Hugo Hamilton – Echos der Vergangenheit

Vor wenigen Wochen jährte sich die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten zum 90. Mal. Der Ire Hugo Hamilton legt mit Echos der Vergangenheit einen Roman vor, der aus Sicht eines Buchs erzählt, das eigentlich damals auf dem Scheiterhaufen hätte landen sollen. Und nebenbei gibts noch eine ganze Fülle weiterer Themen und Geschichten, vom gefährlichen Stalker bis hin zur Joseph Roth-Biographie.


Die Rebellion dürfte ein Roman sein, den heute nur noch ausgewiesene Joseph Roth-Experten kennen. Radetzkymarsch oder Die Legende vom Heiligen Trinker sind Bücher, die man auch heute noch mit dem 1894 in Ostgalizien geborenen Roth assoziiert. Aber Die Rebellion? In Hugo Hamiltons Roman lernt man diesen Roman ganz genau kennen, denn schließlich erzählt uns das Buch seine Geschichte und die seines Verfassers selbst.

Denn einst, am 10. Mai 1933 hätte das Buch eigentlich auf jenem Scheiterhaufen landen sollen, den junge Studenten dort errichtet hatten, um im Dienste der regierenden Nationalsozialisten „lesensunwerte Literatur“ zu verbrennen. Der Jude Roth war wie Sigmund Freud, Heinrich Mann oder Irmgard Keun den Nazis ein Dorn im Auge, und so wurde die Werke dieser und vieler anderer Autor*innen öffentlichkeitswirksam verbrannt. Doch das Schicksal hielt im Gegensatz zu den anderen Werken für Joseph Roths Werk eine andere Volte bereit.

Vor der Bücherverbrennung gerettet

Die Bücher meines Verfassers waren zwar im Katalog der Staatsbibliothek aufgelistet, aber ich gehörte Professor Glückstein. Dieser hatte mich zu Hause in seine Aktentasche getan und in die Humboldt-Universität gebracht, weil er nicht wusste, wie weit man bei der Säuberung gehen würde, ob die Studenten nicht doch in Privatwohnungen eindringen würden, was später tatsächlich geschehen sollte. Der Professor hatte sich in seinem Büro mit einem zuverlässigen Studenten verabredet, dem er mich zwecks sicherer Aufbewahrung übergeben wollte.

Dieser Student hieß Dieter Knecht. Er war Lenas Großvater. Ein großer junger Mann mit leise Stimme, der lieber las, als Sport zu treiben. Er stand kurz vor dem Abschluss seiner Zwischenprüfung in Germanistik. Er nahm mich entgegen, und beide sprachen eine Weile voller Sympathie über meinen Verfasser.

Hugo Hamilton – Echos der Vergangenheit, S. 28

Im Lauf der Geschichte erzählt uns das Buch nun seine Geschichte, die vom Kriegsversehrten Andreas Pum handelt, der obwohl ausgezeichnet und dekoriert, nach seiner Heimkehr aus dem Krieg nicht mehr in die bestehende Gesellschaftsordnung hineinfindet und zum Drehorgelspieler wird. Ein Job, der ihm ein karges Auskommen, vor allem aber viel Ärger einbringt, sodass er in der Gesellschaft weiter absteigt. Doch nicht nur der Inhalt wird in Echos der Vergangenheit nacherzählt, auch die Geschichte seines Verfassers flicht Hugo Hamilton in Echos der Vergangenheit ein.

Buch-Geschichte, Joseph Roth-Biographie und Stalker-Krimi in einem

Die Reportagen Joseph Roths, sein Schreiben, seine unglückliche Ehe, der Alkoholkonsum, all das ergänzt die Erzählung des erzählenden Buchs. Und auch wie das Buch bei Lena Knecht, der Enkelin des einstigen Buchretters landete, das ist Thema im Roman. Denn Lena Knecht ist von Amerika nach Berlin gereist, um dem Buch und seiner Geschichte nachzuspüren. Besonders die im Buch enthaltetene gezeichnete Karte beschäftigt sie sehr.

Hugo Hamilton - Echos der Vergangenheit (Cover)

Doch mit der Erforschung der Provenienz und der Beschäftigung mit dem Land ihres Großvaters ist es nicht weit her, denn das Buch kommt Lena abhanden und gelangt über Umwege in die Hände von Armin, der aus Tschetschenien stammt. Dieser wiederum hat eine Schwester, die als Akkordeonistin triumphiert, allerdings auch von einem Mann gestalkt und bedroht wird. Davon erzählt Hugo Hamilton ebenfalls und bringt, als sei all das noch nicht genug, auch noch die Episode eines Nachbarschaftsstreits in den USA mit ins Spiel, der sich immer mehr zu steigern scheint.

