James Kestrel – Fünf Winter

Dass es mal etwas länger dauern kann, mit einem Vorhaben, das kennt man aus dem eigenen Leben. Es kommt einem etwas dazwischen, die Bearbeitung des Sachverhalts dauert – und am Ende fragt man sich, waru es jetzt so lange gedauert hat. So krass wie im Falle von James Kestrels Krimi dürfte es aber kaum jemandem gehen. Denn bei der Aufklärung eines Doppelmordes auf Honolulu grätscht Detective Joe McGrady der Ausbruch des Zweiten Weltkrieg in seiner ganzen Härte dazwischen. Es wird Fünf Winter dauern, bis McGrady die Überführung des Täters gelingt. Dabei fordert die Mördersuche einen hohen Preis von McGrady ein. Aber in Sachen Unbeirrbarkeit macht diesem Ermittler wirklich niemand etwas vor.


Wenn Joe McGrady in letzter Konsequenz gewusst hätte, was jener Telefonanruf auslöst, den er trotz Dienstschluss noch abnimmt, er hätte es sich vielleicht doppelt überlegt. Aber so beginnt alles in James Kestrels Roman eigentlich ganz typisch an einem tropischen Tag Ende November des Jahres 1941.

Auf Bitte seines Vorgesetzten soll McGrady nach Dienstschluss noch die nächtliche Begehung eines Tatorts in der Nähe der Kahana Bay vornehmen. Dort in den Bergen Honolulus wurde ein Leichenfunde gemeldet, qualifiziertes Personal ist aber nicht in greifbarer Nähe. Und so schickt sein Chef Joe McGrady los.

Von Honolulu bis nach Yokohama

Der ehemalige Army-Angehörige ist irgendwann auf Honolulu gestrandet und steht jetzt im Dienst des HPD, des Honolulu Police Department. Wirkliche Erfahrungen als Mordermittler hat er keine, lediglich als Streifenpolizist war ein paar Mal mit Morden befasst.

James Kestrel - Fünf Winter (cover)

Als er nun nach einer kurvenreiche Fahrt in die Berge der hawaiianischen Insel am Tatort ankommt, merkt er schnell, dass es sich um keinen gewöhnlichen Mord handelt. Denn der junge Mann, der kopfüber in einem Stall aufgehängt wurde, wurde auch brutal ausgeweidet. Und dann stößt McGrady auch noch auf eine zweite Leiche einer jungen japanischstämmigen Frau, die ebenfalls brutal misshandelt wurde.

Als er Unterstützung anfordert, kommt es zu einem Schusswechsel mit einem Mann, der offenbar am Tatort aufräumen wollte. Trotz Restriktionen durch seinen Vorgesetzten beschließt der Detective, den spärlichen Spuren nachzugehen und stößt damit die Tür zu einem Fall weit auf, der ihm fast alles in seinem Leben kosten wird.

Denn nach dem nächtlichen Schusswechsel bekommt McGrady Wind von einem ähnlichen Mordfall auf einer benachbarten Insel. Er beschließt, den Spuren auch dort nachzugehen, handelt es sich doch allem Anschein nach um einen Täter, der ebenso brutal wie effizient vorgeht.

Als er auf der Suche nach dem Täter nach Hongkong weiterreist, wird er dort in der britischen Kronkolonie in Kowloon verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Zeitgleich kommt es zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auch dort vor Ort, als die Japaner Pearl Harbor bombardieren und Joe McGrady in japanische Kriegsgefangenschaft gerät. Damit bricht eine lange Zeit mit vier Wintern an, die den Ermittler allerdings nie von seinem Ziel abbringen, den brutalen Mörder zu überführen.

Eine wirkliche Odyssee

Es ist wirklich eine Odyssee, die James Kestrel seinem Helden Joe McGrady in Fünf Winter zumutet. Kestrel, der unter seinem wirklichen Namen Jonathan Moore ebenfalls im von Thomas Wörtche herausgegebenen Krimisegment bei Suhrkamp vertreten ist (und hüben wie drüben von Stefan Lux übersetzt wird), hat sich einen großen Handlungsbogen vorgenommen.

Die Reise, auf die sich McGrady begibt, um dem Täter Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, führt ihn von Honolulu über Hongkong nach Yokohama und schließlich zurück. Er wird fast alles verlieren, bleiben werden ihm doch zwei Gewissheiten, die zur Richtschnur seines Handelns werden.

Da ist zum Einen natürlich die Suche nach dem Täter, die er trotz Inhaftierung und zwangsweisem Aufenthalt in Japan nie aus den Augen verliert. Zum Anderen ist da aber auch Molly, mit der er auf Honolulu liiert ist und die er aufgrund der Mördersuche über Nacht verlassen muss. Diese Liebe lässt ihn aber auch in der Ferne nicht los, womit er natürlich etwas an Homers Helden Odysseus erinnert.

Dabei gelingt es James Kestrel die Schwüle des tropischen Honolulu ebenso einzufangen wie die beklemmende Atmosphäre des Bombardements der amerikanischen Truppen auf Tokyo.

