Deon Meyer – Fever

„Es gab keine Gerechtigkeit im Universum. Als das Fieber kam, stand Dortmund auf dem zweiten Tabellenplatz, sie hätten Meister werden können. Thomas Tuchel war ihr Trainer. Ein verdammtes Genie …“ (Meyer, Deon: Fever, S. 230)

Der BVB und die Frage der Meisterschaft – das kann auch schon einmal in der Apokalypse enden, wie der südafrikanische Starautor Deon Meyer in seinem Buch Fever zeigt. Denn die Welt, wie wir sie kennen existiert im neuen Buch des Krimiautors nicht mehr, Grund dafür ist eine Fieberepidemie, die nahezu die komplette Bevölkerung ausgelöscht hat. Während sich die Flora und Fauna ihre Lebensräume zurückerobert, sind es nur wenige Menschen, die die Katastrophe überlebt haben.

Solche Überlebenden sind Nico und sein Vater Willem Storm, die in einem Truck durch Südafrika reisen, auf der Suche nach anderen Überlebenden und einem Plan in der Hinterhand. So schildert es uns Nico, der als Erzähler fungiert und uns eine Chronik des Untergangs und des Neuanfangs präsentiert. Wer sich hier an Cormac McCarthys Die Straße erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Das Thema vom Vater und seinem Sohn und deren Kampf ums Überleben ist identisch, Deon Meyer aber gelingt trotz der ähnlichen Ausgangslage ein ganz eigenständiger, ebenso unterhaltsamer wie nachdenklicher Roman, der Dystopie, Entwicklungsroman und Mad Max gekonnt verquickt.

Für die Erzählung seiner großen Geschichte (der Umfang fällt mit über 700 Seiten weit aus dem üblichen Rahmen, die Übersetzung besorgte Stefanie Schäfer) wählt Meyer einen besonderen Kniff. Der Großteil der Geschichte wird vom 13-jährigen Ich-Erzähler Nico Storm vorgetragen, der durch oftmalige Sprünge in der Chronik und Vorgriffe für Spannung sorgt. Dieser erzählerische Hauptstrang wird durch Berichte und Rückblenden vieler weiterer Charaktere ergänzt, die ebenfalls beständig zu Wort kommen. Denn Nicos Vater begründet im Lauf des Buchs den Ort Amanzi, an dem er einen Neustart der Gesellschaft versucht. Die Bewohner, die nach und nach Amanzi bevölkern, finden durch das sogenannte Amanzi-Projekt Gehör, das Willem Storm unaufhörlich vorantreibt. Er sammelt und konserviert die Eindrücke und Erfahrungen seiner Mitmenschen um ein möglichst umfassendes Bild der Fieberepidemie und dem Überlebenskampf der Menschen zu gewinnen.

Das alles ist wunderbar gemacht und fließt beständig in die Erzählung Meyers ein, was für Abwechslung und einen nie reißenden Spannungsbogen sorgt. Man beobachtet gespannt den Kampf ums Überleben der Amanzi-Gemeinde und die Spannungen, die sich innerhalb der Mikro-Gesellschaft abzeichnen. Dabei kann man Fever als einen spannenden und packenden Roman lesen, der vom Sterben genauso wie vom Überleben erzählt und der sich trotz seines Volumens wunderbar verschlingen lässt.

Man kann in Fever allerdings noch eine weitere, faszinierende Ebene entdecken, wenn man denn möchte. Denn Fever ist von einem großen Humanismus durchwirkt, der sich vor allem in der Figur des Willem Storm ausdrückt. Wie er zusammen mit seinem Sohn um das eigene Überleben und das der Menschheit kämpft, das gestaltet Deon Meyer eindringlich. Storm glaubt unverrückbar an das Gute im Menschen und die Fortschritte, die die Zivilisation bewirkt hat, auch wenn viele Geschehnisse in Amanzi dieser Hoffnung spotten. Seinem Sohn (und damit auch dem Leser) vermittelt Willem Storm eine nachahmenswerte Philosophie und viel Wissen, das sich wunderbar in den Gesamtkontext einfügt. Denker wie Baruch Spinoza, Yuval Noah Harari oder John Bowlby und deren Theorien sind Antriebsfedern, die Willem Storm und damit auch Amanzi am Laufen halten. Hier zeigt sich, wie Denken und Wissen Zivilisationen voranbringen kann, auch wenn häufig der Nutzen von Philosophie und Ethik in utilitaristischen Kreisen in Abrede gestellt wird. Meyer sieht das allerdings nicht so und bietet dabei am Ende einen interessanten Denkansatz: Ist es vielleicht am Ende eher jene die Philosophie und Ethik, die unsere Gesellschaften bewahren kann, als das technische Wissen und Know-How, das so leicht verlorengehen kann?