Viele Themen und Register also, die Echos der Vergangenheit bedienen will. Das geht nicht immer ganz auf, denn an einigen Stellen wirkt die Erzählung etwas überladen und kann sich zwischen der Roth-Rebellion-Bücherverbrennungsepisode und der aufkeimenden Liebesgeschichte zwischen Lena und Armin sowie den darum herum gruppierten Episode nicht wirklich entscheiden, besonders da Hamilton teilweise auch recht abrupt die Erzählstränge wechselt und diese dadurch bisweilen etwas disparat wirken.

In meinen Augen wäre die Geschichte noch etwas konziser und auch präziser geworden, hätte sich Hamilton auf die Geschichte der Rebellion und die seines Verfassers konzentriert und dies zulasten der ein oder anderen Seitenerzählung in der erzählten Gegenwart ausgebaut. Die Idee hinter der Karte im Buch und die wechselvolle Geschichte hätten ausgereicht, um dramaturgisch zu überzeugen.

Denn auch wenn die Stalker-Epiosde am Ende des Romans noch für eine gehörige Portion Dramatik sorgt, so bleibt diese doch hinter den Erwartungen zurück und passt nicht wirklich in der Setzung zum übrigen Buch. Und auch das Buch als allwissender Erzähler will nicht so ganz mit der Fülle an Themen und Ideen harmonieren und passt dann auch nur bedingt zu dem Thriller, zu dem sich Echos der Vergangenheit dann kurzfristig entwickelt.

Fazit

Insgesamt in meinen Augen also ein Buch, das durch die thematische Überfrachtung etwas an Wucht einbüst, was schade ist, da die Grundidee des Buchs mit der wechselvollen Vergangenheit in Verschränkung mit einer biografischen Erzählung über seinen Erschaffer Joseph Roth für ein überzeugendes Buch ausgereicht hätte. So meint es Hugo Hamilton etwas zu gut und nimmt dem Buch durch die Fülle an Stoff etwas von seiner Wirkung. Dennoch aber nicht nur angesichts des unglückseligen Jahrestages der Bücherverbrennung ist Echos der Vergangenheit einen Blick wert!


  • Hugo Hamilton – Echos der Vergangenheit
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-630-87681-8 (Luchterhand)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €
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T. C. Boyle – Blue Skies

Erst gibt es Häppchen und Hochzeit, dann kommt die Apokalypse. T.C. Boyle exerziert in Blue Skies die Auswirkungen der Klimakatastrophe im Privaten durch – und erzählt so auch von der großen gesellschaftlichen Ignoranz, mit der wir diesem Thema nur zu gerne begegnen.


Es ist ein Gefühl, das der Filmemacher Adam McKay im vergangenen Jahr mit seinem vielbesprochenen Werk Don’t look up adressierte. Da nähert sich ein Asteroid mit zerstörerischer Kraft unaufhaltsam der Erde – doch die Menschen ignorieren die Warnungen der Wissenschaftler, flüchten sich in Ignoranz, lassen sich von der Politik in trügerische Sicherheit wiegen und stecken den Kopf in den Sand. McKays Werk wurde vielfach als Allegorie auf den Klimawandel gelesen – und unseren Umgang mit der Katastrophe, in die wir sehenden Auges steuern und doch unser Verhalten nicht ändern wollen.

Auch der amerikanische Bestsellerautor T.C. Boyle widmet sich in seinem neuesten Roman Blue Skies diesem Thema, obschon der Beginn seines Roman noch nicht wirklich in diese Richtung weist.

Influencerinnen und Insektenmehl

T. C. Boyle - Blue Skies (Cover)

Da ist die junge Cat, die sich aus Langeweile und einem spontanen Impuls heraus eine Schlange zulegt. 300 Dollar bezahlt sie für ein Python, dazu noch ein Terrarium und „Flauschies“ genannte tiefgefrorene Mäuse als Nahrung. Wirkliche Erfahrung hat sie mit Tieren bislang noch nicht gesammelt und doch erscheint ihr die Schlange als adäquater Gefährte, die sie auch ihrem Karriereziel als Influencerin näherbringen könnte. Zusammen mit ihrem Freund Todd lebt sie in Florida. Dieser scheint sich mehr für sein Auto als für Cat zu interessieren und ist als Markenbotschafter eines Rumherstellers immer unterwegs, um Partys zu schmeißen und für einen florierenden Absatz der Marke zu sorgen.