Mit Fünf Winter beleuchtet James Kestrel das Thema des Zweiten Weltkriegs aus einer hochinteressanten Perspektive, ist die Kriegsgefangenschaft McGradys und dessen gleichzeitiger Verbindung zur japanischen Zivilgesellschaft doch ein Konflikt, der ihn die Auswirkungen des Kriegs mit den sprichwörtlichen zwei Herzen in der Brust erleben lässt. Wie er die Gräuel jener Zeit auf beiden Seiten einfängt, das beeindruckt.

Die Mördersuche selbst besticht eher durch Unbeirrbarkeit denn durch Raffinesse – aber wie es James Kestrel gelingt, seinen Bogen zu spannen, Krimi und Zeitgeschichte sowie die verschiedenen Stationen dieses Romans miteinander zu verbinden und dabei durchaus spannend zu erzählen, das ist wirklich gut gelungen und lässt auch die Auszeichnung mit dem Edgar Award 2022 folgerichtig erscheinen.

Fazit

Was der Suhrkamp-Verlag als gewaltiges Epos im Cinemascope-Format bewirbt ist in der Realität tatsächlich ein beeindruckender Bilderbogen, der durch seine exotischen Schauplätze, eindringliche Schilderungen der Kriegsgräuel und einen unbeirrbaren Helden Homer’schen Prägung besticht. Ein starkes Buch!


  • James Kestrel – Fünf Winter
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47317-7 (Suhrkamp)
  • 498 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

André Hille – Jahreszeit der Steine

Ein Tag im Leben eines Vaters inmitten der Jahreszeit der Steine. Den beschreibt André Hille in seinem gleichnamigen Roman, in dem ihm die Nahaufnahme eines Mannes gelingt, der nicht nur über die eigene Prägung und seine Rolle als Vater viel nachdenkt, sondern sich bisweilen auch in seinen Grübeleien zu verlieren droht.


Die Jahreszeit der Steine von André Hille ist eines jener Bücher, bei denen es mir nicht gelingen würde, den Reiz des Buchs durch neutrale Schilderungen in Worte zu fassen. Vielmehr ist es das eigene Ich, das ich hier entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten bemühen muss, um meine Faszination für die Prosa André Hilles in Worte zu fassen. Deshalb hier nun eine mehr als subjektive Würdigung eines Buchs, in dem ich mich als mittelalter männlicher Leser hervorragend wiedergefunden habe, obschon der namenlose Protagonist nicht allzu viele Berührungspunkte zu mir selbst aufweist.

Leben auf dem Land

Dabei wirkt das Leben und die geschilderte Welt in André Hilles Roman wie eine Szenerie, die sich auch Juli Zeh in ihren boomenden Romanen über die ostdeutsche Provinz nicht besser ausgedacht haben könnte. Aufgewachsen in der DDR lebt der Erzähler zusammen mit seiner Frau Levje und den drei Kindern in einem Eigenheim auf dem Land, das von Äckern und Monotonie umgeben ist. Morgens radelt er seine beiden jüngeren Kinder Malik und Fritzi im Anhänger auf dem Rad in den Kindergarten, versucht sich danach an Momenten der Produktivität, die er für sein eigenes Schreiben und die Führung seiner eigenen Texterwerkstatt nutzen möchte.

Im Keller arbeitet der Holzspalter, um das Haus für die anstehenden Wintermonate mit Wärme zu versorgen. Im Wohnzimmer steht ein ausladender Tisch, unter dem Dach hat er sich seine eigene Bibliothek als Rückzugsraum eingerichtet. Alles erscheint wie ein hippes Klischee der aufs Land gezogenen Großstädter, wie man es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dutzendfach in ganz unterschiedlicher Qualität lesen kann.

Doch im Gegensatz zur Prosa Juli Zehs bleiben die Figuren bei André Hille keine Stellvertreterfiguren für gesellschaftliche Konflikte, die Verwerfungslinien zwischen Landbevölkerung und den Zugezogenen symbolisieren sollen. Was man in Jahreszeit der Steine finden kann ist Tiefe, Glaubwürdigkeit und damit auch ein Gefühl von Echtheit.

Ein Tag in Echtzeit

André Hille - Jahreszeit  der Steine (Cover)

Wie kommt es zu diesem Gefühl der Authentizität? Das hat mit der Erzählweise des Romans zu tun. Denn André Hille wagt eine extreme Nahaufnahme seines namenlosen Helden, den er einen Tag quasi in Echtzeit erleben lässt.

Wie in einem One-Cut-Video folgt sein Blick ständig dem Erleben und Denken seines Protagonisten einen ganzen Tag lang. Von der Früh bis zum Abend spannt Hille den Erzählbogen, der alles andere als spektakulär ist.

Sein Held erwacht zu den Klängen der ARD-Infonacht im Ohr, bereitet das Frühstück für die Familie vor, bringt die Kinder in die Schule und abends ins Bett, ist tagsüber viel mit seinen Gedanken und Erinnerungen befasst, ärgert sich über die Unordnung daheim und laboriert an minimalen Kränkungen im Zusammenleben mit seiner Frau, die sich trotzdem bereits zu einer veritablen Barriere zwischen ihnen aufgehäuft haben.

So weit so gut. Allerdings ist das hier Beschriebene doch wohl eher Alltag, den viele Paare und Familie in einer ähnlichen Konstellation tagtäglich erleben durften. Einen spannenden Roman macht solch eine schmucklose und austauschbare Rahmenhandlung sicherlich nicht aus.

