Ernest Cline – Ready Player One

Lektüre für Geeks, Gamer und Kinder der 80er Jahre. Ernest Cline lässt im Gewand eines Gamer-Romans in Ready Player One die 80er-Jahre in ihrer kulturellen Breite auferstehen und verschmilzt mittelalterliche Ritter-Literatur mit einem dystopischen Setting, in dem der Gamer Wade Watts unendliche digitale Weiten durchstreift, immer auf der Suche nach dem Heiligen Gral, auch wenn sich dieser hier zwischen Arcade-Spielen und Pixelwolken versteckt.


Schon der Name des digitalen Alter Egos des Helden Wade Watts weist ganz eindeutig auf die literarische Bezugslinie hin, in dessen Nachfolge Ready Player One steht. So trägt Watts in den digitalen Weiten der OASIS den Namen Parzival. Unter diesem Titel durchstreift der moderne Gralssucher in den 2040er Jahren die OASIS, jene allumfassenden Weltensimulation, in der Ready Player One zum überwiegenden Teil spielt.

Doch es ist nicht nur die Namensgebung seines Helden, durch die sich Ernest Clines Roman in die Tradition des mittelalterlichen Ritter-Romans stellt. Auch der Inhalt selbst ist eine Wiederkehr der Themen der mittelalterlichen Heldendichtung, die die Ependichtung Wolfram von Eschenbachs oder Hartmann von Aues in die Gegenwart beziehungsweise hier eher in die Zukunft überführt. Denn auch in den Weiten der OASIS muss Parzival Aventüren bestehen, Drachen erlegen, Zauberer besiegen und der Minne huldigen, auch wenn sich diese in der Zwischenzeit nur noch über Avatare und Chatfenster abspielt.

Eine Heldenreise in dystopischem Setting

Dabei sind die äußeren Umstände des Romans weniger schillernd als die digitalen Welten, die es zu entdecken gibt. Denn Energiekrisen, Hunger, Ausbeutung des Planeten und viele weitere Faktoren haben dafür gesorgt, dass die Welt kontinuierlich ein immer lebensfeindlicherer Ort wurde. Die Mängel der äußeren Welt haben aber zu einem Erblühen der digitalen Welten geführt, die mithilfe von Virtual Reality und leistungsstarken Simulationen zu einem Ort geworden sind, der sich für die meisten inzwischen mehr nach „echter“ Welt anfühlt als das, was die Menschen draußen vor ihrer Haustür vorfinden.

Auch Wade Watts ist ein solcher Bewohner der digitalen Welt. Im wahren Leben lebt er bei seiner Tante in einer Armensiedlung namens Portland Avenue Stacks,

einem Bienenstock aus blechernen Schuhschachteln, die am Rand der I-40, unmittelbar westlich des Stadtkerns von Oklahoma City mit seinen verfallenen Wolkenkratzern, vor sich in rosteten. Die über fünfhundert Stapel waren durch ein behelfsmäßiges Geflecht aus recycelten Rohren, Stahlträgern, Stützpfeilern und Fußgängerbrücken miteinander verbunden. Ein Dutzend uralter Baukräne stand am Rand des sich immer weiter ausdehnenden Viertels – sie leisteten die eigentliche Stapelarbeit.

Ernest Cline – Ready Player One, S. 34

Eine Traumimmobilie sieht anders aus. Zudem ist das Miteinander auf dem engen Raum eine explosive Angelegenheit. Seiner Tante ist Wade nämlich verhasst. Allein die ihm zustehenden Essensgutscheine sind für seine kaltherzigen Verwandtschaft der einzige Grund, ihn in den Stacks bei sich zu beherbergen.

Die Jagd auf Hallidays Easteregg

Ernest Cline - Ready Player One (Cover)

Und so ist es kein Wunder, dass Wade nach einer Ablenkung sucht. Diese hat er wieder fast alle anderen Mitmenschen in den unendlichen Weiten der OASIS gefunden. Diese wurde von James Halliday erfunden, nachdem dieser zunächst zusammen mit Ogden Morrow ein erfolgreiches Games-Unternehmen gegründet hatte. Doch die OASIS stellte alles bisher Dagewesene auf den Kopf.

In dieser virtuellen Welt können Spieler ihre digitalen Avatare durch unendliche Welten steuern. Verschiedene Planeten mit unterschiedlichen Welten die von Nachbauten von fiktiven und realen Welten bis hin zu ausgelagertem Schulunterricht reichen, das alles und noch viel mehr lässt sich in der OASIS entdecken.

Mit dem Tod von James Halliday, dem legendären Begründer dieser Welten, kam es dann aber zu einer bemerkenswerten Tat, die fortan Wade Watts Leben und das tausender anderen Menschen entscheidend beeinflusst. Denn James Halliday hinterließ eine Abschiedsbotschaft, in der die Existenz eines Ostereis, eines Easter Eggs, irgendwo in den Weiten der OASIS verkündete. So habe er drei verschiedene Schlüssel an ganz unterschiedlichen Orten der virtuellen Welt versteckt. Wer diese Schlüssel zuerst finde, dem offenbarten sie den Weg zu Hallidays Schatz, dem Osterei, dessen Finder*in das gesamte Vermögen Hallidays gehörte, so der OASIS-Begründer in seiner letzten Botschaft.

In den Weiten der OASIS

Dieser Nachricht elektrisierte die OASIS, deren Bewohner fortan das von Halliday installierte ScoreBoard immer ganz genau im Auge behielten. Wer würde der erste sein, der einen der drei Schlüssel fand und damit auf der Suche nach Hallidays Osterei dem Schatz ein Stück näherkam?