Zwei weitere Figuren stellt T. C. Boyle neben diesen recht oberflächlichen Millenials in den Mittelpunkt von Blue Skies, deren familiäre Verknüpfungen erst langsam zutage treten. Da ist Cooper, der als Entomologe arbeitet und sich der Erforschung der Insekten und der klimawandelbedingten Veränderungen untersucht. Er hat seine Mutter Ottilie für eine nachhaltige Lebensweise sensibilisiert – und so hat sich diese nun ein Grillenfarm bestellt und versucht im Stil einer aufgeklärten und naturbewussten Arztgattin, die sie tatsächlich ist, ihr gesamtes Umfeld missionarisch vom Verzehr von Insekten zu überzeugen. Während sowohl Mutter als auch Sohn in Kalifornien zahlreiche Rückschläge im Kampf für Naturschutz und den Arterhalt hinnehmen müssen, beharrt die Tochter Cat stoisch auf einem Verbleib im Hochrisikogebiet Florida.

Hochzeit und Klimakatastrophe

Als sich alle Familienmitglieder nun zur Hochzeit von Cat und Todd im elterlichen Haus in Kalifornien versammeln, wird die vorher nur punktuell angedeutete Klimakatastrophe dann aber in ihrer ganzen Wucht erfahrbar. Denn der eigentlich als Traumhochzeit geplante Termin entwickelt sich schnell zum veritablen Desaster.

Sie standen dicht gedrängt im Flur, in der Küche und in den drei Zimmern im Erdgeschoss, umklammerten Sektflöten und Cocktailgläser, fragten sich, wo das Essen war, und versuchten, sich einzureden, dass sie eine großartige Hochzeit erlebten. Die Leute saßen auf Sofa- und Sessellehnen und auf der Treppe in den ersten Stock, umarmten ihre Knie oder hatten die Beine sittsam untergeschlagen. Der Wind war allgegenwärtig und fegte zischend und brausend wie eine einfahrende U-Bahn über das Haus hinweg.

Ein Hagel aus kleinen Partikeln prasselte gegen die Fenster, und hin und wieder schlug etwas Schweres mit einem dumpfen Poltern auf das Dach. Cat war aufgelöst, verzweifelt, drei viertel betrunken und der zerflossene Mittelpunkt des Ganzen. Sie sagte immer wieder, es sei wie ein Hurrikan, dabei hatte sie, soviel er wusste, noch nie einen erlebt – noch nicht jedenfalls. Die Fenster erbebten. Alle schwitzten.

T. C. Boyle – Blue Skies, S. 143

Der Räucherlachs fliegt von den knusprigen Kartoffelküchlein, die Caterin weigert sich „in einem Windkanal“ Essen zu servieren und dann drohen auch noch Buschfeuer das elterliche Haus zu vernichten. Es bleibt nicht die einzige Katastrophe, die T. C. Boyle in Blue Skies inszeniert.

Grün ist die Hoffnung nicht mehr

Später wird Ottilie der kurz vor ihrer Niederkunft stehenden Cat zur Seite eilen, wobei dieser Kampf gegen Zeit und Naturkräfte fast dem in Friedrich Schillers Ballade Die Bürgschaft gleicht. Überschwemmung, Unwetter mit Flugzeugturbulenzen, Insekten die zur lebensbedrohlichen Gefahr werden – die Gefahren für alle Beteiligten nehmen immer mehr zu. Und doch ändern die Figuren ihr Verhalten nicht. Das Wegschauen und ein wenig grünes Bewusstsein, damit wird man auch durch diese Krise kommen, so das Gefühl, das über Blue Skies schwebt und mit dem die reihum oberflächlichen Figuren der Katastrophe eben auch in aller Oberflächlichkeit begegnen, denn Klima wandelt sich halt irgendwie immer, so scheint die schulterzuckende Antwort der Figuren auf die Katastrophen zwischen den Zeilen auf.

Damit trifft T. C. Boyle sehr gut einen aktuellen Zeitgeist, der trotz klarer Datenlage und spürbarer Auswirkungen des Klimawandels auch hierzulande lieber auf Bequemlichkeit und ein Weiter so statt auf notwendiges und schnelles Umsteuern setzt. Im Gewand eines Familienromans macht Boyle die bevorstehenden Veränderungen spürbar – und doch setzen ihm seine Figuren nichts entgegen. Allen voran die Möchtegern-Influencerin Cat und ihr „Rumtreiber“ Todd sind Figuren, die man am liebsten einmal kräftig schütteln möchte und die man in dieser charakterlichen Anlage von anderen Werken T. C. Boyles wie etwa Grün ist die Hoffnung kennt.