Der doppelte Gundermann

Dass dem so ist, das hat mit der Figurentiefe zu tun, die André Hille durch die Beschreibung der Gedanken und Erfahrungswelt seines Helden erzielt. Denn die äußere Handlung alleine wäre kein Grund, diesen Roman als etwas Besonderes zu erachten. Erst durch den Gedankenfluss und die Assoziationen und Erinnerungen, die sein tägliches Tun auslösen, gewinnt der Roman an Qualität und Tiefe.

Dass dies so ist, kann man am besten mit dem Gundermann illustrieren, der in Jahreszeit der Steine in zweifacher Ausführung auftritt. So zitiert André Hille den Sänger, um mithilfe von dessen Poesie zugleich die Erlebniswelt als auch die die DDR-Hintergrund seines Helden zu illustrieren. Doch auch im Garten stößt er auf Gundermann, diesmal allerdings in pflanzlicher Form.

Beim Versuch, diesen aus dem Boden zu ziehen, droht sich Hilles Held in den Strängen zu verheddern und zu verlieren.Immer wieder sind es neue Stränge, die sein Zerren an der Pflanze zutage fördert und die sich der Entfernung aus dem Garten widersetzen. Schließlich offenbart sich in ganzes unterirdisches Rhizom, das sich vor ihm auftut. Ein Bild, das sich eindeutig auch auf die Gedankenwelt des Protagonisten selbst übertragen lässt.

Immer wieder liefert ihm der Alltag Möglichkeiten zum Nachdenken und Ergründen seiner eigenen Biografie und seiner Verhaltensweisen. Das Aufwachsen als Kind eines stark dem Alkohol zuneigenden Vaters, seine eigene Rastlosigkeit und die Versuche, dem väterlichen Erbe zu entkommen. Die Suche nach einem eigenen Weg als Vater zwischen Strenge und Akzeptanz der Individualität seiner Kinder, all das sind Gedanken, die ihn den Tag über begleiten und mit denen Hille nicht alleine ist in diesem literarischen Frühjahr.

Grübeleien von früh bis spät

Dabei neigt er zu starken Grübeleien, die den tatsächlichen Alltag fast zu überschatten drohen. So vertut er nahezu den gesamten kinderfreien Vormittag über die Betrachtung seiner Bibliothek und der schieren Frage, welcher von zwei Vornamen besser zu seinem Helden passt, den er in den Mittelpunkt eines Schreibprojekts gesetzt hat. Immer wieder ist er auf der Suche nach dem richtigen Moment, um zu schreiben oder um zu lesen oder in einer anderen Form produktiv sein.

Statt die Kränkungen mit seiner Frau anzusprechen, beschäftigt er sich lieber im Stillen mit diesen, wälzt sie hin und her und sorgt damit auch dafür, dass sich diese immer weiter aufschichten wie die Mauer aus Findelsteinen, die er um den Garten des Familienhauses gesetzt hat.

Überhaupt, die titelgebenden Steinen, die immer wieder als Leitmotiv im Buch auftauchen:

Trotzdem sind die Äcker voller Steine. Vor einiger Zeit, als wir auf der Suche nach Feldsteinen für unseren Garten waren, habe ich mich mit einem Bauern darüber unterhalten, der aus deinem Dorf mit dem bezeichnenden Namen Steinfeld stammt, in dem das Phänomen besonders verbreitet ist, und er lieferte eine neue Theorie: Die Steine werden durch die Fliehkräfte der Erdrotation nach außen getrieben, sagte er, Zentimeter für Zentimeter arbeiten sie sich durch die Erde, bis sie eines Tages an der Oberfläche auftauchen

André Hille – Die Jahreszeit der Steine, S. 85

Die Steine als Verborgenes, das an die Oberfläche drängt. Der Acker, der hier vom Schauplatz der Gassirunden mit Hund bis zum Ort für eine Rattenbeerdigung dient. Die Schutzmauer, die aus den Steinen gefügt war und das Haus vor äußeren Einflüssen abschirmen soll: vieles ist hier mehrfach aufgeladen und kann sowohl als auch als Abbild der Seele und der Verfassung seines Helden gelesen werden.

Ein beeindruckendes Buch

Meine Faszination für dieses Buch ist auch dadurch begründet, dass Hilles Held mit dem selbstreflexiven Denken und dem sprunghaften Erzählen mir selbst sehr nahe ist, obschon wir außerhalb einer gewissen Kulturbeflissenheit biographisch keine Berührungspunkte aufweisen und auch in Sachen Lebensweise so gut wie gar nichts gemein haben. Aber wie Hille es schafft, in die Gedankenwelt einzudringen, alles Zagen und Grübeln plausibel aus der Biografie und dem Werdegang seines Helden herzuleiten und wie er ein immer dichter werdendes Netz aus Gedanken und Alltagsbeschreibungen strickt, das trotz seines Alltäglichkeit zu keinem Zeitpunkt fade wird, das hat mich sehr beeindruckt und zu einer identifikatorischen Leseweise eingeladen.