Am 11. Februar 2045 ist es soweit und Wades Alter Ego Parcival erscheint ganz oben auf der Bestenliste. Wie es dazu kam und wie sich die Schnitzeljagd nach Hallidays Schlüsseln ab diesem Zeitpunkt gestaltete, das erzählt Parcival im Folgenden.

Dabei ist es ein geschickter Schachzug von Ernest Cline, dass er seine Erzählung in den Weiten eines Computerspiels ansiedelt. Denn damit immunisiert sich Ready Player One schon im Vorfeld gegen einige Vorwürfe wie die von Stereotypen, allzu klaren Abgrenzungen von Gut und Böse und hölzernen bis kitschigen Dialogen, die sich immer wieder im Buch finden. Denn Clines Buch eifert erkennbar den digitalen Vorbildern von Point and Click-Abenteuern und anderen Videospielen aus der Frühzeit der Computer nach. Ebenso schematisch wie diese Spiele ist auch die Gestaltung von Ready Player One, das ganz videospiel-gemäß in drei große Hauptkapitel eingeteilt ist, die hier als Level bezeichnet werden.

Und doch überzeugt das Buch trotz mancher Klischees durch seine Kreativität und das Update von mittelalterlicher Ritter-Aventüre. So sind die Rätsel dieser digitalen Schnitzeljagd in Reime verpackt (übersetzt von Sara und Hannes Riffel) und laden zum Mitraten ein (wenngleich die Auflösung nur durch Wissen über den Ready Player One-Kosmos zu lösen ist).

Eine Hommage an die 80er

Die Handlung drängt voran, selbst wenn die Suche nach den Schlüsseln einige Durchhänger hat. Aber durch das Wettrennen zwischen den Guten (in Form von Wade und anderer freier Gamer) und den Bösen (in Form des skrupellosen Konzern IOI) bleibt man gerne dran an dieser Schnitzeljagd und wohnt den Heldenprüfungen des jungen Parzival bei. Und nicht zuletzt ist Ready Player One auch ein Fest der 80er-Jahre, von Billy Idols Rebell Yell bis zu Monty Pythons Die Ritter der Kokosnuss. Dieses Buch ist wirklich bis zum Anschlag von der Popkultur der 80er durchsättigt.

Hierbei bleibt nur noch ein weiterer Kritikpunkt meinerseits zu nennen, den Ernest Cline dann zwar mit einer Schlusspointe noch einigermaßen ausmerzt, aber der doch über weite Teile des Buchs für sich steht. Die Rede ist von der weißen, männlichen Gamer-Kultur, deren Bild Ready Player One ein Stück weit festzementiert, gerade in Passagen wie der folgenden:

Wenn es um Recherche ging, zog ich alle Register. Während der letzten fünf Jahre hatte ich sämtliche Bücher durchgearbeitet, die für einen Jäger von Interesse waren. Douglas Adams. Kurt Vonnegut. Neal Stephenson. Richard K. Morgan. Stephen King. Orson Scott Card. Terry Pratchett. Terry Brooks. Bester, Bradbury, Heinlein, Tolkien, Vance, Gibson, Gaiman, Scalzi, Zelazny. Ich las jeden Roman aller Lieblingsautoren Hallidays.

Aber nicht nur das.

Ich schaute mir auch jeden Film an, der im Almanach erwähnt wurde. Hallidays Lieblingsfilme wie WarGames, Ghostbusters, Was für ein Genie, Lanny dreht auf oder Die Rache der Eierköpfe schaute ich mir immer wieder an, bis ich jede einzelne Szene mitsprechen konnte.

Ganz zu schweigen von den Filmen, die Halliday als „Die heiligen Trilogien“ bezeichnete: Star Wars (die Original- und die Prequel-Trilogie, in dieser Reihenfolge), Herr der Ringe, Matrix, Mad Max, Zurück in die Zukunft und Indiana Jones (Halliday hatte einmal gesagt, dass es ihm lieber gewesen wäre, die anderen Indiana-Jones-Filme, ab Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels, gäbe es gar nicht. Ich konnte ihm nur zustimmen).

Darüber hinaus zog ich mir die komplette Filmographie seiner Lieblingsregisseure rein. Cameron, Gilliam, Jackson, Fincher, Kubrick, Lucas, Spielberg, Tarantino. Und, natürlich, Kevin Smith.

Ernest Cline – Ready Player One, S. 94 f.

Wer sich an solch zitierter männlicher Monokultur nicht stört und das Buch eher als Dokument der tendenziell eher wenig divernsen und wenig gleichberechtigten Vergangenheit der 80er-Jahre liest, der bekommt eine spannende Schnitzeljagd in einem dystopischen Zukunftszenario geboten, deren globaler Erfolg und filmische Adaption durch den prägenden Regisseur der 80er, nämlich den oben zitierten Steven Spielberg, nicht überrascht.

Trailer zur Verfilmung von Ready Player One durch Steven Spielberg

Fazit

Popkulturgesättigt und sehr nerdig ist Ready Player One ein Lesespaß, dem es gelingt, das Videospiel in Literatur zu überführen, auch wenn man literarisch den ein oder anderen Abstrich in Kauf nehmen muss. Aber mit diesem Buch schafft es Cline, eine enorm große Gefolgschaft hinter sich zu versammeln, die von Fans der 80er Jahre bis hin zu Game-Nerds reicht. Und trotz seines großen Umfangs von über 500 Seiten ist Ernest Cline eine kreative und spannende Heldenreise gelungen, die auch den ein oder anderen Jugendlichen aufgrund des Themas und der niedrigschwelligen Umsetzung sehr begeistern dürfte – und was kann man mehr von einem Buch wollen? Deshalb: Insert Coin und Ready Reader One!