Nur gibt es knapp 40 Jahre seit diesem Werk Boyles nun eben keine große Hoffnung mehr, weder fürs Grün noch für Grüne. Denn ein bisschen Grillenmehl oder ein Bienenvolk im eigenen Garten werden die Katastrophe so nicht aufhalten – auch wenn es sich gut anfühlt, das vermeintlich Richtige zu tun. Ohne mehr Radikalität wird das alles nichts. Das zeigt T. C. Boyle in Blue Skies sehr deutlich, besonders da er durch die Form des Familienromans seine (ökologische) Botschaft besonders deutlich hervortreten lässt, in dem er durch das Private zum gesellschaftlichen großen Ganzen vorstößt. Climate Fiction ohne viel Hoffnung oder: Apokalypse ahoi!


  • T. C. Boyle – Blue Skies
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-446-27689-5 (Hanser)
  • 400 Seiten. Preis: 28,00 €
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Erin Flanagan – Dunkelzeit

Gunthrum, ein kleines Städtchen in Nebraska im Jahr 1985. Hier verschwindet die junge Peggy aus ihrem Elternhaus – und als Verdächtiger Nr. 1 gilt der geistig zurückgebliebene Hal. In Erin Flanagans Debütroman Dunkelzeit wird daraus aber leider weniger ein Krimi denn eine mittelmäßige Kleinstadtstudie, die man schon einmal besser gelesen hat.


„Glaubst du wirklich, dass sie verschwunden ist?“, fragte er.

Laura sah ihn verwirrt an. „Du etwa nicht?“

Milo zuckte die Schultern. „Klingt doch irgendwie komisch. Jemand verschwindet einfach so. In Gunthrum passiert das normalerweise nicht.“ Er sah Laura prüfend an. „In Gunthrum passiert überhaupt nie etwas. Vielleicht ist das ja genau das Problem.“

Erin Flanagan – Dunkelzeit, S. 138

Gunthrum ist ein Städtchen im Hinterland von Nebraska – und hier passiert wirklich nichts. Einmal im Jahr treffen sich die Väter, um in der Schule eine Benefizmatch gegen ihre Kinder auszutragen. Am Wochenende trifft man sich in den Partykellern, um dem Alkohol und dem Exzess zu huldigen. Aber recht viel mehr hat Gunthrum nicht zu bieten. Dass die junge Peggy hier verschwunden ist, das kann ihr Bruder ihr nicht wirklich verübeln. Hat sie sich mit einem jungen Mann aufgemacht, um dem tristen Alltag zu entfliehen?

Das Verschwinden der Peggy Ahern

Die Eltern verheimlichen die Abwesenheit der Tochter vor der eigenen Kirchengemeinde und erst allmählich verfestigt sich die Erkenntnis, dass es sich bei der Abwesenheit von Peggy nicht nur um ein kurzes Ausreißen handeln muss.

Erin Flanagan - Dunkelzeit (Cover)

Diesen Handlungsstrang, der aus der Sicht von Peggys kleinem Bruder Milo erzählt wird, kontrastiert Erin Flanagan um den Handlungsstrang, der vom Farmerpaar Alma und Clyle erzählt. Während er die heimischen Felder bewirtschaftet, bringt Alma mit dem Schulbus die Kinder von Gunthrum in die Schule. Drittes und fast vollwertiges Familienmitglied ist Hal. Dieser geistig zurückgebliebene Bursche wurde besonders von der in Sachen Sozialarbeit beschlagenen Alma unter ihre Fittiche genommen. Er hilft auf dem Hof aus und hat sich durch die Struktur auf dem Hof gut entwickelt.

Als Hal nun nach einem Jagdausflug wieder zu Alma und Clyle zurückkehrt, berichtet er von einer Hirschkuh, die er illegalerweise erlegt haben will. Sein Auto weist Beschädigungsspuren auf, Blut findet sich sowohl im Auto als auch bei ihm daheim. War es wirklich eine Hirschkuh oder hat Hal vielleicht etwas mit dem Verschwinden von Peggy zu tun? Je mehr Alma von ihm wissen will, umso mehr verwickelt sich der junge Mann in Widersprüche.

Als Krimi zu zäh, die Figuren zu platt

Erin Flanagan ist eigentlich Professorin für Englische Sprache und Literatur, die an der Wright State University in Ohio lehrt. Für ihr Debüt hat sie sich in meinen Augen vorgenommen, an den großen Klassiker Kaltblütig von Truman Capote anzuknüpfen. Ein Unterfangen, an dem sie sich gnadenlos verhebt. Denn obwohl sie sich viel versucht und das Buch auch mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, so ist das Buch in meinen Augen nicht wirklich überzeugend.

Als Kriminalroman ist das Ganze deutlich zu zäh erzählt. Die Anlage des Buchs ist schon nach einigen Dutzend Seiten klar, aber so etwas wie Spannung kann Flanagan aus dieser Anlage nicht ziehen. Da ist die Perspektive um Milo, der sich zwar um seine Schwester sorgt, aber vorwiegend mit Teenager-Problemen befasst ist. Alma und Clyle schwanken zwischen Vertuschen der Tat Hals und Unsicherheit über das, was wirklich vorgefallen ist. Aber so wirklich bringen die Figuren keine Spannung ins Buch, da beide Seiten kaum mit Ermittlungen über das tatsächliche Geschehen befasst sind.

Die Polizei glänzt mit Abwesenheit, erst spät im Buch führt Erin Flanagan einen Privatermittler ein, der ohne juristische Handhabe einfach die Bewohner*innen Gunthrums vernimmt. Wer sich so etwas wie Spannung erhofft, der sieht sich aber angesichts des zähen Vorankommens im Plot schnell enttäuscht.

Auch ist das Handeln der Figuren bestenfalls küchenpsychologisch grundiert. So wird die „Mutterliebe“ von Alma für Hal damit erklärt, dass sie sich immer Kinder wünschte, nach mehreren Abgängen die Hoffnung auf Nachwuchs aber begraben hat und nun eben Hal als Ersatzkind bemuttert und abschirmt. Auch die anderen Figuren bleiben eher holzschnittartig, tragen keine großen inneren Konflikte aus – und selbst die Ermittlung und Überführung des Täters erfolgt doch recht unmotiviert und halbherzig.

Fazit

Als Krimi überzeugt Dunkelzeit somit leider überhaupt nicht. Eher ist es eine ruhige Studie des Gesellschaftslebens dort in Nebraska Mitte der 80er Jahre. Aber selbst das hat man schon besser gelesen, sodass Dunkelzeit kein packender Krimi ist und auch als Kleinstadtroman nicht wirklich funktioniert, da die Figuren allzu schablonenhaft und die Handlung zu müde und spannungsarm erzählt sind, als dass zumindest bei mir echte Begeisterung aufkommen konnte. Die Auszeichnung mit dem Debütpreis beim Edgar Allan Poe Award kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Mit diesem Krimi tritt die Professorin weder in die Fußstapfen von Edgar Allan Poe noch in die von Truman Capote. Leider enttäuschend.


  • Erin Flanagan – Dunkelzeit
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
  • ISBN 978-3-85535-145-9 (Atrium)
  • 368 Seiten. Preis: 25,00 €
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Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Mutterschaft und Lyrik, Selbsterkundung und Biografiearbeit, Stillen und Übersetzungsarbeit- all das bringt die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa in ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle zusammen und erschafft das Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen.


Die Lesart ihres Textes schreibt Doireann Ní Ghríofa ihren Lesenden dabei unmissverständlich vor und wiederholt es im ganzen Text von Ein Geist in der Kehle fast mantraartig: Dies ist ein weiblicher Text. So ist das erste Kapitel überschrieben, so hebt der Text gleich zweimal zu Beginn an und mit diesen Worten beschließt Ghríofas ihr Buch.

Dies ist ein weiblicher Text, erdacht beim Falten der Kleidung anderer. Ich trage ihn bei mir im Geist und er wächst, allmählich und sacht, während meine Hände Tausende Pflichten verrichten.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Doch was macht einen Text über die bloße Zuschreibung hinaus zu einem weiblichen Text? Hier sind es zuallererst die Themen und Figuren, deren Weiblichkeit in unterschiedlichen Facetten erkundet wird. Die eine Figur ist die Ich-Erzählerin, die sich mithilfe des Mittels der Autofiktion deckungsgleich mit der Autorin Doireann Ní Ghríofa präsentiert. Sie erzählt von ihrem Alltag als Mutter, der Care-Arbeit und ihrer steten Tätigkeit für eine Muttermilch-Bank, für die sie sich selbst Muttermilch aus ihrer Brust abpumpt. Über zehn Jahre hinweg hat sie Kinder geboren und versorgt. Das vierte Kind droht nun zu einer Risikoschwangerschaft zu werden. Kaiserschnitt und Kinder-Intensivstation folgen, ehe das Familienleben wieder in ruhigere Bahnen findet.