Wie findet man seine Rolle als Mann und als Vater? Wie kann man sich von seinem Erbe emanzipieren? Und bis zu welchem Grad ist es sinnvoll, partnerschaftlich zur Symbiose zu verschwimmen und wann gibt man seine Individualität auf? All diese Überlegungen stecken nach meiner Lesart in Jahreszeit der Steine, das mich als mittelalter, männlicher Leser stark angesprochen hat, sicherlich aber nicht zu allen Leser*innen gleichsam stark sprechen dürfte.

Fazit

Um mir den Luxus eines rein subjektiven Werteurteils zu erlauben, zu dem mich dieses Hobbyprojekt hier befähigt: wie es André Hille in Jahreszeit der Steine gelingt, den unscheinbaren Alltag eines Familienvaters durch die vielgestaltigen Gedanken und Erinnerungsschleifen in seiner ganzen Individualität doch zu etwas so Universellem und Ansprechenden zu machen, das man sich immer wieder in der Lektüre wiederfindet und man die Grübeleien seines namenlosen Helden gerne begleitet, das hat mich wirklich beeindruckt. Ein starkes Buch, dessen Innerlichkeit und Gedankenfluss wunderbar mit der unspektakulären äußeren Handlung kontrastieren und das mit seinem narrativen Bogen eines einzelnen, chronologisch geschilderten Tages genau die richtige Form und Länge für die verhandelten Themen aufweist. Dieses Buch ist wirklich gelungen!


  • André Hille – Die Jahreszeit der Steine
  • ISBN 978-3-406-79991-4 (C. H. Beck)
  • 338 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht

Drei Generationen Frauen, ein stattliches Anwesen am See und ein Todesfall – beziehungsweise gleich mehrere. Davon handelt Annika Reichs neuer Roman Männer sterben bei uns nicht, die darin eine Welt mit auffällig abwesenden Männern zeichnet.


Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln.

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht, S. 9

Was für ein erster Satz, mit dem uns Annika Reich in ihre Geschichte lockt und der den Tod als zentrales Motiv ihres Buchs einführt.

Das Haus am See

Annika Reich - Männer sterben bei uns nicht (Cover)

Als die junge Luise am Ufer des stattlichen Herrenhauses (oder im vorliegenden Fall eigentlich eher Damenhauses) angeln möchte, entdeckt sie eine angeschwemmte Tote, die sich am Steg verkeilt hat. Es wird nicht die letzte Tote im Buch bleiben. Denn die ganze Handlung von Männer sterben bei uns nicht ist um eine Beerdigung herum gruppiert, nämlich die von Luises eigener Großmutter.

Diese führte im stattlichen Haus am See das Regiment, hielt als Matriarchin die Fäden zusammen und bestimmte die Geschicke der Familie, bis in den Tod hinein. Für ihre Beerdigung hat sie der Haushälterin Justyna genaue Anweisungen hinterlassen, und so versammeln sich die Frauen ein letztes Mal, um der Großmutter die Ehre zu erweisen.

Im Laufe der mit Rückblenden gespickten Beerdigung ergibt sich allerdings ein sehr ambivalentes Bild. Denn mit mit all den rauschenden Feste, die sie im Herrenhaus am See gab, mit all der zur Schau getragenen Disziplin und den unverrückbaren Grundsätzen ist es nicht weit her.

Drei Generationen von Frauen

So wurde Luises Schwester Leni in der Kindheit kurzerhand in ein englisches Internat abgeschoben, Luises Mutter begreift den Tod der Schwiegermutter als Befreiung – und im Lauf der Geschichte tauchen immer mehr Personen und Geheimnisse auf, von denen Luise zunächst keine Ahnung hatte, passten sie einfach nicht ins Bild, das sich die Großmutter von ihrer Familie gemacht hatte und diese dann kurzerhand zur Seite schob. All das offenbart sich aber erst langsam in diesem Roman.

In meinem Schrankzimmer standen eine Palme und einer kleiner Tisch, auf dem mein eigener Schmuck lag und silberne Bilderrahmen mit Kinderfotos von Olga und mir. Ich hatte Großmutters Turm in meinem Schrankzimmer nachgebaut. Ich war die Erbin der Steine und des Anwesens, der toten, aussortierten und verschwundenen Frauen, ob ich es wollte oder nicht. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch, dann kniff ich die Augen zusammen wie eine schlechte Schauspielerin. Ich reagierte auf Großmutters Tod so, wie sie auf ihren Tod reagiert hätte. Wir weinten nicht.

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht, S. 78

Das Schweigen und die Abwesenheit von Männern

In kurzen Kapiteln montiert Annika Reich ihre Geschichte, die aus der minutiös geschilderten Beerdigung und dem sich langsam entfaltenden Familienstammbaum besteht. Dabei ist der Tod ein Leitmotiv (im Lauf der Geschichte werden es neben der Toten in der Familie auch die Leichen zweier Frauen sein, die Luise angeschwemmt am Hausstrand findet) und insbesondere auch die Abwesenheit der Männer, über deren Verbleib sich die Großmutter und eigentlich die ganze Familie ebenso ausschweigt wie die Verstrickungen der Familie ins „Dritte Reich“.