Man könnte Deon Meyers Fever fast als eine Art Versuchsanordnung betrachten. Da ist ein Dorf, das im Lauf des Buches wächst, es gibt verschiedene Einflussfaktoren, die das Vorankommen der Gesellschaft mal behindern und mal fördern. Geradezu analytisch ist man als Leser dabei, wenn man beobachtet, wie es sein könnte, nach einem Zusammenbruch den Resest einer Gemeinschaft oder im größeren gedacht, den Neuanfang einer Zivilisation zu versuchen. Dabei ergeben sich viele Fragen, deren Beantwortung nicht Ziel des Buchs ist, sondern nur der Denkanstoß. Wer möchte, kann unzählige dieser Fragen und Dilemmata entdecken: Was macht eine Gesellschaft aus? Was lässt Zivilisationen wachsen, welche Faktoren können die Entwicklung ausbremsen oder zurückwerfen?

Auch wenn ich die Mehr-als-Phrase eigentlich verabscheue (Mehr als ein Krimi oder Mehr als eine Dystopie …), da sie so unspezifisch wie (meist) unzutreffend ist. Hier möchte ich sie trotzdem zur Anwendung bringen. Fever ist mehr als ein Endzeitroman, mehr als ein Thriller. Der Verlag hat dies auch dankenswerterweise erkannt, schlicht prangt das Label Roman auf dem Cover. Natürlich bietet Fever viel Action und Spannung, all das ist unzweifelhaft vorhanden und gut gemacht, allerdings eben auch weit mehr als das. Eine wirkliche Empfehlung und ein wunderbarer Buchtipp für das kommende Weihnachtsfest.

P.S.: Gute Nachrichten gibt es an dieser Stelle auch für alle Bennie-Griessel-Fans. Der neue Band der Reihe mit dem Titel Die Amerikanerin erschient schon im März des kommenden Jahres. Ich bin gespannt, wie es mit Bennie nach dessen Absturz in Icarus weitergeht.

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Michael Roes – Zeithain

Nach Norman Ohlers Buch Die Gleichung des Lebens ist Michael RoesZeithain bereits der zweite Roman in diesem Bücherherbst, der sich mit Friedrich II. von Preußen und dessen Beziehung zu Hans Hermann von Katte befasst. Dabei gelingt Roes ein eindringliches Katte-Porträt, eine Studie über Väter und ihre Söhne sowie eine Reise zu den Grundpfeilern des Mythos Preußen.

Ausgangspunkt ist Hans Hermann von Katte, der mutterlos in einem Haushalt ohne Liebe oder Fürsorge aufwächst. Seinem Vater Hans Heinrich von Katte gilt als preußischem Landjunker die strenge Disziplin als das höchste Gut; Hauslehrer, die zu liberal oder freigeistig sind, werden von Kattes Vater schneller entlassen, als ihnen lieb ist. Als Stein des Anstoßes genügt da schon, dass Katte senior zugetragen wird, sein Sohn würde in den schönen Künsten gelehrt wird. In diesem indoktrinierten und regelstarren Milieu wächst Hans Hermann von Katte heran und schafft es dennoch, sich einen Willen zur Selbstbehauptung zu bewahren.

Das Leben des Hans Hermann von Katte

Vom Aufwachsen in Wust ausgehend schreibt sich Roes chronologisch durch Kattes Leben, einem Aufenthalt im pietistischen Francke’schen Collegium zu Glaucha folgt dann die historisch verbürgte Kavaliersreise Kattes, ehe er den Eintritt des jungen Mannes in das preußische Heer beschreibt. Generell ist die historische Genauigkeit zu loben, mit der Roes seinen Roman versieht. Roes füllt die Eckdaten und bekannten Fakten aus dem Leben Kattes weiterhin mit einem erzählerischen Kniff. Er erfindet den Erzähler Philipp Stanhope, ein illegitimen englischen Sproß, der auf einer Seitenlinie mit dem preußischen Königshaus verwandt ist. Jener imaginiert sich in die historischen Begebenheiten hinein und wird dadurch zum Ich-Erzähler Katte. Angereichert wird das Ganze durch eine von Dissoziation und Psychosen (so zumindest meine Deutung) gekennzeichnete Rahmenhandlung, in der Stanhope die Lebensstationen von Katte noch einmal bereist. Von Glaucha über Köthen bis nach Kaliningrad, London und abschließend Küstrin führt Stanhopes Reise, die auch immer wieder von fiktiven Briefen Hans Hermann von Kattes unterbrochen wird.