Muttermilch und Lyrik

In dieser Zeit wird die irische Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill zum Bezugspunkt und Rettungsanker für die Erzählerin. Sie verfasste einst das 36 Strophen umfassende Lamento caoineadh airt uí laoghaire, welche als bestes Gedicht des 18. Jahrhunderts aus Irland respektive Großbritannien gilt. Flucht und Vertreibung, die Ermordung des eigenen Gatten und die Selbstbehauptung sind Themen im Leben dieser Dichterin, der die Erzählerin durch das von ihr selbst unwissenschaftlich erklärte Mittel der Tagträume immer näherkommt.

Ich beginne mit einem unwissenschaftlichen Mischmasch aus Tagträumen und Tatsachen, zusammengerührt, während ich Porridgepampe in einen Mülleimer schabe, Schulranzen und Mäntel zusammensammle, Kinder ins Auto drängle, mir an der Ampel Flüche verkneife, drei Jungen Abschiedsküsse gebe und wieder nach Hause fahre. Die ganze Zeit über habe ich ein Auge auf Eibhlín Dubh und eines auf meiner Tochter in ihrem Kindersitz.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Die Dichterin und ihr wechselvolles Leben löst in der Erzählerin fast so etwas wie eine Obsession aus. Sie versucht sich an einer eigenen Übertragung der Verse Eibhlín Dubhs, beginnt zu forschen und sichtet Archive, um den Lebensspuren der Dichterin nachzugehen. Dabei kommt es zu einer reizvollen Überblendung der Leben, die sich doch mehr ähneln, als es auf einen ersten Blick hin den Anschein haben mag.

Tagträumend der Dichterin nahekommen

Doireann Ní Ghríofa - Ein Geist in der Kehle (Cover)

Dabei versenkt sich die Erzählerin ganz tief in den anstrengenden Alltag, der Mutterschaft bedeutet. Schlaflose Nächte, wenig eigene Zeit, dabei aber der stete Wunsch nach weiteren Kinder und die genaue Beobachtung des eigenen Körpers. So beschreibt Doireann Ní Ghríofa detailliert die Gewinnung von Muttermilch, ihre schwankende Milchproduktion der Brüste oder die Sterilisation ihres Mannes. Für sich genommen ist das nicht sonderlich kunstvoll oder literarisch überzeugend (außer man sieht Ghríofa in diesen Parts in der Tradition des Naturalismus).

Das Ganze gewinnt aber durch die Überblendung mit dem Leben Eibhlín Dubhs an Qualität. Auch diese erfährt Verluste, sieht ihre Kinder aufwachsen und legt all ihre Empfindungen in ihr Langgedicht – zumindest in der Imagination der Erzählerin, wodurch die Parallelmontage dieser so unterschiedlichen wie auch gleichen Frauen ein Vergleich von Mutterschaft über die Grenzen der Jahrhunderte ermöglicht wird.

So wird aus dem Text tatsächlich das, was uns Doireann Ní Ghríofa immer wieder einbimst – ein weiblicher Text, der in der Tradition von Sarah MossSchlaflos steht. Sie beschreibt schonungslos Mutterschaft, findet aber auch Raum für die Rettung aus der nicht sonderlich intellektuellen Anforderung durch geistige Arbeit, die hier aus der Einfühlung in Eibhlín Dubh besteht.

Im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Autofiktion

Ein Geist in der Kehle bewegt sich im Spannungsfeld der irischen und englischen Sprache, zwischen Lyrik und Autofiktion, historischer Rekonstruktion und Mutterschaftsschilderung. Dementsprechend ist es auch nur konsequent, dass der btb-Verlag zwei Übersetzer gefunden hat. Cornelius Reiber übertrug die Prosa-Passagen, während der Musiker und Lyriker Jens Friebe für die den Kapiteln vorangestellten irischen und englischen Verse eine deutsche Entsprechung fand. Zudem übertrug Friebe das gesamte, im Anfang befindliche Gedicht caoineadh airt uí laoghaire beziehungsweise the keen for art ó laoghaire, das vor Doireann Ní Ghríofas deutschem Debüt sicherlich nur Eingeweihten der Lyrik Irlands ein Begriff gewesen sein dürfte.

So erschafft sich Doireann Ní Ghríofa mit ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle eine ganz eigene Nische. Klugerweise hat der herausgebende btb-Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzeichnet, denn das was Ní Ghríofa im Inneren ihres Werkes bietet ist zu disparat und zu eigenständig, um sich auf eine Bezeichnung wie Roman verengen zu lassen. Ein außergewöhnliches Buch über Mutterschaft und Lyrik!


  • Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle
  • Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe
  • ISBN 978-3-442-76231-6 (btb)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Richard Russo – Mohawk

Der Vermesser der amerikanischen Kleinstadt ist zurück. Wer aber glaubt, dass Mohawk ein neuer Roman aus der Feder Richard Russos ist, der sieht sich schnell getäuscht. Denn der Dumont-Verlag kümmert sich weiter um die Backlist des Amerikaners und veröffentlicht nach Mittelalte Männer aus dem Jahr 1997 nun erstmals den Debütroman Russos in der deutschen Übersetzung von Monika Köpfer. Ein Werk, dass seinen Charakter eines Debüts nicht ganz verhehlen kann.


So erschien Mohawk ursprünglich 1986, bevor es nun knappe 40 Jahre später erstmals auf Deutsch übersetzt vorliegt. Das evoziert natürlich vor allem eine Frage – hat es eine Berechtigung, dass das Buch nun nachgeschoben veröffentlicht wird oder hätte man lieber auf einen neuen Titel Russos gewartet?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, schlagen hier zwei Herzen in meiner Brust. So zählt Russo zu einem meiner persönlich favorisierten Autoren, was die Kunst des Kleinstadtromans und der warmherzigen Schilderung ganz durchschnittlicher und fehlbarer Charaktere betrifft. Großartig sein Blick etwa auf den (Anti)Helden Donald „Sully“ Sullivan, der in den Romanen Ein grundzufriedener Mann und Ein Mann der Tat auftreten lässt. Kaputtgearbeitet, mit einem großen Talent für Fettnäpfchen und Bauernschläue ist er eine Figur, die man in Abwandlung im Kosmos Richard Russos immer wieder antrifft.

Es sind Menschen, die wissen, dass Glanz und Glamour für sie nicht vorgesehen ist, die gerade in ihrer Alltäglichkeit so besonders sind. Darin besteht in meinen Augen die Kunst des Menschenzeichners Russo, der solche Figuren unnachahmlich nachvollziehbar und plastisch zeichnet.

Die erzählerische Entwicklung Richard Russos

Wie hat sich dieses Talent entwickelt – und wie hat Russo zu seiner Erzählform gefunden? Das lässt sich nun dank des nachgereichten Debüt ganz genau betrachten. Denn der erzählerische Fortschritt, den der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor innerhalb von fast vier Dekaden gemacht hat, wird dank dieser Erstübersetzung nun transparent.

Richard Russo - Mohawk (Cover)

Was dabei als Erstes auffällt, ist die Tatsache, dass Russo schon bei seinem Debüt – das laut John Irving zu gut für ein Debüt sei, so der Blurb auf dem Klappentext – eine Erzählform wählt, auf die er auch in den späteren Romanen immer wieder zurückgreifen wird. Es ist die Form des amerikanischen Kleinstadtromans. Ähnlich wie Kent Haruf oder später auch Joel Dicker erschafft Richard Russo in seinen Romanen immer wieder ein kleines, durchschnittliches Städtchen, das man als jeweiliges Amerika en miniature lesen könnte.

Mögen die Kleinstädte auch mal den Namen North Bath oder Empire Falls tragen – im Kern sind sie alle gleich. Es sind stets nordamerikanische Kleinstädte, in denen die Bewohner*innen vor sich hinleben und mal größere und mal kleinere Einsichten erfahren. Im Großen und Ganzen sind es aber Städte, die für eine beständige Ordnung stehen, obgleich diese Städte auch meist im Niedergang inbegriffen sind.

Bei Mohawk ist das nicht anders, das sich hier als Prototyp all jener Erzählkulissen entpuppt, die in den kommenden Büchern folgen sollten.

Eine Russo-typische Kleinstadt namens Mohawk

Das an der Ostküste in der Nähe von New York angesiedelte Städtchen hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die ansässige Lederindustrie befindet sich im Niedergang. Das Einzige, für das die Industrie noch zuverlässig sorgt, sind die chemischen Rückstände der Gerbereien, die den Fluss verunreinigen. Das Einzige, das noch zuverlässig funktioniert, ist die schaukelnde Ampel, die auch in der Nacht auf den menschenleeren Straßen zuverlässig den Takt vorgibt.

Zentrum des Kaffs ist das Diner Mohawk Grill, das von Harry betrieben wird und in dem Glücksspieler und hungrige Stadtbewohner zusammenkommen. Darum herum gruppiert Russo die Familien Grouse und Wood, die durch die Verwandtschaft der beiden Großmütter und das Schicksal der pflegenden Cousinen miteinander verbunden sind. Ein Officer, ein stadtbekannter Sonderling, im zweiten Teil des Buchs dann auch die jüngere Generation, die ihren Auftritt hat. Viel mehr an Personal benötigt Richard Russo nicht, um die kleineren und größeren Dramen des Lebens zu schildern.