Erst auf Seite 51, also nach einem verstrichenen Viertels des Romans, findet der erste Mann in Form des verstorbenen Großvaters im Roman Erwähnung. Männer sind in dieser Familie und diesem Roman wirklich nur eine Randerscheinung, wodurch hier ein Roman entsteht, der durchgängig aus weiblicher Perspektive auf die familiären Implikationen über drei Generationen hinweg blickt, die aber eben doch auch nicht frei von patriarchale Mechaniken und Mustern sind.

Das ist durch die erwähnte Doppelstruktur des Romans schnell zu lesen, doch alle Fragen, die Männer sterben bei uns nicht aufwirft, werden im Lauf des Romans nicht wirklich beantwortet. Es bleiben Leerstellen, viel Unausgesprochenes und Nicht-Aufgearbeitetes auch nach den 200 Seiten des Textes bestehen. Mir persönlich hätte ich noch etwas mehr Prägnanz, in sprachlicher und konzeptueller Hinsicht gewünscht, denn so bleibt für mich von dieser so gut wie rein weiblichen Familiensaga über das Ende der Geschichte hinaus das Gefühl einer gewissen Skizzenhaftigkeit bestehen, das Annika Reichs Buch umweht.

Fazit

Wer sich daran nicht stört, der bekommt mit Männer sterben bei uns nicht eine rein weibliche Familiensaga, das Porträt einer eisernen Lady in ihrem Haus am See und eine minutiös geschilderte und geplante Beerdigung zu lesen, die sich doch anders entwickelt, als vorhergesehen. Nicht nur am heutigen Weltfrauentag eine interessante Lektüre.


  • Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht
  • ISBN 978-3-446-27587-4 (Hanser Berlin)
  • 208 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Ein Mann kehrt aus dem Krieg zurück nach Wien – und sucht nach seinem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Ehe. Die Kaiserstadt von Paul Zifferer ist eine echte Wiederentdeckung und auch genau 100 Jahre nach Erscheinen noch höchst lesenswert.


Seine Heimatstadt Wien erkennt Toni Muhr kaum, als er am 30. November 1916 den Fuß auf heimischen Boden setzt.

Toni Muhr erinnerte sich später nicht mehr, wie er vom Westbahnhof auf den Neuen Markt geraten war. Er fühlte Müdigkeit und Schwere in allen Gliedern und hatte nur den einen Wunsch, so schnell als möglich nach Hause zu gelangen.

Paul Zifferer, Die Kaiserstadt, S. 7

Denn statt dem wohlgeordneten Leben auf den Plätzen und Gassen der Hauptstadt des Kaiserreichs herrscht in der ganzen Stadt Gedränge und eine Stimmung zwischen Euphorie und Trauer. Denn zeitgleich mit der Ankunft Toni Muhrs in der Stadt wird der greise Kaiser Franz Joseph I. zu Grabe getragen.

Nach einer 68 Jahre währenden Regentschaft ist der Habsburgische Kaiser verstorben und mit ihm kurz darauf auch die Monarchie in Österreich. Doch davon ist an jenem 30. November noch nichts zu merken. Vielmehr will jeder noch einmal einen Blick auf den Toten erhaschen – und auch Toni Muhr sieht den Leichenzug passieren, ehe Franz Joseph I. dann in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche zur letzten Ruhe gebettet wird.

Rückkehr nach Hause

Aufgehalten vom Leichenzug drängt es den jungen Mann allerdings vielmehr nach Hause, das er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Denn er geriet als abgeordneter Soldat im Ersten Weltkrieg in serbische Kriegsgefangenschaft, während der für die österreichisch-ungarischen Truppen kämpfte.

Paul Zifferer - Die Kaiserstadt (Cover)

Traumatisiert von den Erlebnissen, von Hunger und Entbehrung kehrt er nun heim und freut sich auf sein Zuhause in der Stallburggasse. Dort findet er in seiner Atelierwohnung aber schon wieder Ungewohntes vor. Denn statt seiner Gattin Lauretta, der er aus dem Felde noch Briefe schrieb, ist nur das Hausmädchen Poldi anwesend. Seine Gattin ist unterwegs – und wird ihm später ganz unbeschwert und scheinbar unbeeindruckt unter die Augen treten.

Während seiner Abwesenheit hat sie, die einer Familie mit guten Verbindungen entstammt, weiter auf dem gesellschaftlichen Parkett der Haupstadt verkehrt und lässt sich auch durch die Rückkehr ihres Gatten nur wenig aus dem Konzept bringen.

Toni Muhr fühlt sich eher wie ein Gast im eigenen Haus – und wird durch ein weiteres Vorkommnis zudem noch mehr aus der Bahn geworfen. Denn seine Forschungen zur Anwendung für Tierkohle, an der er vor dem Ausbruch des Krieges im Privaten forschte und seinen Vorgesetzten zum Patent vorschlug, sind aus seiner Studierstube verschwunden. Kurze Zeit darauf später erfährt er, dass diese Forschungen inzwischen zu einem Kriegspatent durch seinen Arbeitgeber, die Chemiefabrik der Brüder Katlein, eingereicht und zur Marktreife gebracht wurden.