In Küstrin endet dann Roes fiktionalisierte Katte-Biografie mit jenem Ereignis, das an Dramatik kaum zu überbieten ist. Im Heer verbindet Katte mit dem jungen Königssprößling Friedrich II. eine innige Freundschaft, deren Grenze zu Liebe überschritten wird. Friedrich, der unter seinem ebenfalls unmenschlich agierendem Vater, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm, leiden musste, beschließt zu fliehen. Hans Hermann von Katte sollte ihm auf der Flucht beistehen – doch der Plan scheiterte. Beide werden festgesetzt und Katte wird in Festungshaft genommen. Als Erziehungsmaßnahme für den jungen Thronfolger beschließt Friedrich Wilhelm, Katte vor den Augen Friedrich Wilhelm II. mit dem Schwert hinrichten zu lassen.

Eine geheime Zuneigung – und eine Hinrichtung

Hans Hermann von Katte

Einen solchen Stoff kann man sich als Schriftsteller ja nur wünschen. Die Lebensgeschichte Kattes und sein Schicksal sind ein Geschenk in Sachen Dramatik und Eindringlichkeit. Schon Theodor Fontane, dessen Zitat aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg vorangestellt ist, begreift die Katte-Geschichte als zentrales Motiv im Mythos Preußen. Und tatsächlich gelingt es Roes glaubhaft, diesen Mythos auch durch die Leben von Katte und Friedrich II. zu begründen. Er zeigt in gelungenen Spiegelungen die Folgen von Härte und Unbarmherzigkeit in der väterlichen Erziehung und enttarnt starre Regeln wie etwa die Preußischen Tugenden als ein Joch, das junge Männer bricht und im Zusammenspiel mit Militarismus eine fatale Dynamik entwickelt.

Die Zeichnung der gegenläufigen und doch so ähnlichen Männern gelingt Roes genauso bravourös wie die Beschreibungen ihres Kampfes um Souveränität und Selbstbehauptung. Bei anderen Schilderungen gehen die Pferde dann doch etwas mit ihm durch, gerade was die wilden psychotischen Schilderungen von Stanhopes Eskapaden betrifft. So wohnt dieser etwa im nächtlichen Berliner Tiergarten der Geburt von Kojotenjungen bei, die dann im Lauf der Geschichte zu Engeln werden. Hier hätte eine Reduktion derartiger Fantastereien zugunsten der Katte-Biographie Not getan.

Stark sind die Binnenepisoden immer dann, wenn Stanhope zu den Schauplätzen aus Kattes Biografie reist und seine Eindrücke der Städte schildert. Egal ob Kaliningrad oder Köthen, die Diskrepanz zwischen dem Glamour des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart ist frappant und wird von Roes gut herausgearbeitet. Schilderungen wie die etwa oben erwähnte Kojoten-Episode oder Nachtszenen hingegen fallen angesichts des insgesamt hohen Niveaus bedauerlicherweise ab. Auch die inkonsequente Haltung, die Stanhope’sche Rahmenhandlung im Nichts enden zu lassen, ist nicht ganz schlüssig und lässt diesen Erählstrang zur schwächsten Seiten des Buchs werden.

Der Erzählungstrang um Katte überzeugt

Die Hinrichtung Hans Hermann von Kattes

Mit dem Setting rund um Hans Hermann von Katte hingegen kann Roes umso mehr überzeugen, mehrere Punkte machen die Qualität dieses Erzählstrangs aus. Neben der Sprachmacht Roes (für die er eine gute Mittellösung zwischen historischem Duktus und aktueller Lesbarkeit findet) sind es auch Setting und Figuren, die man in dieser Qualität nicht häufig findet. Über die Zeichnung von Handlungsorten wie etwa den Francke’schen Erziehungsanstalten zu Glaucha oder dem megalomanischen Heereslager in Zeithain gelingt ihm auch ein Porträt der damit verbundenen historischen Persönlichkeiten. Eine ganze Fülle an historischen Gestalten begegnet Katte nämlich auf seinem Lebensweg, vom Meisterkompositor Bach über Georg Friedrich Händel in London bis zu August Hermann Francke. Aus diesen auch heute noch klingenden Namen erschafft Roes tiefenscharfe Vignetten und zeigt Menschen mit Schwächen und Stärken.