  • Ernest Cline – Ready Player One
  • Aus dem Englischen von Sara und Hannes Riffel
  • ISBN 978-3-596-70664-8 (Fischer TOR)
  • 539 Seiten. Preis: 14,99 €
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Meine besten Bücher 2022

Viel habe ich auch im vergangenen Jahr gelesen und auch viel besprochen. Über 100 Rezensionen sind neben Meinungsstücken, Vorschauberichten und Co. zusammengekommen. Dabei ist dieses Jahr zum ersten Mal ein Schwerpunkt bei den weiblichen Erzählerinnen, von denen ich mehr Bücher besprochen habe denn von männlichen Autoren. Dass dabei viele Highlights darunter waren, die dementsprechend auch die Liste dominieren, das sollte nicht überraschen. Besonders konnten mich in diesem Jahr auch die Verlage Ullstein und Hanser mit ihrem Programm überzeugen. Auch das schlägt sich in der Auswahl nieder.

In der Rückschau sind es die folgenden sechzehn Bücher, die ich zu meinen persönlichen Highlights des Jahres zähle und dementsprechend noch einmal kurz würdigen möchte. Bücher, die über die Lektüre und weit darüber hinaus in meinem Kopf blieben und denen eine Qualität innewohnt, die sie auch über kurzlebige Trends erhebt und von denen ich mir sicherlich den ein oder anderen Titel auch ein zweites Mal vornehmen werde.

Ausführliche Besprechungen und bibliographische Daten finden sich wie immer nach einem Klick auf die entsprechenden Cover. Nun hier also mein literarisches Best of des Jahres 2022:

Percival Everett – Erschütterung

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Dieses Buch habe ich gleich zu Beginn des Jahres gelesen – und es ist bei mir in Gedanken geblieben, bis zum Ende des Jahres. Percival Everett gelingt es in Erschütterung, die Geschichte des Universitätsprofessors Zach Wells mitreißend zu erzählen, obwohl dessen Lebenswelt und Schicksal so gar nichts Mitreißendes an sich hat. Wie er diesen Zach Wells zeigt, der sämtlichen Halt im Leben verliert, das ist große Kunst. Dabei verschmilzt Everett Themen wie Migration, Campusroman und Krankheitsgeschichte miteinander. Was freue ich mich schon auf den neuen Roman von Everett, der schon bald abermals bei Hanser erscheinen wird!

Annika Büsing – Nordstadt

Mit Nordstadt hat Annika Büsing den Trend des Schwimmbad-Romans losgetreten, der im kommenden Jahr viele Nachahmer finden wird. Bei ihr ist das Hallenbad der Handlungsort, in dem die Bademeisterin Nene ihren Dienst versieht und auf Boris trifft. Zwischen den beiden Außenseitern aus prekären Verhältnissen entspinnt sich eine widerborstige Romanze. Stilistisch toll erzählt und in meinen Augen auch eine hervorragende Klassenlektüre für gehobene Klassenstufen.

Natalie Buchholz – Unser Glück

Welchen Preis sind wir bereit, für unser Wohnglück zu zahlen? Diese Frage verhandelt Natalie Buchholz in ihrem neuen Roman Unser Glück, indem sie eine Münchener Kleinfamilie in den Mittelpunkt stellt, die eine bezahlbare Traumimmobilie gefunden hat, noch dazu in Schwabing. Wenn da nur nicht der Haken mit dem anderen, undurchsichtigen Untermieter wäre, der sich ein Zimmer in ihrer Immobilie ausbedungen hat…

Anna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Immer wieder kommt es zu ganz unwahrscheinlichen Schwerpunkten in verschiedenen Büchern einer Saison – so auch bei Anna Bervoets‘ Roman, der ebenso wie Berit Glanz in Automaton den Alltag einer Content-Moderatorin in den Mittelpunkt stellt und dabei eindringlich spürbar macht, wie die Seele bei dieser Art von Arbeit Schade nimmt

Lauren Groff – Matrix

Ein Utopie weiblicher Selbstverwaltung und Autarkie, angesiedelt im Mittelalter. In Matrix erzählt Lauren Groff die Geschichte der Äbtissin Marie de France, die als illegitimer Königsspross von ihrer Schwester, Eleanore von Aquitanien, dem Thron möglichst weit fortgehalten werden soll – und so ein Kloster zu unbekannter Blüte führt. Hier trifft historischer Roman auf Science Fiction, großartig erzählt und gestaltet.

Fatma Aydemir – Dschinns

Völlig überladen und überfrachtet, und zugleich doch so gut, so relevant und wichtig, dieser Roman von Fatma Aydemir. Als Stellvertreterfiguren erzählt sie von den vier Kindern Hüseyins, die sich nach dem Tod des Famileinvaters aufmachen zu dessen Beerdigung und dabei alle möglichen Probleme im Gepäck haben. Auch die Mutter kommt zu Wort. So bekommt man ein ganzes Panorama von Migrantenschicksalen der ersten und zweiten Generation zu lesen. Beeindruckend!

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Ein meisterlicher Weihnachtsroman, gespeist aus Dicken’schem Geist, und das als Lektüre im Sommer? Unbedingt empfehlenswert! Während draußen die Temperaturen neue Höchststände erreichten, las ich Claire Keegans kleinen, aber schwergewichtigen Roman, der an den Weihnachtstagen in einem von Armut geprägten Irland des Jahres 1985 spielt und der trotzdem von Hoffnung und Mut kündet – und der ein Loblied auf den Mut des Einzelnen singt.