Kohlhaas in Austria

In Toni Muhr erwacht der Geist der Rebellion und er beschließt auch mithilfe seines Schwagers Rudi Saluzzo, sich zu wehren. In der Folge wird er zu einer Art österreichischem Kohlhaas, der für die Anerkennung und Auszahlung seiner Forschungsarbeit eintritt und später sogar einen Prozess gegen die Chemiefabrikanten Katleins anstrengt.

Doch dabei rennt Toni Muhr immer wieder gegen unsichtbare Schranken und wittert eine Verschwörung. Hat ihn seine Gattin Lauretta hinter seinem Rücken betrogen und gemeinsame Sache mit den Katleins gemacht? Haben diese in der Stadt überall an entscheidenden Stellen Kontakte, mit der sie den Kampf Muhr um Wiederherstellung seines Rufs und seiner Ehre hintertreiben? Mithilfe von Rudi Saluzzo und der gewieften Fürstin Lubecka, zu der er auch in Liebe entflammt, versucht er auf verschiedenen Wegen, Gerechtigkeit zu erlangen und die Katleins zu einer Anerkennung seiner Leistung zu zwingen.

Paul Zifferer schildert in Die Kaiserstadt ein Wien im Umbruch. Der alte Kaiser ist tot und damit auch die Gewissheit einer ruhigen Regentschaft, in der alle Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft wussten. Die Reste dieses Standesbewusstseins lassen sich im Roman des österreichischen Journalisten und Übersetzers genauso besichtigen wie die neue Welt, die durch die normative Kraft des Kriegs geschaffen wurde. Kriegswirtschaft, sozialer Abstieg und neue Netzwerke im Bürgertum beschreibt Die Kaiserstadt genauso, wie es auch das alte, königlich und kaiserliche Wien vermisst.

Denn bei seinem Kampf um Gerechtigkeit begibt sich Toni Muhr in die Hände der gewieften Gräfin, von deren Palais aus er auf eine nicht immer wirklich vorhersehbare Tour für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschickt wird. So besucht er Minister während Debatten im Paralament, wird dem Erzherzog bei einem Hauskonzert vorgestellt, wird in Redaktionsstuben vorstellig und begibt sich sogar bis ins Heurigen-Viertel nach Grinzing, wo er die Buschenschänke seines Vaters, eines Weinbauern zu Heurigen- und Wienerliedern besucht.

Das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch

So ist Die Kaiserstadt zugleich genau angelegtes Porträt der alten Wiener Gesellschaft, genauso wie über dem ganzen Text schon die Ahnung einer neuen Welten- und Gesellschaftsordnung liegt. Paul Zifferer erweist sich als genauer Chronist dieses Wiens, das er stimmungsvoll und durchaus auch komisch einzufangen weiß. Sein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kämpfe seiner Heldinnen und die Anpassungen an die Zeit und Umstände jener Zeit des Ersten Weltkriegs haben nichts von ihrer Schärfe und Prägnanz verloren, auch wenn diese durch die gehobene und manchmal schon etwas antiquierte Sprache das auf den ersten Blick verstellen mag.

Aber auch wenn hier noch Münder zum Kusse gereicht werden und das Haar falb schimmert, so ist Die Kaiserstadt doch ein großartiger Lesegenuss, der als echte Wiederentdeckung gefeiert werden muss und die uns einen genauen Blick auf die österreichische beziehungsweise wienerische Gesellschaft vor hundert Jahren erlaubt (die dabei aber auch – ganz Chronist- alle zeittypischen Zwischentöne enthält, so auch Antisemitismus, der sich im Hass Toni Muhrs auf die jüdischen Fabrikanten Katlein äußert. Auch das sollte an dieser Stelle Erwähnung finden).

Und gleich erklärte er: „Ein Erfolg wie der Ihre, ist für uns alle wichtig. Sie sind nämlich“ – der Abgeordnete lächelte – „Etwas ganz Rares hierzulande… so eine Art wienerischer Kohlhaas.“

Toni Muhr wehrte ab: „Man hat mir das schon einmal gesagt“, entgegnete er, „aber ich glaube nicht, dasse s gut ist, als Michael Kohlhaas durch die Welt zu rennen, oder besser, ich glaube es nicht mehr. Und seien wir nur aufrichtig – ein wienerischer Kohlhaas ist ein Ding wider die Natur: Er muss im Jammer enden… Sehen Sie“, schloss Toni Muhr bitter, „der wirkliche Kohlhaas stirbt durch Henkershand, doch seine beiden Rappen, auf die es ihm ankam, an denen seiner Seele Seligkeit hin, werden dickgefüttert. Sein wienerischer Vetter kann sogar Amtmann werden, vorausgesetzt, dass er zum Postmeister taugt, die armen Pferde aber verrecken.“

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt, S. 358

Die Wiederentdeckung eines Vergessenen

Gleich zwei Nachworte sind es, die Die Kaiserstadt flankieren und das Leben von Paul Zifferer einordnen. Während sich Rainer Moritz inhaltlich dem 1923 publizierten Roman nähert, widmet sich Katharina Prager in ihrem Nachwort dem Werk und dem Leben Paul Zifferes.

Sie zeichnet darin das Bild eines Mannes, der sich mit den gehobenen Kreisen Wiens gut zu vernetzen wusste und der sich mit seinem journalistischen und übersetzerischen Wirken, als Diplomat und später auch als Presseattaché zeitlebens für die österreichisch-französische Völkerfreundschaft einsetzte.