Nicht verwirklichte Liebe, Fehden zwischen Jugendlichen und unterschiedlichen Familien, Antriebslosigkeit, dazu auch Themen wie der Tod und die Chancenlosigkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Das sind Themen, die Russo in Mohawk anschneidet, aber nicht wirklich tiefergehend behandelt. Das Leben ist hier ein langer, ruhiger Fluss, der von ein paar unvorhergesehenen Schnellen doch eben recht unberührt vor sich hinfließt. Zeithistorische Wegmarken wie der Vietnamkrieg und die damit verbundenen Einberufungen spielen hier zwar im zweiten Teil eine Nebenrolle, insgesamt ist es aber doch eher das private Drama denn die Weltgeschichte, die Richard Russo schon in seinem Debüt vorrangig interessieren.

Seine Kleinstadtdramen und das Erzählen des Durchschnittlichen über eine hohe Lauflänge ist schon in Mohawk auffallend und zeigt, dass Russo dieses narrative Konzept verbunden mit dem Handlungskosmos der Kleinstadt schon ab Buch eins verfolgt und im Folgenden dann verfeinert und verbessert hat. Wobei die Verbesserung in den weiteren Titeln mit einer deutlichen Ausdehnung des Umfangs seiner Bücher einherging. Mit knapp 500 Seiten ist dieses Buch an der unteren Grenze in Sachen Seitenzahl angesiedelt. Spätere Werke sollten diese Marke locker mit bis zu fast 300 Seiten mehr überschreiten.

Noch nicht die Klasse späterer Werke

Warum aber konnten mich spätere Werke Russos eher überzeugen? Hier kommt nun das zweite Herz ins Spiel, das diesbezüglich in meiner Brust schlägt.

In meinen Augen ist die Figurenführung hier noch nicht so stark, wie man es eigentlich von Russo gewohnt ist. Und auch sein erzählerischer Kosmos ist hier noch nicht so ausbalanciert, wie es Russo in Büchern wie Ein Mann der Tat oder Diese gottverdammten Träume gelungen ist. So fehlt den meisten Figuren hier noch etwas an Tiefe und Profil, das sie zu starken Figuren machen würde, die die Geschichte über die Länge tragen. Alles ist hier noch nicht so scharfgestellt, wie man es eigentlich von Russo kennt. Auch die Komik ist noch zaghafter eingesetzt, als man es eigentlich von ihm gewohnt ist.

Zwischen alten Familienfehden, einem haltlosen Officer, dem Geheimnis hinter dem Sonderling, den Motivationen seiner Figuren, plötzlichen Todesfällen und den Sprüngen zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden verliert Richard Russo bisweilen etwas die Orientierung, sodass das Buch nicht immer wirklich stringent wirkt.

Der Eindruck, der sich bei mir nach nun sechs gelesenen Romanen einstellte, war der Eindruck der Übersättigung, da Themen und Setting doch über die Bücher hinweg wenig Entwicklung erkennen lassen. Natürlich ist diese Kritik ein Stück weit unstatthaft, trifft dieser Vorwurf hier eigentlich das falsche Buch, das es ja eigentlich am Anfang von Russos Erzählkarriere steht und nur hierzulande aufgrund der deutschen Publikationspolitik erst nach all den anderen Werken erschien.

Fazit

Und doch ist Mohawk auch in chronologisch sortierten Überblick eines der schwächeren Werke, das zeigt, dass Russo über die Jahre erst zu der bestechenden Form in Sachen Figurenführung und Erzählansatz finden musste, die seine letzten Werken auszeichneten.

Will man die Entwicklung Russos nachvollziehen, ist das Buch natürlich großartig, lassen sich Motive, Themen und narrative Strategien von Beginn dieses Erzähldebüts aus wunderbar analysieren und miteinander in Vergleich setzen. Für alle, die aber einfach Unterhaltung suchen und sich (wieder einmal) in den Kleinstadtkosmos von Richard Russo versenken möchte, wären die schon erwähnten Romane Ein grundzufriedener Mann, Ein Mann der Tat oder auch das ebenfalls nachgereichte Werk Mittelalte Männer über einen Universitätsprofessor in meinen Augen nach wie vor die erste Wahl.

Beileibe kein schlechtes Buch – und im Vergleich mit Versuchen aus deutscher Feder immer noch eine Klasse für sich. Aber Russos Formkurve zeigte mit der fortschrittlichen Schriftstellerkarriere nach oben – das beweist das Debüt Mohawk dann leider doch.


  • Richard Russo – Mohawk
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8228-1 (Dumont)
  • 496 Seiten. Preis: 26,00 €
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