Melinda Cowley – Heller – Der Papierpalast

Für mich der perfekte Sommerroman. Warum? Weil er nicht sonnenhell und kitschig ist, sondern auch die von den Schattenseiten des Lebens erzählt. Untreue, Begehren und Lebenslügen sind Thema in diesem Roman, der um die 50-jährige Elle Bishop kreist und in dem Melinda Cowley-Heller zeigt, dass sich die Sommeridylle dort im sogenannten Papierpalast an der Küste Neuenglands als erstaunlich brüchig erweisen kann. 

Eckart Nickel – Spitzweg

Kunstvolles Parlando, konsequentes l’art pour l’art, das ist Spitzweg von Eckart Nickel, eine ebenso knallige wie stilbewusste Dreiecksgeschichte dreier Schulfreund*innen, bei der die Kritik eines Kunstwerks in der Schule einen wilden, geradezu anachronistischen Reigen aus Ereignissen auslöst. Nicht zuletzt auch äußerlich ein wahres Kunstwerk, dessen inhaltliches Gewicht man besser nicht hinterfragen sollte, sondern sich eher auf die Schauwerte einlassen sollte.

Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Dieses Buch ist für mich die Definition eines guten Schmökers. Denn das Buch vereint das Doppelporträt einer jungen, skandamumwitterten Schauspielerin und einer unbeugsamen Pilotin, deren ungeklärtes Schicksal Ausgangspunkt einer Verfilmung ist, in der die Schauspielerin jene Pilotin verkörpern soll. Unterhaltung mit Anspruch, ein großartiges Erzähltalent – und viele hunderte Seiten, um darin zu versinken!

Eberhard Seidel – Döner

Zugegeben, ich bin kein großer Freund des Döners. Zu mächtig, olfaktorisch zu belastend, gerade in Mittagspausen – meine Vorbehalte gegen diese Speise waren nicht gerade klein. Und dennoch gelingt Eberhard Seidel  ein Buch, das mich über die Maßen begeistert hat, verknüpft er doch die Kulturgeschichte des Döners mit der der Migration und erzählt von den Ausgrenzungen und tödlichen Gefahren, die ebenfalls mit dem Döner assoziiert werden.

Amor Towles – Lincoln Highway

Zwei Jungen auf der Suche nach ihrer Mutter, der legendäre Lincoln Highway als Reiseroute – und dennoch entwickelt sich alles anders als geplant in Amor Towles‘ neuem Roman, der einem wilden Roadtrip gleicht, den sich Mark Twain und Jules Verne zusammen ausgedachte haben könnten. Ein Buch von alter amerikanischer Romanschule und dabei stets unvorhersehbar. Tolle Unterhaltung!

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Ich habe ja bekanntlich eine Schwäche für gut gemachte politische Romane. Und auch Lucy Frickes neues Werk fällt in diese Kategorie. Ihr gelingt das Kunststück, ebenso mitreißend, wie lustig, berührend und gesellschaftlich relevant von der Diplomatin Fred zu erzählen, die von einem Einsatz in Südamerika bis zu einer Botschaftsposition in der Türkei die ganze Ohnmacht unserer demokratischen Handlungsweisen zu spüren bekommt.

Deb Colin Unferth – Happy Green Family

Politisch im weiteren Sinne ist auch Deb Colin Unferths großartiger Roman Happy Green Family, der von einer waghalsigen Rettungsaktion erzählt. Ein einzelnes Huhn ist dabei der Auslöser, der zu einer ganzen Lawine aus Chaos und Gefahr führt. Denn drei ganz unterschiedliche Figuren sagen hier der industriellen Hühnerzucht und Eierproduktion den Kampf an und wollen eine bessere Welt. Ob das funktionieren kann?

Négar Djavadi – Die Arena

Wie würden eigentlich Victor Hugo oder Honoré de Balzac von Paris schreiben, wenn sie in diesen Tagen leben würden? Vermutlich genau so, wie das Négar Djavadi in Die Arena tut. Sie erzählt von Politiker*innen, einem Spindoktor, Polizist*innen und jugendlichen Gangs, die in dieser Arena namens Paris aufeinandertreffen – mit explosiven Folgen.

Gabriele Riedle – In Wüsten. In Dschungeln. Im Krieg.

Hätte es die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 nicht gegeben, wäre mir dieses Buch wirklich entgangen, obwohl ich es schon dienstlich für meine Bibliothek erworben hatte. So habe ich nun dank der Nominierung ein sprachlich anspruchsvolles und im besten Sinne welthaltige Buch entdeckt, das ebenso vom Newsdruck wie auch vom Seelenleben einer Kriegsreporterin erzählt. Vor allem ist das Buch ein Dokument von der Unrast unserer Tage.

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Chris Harding Thornton – Pickard County

Menschen, die ihr Unglück und der Schmerz eint, irgendwo im Nirgendwo von Nebraska Ende der 70er Jahre. Das ist das Leben im Pickard County, das Chris Harding Thornton in ihrem Roman schildert. Es bleibt nur eine Frage: ist das noch ein Kriminalroman?


In einem Interview mit dem Blog Klappentexterin wurde der Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche vor wenigen Wochen gefragt, was für ihn einen guten Krimi ausmacht, der auch Chancen hat, in sein Programm aufgenommen zu werden. Wörtche, der für Suhrkamp schon einige Perlen wie etwas Louisa Luna oder Merle Kröger an Land gezogen hat, gab auf diese Frage hin Folgendes zu Protokoll:

Ich mag auch gerne grenzgängige Bücher, Genre-Hybride zum Beispiel, oder Bücher, die man nicht genau einsortieren kann, die sich angeblich festliegenden Kriterien verweigern.

Thomas Wörtche im Interview mit dem Blog Klappentexterin, 27.11.2022

Solche Kriminalromane findet man allerdings nicht nur im Krimisegment des Suhrkamp-Verlags. Mit dem Polar-Verlag hat sich ein ganzer Verlag alleine dem Kriminalroman und seinen verschiedenen Schattierungen verschrieben. Bestes Beispiel für einen Krimi, der sich den angeblich festliegenden Kriterien verweigert ist in meinen Augen das Debüt Pickard County der Autorin Chris Harding Thornton, der in der Übersetzung von Kathrin Bielfeldt im Oktober bei Polar erschienen ist.

Irgendwo im Nirgendwo von Nebraska

Darin erzählt sie vom titelgebenden County irgendwo im Nirgendwo Nebraskas. Man schreibt das Ende der 70er Jahre, im Fernsehen talkt Johnny Carson und auf dem Land herrscht Ödnis. Viele Farmhäuser wurden aufgegeben, so etwas wie eine nennenswerte Industrie gibt es hier nicht. Für Jugendliche ist hier sowieso kein Platz vorgesehen.

Chris Harding Thornton - Pickard County (Cover)

Da überrascht es nicht, dass der Stellvertreter des lokalen Sheriffs, Harley Jensen, bei einer seiner vielen nächtlichen Patrouillen just in einem leerstehenden Farmhaus den jungen Paul Reddick in weiblicher Begleitung aufstöbert. Dieser bringt mit seinem jugendlich-provokanten Auftreten den Sheriff-Stellvertreter aus dem Konzept. Vor allem die Frage, was Reddick dort zu suchen hatte, treibt Jensen auch nach der nächtlichen Begegnung um.

Vor einigen Jahren wurde der kleine Bruder der Reddick-Brüder ermordet. Bevor der Mörder allerdings den Ort der Leiche preisgeben konnte, brachte er sich um. Dieses Trauma hat die Familie bis heute nicht verwunden und geht ganz unterschiedlich mit dem Verlust um. Und auch Jensen selbst hat seine Mutter verloren, die noch das Abendbrot für die beiden Kinder herrichtete, ehe sie sich umbrachte.

Von diesen Traumata erzählt Thornton sehr eindringlich und gönnt auch den andere Figuren in diesem Ensembleroman kein nennenswertes Glück. So ist Pam Reinhardt, die Schwägerin von Paul, mit ihrer Rolle als Mutter in prekären finanziellen Verhältnissen zutiefst unglücklich. Sie will ihren Mann und das gemeinsame Kind verlassen – und findet just in Harley Jensen eine verwandte Seele, mit der sich eine Liebesbeziehung entspinnt. Derweil wittert Rick, Pauls Bruder und Pams Ehemann, die Untreue, was ihn immer stärker umtreibt.

Eher zwischenmenschliche als kriminalliterarische Themen

Wie man an diesen Beschreibungen des Inhalts schon merkt, ist Pickard County ein Roman, der eher von zwischenmenschlichen denn von kriminalliterarischen Themen geprägt wird. Zwar gibt es krimitypische Zutaten wie den ungeklärten Verbleib des Reddick-Jungen und auch Polizeiarbeit fällt in Form von Brandstiftungen in verlassenen Höfen oder gestohlenen Gratiszeitungen an. Mit wirklich viel Lust verfolgt Chris Harding Thornton diese Ansätze aber nicht.

Eher ist es ein Zufallsprodukt, dass Harley Jensen gerade eben Stellvertreter des Sheriffs ist und damit eine polizeiliche Note in den Roman findet, was das Buch in die Nähe eines Krimis rückt. Die anderen Figuren von Pam Reinhardt über Paul Reddick bis hin zum alten Zisske in diesem Roman haben aber wenig Krimimäßiges an sich. Hier sind es viel mehr die Themen der unglücklichen Mutterschaft oder der nicht aufgearbeiteten Traumata oder das Begehren sowie das Leben in Armut, die im Mittelpunkt stehen und von denen Chris Harding Thorton anschaulich erzählt. .

Dort im von den deutschen Einwanderern geprägten Pickard County (viele nächtliche Streifenfahrten von Harley spielen sich auf der Schleswig-Holstein-Road statt, allenorten stammt man über Nachnamen mit deutschem Klang) gibt es viel Leid. Spannung findet man dafür eher weniger.

Dieses Fehlen von Suspense in Kombination mit und einer ganz anderen Schwerpunktsetzung im Roman selbst (eher Affäre statt Ermittlungsarbeit, eher Porträt des Lebens in der Unterschicht denn mitreißende Spannung) macht für mich die Einordnung als Kriminalroman zugegeben auch etwas schwierig.

Vielmehr ist Pickard County für mich das Porträt eines Landstrichs, in dem Unglück und Leid besonders gut zu gedeihen scheinen, wovon Chris Harding Thornton, nach Auskunft des Verlags Nebraskanerin der siebten Generation, auch hervorragend berichten kann. Wer eine ruhige Erzählung aus dem amerikanischen Nirgendwo mit wenig Hoffnung aber präzise gestalteten Figuren zu schätzen weiß, der darf hier gerne zugreifen. Krimifans, die von Krimis vor allem Spannung und Tempo erwarten, sollten aber eine andere Lektüre wählen.