Doch auch wenn seine Beschäftigung mit der Literatur Frankreichs sein Schreiben beeinflusst haben mag und die Presse der Alpenrepublik bei Erscheinen Der Kaiserstadt Zifferer als eine Art österreichischen Balzac pries: seine Bekanntschaft mit Hugo von Hoffmannsthal oder Arthur Schnitzler bewahrte ihn jedoch auch nicht vor scharfen Urteilen, das Arthur Schnitzler wie folgt in seinem Tagebuch notierte:

Las Ziffereres Roman „Kaiserstadt“. Wie man, ohne jede wirkliche Begabung, einen durchaus correcten Roman schreiben kann. (Und in wenigen Jahren wird er unlesbar sein.)

Arthur Schnitzlicher in seinem Tagebuch 1923

Ein Urteil, das man dank des editorischen Bemühens des Reclam-Verlags nun aber auch hundert Jahre nach Erscheinen mühelos entkräften kann. Denn dieser Roman ist wirklich mehr als lesbar und vor allem lesenswert. Eine echte Wiederentdeckung, die nichts von ihrer Frische und Präzision verloren hat!


  • Paul Zifferer – Die Kaiserstadt
  • Mit Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz
  • ISBN 978-3-15-011443-8 (Reclam)
  • 396 Seiten. Preis: 28,00 €
Diesen Beitrag teilen

Lisa Weeda – Aleksandra

Eine Frau mit Mission unterwegs in Richtung Volksrepublik Lugansk. Doch statt im Schoß der Familie findet sie sich plötzlich wieder in einem ominösen Gebäude voller Erinnerungen, das auf den Namen Palast des verlorenen Donkosaken hört und in dem die ganze wechsel- und leidvolle Geschichte der Ukraine anhand einer Familie offenbar wird. Aleksandra von Lisa Weeda (übersetzt von Birgit Erdmann).


Nein, der Soldat am Checkpoint in Richtung der sogenannten Volksrepublik Lugansk am Übergang von der Ukraine zum von Russland annektierten Gebiet der Krim will die junge Erzählerin im August 2018 partout nicht passieren lassen. Dabei hat sie eine wichtige Fracht und Aufgabe im Gepäck, für die sie den Checkpoint passieren möchte.

Mit ernster Miene hole ich ein längliches Leinentuch aus der Tasche und zeige es dem Soldaten.

„Dieses Tuch ist fast ein Jahrhundert alt. Es hat Tausende Kilometer zurückgelegt. Sie dürfen ihm nicht seine letzte Reise nach Hause verwehren.“

Das weiße Tuch ist mit schwarzen und roten Linien bestickt, die Ränder mit blauen, roten und schwarzen Blumenmustern. Ich deute mit dem Zeigefinger auf das Tuch. „Sie Sie diese Linie hier, über der der Name Kolja steht, die Linie, die 2015 endet? Meine Oma Plemplem hat mich gebeten, das Tuch zu seinem Grab zu bringen, um die Zeit zu flicken. Sonst ist er verloren.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 15

Doch trotz der Erklärung ist der Soldat nicht zu erweichen – und so setzt die Erzählerin Lisa auf die normative Kraft des Faktischen und sprintet einfach kurzerhand durch den Checkpoint und schlägt sich trotz Minenwarnung ins dahinterliegende Getreidefeld, um auf diesem Wege zum Grab ihres Großonkels zu gelangen.

Im Palast des verlorenen Donkosaken

Doch statt eines Weges oder Minen findet sich mitten im Getreidefeld plötzlich die Tür zu einem hohen Turm, den Lisa kurzerhand betritt. Dadurch findet sie sich im sogenannten Palast des verlorenen Donkosaken wieder, wie ihr ihr Urgroßvater Nikolaj erklärt, der sie in diesem rätselhaften Haus willkommen heißt, das auf Lisa wie eine hysterische Geburtstagstorte oder eine schlanke Version des Turmbaus zu Babel wirkt. Sowjetische Kunst mit Lenin-Porträts oder Arbeitern und Bauern an den Wänden – und dazu noch verschiedenste Räume und Zeitebenen, in denen man sich schon einmal verirren kann, wie auch Lisa im Lauf des Romans feststellen muss.

Lisa Weeda - Alesandra (Cover)

Gemeinsam durchwandert sie mit Nikolaj die verschiedenen Räume des Palastes – und damit auch die Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Großfamilie, in der sich alle Verwerfungen und Schmerzen des 19. und 20. Jahrhunderts abbilden und wiederspiegeln. Denn ausgehend von Lisa als jüngstem Spross der Großfamilie Krasnov entwirft Lisa Weeda in Aleksandra einen Familienstammbaum, der sich über ganze fünf Generationen erstreckt.

Das Leitmotiv ist dabei das eingangs erwähnte Tuch, das als eine Art gewebtes Familienstammbuch die verschiedenen Linien und Generationen des Krasnovs zusammenführt und von Aleksandra, der Großmutter der Ich-Erzählerin, im Geheimen bestickt wurde. Schwarze und rote Fäden stehen dabei für Glück und Leid, das die Familie in mannigfaltiger Form erfahren musste. Und schwarz und rot ist nicht nur das Tuch, sondern die ganze Ukraine, wie der in den Niederlanden lebenden Ich-Erzählerin vermittelt wurde.

