Élisabeth Filhol – Doggerland

Es ist ein Sturmtief namens Xaver, das in Élisabeth Filhols Roman Doggerland alles durcheinanderbringt. Ein Sturmtief, wie es selten zuvor eines gab.

Sie haben gesehen, wie es geboren wurde, wie es im Meer vor Island aus dem Nichts auftauchte. Sie verfolgten gebannt, wie es sich entfaltete, eingenistet im Inneren eines Tiefdruckgebiets, gezeugt von einem Schwall subtropischer feuchter Luft, der sich an die Grenzen des atlantischen Ozeans verirrt hatte. Und nun explodiert es förmlich, eine Bombe. Wie in einem Film, den man im Schnellvorlauf abspielt, da war nichts und nun ist es da. Man spricht es auf Französisch eher wie Xavère aus und weniger wie Xavier, noch ist Xaver keine Katastrophe, noch ist es ein schönes Anschauungsobjekt. Als solches verdient es, auf Initiative der europäischen Meteorologen, mit einem eigenen Taufnamen ausgezeichnet zu werden. Es bringt alles dafür Nötige mit, tauchte unerwartet auf, war unvorhersehbar, und ist ausreichend spektakulär.

Filhol, Elisabeth: Doggerland, S. 7

Schade nur, dass die Attribute Xavers nicht auf Filhols Roman anwendbar sind. Denn gegen den Sturm im Buch nimmt sich Doggerland selbst aus wie ein laues Lüftchen.


Einen Vorwurf kann man Élisabeth Filhols Roman nicht machen. Denn wer will, der lernt in Doggerland jede Menge. Über das Doggerland selbst, jenes verschwundene Land zwischen England und Dänemark, das es einst beide Länder verband und mithilfe dessen man trockenen Fußes von Skandinavien nach Großbritannien gelangen konnte.

Man erfährt vieles: über die Entstehung jenes Doggerlands, über archäologische Funde, Radiokarbondatierungsmethoden, Völkerbewegungen und die Entwicklung der Flora. Man liest von kantabrischen Winden, Wind-Berechnungsmodellen, Gletscherwanderungen und den Faktoren, die zum Verschwinden des Doggerlandes führten. Filhol erzählt von Forschern wie Clement Reid oder Dick Mol, von Palynologie oder Unterwasser-Archäologie. Und sie berichtet über Tsunamite, die Erdölindustrie, die damit verbundene wirtschaftliche Prosperität, isostatischen Rebound, Rifte, und dergleichen mehr.

Fakten statt Erzählung

In vielen Passagen hat man das Gefühl, statt eines erzählenden Romans ein Sachbuch randvoll mit Fakten und Ideen zu lesen. Leider sprechen auch die Figuren in diesem Roman beständig, als würden sie Dialoge für eine Dokumentation aufsagen.

„Bald fühlst du dich bei diesen Menschen wie zu Hause. Sie sind also unsereresgleichen. Aber selbst wenn wir das gleiche Gehirn haben und den gleichen Planeten bewohnen, stößt du bei deiner Arbeit doch an Grenzen. Du besuchst die Erde, die sie trägt, lässt sie auf dich wirken, aber sie gibt dir nur begrenzt Auskunft, du wirst nie erfahren, in welcher Welt sie eigentlich leben.

„Genau, ihre Kultur bildet eine Barriere. Ich werde nie über die nötigen Codes verfügen. Sie gleichen uns ja, und sind zugleich so verschieden von uns, dass es nur natürlich ist, dass wir Mühe haben, sie zu verstehen. Wir können das auf die Zeit schieben, die uns voneinander trennt. Auch wenn achttausend Jahre gemessen an der Menschheitsgeschichte nicht gerade viel sind. Die Menschen aus dem Mesolithikum haben keine Pyramiden gebaut, sie haben keine Megalithen errichtet, aber ihre Kultur ist deshalb weder ungeschliffen noch rudimentär. Vielleicht war ihre Gesellschaft im Ganzen betrachtet sogar lebenswerter als unsere, das ist gut möglich.

Filhol, Elisabeth: Doggerland, S. 48

Im Kern steckt in Doggerland eine interessante Geschichte

Das ist schade, denn eigentlich ist die Geschichte, die Doggerland erzählen will, eine interessante. Zum Einen ist da die Geschichte der Natur. Xaver, der sich wie ein Tsunami aufbaut, und über England in kaum gekannter Intensität zu wüten beginnt. Und dann ist da auch das Doggerland selbst, das durch den Klimawandel verschwand und nun nur noch Forscher wie Margaret oder Marc interessiert.

Deren Geschichte ist der andere Part, der den Reiz des Buchs ausmachen könnte. Die Betonung liegt auch hierbei leider auf dem Konjunktiv. Denn dieses Potenzial schöpft Doggerland ebenfalls nicht wirklich aus.

Einst verband Margaret und Marc eine studentische Liaison. Dann verlor man sich aus den Augen. Sie forscht seither wissenschaftlich über die Doggerbank und das Doggerland. Mann, Kind, universitäre Forschung und ein Haus in St. Andrews, das ist nun Margarets Leben. Marc hingegen interessiert sich ebenfalls für das Forschungsgebiet, allerdings aus wirtschaftlichen Gründen. Denn er hat die Seiten gewechselt und ist nun in der Erdölindustrie tätig. Beide machen sich trotz Xaver auf den Weg nach Esbjerg in Dänemark, wo sie sich auf einem Symposium nun endlich wieder sehen sollen.

Nicht ausgeschöpftes Potenzial

Ein Sturm, der die Figuren faktual und emotional beeinflusst. Eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit, Wissenschaft vs. Industrie, Familienleben vs. einsamer Wolf. Es steckte viel Potenzial in diesen Anlagen, aus dem Élisabeth Filhol für mein Empfinden viel zu wenig macht. Sie beschreibt über dutzende Seiten Xaver, um ihn dann für das Symposium in Dänemark auszublenden. Sie findet kein rechtes Maß für die Faktenhuberei, die ihre eigentliche Geschichte an die Wand drückt.

Und sie lässt ihre Figuren ernsthaft Dinge wie die folgenden sprechen:

„Am Ende deines Studiums“, sagt Margaret, „hast du dich ins Abenteuer gestürzt. Nachdem du die Nordsee bereits gedanklich umkreist, sie im Hörsaal in ihren theoretischen Grenzen studiert hattest, hast du beschlossen, dich ihr zu stellen. so wie ich das auf meine Art auch getan habe, da mir ihre bloßen Umrisse nicht genügten, auch wenn ich nicht so ungestüm vorangegangen bin wie du, als ewig Rastloser. Das ist kein leere Raum. Das ist ein Raum, der von allen Seiten durchkreuzt wird. Indem man sich ihm stellt, füllt man ihn aus. Man schafft es, ihn zu besetzen. Man fordert die Kartografen heraus, die daraus einen weißen Fleck auf der Landkarte gemacht haben, dabei ist dieser Ort seit Menschengedenken bewirtschaftet worden, durchquert worden, kartiert worden, in der Fiktion, in den Gründungsmythen, in den mündlich weitergebenen Erzählungen.

Sie benennen ihn, orten ihn, geben ihm eine Himmelsrichtung, verwurzeln ihn symbolisch, festigen von einer Generation zur nächsten eine sehr genaue Kenntnis dieses Gebietes. Wenn man das Gebiet des Doggerlands kartografiert, wo heute das Meer ist, dann klärt man damit etwas, das nur unzureichend geklärt wurde, nicht richtig definiert wurde, so als würde man die Pixeldichte pro Zoll erhöhen, so lange bis man eine Brücke von einer Seite zur anderen spannen kann, von der Küste Jütlands zur Küste Yorkshires. (…)

Filhol, Élisabeth: Doggerland, S. 249

Wer um Himmels Willen spricht so? Selbst wenn es sich um rhetorisch beschlagene und wissenschaftlich versierte Figuren handelt, sind diese Erklärdialoge doch fernab jeder Realität und auch jedes literarischen Sprechens. Hier findet keine wirkliche Kommunikation statt, hier werden Figuren nur gezeigt, statt sie miteinander ins Gespräch treten zu lassen. Und so gewinnen Figuren keine Konturen und bleiben dadurch leider mehr als blass.

Fazit

Man kann die Metaphern, die im Text überdeutlich ausbuchstabiert werden, gelungen finden. Die Dichotomien von Forschung und Industrie, von Archäologie des Gestern und der Zukunft des Erdöls gut herausgearbeitet finden. Oder die Erzählung um Marc und Elisabeth und ihre nicht aufgearbeitete Geschichte gelungen finden. Ich tue es leider nicht.

Für mich gibt Doggerland viele Versprechen, die leider allesamt nicht eingelöst werden. Statt durch Figuren und Handlung eng an den Text gebunden zu werden, brachte mich Élisabeth Filhol mit ihrer stilistisch eigenwilligen Prosa zum gedanklichen Abschweifen. Und das leider ein ums andere Mal. Hier wird viel Potenzial verschenkt. Somit von mir keine Empfehlung. Leider.


  • Élisabeth Fihol – Doggerland
  • Aus dem Französischen von Cornelia Wend
  • ISBN 978-3-96054-232-2 (Edition Nautilus)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €

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Charlotte McConaghy – Zugvögel

Und wir schauen in den Himmel
denn bald ist es soweit
In jedem Jahr auf diesem Platz zur gleichen Zeit
bilden Zugvögel ein V am Firmament
und wir schauen ihnen nach bis man das V nicht mehr erkennt

Thees Uhlmann – Zugvögel

Doch was passiert, wenn man am Himmel kein Vögel mehr beobachten kann, die in V-Formation gen Süden fliegen? Wenn die meisten Tiere auf der Erde verschwunden sind? Woran soll man noch festhalten? Diese Frage stellt sich auch Franny. Sie hat die letzten Küstenseeschwalben aufgestöbert und will deren Zug nachverfolgen. Denn Küstenseeschwalben gehören zu den belastbarsten Zugvögeln, legen in ihrem Leben den Weg von Arktis zu Antarktis mehrfach zurück. In ihrem Leben fliegen die Tiere eine Strecke von über 2,4 Millionen Kilometer, das ist eine Strecke, der der dreifachen Distanz zum Mond entspricht.

Küstenseeschwalben in Patagonien (By PMATAS – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48578659)

Wenn es also robuste und überlebensfähige Tiere gibt, dann die Küstenseeschwalben. Und so beringt Franny drei Tiere mit einem Peilsender und will ihrem Kurs folgen. Vielleicht gibt es an dem Ort ihrer Brut ja noch mehr Tiere?

Franny überzeugt den Kapitän eines Fischerbootes, dem Signal der Tiere zu folgen. Denn dort wo die Küstenseeschwalben sind, muss es auch Fische geben. Für die Crew des Kutters ein entscheidendes Argument, schließlich liegen die letzten Fangerfolge schon wieder eine ganze Weile zurück. Wie die anderen Tiere, so sind auch die Fische größtenteils verschwunden. Eine Reise beginnt, die einen unvorhergesehenen Verlauf nehmen wird.

Zugvögel – ein gutes Buch

Manchmal kann ein Urteil über ein Buch ganz einfach ausfallen. Zugvögel ist ein Buch, das ein solches Urteil erlaubt. Das bedeutet im konkreten Falle: dieses Buch ist wirklich gut! Mit ihrem Debüt ist Charlotte McConaghy ein stimmiges Debüt gelungen, das mich überzeugt hat.

Charlotte McConaghy - Zugvögel (Cover)

In diesem Roman findet vieles zusammen. Eine komplexe Protagonistin, deren Hintergrundgeschichte sich erst langsam entfaltet. Ein dystopisches Setting, das aber nicht brachial aufgemotzt wird, und das für die eigentliche Handlung nur die Grundierung darstellt. Themen wie Naturschutz oder Selbstfindung, die die Geschichte bereichern, aber nicht erdrücken. Und eine Heldin, die widersprüchlich ist und die die Sympathie der Lesenden ein ums andere Mal mit ihrem Verhalten strapaziert.

Trotz der vielen Rückblenden und Zeitsprünge entwickelt Zugvögel einen Sog und ein Tempo, der in die Geschichte rund um die Küstenseeschwalben und Frannys Lebens- und Liebesgeschichte hineinzieht. Nature Writing, Liebe, Umweltschutz – dieses Buch vereint viele zeitgeistige Themen. Es würde mich nicht wundern, wenn diesem Roman ein großer Erfolg beschieden ist. Übersetzt wurde es im Übrigen von Tanja Handels.


  • Charlotte McConaghy – Zugvögel
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397470-6 (S. Fischer)
  • 398 Seiten. Preis: 22,00 €
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Wenn die Erinnerungspolizei klopft

Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung

Es ist ein Zitat von George Eliot, das in abgewandelter Form häufig auf Grabsteinen oder sonstigen Erinnungsdevotionalien zu finden ist:

Unsere Toten werden erst dann wirklich tot sein, wenn wir sie vergessen haben

George Eliot: Adam Bede, S. 89

Die Vorstellung, dass erst das Vergessen den Toten zum Toten macht, sie ist weitverbreitet und hilft auch beim Trauern. Wie es ist, in einer Welt zu leben, in der aber alles tatsächlich immer mehr dem Vergessen anheimfällt, darüber hat Yoko Ogawa eine gelungene Parabel geschrieben. Ursprünglich bereits 1994 erschienen, liegt das Buch nun unter dem Titel Insel der verlorenen Erinnerung in der Übersetzung von Sabine Mangold im Liebeskind-Verlag vor.

Viel Aufmerksamkeit erhielt das Buch in diesem Jahr durch die Tatsache, dass es in der englischen Übersetzung neben den Büchern von Daniel Kehlmann oder Fernanda Melchor für den International Booker Prize nominiert war. Zwar verlor Ogawa gegen Marieke Lucas Rijneveld, viel Aufmerksamkeit war dem Titel aber gewiss. Aufmerksamkeit, die auch der Liebeskind-Verlag zu nutzen wusste. Nach den Unwägbarkeiten der Coronakrise hatte man sich dort notgedrungen den Entschluss gefällt, kein Herbstprogramm zu publizieren. Diese Entscheidung wurde durch den Hauptgewinn des Deutschen Verlagspreises wenig später dann aufgeweicht. Und so entschied man sich, als einzigen Titel Yoko Ogawas Buch den deutschen Leser*innen vorzustellen. Eine gute Entscheidung, wie die Lektüre dieses Buchs zeigt.

Mit dem Zeug zum Klassiker

Denn, wenngleich man mit solchen Begriffen vorsichtig sein muss – Yoko Ogawas Buch hat alles, was ein Klassiker haben muss. Ein reduziertes Setting, sprachliche Genauigkeit und im Kern eine die Zeiten überdauernde Frage: wie kann man in einem übermächtigen Regime Widerstand leisten? Und was bedeutet dieser Widerstand für das Individuum?

Yoko Ogawa - Insel der verlorenen Erinnerung (Cover)

Darum kreist ihre Geschichte, die in meinen Augen zurecht mit Kafka, Bradbury oder Margaret Atwood verglichen wird. Die Figuren in ihrer ganzen Verlorenheit platziert Yoko Ogawa auf einer Insel, die nicht genauer bestimmt wird. Immer wieder verschwinden Dinge auf der Insel. Vögel, Kalender, Bücher. Viele dieser Dinge verschwinden nebenbei, andere entsorgen die Bewohner*innen der Insel selbst. Mit diesen Dingen verschwinden dann auch die Erinnerungen an die frühere Existenz dieser Dinge.

Damit es dabei mit rechten Dingen zugeht und niemand verschwundene Dinge heimlich hortet, kommt die Erinnerungspolizei zum Einsatz. Diese überwacht totalitär die Einhaltung der Regeln und durchsucht auch schon einmal ohne Ankündigung Häuser auf der Suche nach Überbleibseln, die Inselbewohner*innen zuhause versteckt haben. Razzien, Angst, Unterdrückung – sie kennzeichnen das Leben der Inselbewohner*innen, die sich lethargisch ihrem Schicksal fügen.

Nichts weniger als eine ganze Person daheim versteckt hat die namenlose Heldin dieses Buchs. Sie verdingt sich als Romanautorin. Ihr Lektor R hat die Gabe, sich an alles erinnern zu können, auch an verschwundene Dinge. Das macht ihn natürlich zu einer Zielscheibe für die Erinnerungspolizei. Da die Geburt seines Kindes bevorsteht und die Heldin ihren Lektor liebgewonnen hat, wagt sie ein riskantes Unterfangen. Zusammen mit einem betagten Bekannten versteckt sie R bei sich daheim, während um sie herum immer mehr Dinge verschwinden.

Vom Widerstand gegen ein totalitäres Regime

Vom Widerstand gegen ein totalitäres Regime erzählt Yoko Ogawa. Sie tut dies auf eine kluge Art und Weise. Durch das reduzierte Setting und den Fokus hin auf die wichtigen Personen schafft sie ein dichtes und nahegehendes Leseerlebnis. Sie bleibt eng an ihrer namenlosen Figur, erzählt eindrücklich, wie es sich anfühlt, wenn die Dinge um einen herum verschwinden. Aber auch davon, welchen Muts und welcher Entschlossenheit es bedarf, um Widerstand zu üben. Der Widerstand gegen das scheinbar übermächtige Regime, das seine sinnlosen Regeln mit Repressionen und Einschüchterung durchsetzt.

Nicht zuletzt ist es diese zeitlose Qualität, die das Buch besitzt, die es zum potentiellen Klassiker macht. Egal ob die Regime mit ihrer Machtausübung in Belarus oder in Nordkorea herrschen, ob in der Vergangenheit im Dritten Reich oder eben hier in einer nicht näher benannten Zeit: die Themen und Gefühle werden immer die gleichen sein. Und wie sie Yoko Ogawa beschreibt, das ist wirklich großartig. Es bleibt zu hoffen, dass die Erinnerung an dieses Buch die nächsten Jahre nicht verblasst und bestehen bleibt. Auch eine mögliche Erinnerungspolizei hat gegen dieses Buch hoffentlich keine Chance. Yoko Ogawas Werk hat es verdient!


  • Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung
  • Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
  • ISBN: 978-3-95438-122-7 (Liebeskind)
  • 352 Seiten: Preis: 22,00 €

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Hinaus aufs Meer

Amity Gaige – Unter uns das Meer

Wie kann man seine Beziehung kitten? Wie damit umgehen, wenn Leidenschaft und Anziehung schon lange verschwunden sind, da aber zwei kleine Kinder sind, die einen binden? Für diese Fragen finden Michael und seine Frau Juliet eine unorthodoxe Lösungsmöglichkeit. Zusammen mit ihren beiden Kindern gehen sie auf eine Bootstour. Sämtliches Ersparte wird in den Erwerb einer Yacht gesteckt, die Tochter verpasst ein Schuljahr – aber womöglich kann es ihre Beziehung retten?

Von diesem Reparaturversuch einer Ehe erzählt die Amerikanerin Amity Gaige. Ihr Roman heißt Unter uns das Meer und wurde von André Mumot ins Deutsche übertragen (im Original: Sea Wife). Eine wilde Tour übers Meer und durch eine Beziehung.


Amity Gaige - Unter uns das Meer (Cover)

Die Welt der Seefahrt, sie ist voller Aberglauben. Unter anderem bringt es Unglück, wenn man ein Schiff neu benennt. Doch genau diesen Frevel begeht Michael. Er benennt die 14 Meter lange Yacht, für die er sein gesamtes Vermögen zusammengekratzt hat, nach seiner Frau Juliet. Doch schon Shakespeare, dessen Heldin den Namen mit Michaels Frau teilt, wusste im gleichnamigen Drama: These violent delights have violent ends (So wilde Freude nimmt ein wildes Ende, Romeo & Julia, 2. Aufzug, 5. Szene). Ob das auch für das Schicksal der beiden gilt?

Um ihre Geschichte zu erzählen, wählt Amity Gaige einen besonderen erzählerischen Kniff. Sie lässt Juliet und Michael abwechselnd zu Wort kommen. So ist es ein Schiffstagebuch von Bord der Juliet, wobei das eher eine Art Tagebuch denn eine nautische Dokumentation darstellt, in das Michael seine Gedanken notierte. Dem entgegen setzt Gaige (auch in anderer Schrift gesetzt) die Gedanken und Erinnerungen Juliets.

Zwei gegensätzliche Figuren im Widerstreit

Das ist mehr als reizvoll, vor allem, da Juliet und Michael so gegensätzliche Figuren sind. Während sie mit der Idee, ein Jahr auf einem Schiff zu verbringen, überhaupt nichts anfangen kann, leistet er jede Menge Überzeugungsarbeit, um seinen Traum zu verwirklichen. Er, der alle Linke und staatliche Einmischung verteufelt, sie, die eigentlich kurz vor ihrer Dissertation stand, ihre Karriere dann zugunsten der Kinder aufgab.

Wie sich die beiden streiten, gegensätzlicher Meinung sind, sich auch um der Kinder willen immer wieder zusammenraufen, das ist psychologisch wirklich glaubhaft geschildert.

Mein Mann und ich sind sehr verschieden, sagte ich. Wir streiten uns wieder und wieder über dieselben Dinge. Wir streiten, aber wir ändern nie die Meinung des anderen. Wir entfernen uns bloß immer weiter voneinander.

Gaige, Amity: Unter uns das Meer, S. 162

Auch wenn die Juliet über 14 Meter lang ist, täuscht das ja nicht darüber hinweg, dass der Schauplatz mehr als begrenzt ist. Zwei Kojen, ein Geschmeinschaftsraum, eine Kombüse. Das war es. Aber ähnlich wie zuletzt Ben Smith gewinnt auch Amity Gaige ihrem kleinen Schauplatz maximalen Ertrag ab. Die Grabenkämpfe zwischen den Erwachsenen, die Kämpfe mit Natur und Technik und die Schönheit des Meeres – all das fasst die Amerikanerin in tolle Prosa. Ein gesondertes Lob ergeht an dieser Stelle auch an Übersetzer André Mumot, der das nautisch geprägte Vokabular toll ins Deutsche überträgt.

Ein Buch mit Überraschungen

Unter uns das Meer ist ein Roman, der immer wieder überrascht. So enthüllt Amity Gaige geschickt nach und nach die Charaktere und Geschichte ihrer Figuren. Als nach zwei Dritteln eine anfangs nur angedeutete Vermutung zur Wahrheit wird (man betrachte nur das Shakespeare’sche Juliet-Zitat), so verliert der Roman auch dadurch nicht an erzählerischer Kraft. Wie Gaige zwischen ihren beiden Ich-Erzählern hin- und herspringt und doch den Plot vorantreibt, das ist tolle Erzählkunst.

Wenngleich der Effekt der beiden Perspektiven nicht ganz so etragreich ausgereizt wird wie im Falle von Lauren Groffs Licht und Zorn, muss man doch konstatieren: erzählerisch kann dieses Buch in allen Belangen überzeugen. Kantige Figuren, ein vorwärtsdrängender Plot, präzise Sprache. Hier kommt zusammen, was bei guter Literatur immer zusammenfinden sollte. Eine echte Entdeckung, dieser Roman. Hier erleidet man keinesfalls literarischen Schiffbruch.


  • Amity Gaige – Unter uns das Meer
  • Aus dem Englischen von André Mumot
  • ISBN 978-3-8479-0051-1 (Eichborn-Verlag)
  • 384 Seiten, Preis: 22,00 €
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Auf Robinsons Spuren

Jane Gardam – Robinsons Tochter

Es ist eine beliebte Frage in Interviews mit Buchbezug: Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat? Polly Flint, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman Robinsons Tochter hätte eine klare Antwort darauf. 34 Jahr nach dem Erscheinen ist Gardams Buch nun in der deutschen Übersetzung von Isabel Bogdan zu entdecken. Und das Buch ist nicht weniger als ein echtes Meisterwerk, das von einer lebenslangen Literaturliebe, einer geistigen Entwicklung, weiblicher Selbstermächtigung und Emanzipation erzählt. Es bleibt nur die Frage: warum hat es so lange gedauert, bis dieses Buch den deutschsprachigen Leser*innen zugänglich gemacht wurde?


Reichlich spät wurde Jane Gardam für den deutschen Buchmarkt entdeckt. Erst 2015 entschied man sich im Hanser-Verlag nach einer zuvor publizierten kurzen Weihnachtsgeschichte, diese Autorin dem deutschen Buchmarkt zugänglich zu machen. Gerade mal ein Buch der 1928 geborenen Autorin war zuvor in furchtbarer Aufmachung und Betitelung erschienen. 1999 gab es im Bastei-Lübbe-Verlag den Roman Himmlische Aussichten zu lesen, dessen kitschiges Cover zusammen mit Titel und Untertitel (Ein turbulenter Roman um ein Baby) ganz eigenes Kunstwerk ergab.

Dass es nach einer solchen Art der Veröffentlichung über eineinhalb Jahrzehnte brauchte, bis man die Autorin in angemessener Art und Weise in einem anderen Hause publizierte, das verwundert nicht.

2015 war es dann so weit und der erste Band der Trilogie um Old Filth, den Kronanwalt Edward Feathers, erschien. Befeuert auch durch die Diskussion im damals unter großer Aufmerksamkeit neu aufgesetzten Literarischen Quartett gelang dem Buch der Einstieg in die Bestsellerlisten. Die zwei weiteren Bände der Reihe, die Gardam aus Sicht von Edwards Frau (Eine treue Frau) und Edwards Rivale (Letzte Freunde) schilderte, wurden ebenfalls zu Bestsellern.

Seitdem ist der Name Jane Gardam auch auf dem deutschen Buchmarkt gesetzt und wird vom Hanser-Verlag durch eine kontinuierliche Publikation früherer Werke der englischen Schriftstellerin unterfüttert.

Eine Entdeckung aus dem Jahr 1986

Diese Art der Publikation ist ein großer Glücksgriff, denn dadurch ist nun auch „Crusoe’s daughter“nun auch auf Deutsch als Robinsons Tochter zu entdecken. Ürsprünglich 1986 erschienen ist das Buch ein Werk, das eindrucksvoll die Meisterschaft Jane Gardams beweist.

Jane Gardam - Robinsons Tochter (Cover)

Nicht weniger als ein ganzes Leben schildert sie in ihrem Roman. Es ist das Leben von Polly Flint. Diese lernen wir im Alter von sechs Jahren kennen. Wir schreiben das Jahr 1904, Pollys Mutter ist verstorben und ihr Vater ein Seemann, der wenig Vaterqualitäten an den Tag legt. Und so wird Polly im Gelben Haus untergebracht, einem Haus, das in der englischen Marschlandschaft liegt. Dort kümmern sich ihre beiden Tanten um sie. Besonders kindgerecht oder freudvoll ist das Aufwachsen dort in der Marsch allerdings nicht.

Die Tanten erziehen Polly streng und wollen sie unbedingt konfirmieren lassen. Doch das möchte Polly nicht. Sie legt einen beharrlichen Eigensinn an den Tag und findet Unterstützung in der großen Bibliothek ihres Großvaters Younghusband. Dieser interessierte sich zwar mehr für den Glauben und für Steine, aber auch weltliche Lektüre findet sich in der Bibliothek. Und so wird Polly Daniel Defoes Robinson Crusoe zu ihrem Herzensbuch, das sie ihr ganzes Leben lang begleiten und bestärken soll.

Kriege kommen und gehen, Familie und Mitmenschen sterben, Polly verliebt sich, wird enttäuscht, driftet in übermäßigen Alkoholkonsum ab und wird erst am Ende ihres Lebens zu ihrer Bestimmung finden. Immer ist da aber auch Robinson Crusoe, der ihr in der Einsamkeit ihrer Existenz beisteht und ihr Trost spendet. Eben ein wirkliches Buch der Kategorie Lebensbuch für Polly.

Ein Buch, tausend Lesarten

Es ist nicht nur so, dass Gardams Roman als Entwicklungsroman und Schilderung eines komplexen Lebens stilistisch und inhaltlich vollauf überzeugt. Robinsons Tochter ist auch ein Roman, der davon erzählt, wie verschieden die Lektüre ein und desselben Buchs ausfallen kann.

Robinsons Tochter demonstriert, wie unterschiedlich wir lesen und Bücher eingedenk unserer eigenen Biografie interpretieren. Alle Menschen, mit denen Polly im Laufe des Buchs über ihre Leidenschaft für Robinson Crusoe spricht, ordnen Defoes Werk unterschiedlich ein und sehen etwas anderes im Buch. Polly selbst zieht ihr Empfinden, ihre Bildung und ihr Beharren auf weiblicher Eigenständigkeit auch aus dieser Lektüre.

Deutlich wird das etwa im folgenden Dialog. Ein Freund spricht sich für die Prosa Jane Austens aus, als Polly zu einer vehementen Verteidigung des Defoe’schen Werks ansetzt:

„Freitag, das ist doch lächerlich. „Karfreitag“ wahrscheinlich. Demnächst nennt es womöglich jemand eine religiöse Allegorie. Vielleicht es das auch – wobei ich das bezweifle, bei einem Journalisten. Crusoe-fix nochmal. Ha!“

„Das ist es natürlich nicht. Und Defoe war nicht nur Journalist. Ich glaube aürigens auch nicht, dass Robinson besonders reiligiös ist. Er ist voller Schuldgefühle und Unzufriedenheit und seiner angeborenen Reiselust. Er ist der letzte, der für so eine Gefangenschaft auf einer Insel gemacht ist, aber er arrangiert sich damit. Er wird nicht verrückt. Er ist tapfer. Er ist wunderbar. Er ist so wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, sich zu sagen, dass es Gottes Willen ist.“

(Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich all das dachte!)

Gardam, Jane: Robinsons Tochter, S. 187

In unterschiedlichen Phasen ihres Lebens blickt Polly immer wieder auf das Buch und entdeckt neue Aspekte. Und auch in ihrem Beharren auf ihre weibliche Autonomie leistet ihr die Prosa Defoes Schützenhilfe.

Eine Geschichte weiblicher Emanzipation

Denn Robinsons Tochter erzählt auch von einer Frau, die sich nicht anpasst. Einer, die zwischen Unsicherheiten, Begehren, enttäuschter Liebe und versuchter Fremdbestimmung ihren eigenen Weg verfolgt. Wie es ist, als Waise sich alles selbst aneignen zu müssen und auf eigene Souveränität zu beharren, das zeigt Jane Gardam eindrücklich. Mich persönlich hat für dieses Buch sehr eingenommen, dass die Britin auch die Kunst als Wert propagiert, die dabei hilft, ein eigenes Leben zu führen. Nicht umsonst ist ein Zitat von Virginia Woolf vorangestellt, die im Roman auch eine kleine Rolle übernimmt.

Aber die Drangsal des Lebens, wenn man sich auf einer einsamen Insel gänzlich allein durchschlagen muss, ist wirklich nicht zum Lachen. Sie ist andererseits auch nicht zum Weinen.“

Virginia Woolf – Der gewöhnliche Leser

Fazit

Wenn das aus meinen Worten nun noch nicht ausreichend klar geworden sein sollte: ich halte Robinsons Tochter wirklich für ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk, auf das wir lange warten mussten. Eines, das die Wartezeit von 34 Jahren aber wirklich mehr als belohnt.

Es spricht für die literarische Meisterklasse der Britin, dass die Vielfältigkeit und der Facettenreichtum des Robinson Crusoe, die Polly Flint im Laufe ihres Lebens entdeckt, erforscht und erfährt, auch genauso auf Jane Gardams Werk übertragbar ist

Wirklich berührend, stilistisch meisterhaft, von einer Vielschichtigkeit, die man so nicht oft in Büchern findet und einer Heldin, die in den nächsten Jahren sicher nicht aus meinem Buchregal ausziehen wird.


  • Jane Gardam – Robinsons Tochter
  • Aus dem Englischen übersetzt von Isabel Bogdan
  • ISBN 978-3-446-26783-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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