Fazit

Mit Pickard County lotet der Polar-Verlag die Grenzen des Genres des Kriminalromans einmal mehr aus. Denn statt Spannung, Tempo und mitreißender Ermittlungsarbeit gibt es hier ein langsam geschildertes und präzise beschriebenes Bild vom Leben auf dem Land, das für alle Beteiligten Unglück bedeutet. Außereheliches Begehren, nicht verarbeitete Traumata und sind die Themen, von denen Chris Harding Thornton in ihrem Debüt erzählt. Ist das noch ein Krimi? Das muss wohl jeder Leser und jede Leserin selbst entscheiden.

Das Buch lädt auf alle Fälle ein, die eigene Genredefinition zu überdenken und hilft bei der Schärfung des eigenen Krimibegriffs. Und auch wenn ich mich persönlich mit der Gattungsbezeichnung etwas schwertue, freue mich aber über ein Buch, das als Grenzgänger zwischen Country Noir und American Gothic, das Marcus Müntefering in seinem Nachwort zurecht in die Nähe von Polar-Autoren wie J. Todd Scott rückt. Ruhige (Kriminal-)Literatur aus der Einöde Nebraskas!


  • Chris Harding Thornton – Pickard County
  • Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
  • ISBN 978-3-948392-64-2 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 16,00 €
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Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall

Wenn ein Senfwickel das ganze Weihnachtsfest in Gefahr bringen kann. Davon erzählt Anthony Trollope in seiner Geschichte Weihnachten auf Thompson Hall und legt damit seinen Fokus weniger auf das Weihnachtsfest selbst, als vielmehr auf den Anreisestress, der sich manchmal aus unvorhergesehenen Ereignissen entwickeln kann, wie Trollopes nostalgische Erzählung beweist.


Auch wenn es Chris Rea gelungen ist, die weihnachtliche Heimreise in den Schoß der Familie mit seinem Evergreen Driving home for christmas zu romantisieren und zu verklären, so sieht die Realität doch meistens anders aus. Vollgepackte Autos, Staus auf der Autobahn, ausfallende Züge und viel Hektik, die solch eine Anreise begleiten. Bei Mr. und Mrs. Brown in Anthony Trollopes Erzählung Weihnachten auf Thompson Hall ist das nicht anders.

Thompson Hall war ein altes Herrenhaus, ein Backsteingemäuer mit einer Kiesauffahrt, das hinter einem riesigen Eisentor lag. Es hatte schon dort gestanden, als Stratford noch keine Stadt oder auch nur ein Vorort gewesen war, und hieß damals Bow Place. Doch seit dreißig Jahren war es im Besitz der jetzigen Familie und weit und breit unter dem Namen Thompson Hall bekannt – ein gemütliches, geräumiges, altmodisches Haus, vielleicht ein bisschen dunkel und langweilig anzusehen, aber viel gediegener gebaut als die meisten unserer modernen Villen.

Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall, S. 80

Dorthin nach Thompson Hall zieht es vor allem Mrs. Brown in Trollopes Geschichte. Sie entstammt der Familie, in deren Besitz das Anwesen ist – und nun, nach Jahren der Abwesenheit, möchte sie dort zusammen mit ihrem Mann wieder einmal das Weihnachtsfest im Schoß der Familie begehen.

Der eingebildete (?) Kranke

Anthony Trollope - Weihnachten auf Thompson Hall (Cover)

Ihr Mann, seit der Hochzeit mit Mrs. Brown aller materiellen Sorgen und der Erwerbstätigkeit enthoben, hat darauf allerdings so gar keine Lust. Bislang verbrachte er als Anhängsel seiner Frau die Winter immer in Südfrankreich, womit er sich sehr gut arrangiert hat. Doch nun soll es wieder Weihnachten auf Thompson Hall sein, und so tritt man in einem Winter des Jahres 187 an (über genauere zeitliche Angaben schweigt sich Trollope aus, genauso wie sein Erzähler für das begüterte Ehepaar nur ein Alias wählt, um von den Begebenheit zu berichten).

Mrs. Brown vorfreudig eilend, ihr Mann eher resignativ bis widerwillig, so geht es gen England. Doch dann kommt es noch weit vor der Überquerung des Ärmelkanals zu einem Zwischenfall im am Boulevard des Italiens gelegenen Grand Hotel. Denn Mr. Brown entwickelt plötzlich ein besorgniserregenden Kratzen im Hals, das ihm eine Weiterfahrt verunmöglicht.

Mrs. Brown beschließt daraufhin, diesem etwas an eine Frühform von Corona erinnernden Krankheitsbild (welches Mr. Brown verdächtig gelegen kommt) mit einem alten Hausrezept zu begegnen. Sie beschließt, den schmerzenden Hals mit einem Senfwickel zu kurieren, den sie auf den Hals ihres zu applizieren beschließt. Doch infolgedessen kommt es zu nächtlichen Unbill im Hotel, als sich die Suche nach einem Senftopf zu weitreichenden Verwicklungen und hochnotpeinlichen Begebenheiten führt, bei der es Mrs. Brown zunehmend schwerfällt, die Contenance zu wahren.

Nostalgisch und altmodisch

Beschreibt Anthony Trollope das Anwesen auf Thompson Hall als altmodisch, so gilt das auch für seine Erzählung, was ich allerdings auf positive Art und Weise verstanden wissen möchte. Denn Weihnachten auf Thompson Hall ist eine Erzählung, die erstmalig 1876 im britischen illustrierten Wochenmagazin The Graphic abgedruckt wurde. Dementsprechend atmet diese Erzählung den Geist, den Serien wie etwa Downton Abbey dieser Tage noch einmal zu reaktivieren versuchen.

Man artikuliert sich vornehm (was in Wahrheit ein ums andere Mal eher umständlich ist), die Krisis von Mrs. Brown ob des nächtlichen Malheurs rund um den Senfwickel und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Heimreise nach Thompson Hall werden ausführlich geschildert – und durchaus mit Ironie für den möglicherweise eingebildeten Kranken und das Chaos im Grand Hotel, das mit den heute geläufigen Schlüsselkarten so nicht passiert wäre.