Das Land ist immer schwarz und rot, brachte Baba Mari mir bei. Schwarz steht dabei nicht nur für unsere Erde, es steht auch für den Tod. Unser Landstrich mag zwar launisch sein, aber er ist immerhin unser Land, sagte sie häufig. All unsere Geschichten liegen hier begraben und alle Geschichten sind hier letztendlich zu Hause, auf diesen Feldern. Die Linien auf diesem Tuch sind schöne und schaurige Geschichte, und es kommen immer mehr hinzu. Weißt du, was meine Baba Mari zu mir gesagt hat, Lisa?

Dieses Stück Land kriegt man nicht aus uns heraus, es steckt in unserem Blut.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 101 f.

Leider zu viel Themen und Personen für zu wenig Seiten

Ja, die Erinnerungen stecken im Boden – und auch in jeder Seite des Romans. Und das ist in meinen Augen auch das Kernproblem dieses Romans, der an seiner völligen Überfrachtung laboriert. Denn jede Seite und jeder Raum im Palast des verlorenen Donkosaken ist mit Erinnerungen aufgeladen, die die wechselvolle Geschichte der Ukraine zwischen der Teilannektion durch Russland, die Befreiung aus dem russischen Großreich und die Zeiten der Weltkriege und der der Sowjetunion zeigen sollen.

Lisa Weeda erzählt von der bitteren Armut, der sich die Familie nicht einmal mit dem Verstecken von Getreidesäcken entziehen konnte, sie erzählt vom ebenso absurden wie fanatischen Stalinismus und Leninismus, von grausamen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung (die Erinnerungen an die Massaker in Butscha und anderen Orten wecken), sie schildert die Deportationen während des „Dritten Reichs“, die Revolution, die sich am Maidanplatz entspann, die Zerrissenheit, der sich die Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts der Besetzung ihrer Krim ausgesetzt sahen.

Das und noch viel mehr sind die Themen, die Lisa Weeda auf gerade einmal knapp 290 Seiten in sehr verknappter und verdichteter Form abhandelt und die sie neben der realistischen Schilderung der historischen Begebenheiten noch um eine zweite, magische Ebene in Form des Palastes und der immer wieder auftretenden leuchtender Hirsche, die auch stellenweise als Erzähler agieren, ergänzt.

Dabei wirkt das Ganze an manchen Stellen so, als wenn eine Entscheidung für die Form eines erzählenden Sachbuch die klügere Wahl für die Bearbeitung ihres Stoffs gewesen wäre. Und auch wenn ihr Palast des verlorenen Donkosaken in ihrer Schilderung unermesslich hohe Decken und unendlich viele Räume aufweist, so ist es ebenjener große Raum, der im Handlungsüberschwang dieses Buchs auf der Strecke bleibt.

Vieles, das die niederländisch-ukrainische Autorin und Filmemacherin hier vorbringt, ist in meinen Augen zu gehetzt und schnell aneinandergereiht, als das es wirklich Wirkung entfalten könnte. So bräuchte der „Jahrhundertroman der Ukraine“ (so der Verlag in seiner Werbung) eben mehr Zeit und Raum, um genauer auf Figuren und ihr Erleben eingehen zu können. Aber durch die thematische Überfrachtung und unübersichtliche Personalführung geht der erzählerische Fokus verloren, selbst wenn dem Roman der große Stammbaum vorangestellt ist

Der Familienstammbaum der Krasnovs

Die fünf Generationen und ihr Erleben in Schlaglichtern rasen einfach am Leser vorbei – und werden durch fehlende literarische Gestaltungsmittel auch nicht wirklich unterscheidbar, was insbesondere durch die Namensgleichheit vieler Aleksandras oder Nikolajs dann wirklich zu einem Problem wird (zumindest bei meiner Lektüre).

Fazit

Auch wenn das Ansinnen der Autorin (die, so viel darf man auch aufgrund des Vorworts spekulieren, als relativ deckungsgleich mit der im Buch geschilderten Familie anzusehen sein dürfte) mehr als ehrenwert ist: vielleicht braucht Literatur doch einfach mehr Zeit, als sie sich Lisa Weeda wahrscheinlich unter Eindruck der jüngsten Ereignisse des letzten Jahres gegeben hat. Mehr Raum für die Figuren, weniger Hatz durch die wechselvolle ukrainische Geschichte und mehr Fokus auf weniger Episoden, das wäre hier vielleicht der Schlüssel zum Erfolg gewesen. So bleibt zumindest bei mir der Eindruck eines überfrachteten Familienromans, zu dessen Personal und Erlebnissen ich leider zu keinem Zeitpunkt eine Bindung aufbauen konnte.


Eine weitere spannende Perspektive auf den Roman gibt es auch auf dem Blog Tralalit, der sich insbesondere mit Übersetzungen beschäftigt. So auch hier mit der Übertragung von Aleksandra ins Deutsche durch Birgit Erdmann. Klare Leseempfehlung!


  • Lisa Weeda – Aleksandra
  • Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
  • ISBN 978-3-98568-058-0 (Kanon-Verlag)
  • 290 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen