner Arbeit allerdings eine grausige Entdeckung. In einer eigens gebauten Hütte in der Nähe des alten Dorfes findet er die Leiche eines Mannes und seiner Frau. Die beiden galten als Sonderlinge, man hatte sich nicht groß mit ihnen beschäftigt. Nun ruft man die Polizei – die in Form von Frank Yakabuski und zweier Untergebenen nach einer beschwerlichen Anreise per Schneemobilen erscheint.

Kaum haben die beiden mit der Befragung der Ortsansässigen und Gäste im Fischer-Lodge begonnen, zieht ein Schneesturm auf. Doch nicht nur dieser Schneesturm nähert sich Ragged Lake mit unaufhaltsamer Kraft – auch einige Feinde aus Yakabuskis Vergangenheit sind schon auf dem Weg nach Ragged Lake.

Ein unaufhaltsamer Showdown

Das Setting, das Corbett auf den ersten Seiten aufbaut, erinnert an dutzendfach gelesene Krimis. Tote, die kaum jemand kannte. Ein Cop von außerhalb, der mit den Ermittlungen beginnt. Viele Fragen nach Alibis, sinistere Verdächtige und eine mühsame Rekonstruktion des Tatablaufs. Das könnte eine ebenso mühsame Lektüre werden.

Doch schon nach wenigen Seiten pfeift Ron Corbett auf Konventionen und macht aus diesem Police Procedural einen waschechten Thriller mit vielen Twists und hohem Bleigehalt. Der Bodycount in diesem Krimi ist hoch, das Tempo ebenso. Denn im Grunde läuft, wie auch Ulrich Noller in seinem Nachwort bemerkt, alles auf einen Showdown hinaus, auf den das Buch mit aller Macht drängt.

Das ist großartig erzählt, spannend, immer wieder überraschend und erinnert mit dem in der Blockhütte festsitzenden Verdächtigen etwas an Quentin Tarantinos The hateful Eight. Wer hat mit dem Tod der Einsiedler-Familie zu tun? Welche Geheimnisse hüten die Menschen in Ragged Lake? Und wer spielt falsch? In Ron Corbetts Thriller kann man sich nie sicher sein. Dazu überzeugen auch die Schilderungen der kanadischen Einöde, sodass sich hier am Ende alles zu einem verbindet: einem grandiosen Thriller, der viel Aufmerksamkeit verdient hat!


  • Ron Corbett – Preisgegeben
  • Aus dem kanadischen Englisch von Sven Koch
  • Mit einem Nachwort von Ulrich Noller
  • 400 Seiten, Klappenbroschur
  • ISBN 978-3-948392-04-8 (Polar-Verlag)
  • EUR (D) 14,00 / EUR (A) 14,60
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Drei Kurze (Kritiken)

Schon länger gab es in dieser Kategorie keinen neuen Beitrag mehr. Nun also Nachschub mit drei Büchern, die mich in völlig unterschiedliche Regionen der Welt führten. Durch den Klick auf die Cover gelangt man wie immer zur den Verlagspräsenzen der Bücher.

Chigozie Obioma – Das Weinen der Vögel

Chigozie Obioma - Das Weinen der Vögel (Cover)

Einen ganz besonderen Erzähler präsentiert der Nigerianer Chigozie Obioma in seinem Roman Das Weinen der Vögel. Hier erzählt kein Mensch, sondern ein Schutzgeist, ein Chi. Dieser hält vor dem Gericht der Geister sein Plädoyer für die Unschuld seines Klienten. Denn dieser hat schwere Schuld auf sich geladen, wie wir schon zu Beginn des Romans erfahren. Allmählich erzählt der redegewandte Schutzgeist die Lebengeschichte des nigerianischen Hühnerzüchters Chinonso. Einst in Liebe zu einer gesellschaftlich höherstehenden Frau entbrannt, setzte diese Liebe eine verhängnisvolle Ereigniskette in Gang.

Der Wunsch nach Bildung und sozialem Aufstieg trieb Chinsonso um, der seiner Angebeteten auf Augenhöhe begegnen wollte. Sozial ausgegrenzt warf er sein gesamtes Vermögen in die Wagschale, um auf Zypern zu studieren. Doch ohne zu viel vorweg nehmen zu wollen – sein Streben nach sozialem Aufstieg nahm kein gutes Ende. Und so sind wir dabei, wie der Chi sein Plädoyer hält, eng verwurzelt in der mündlichen Erzähltradition Nigerias und der Theologie der Igbu.

Ein Buch, das durch seine außergewöhnliche Erzählinstanz besticht und das von einem Schicksal erzählt, das exemplarisch für viele andere steht. Erzählkunst, die für den Booker Prize 2019 nominiert und jüngst mit dem Internationalen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet wurde (übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner)

Agnete Friis – Der Sommer mit Ellen

Alles andere als ein typischer Sommerroman ist das Buch Der Sommer mit Ellen von Agnete Friis. 2018 als bester dänischer Roman des Jahres nominiert kann man das spannende Buch nun in der deutschen Übersetzung von Thorsten Alms entdecken.

Sommer in der Provinz von Jütland 2018. Da entstehen Bilder in Kopf, von wogendem Weizen, Fahrradfahrten durch die heißen Nachmittage zum nächsten See. Wache Nächte, strahlender Himmel und Tage, die nie zu enden scheinen. Eben ganz so, wie es das Cover dieses Romans suggeriert. Aber dem ist hier mitnichten so. Vielmehr gleicht dieser Sommer, den Agnete Friis in ihrem Roman schildert, der drückenden Schwüle kurz vor einem Gewitter. Vor vierzig Jahren verlebte Jakob Errbo einen Sommer in der jütländischen Provinz, der ein prägender werden sollte. Er lernte Ellen kennen, die zunächst in einer benachbarten Kommune und dann auf dem Bauernhof seiner Familie lebte. Die Schwester seines Freundes verschwand. Ein Mord ereignete sich. Und nun ist Jakob auf Bitten seiner Onkel vierzig Jahre später zurück auf dem Hof. Die Onkel wollen wissen – was mit Ellen passiert ist. Und Jakob macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, die Jahrzehnte verborgen blieb.

Düster, dräuend, hypnotisch, machmal etwas zu gewollt, aber insgesamt wirklich gekonnt. Agnete Friis liefert in Der Sommer mit Ellen einen Anti-Sommerroman ab, der die Brüchigkeit der eigenen Erinnerung thematisiert.

Sasha Filipenko – Rote Kreuze

Diogenes wagt den Blick nach Osten. Nachdem früher die russischsprachige Belletristik fester Bestandteil des Verlags war, geriet sie in letzter Zeit etwas aus dem Fokus. Nun hat man mit Sasha Filipenko wieder einen jungen weißrussischen Autor unter Vertrag genommen. Dieser erzählt in Rote Kreuze zwei sich – kreuzende – Lebensgeschichten (übersetzt von Ruth Altenhofer).

Da ist zum Einen die des jungen Vaters Alexander, der eine Wohnung in einem weitestgehend leerstehenden Haus bezieht. Nachdem im Treppenhaus und an anderen Stellen rote Kreuze auftauchen, macht Alexander zum Anderen die Bekanntschaft mit der Frau, die für die Kreuze verantwortlich ist. Es handelt sich um Tatjana Alexejewna. Die Erinnerungen der hochbetagten Dame drohen dem Vergessen anheim zu fallen. Die Demenz greift um sich – und so erzählt dem zunächst noch recht widerwilligen Alexander ihre Lebensgeschichte. Und diese ist nicht anders als spektakulär zu nennen. Schließlich hat Tatjana einen Großteil des vergangenen Jahrhunderts erlebt.

Leider ist diese Fülle an Erlebtem auch ein Problem dieses Textes. Denn um sich sorgfältig diesem Jahrhundertleben mit all seinen Bildern und Schrecken zu widmen, ist mehr als nur eine oberflächliche Erzählung über gerade einmal 288 Seiten notwendig. Alle Wegmarken ihres Lebens touchiert Filipenko nur, ohne ihnen den gebührenden Raum zum Wirken zu geben. So bleibt am Ende leider ein etwas gehetztes und eben auch – oberflächliches – Buch, von dem ich mir mehr Tiefe gewünscht hätte. Gewiss, keine schlechte Lektüre – aber eben auch kein Buch, das mir länger im Gedächtnis bleiben wird.

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