Die wahre Klasse von Zeithain beweist sich auch darin, dass Roes sich nicht, wie zumeist für historische Romane üblich, mit dem Nacherzählen von Fakten und Figuren begnügt. Er geht deutlich tiefer und schafft über diese Ebene hinaus noch ein viel eindrücklicheres Leseerlebnis, indem er viele Subthemen in seine Rahmenhandlung einwebt – mal auffälliger, mal subtiler. So werden die Fragen von schwuler Identitätsfindung im 18. Jahrhundert und heute immer wieder aufgegriffen und verhandelt, die Vater-Sohn-Konflikte treten ebenso in der Vergangenheit wie heute zutage. Insgesamt eignet sich Roes‘ Roman für mehrere wissenschaftliche Arbeiten, soviel Motive und stilistische Besonderheiten sind in diesem Roman versteckt.

Dass dieser Roman bei der Auswahl zum Deutschen Buchpreis im Herbst übergangen wurde, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ein gewaltiger Stoff und ein immenses Drama, dem Roes wirklich gerecht wird. Ein Mammutwerk mit leichten Schwächen, die durch den Rest des Buchs allerdings mehr als wettgemacht werden. Ein Doppelporträt zweier besonderer Männer, ein historischer Roman und Zeitgeist-Roman zugleich, ein pralles Gemälde, satt an Bildern, Gerüchen und Emotionen. Ich bin begeistert und schließe mit einem etwas albernen, im Kern doch zutreffenden Poem: Für Zeithain sollte Zeit sein. Doch diese Investition von Zeit lohnt sich aber auf alle Fälle – man wird mit großem literarischen Genuss belohnt.

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Juli Zeh – Leere Herzen

Was wollte uns die Künstlerin damit sagen?

Diese Phrase steht für mich auch am Ende nach der Lektüre von Leere Herzen, dem neuesten Streich von Juli Zeh. Zeh, die mit ihrem letzten Roman Unterleuten zur veritablen Bestsellerautorin mutierte (sage und schreibe 78 Wochen konnte sich das Buch in den Spiegel-Bestsellerlisten behaupten), legt nun eineinhalb Jahre nach Erscheinen ihrer brandenburgischen Dorf-Betrachtung einen neuen Roman vor, der vieles will, aber wenig kann.

Ausgangspunkt ist das Geschäftsmodell der Brücke, einem Unternehmen, das die Geschäftspartner Britta und Babak betreiben. Die Kernidee der Brücke ist folgende: suizidale Menschen werden von den beiden überprüft, bewertet und gecoacht, um diese dann im besten Falle als Märtyrer für bestimmte Aktionen einzusetzen. Der Selbstmord ihrer Kandidaten hilft anderen Organisation wie etwa Umweltschutzgruppen, vor deren Karren sich die willfährigen Suizidenten spannen lassen. Britta und Babak kassieren gutes Geld – dafür leben sie in einer alles anderen als  mondänen Welt. Genauer gesagt in Braunschweig. Die Welt hat sich noch etwas weitergedreht in diesen Tagen, die Regierung wird von der BBB gestellt, der Besorgten Bürger Bewegung, Innenministerin ist Sarah Wagenknecht.  Instabile Zeiten, in denen Zehs Protagonisten leben. Noch instabiler wird das Gefüge, nachdem eine neue Klientin der Brücke auftaucht, die einen Keil zwischen Britta und Babak treibt. In der Folge gerät die Welt der beiden Geschäftsleute aus dem Lot, als auch noch eine Konkurrenzorganisation den beiden das Leben schwer macht – und so steht bald Babaks und Brittas Existenz auf dem Spiel.

So die Synopse von Zehs neuem Buch, das dann deutlich weniger gut funktioniert, wenn es um die Umsetzung von Theorie in Praxis geht. Und das, obwohl Zeh ja schon bewiesen hat, dass sie etwas von Erzählökonomie, Charakterzeichnung und Struktur versteht. Bereits der Grundidee der kommerziellen Nutzung von potentiellen Selbstmördern kann ich wenig abgewinnen. Bis auf wenige plakative Szenen (Waterboarding, etc.) bleibt vieles Behauptung und wird angerissen, wirklich plausibel erscheint wenig. Dies gilt auch für die übrigen dystopischen Elemente des Buchs, die ab und an eingeworfen und eingestreut werden. Nachvollziehbar und genuin entwickelt ist diese Vision in meinen Augen nicht. Auch Zehs HeldInnen scheinen sich mit der Welt versöhnt zu haben, es regiert der Neo-Biedermeier. Höhepunkt ist der eskapistische Trip in die norddeutsche Provinz, bei der dann ein Hauskauf und ein Landlust-ähnliches Bezugsfest des Objekts im Mittelpunkt der Episode stehen. In Unterleuten wirkte all dieser Möchtegern-Eskapismus viel böser, viel echter. Hier ist viel Kulissenschieberei am Werk, die Menschen, die in diesen Kulissen interagieren, bleiben allerdings höchst blass – und wenn sie einmal Kontur gewinnen, dann möchte man doch wieder, dass sie wieder blass werden.

Überspannte und leicht an der Grenze zur Hysterie stehende Charaktere gehören ja zum Markenzeichen der Autorin. Das kann mal nerven (Nullzeit), mal wunderbar funktionieren (Unterleuten). Im aktuellen Fall ist es eher erstere Kategorie, in die Zehs Personal fällt. Ihre Heldin Britta nervt mit zahlreichen Marotten (Putzfimmel, ständige Übelkeit, sprunghaftes Verhalten), die anderen Figuren stolpern alleingelassen durch das Setting. Vieles an den Figuren bleibt reine Behauptung, plausibel ist auch hier wenig. Egal ob Flüchtling und Hacker, Geheimdienstmann oder Ehegatte. Vieles wird gelabelt, mit Leben gefüllt aber nahezu nichts. Je weiter das Buch voranschreitet, desto hanebüchener wird es. Höhepunkt findest das Ganze dann in einem Finale, in dem verschiedene Terror-Organisationen und Geheimdienste aufeinandertreffen. Als erste Opfer sind dann gleich Logik Plausibilität und sprachliche Qualität zu beklagen, die auf der Strecke bleiben.

Als Dystopie ist Leere Herzen zu unentschlossen, als Parabel auf Pegida, AfD und Co. funktioniert das Buch ebenfalls nicht. Das Geschäftsmodell der Brücke bleibt im Ungefähren. Der Roman hat eine deutliche Unwucht, die einzelnen Handlungsabschnitte sind alles andere als ausbalanciert. Besonders offensichtlich wird dies am Schluss des Romans, der in seiner Gehetztheit die vorherigen langweilenden vorherigen Passagen in puncto Tempo und Logik ab absurdum führt. Was zudem auch  unangenehm oft auffällt, ist der übermäßig strapazierte moralische Zeigefinger der Autorin, der hier eindeutig zu oft im Einsatz ist. Nicht ohne Hintersinn trug ihre Kolumne im Magazin Der Spiegel auch den Titel „Die Klassensprecherin“ – vieles von dieser Rechthaberei findet sich auch zwischen den Zeilen in Leere Herzen.

Vieles an diesem Buch ist sicherlich gut gewollt, auch will ich mich eigentlich an dieser Stelle nicht beklagen, dass sich eine Autorin hier mit Politik und zeitgenössischen Aspekten beschäftigt, hatte ich doch so etwas erst in meinem letzten Meinungsbeitrag hier eingefordert. Leider bleibt es beim Wollen und einer mangelhaften Umsetzung der aktuellen Themen und Fragen. Leere Herzen ist einfach schlecht ausbalanciert, unrund, wenig plausibel und somit eine der großen Enttäuschungen dieses Bücherherbstes.

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Arne Dahl – Sechs mal Zwei

Vorweg- wer Dahls Vorgängerroman Sieben minus eins nicht gelesen hat, wird an Sechs mal zwei (Übersetzung von Kerstin Schöps) kaum Freude finden. Die Lektüre des Auftaktbandes seiner Reihe um die Ermittler Molly Blom und Sam Berger sollte wirklich vor Dahls neuem Roman stehen, sonst wird man das ganze Dickicht aus Fährten, Anspielungen und Beziehungen kaum durchdringen können (was aber auch mit der vorher erfolgten Lektüre von Sieben minus eins schwierig wird).

Arne Dahl - Sechs mal Zwei (Cover)

Inhaltlich knüpft Dahl an die Ereignisse des ersten Bandes an, als Blom und Berger einen Entführer junger Frauen jagten. Die Ermittler wurden dabei jedoch selbst von Jägern zu Gejagten, weshalb sie nun in Sechs mal zwei ständig unter dem Radar operieren müssen. Die SÄPO (der schwedische Nachrichtendienst) sucht nach den beiden Ermittlern, nur die Kommissarin Desiree Rosenqvist, genannt Deer, hält den Kontakt zu Blom und Berger und versorgt sie mit einem Fall und Informationen.

Denn durch einen Brief einer scheinbar paranoiden Frau stoßen die beiden im wahrsten Sinne des Wortes verdeckten Ermittler auf die Spur eines Serienkillers. Schon vor Jahren schien Sam Berger diesen verhaftet zu haben und somit alle Fälle aufgeklärt zu haben. Doch neue Erkenntnisse lassen die zwei an der offensichtlichen Faktenlage zweifeln. Hat Sam damals wirklich den richtigen Täter festgenommen? Oder befindet sich der wahre Serienkiller immer noch da draußen in der schwedischen Wildnis?

Wichtig: Vorkenntnis und Loyalität

Sechs mal zwei verlangt vom Leser zwei Dinge: Vorkenntnis des ersten Buchs (wie eingangs schon beschrieben) und zweitens ein gerütteltes Maß an Akzeptanz, die wenig glaubhaften Geschehnisse und Twists hinzunehmen, die Arne Dahl den Lesern serviert. Hinterfragen sollte man an diesem Buch nichts, denn dann stürzt das ganze Konstrukt in sich zusammen. Und genau daran ist das Buch bei mir gescheitert.

Geschenkt, dass die Kriminalstatistik Schwedens der Handlung in Sechs mal zwei spottet. 106 Morde für das Jahr 2016 verzeichnet die Kriminalstatistik, davon 29 an Frauen. Wenn man die Geschehnisse in Dahls Kosmos betrachtet, müsste fast die Hälfte der Taten ja schon im Umkreis von Sam Berger und Molly Blom passiert sein. Überall Leichen und Tote, die auf das Konto des Killers gehen. Mit der Realität ist das kaum vereinbar (was natürlich kein gravierender Kritikpunkt ist – schaut man einmal ins skandinavische Krimiregal, dann dürfte zwischen Dänemark und Finnland kaum mehr ein Bewohner existieren, so viele Serienmörder machen dort die Bücher unsicher).

Abgesehen davon, dass der zugrundeliegende Plot für meinen Geschmack zu sehr auserzählt ist (Serienkiller verhaftet, Taten gehen weiter – Suche nach dem wahren Schuldigen), ist das Dickicht aus Plotfäden hier einfach zu verwirrt. Die Hälfte des Buchs gleicht mindestens einem von Schlamm und Schlick durchsetzen Wasserglas, das sich sehr gemächlich absetzt und klärt. Was wirklich passiert ist, das schält sich erst Stück für Stück aus der Handlung, während sich der Leser immer wieder am Kopf kratzt. Was treibt dieser Sam Berger aus dem gut 150 Seiten dauernden Prolog? Wie passt das mit den weiteren Geschehnissen zusammen? Was ist mit der paranoiden Briefschreiberin? Wer beobachtet Molly und Sam? Sechs mal zwei bietet von Anfang an ein Bündel an Fragen, die Antworten kommen aber erst sehr spät.

Arne Dahl hat sich verhoben

Während Molly Blom und Sam Berger unerkannt durch ganz Schweden reisen, um der Fährte des Serienkillers zu folgen, wird der Plot immer hanebüchener. Arne Dahl zieht einen Budenzauber um gestohlene Identitäten, nicht entdeckte Morde und multiple Persönlichkeiten auf, dass man sich schon manchmal nach einer gewissen Prise Normalität sehnt. Auch die Umsetzung der Taten erscheint arg konstruiert immer wieder werden neue Arbeitshypothesen präsentiert, die dann aber doch schlussendlich wieder verpuffen oder nicht verfolgt werden.

Dies schmälert alles leider den Genuss des Buches. Man muss einfach konstatieren, dass sich Arne Dahl – wenngleich komplexe Plots ja eigentlich immer seine Stärke sind – hier einfach verhoben hat. Hoffentlich wird der nächste Band der Blom/Berger-Reihe da wieder etwas realistischer und weniger überkonstruiert.

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Kurz und gut

Gael Faye- Kleines Land

Was passiert, wenn man den Ort seiner Kindheit hinter sich lassen musste und in einem anderen Land erwachsen wird? Davon erzählt Gael Fayes Debüt Kleines Land. Sein Protagonist Gabriel, genannt Gaby, wächst in Burundi mit seiner Schwester auf. Sein Vater ist Franzose, seine Mutter stammt aus Burundi und gehört der Ethnie der Tutsi an. Die unbeschwerte Kindheit endet aber recht bald, als nach einem Militärputsch die Auseinandersetzungen von Hutu und Tutsi zunehmen und schließlich in einem brutalen Bürgerkrieg münden. Nach der Flucht aus diesem sich selbst zerstörenden Land lässt Gaby die Erinnerung allerdings nicht los und er beschließt, noch einmal nach Burundi zurückzukehren.

Ein Buch, das ordentlich beginnt und dann immer faszinierender und besser wird, ehe es in einen packenden Schluss mündet. Faye erzählt bildstark und sehr farbig. Literatur über Afrika und dessen Menschen und Länder fristet in unserem literarischen Bewusstsein doch eher ein Nischendasein, umso schöner, dass uns hier ein junger frankophoner Autor in die wechselvolle Geschichte Burundis eintauchen lässt. (Übersetzung von Brigitte Große und Andrea Alvermann)

 

Hari Kunzru – White Tears

Hari Kunzru erschafft mit White Tears einen reizvollen Bastard aus Musikgeschichte, magischem Realismus und amerikanischer Gesellschaftsanalyse. Ähnlich wie Grégoire Hervier in Vintage ist es bei Kunzru auch die Musik, die einen Strudel aus Tod und Verderben auslösen wird. Dabei beginnt bei Kunzru eigentlich alles recht unscheinbar, und zwar mit der Freundschaft von Seth und Carter. Jene freunden sich auf dem Campus an und halten ihre Freundschaft auch nach dem Studium aufrecht. Ein von ihnen aufgenommenes und verfremdetes Musikstück wird dann allerdings zum Wendepunkt, an dem sich ihre Freundschaft und schon bald ihre Leben scheiden. Denn dieses Musikstück führt zu einem schweren Angriff auf Carter – und Seth beschließt, dem von ihnen produzierten Musikstück auf den Grund zu gehen. (Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner)

Kunzru schickt seinen Helden auf einen düsteren Trip in den (musikalischen) Süden der USA. Dabei stößt er an die Wurzeln von Rassismus, Blues und kultureller Aneignung vor. Ein Buch, das sich einer Einordnung konsequent entzieht, und das durch seine flirrende Art zu den eindrücklichsten und originellsten Büchern dieses Bücherherbstes gezählt werden darf.

 

Sarah Perry – Die Schlange von Essex

In ein unbekanntes England entführt die Autorin Sarah Perry in ihrem wirklich wunderbar gestalteten Buch Die Schlange von Essex. Ihre Geschichte spielt im ländlichen Essex gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Während sich zu dieser Zeit Sherlock Holmes bereits durch ein rasch wandelndes und von der Industrialisierung gekennzeichnetes England ermittelt, herrscht bei Perry noch höchste Entschleunigung. Ihre Heldin ist Cora Seaborne zieht sich aus Land nach Essex zurück, nachdem ihr Mann verstorben ist. Dort kollidiert sie mit dem ansässigen Pfarrer, der einen Gegenpol zu Cora bildet. Denn die Leidenschaft der jungen Frau gilt den Naturwissenschaften und dem Kampf um Selbstbestimmung. Punkte, die zu Konfrontationen mit William Ransome, so der Name des Pfarrers, führen. Doch lauert unter allem Streit auch eine starke Anziehungskraft zwischen beiden Parteien. (Übersetzung von Eva Bonné)

Leider konnte der von Sarah Perry entfachte Funke bei mir nicht überspringen. Über allen eigenwilligen Figuren vergisst Perry für meinen Geschmack etwas zu sehr, die Handlung zu strukturieren und voranzutreiben. Stattdessen dominiert das Figurenensensemble, was bei mir für einige Lesedurchhänger sorgte. Mehr Esprit und Agilität hätten dieser Schlange gut getan!

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