In dieser schönen Ausgabe der Insel-Bücherei wird die von Andrea Ott ins Deutsche übertragene Erzählung um Illustrationen von Irmela Schautz ergänzt, die den etwas steifen Geist des Personals gekonnt in Bilder überführt.

Fazit

Wer sich nun eine nostalgische Erzählung von weihnachtlichen Tafeleien in einem englischen Herrenhaus nach alter Väter Sitte erwartet, der wird hier enttäuscht werden, obgleich das Cover diesen Verdachte nahelegt. Denn das Geschehen auf Thompson Hall ist eher das Ziel, auf das zumindest eine Hälfte des Personals beständig entgegen aller Widerstände hinarbeitet. Vielmehr ist Anthony Trollopes Erzählung eine, die von Irrungen und Wirrungen im Zuge der Weihnachtsreise erzählt, deren hauptsächlicher Schauplatz gar nicht in England, sondern in einem französischen Hotel liegt.

Weihnachten auf Thompson Hall hat Charme, setzt dem Senfwickel ein eindrückliches Denkmal und ist ein vorzügliches Geschenk, das zu Ablenkung bei akut auftretenden Reisestress oder für eine vergnügliche Lektürestunde unter dem Weihnachtsbaum angeraten sei.


  • Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall
  • Aus dem Englischen von Andrea Ott
  • ISBN 978-3-458-19492-7 (Suhrkamp)
  • 96 Seiten. Preis: 14,00 €
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Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Weihnachten, Zeit der Traditionen. Egal ob Drei Nüsse für Aschenbrödel, Christmette oder andere liebgewonnene Rituale – einmal im Jahr kehrt pflegt man liebgewonnene Bräuche, seien sie mal besinnlicher oder mal eher blutig-brutal (Stichwort Stirb langsam).

Für jenen Graubereich zwischen den obigen Polen bietet der Klett-Cotta-Verlag seit einigen Jahren das Ritual eines Weihnachtskrimis der Marke Cozy Crime an.

Jedes Jahr im Herbst veröffentlich das Stuttgarter Verlagshaus einen klassischen Krimi britischer Provenienz, dessen Handlung sich um das Weihnachtsfest entspinnt und bei dem es zwar oftmals zu Mord und Totschlag kommt. Grausam ist das Ganze allerdings kaum, vielmehr laden diese Krimis aus dem Goldenen Zeitalter des Kriminalromans zum Miträtseln ein, haben zumeist Herrenhäuser zum Schauplatz und sinistre Gäste zum Personal und bieten damit sehr domestizierten Grusel zum Mitraten.

Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Gladys Mitchell - Geheimnis am Weihnachtsabend (Cover)

Die Krimis tragen stets das Geheimnis im Titel und drehen sich mal um eine mörderische Familienzusammenkunft, mal um eine Spuklegende. In diesem Jahr beschert uns Klett-Cotta ein Geheimnis am Weihnachtsabend. Geschrieben wurde es von der 1901 geborenen britischen Schriftstellerin Gladys Maude Winifred Mitchell, die zeitlebens über fünfundsechzig Krimis verfasste, in denen Beatrice Adela Lestrange Bradley verzwickte Fälle löst.

Zu größerer Bekanntheit hat es für die Autorin hierzuland allerdings nicht gereicht. Umso schöner, dass man ein exemplarisches Werk aus ihrem Schaffen postum nun auch im Rahmen der Weihnachtskrimis hierzulande entdecken kann. „Dead Men’s Morris“ ist der siebte Band der Reihe, der 1936 erschien und der hier in der Übersetzung von Dorothee Merkel zum ersten Mal auf Deutsch vorliegt.

„Sind Sie nicht die Mrs. Bradley, die Psychoanalytikerin?“

„Das bin ich durchaus, oder war es zumindest, als Sigmund Freud noch in Mode war. Heutezutage bezeichnet man mich als Nerven- oder Irrenärztin.“

Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Weihnachten in Oxfordshire

Ja, sie ist es wirklich. Mrs. Bradley hat sich in die Abgeschiedenheit Oxfordshires begeben, wo sie ihren Neffen Carey über die Weihnachtsfeiertage besuchen möchte. Dieser wohnt in der Nähe von Stanton St. John auf dem sogenanten Alten Hof, wo er einen experimentellen Schweinemastbetrieb leitet und nebenbei auch Porträts von hoher Güte zeichnet.

Schon die Anreise zum Hof gestaltet sich etwas schwierig – und dann kommt es, wie es bei einem Weihnachtskrimi natürlich kommen muss.

„Wie wär’s mit einer netten, gruseligen Spukgeschichte, Tante Adela?“

„Oder einem Vortrag über die gefährlichen Geisteskranken, die Ihnen so über den Weg gelaufen sind, Mrs. Bradley“, sagte Hugh mit einem Grinsen.

„Oder beides!“ sagte Denis mit vollem Mund. Er schluckte den Bissen hinunter und wischte sich das Fett von den Lippen. „Aber noch besser fände ich es, wenn es im Dorf einen echten Mord geben würde. So ein richtig toller Mord“, fuhr er voller Enthusiasmus fort, „damit sich das Weihnachtsfest auch lohnt. Was meinen Sie, Mrs. Ditch?“

Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend

Dieser Wunsch geht tatsächlich postwendend in Erfüllung. In der Nacht des Heiligen Abends findet ein Freund Careys die Leiche eines betagten Anwalts in der Nähe eines Treidelpfades. Wollte er der Wahrheit hinter der Spuklegende eines Geists im benachbarten Sandford auf den Grund gehen – oder wurde er gezielt dorthin gelockt und es handelt sich in Wahrheit um einen geschickt durchgeführten Mord?

Die Spürsinn von Mrs. Bradley erwacht – und wenig später kommt es zu Ostern zu einem weiteren Tod, der wirkt, als habe ein Eber sein Opfer attackiert und getötet, ganz wie es die Legende vom Shotover Hill erzählt.

Doch Mrs Bradley mag den offensichtlichen Spuren nicht trauen – und auch der Tatverdächtige Nr. 1 ist für die Detektivin und Psychologin eine zu offensichtliche Wahl. Langsam versucht sie dem Täter auf die Spur zu kommen, auch wenn es bis zu dessen Ergreifung schon längst wieder Pfingsten geworden ist (womit man es strenggenommen eigentlich nicht wirklich mit einem reinen Weihnachtskrimi zu tun hat).

Ein klassischer britischer Krimi

Geheimnis am Weihnachtsabend bedient alle Vorgaben, die man an einen klassischen britischen Krimi stellt. Da ist ein stattliches Haus (hier eben der Alte Hof) mit Geheimgängen und einem Priesterversteck, da gibt es einen Haufen an Verdächtigen, da lässt Carey als Hausherr die üppigen Speisefolgen auftragen, indem er die Haushälterin herbeijodelt. Da wird abends im Schein des Kaminfeuers gespeist und geplaudert und mit Mrs. Bradley steht eine scharfsinnige Ermittlerin im Mittelpunkt, die sich nicht in die Karten blicken lässt und die am Ende des Romans zielsicher den oder die Täter*in überführt.

Dennoch hat mich der Weihnachtskrimi etwas unzufrieden zurückgelassen. Und das liegt meiner Ansicht nach am fehlenden Fleisch auf den erzählerischen Rippen, auch wenn das Buch im Milieu der Schweinezüchter spielt und die Beschreibung der Schweinemast einene überraschend großen Anteil an diesem Weihnachtskrimi einnimmt.

Auch wenn hier beständig aberdutzende Gänge zum Schmausen herbeigejodelt werden und die Schweine regelmäßig gefüttert werden, so gebricht es diesem Krimi doch an Sättigungswerten. Woran liegt es?

In meinen Augen ist das Personal des Krimis ein Grund, das voller Stellvertreterfiguren ist. Außer Namen und zugeschriebenen Funktionen bekommen die Figuren nämlich kaum Konturen, wodurch die Übersichtlichkeit gewaltig leidet. Linda Ditch, Mrs. Ditch, Mr. Ditch, Jenny, Fay, Hugh oder Priest. Sie alle erhalten zwar Namen, die Beziehunskonstellation untereinander aber bleibt knöchern und selbst Mrs. Bradley bekommt hier weder Tiefe noch besondere (kriminalistische) Merkmale, die über ihre Schläue und das charakteristische Meckern hinausgehen.

Dass Gladys Mitchell eine Vielschreiberin war, das merkt man diesem Buch leider deutlich an, wie ich finde. Aus diesem nun auf Deutsch veröffentlichten Buch allein erschließt sich der Reiz und die Besonderheit an den Ermittlungen von Mrs. Bradley nicht. So mag die Figur der schlauen Detektivin über mehrere Bände hinweg Kontur bekommen, Geheimnis am Weihnachtsabend alleine scheitert aber an der Aufgabe.

Alles wirkt hier etwas lieblos konstruiert und heruntergeschrieben, auch weil das nächste Buch schon darauf wartete, produziert zu werden. Dieser Eindruck drängte sich mir leider bei meiner vorweihnachtlichen Lektüre auf, wenngleich das Buch mit 432 Seiten über ein Drittel länger ist als alle anderen Weihnachtskrimis, der Klett-Cotta bislang aufgelegt hat. Der zusätzliche Spielraum wird hier leider nicht wirklich genutzt. Und auch die plötzliche Auflösung des Falls auf den letzten Seiten bleibt in der Luft hängen, verlangt doch die reichlich konstruierte Lösung fürs Mitraten tiegreifende Kenntnisse und Zitatsicherheit, was die Werke Shakespeares oder den Tod Thomas Beckets betrifft.

Fazit

So ist Geheimnis am Weihnachtsabend ein teilweise an Weihnachten spielenender Krimi, der seine Potentiale nicht ausschöpft und so eher im Gros dutzender anderer cosy Landhauskrimis stecken bleibt (auch wenn es wohl kaum einen anderen Krimi geben dürfte, in dem die Schweinezucht einen solchen großen und entscheidenden Raum einnimmt).

Würde es die Reihe der Weihnachtskrimis von Klett-Cotta nicht geben, hätte es dieses Buch sicherlich nicht mehr zu einer deutschen Übertragung geschafft, was auch kein allzu großer Schaden gewesen wäre.

Alles ist hier ein bisschen dröge gestaltet, die Figuren erhalten von der Autorin wenig, das über ihre bloßen Namen hinausreicht, die ermittelnde Heldin bleibt austauschbar und Auflösung passiert eher plötzlich . Dass Gladys Mitchell 65 Krimis mit ihrer Heldin Mrs. Bradley verfasste, merkt man diesem Buch an, auch wenn das 1936 erschienene „Dead Men’s Morris“ erst der siebte Band der Reihe ist. Aber mehr Tiefe und Tiefenschärfe der Figuren hätten Geheimnis am Weihnachtsabend gutgetan.

So ist dieser „Weihnachtskrimi“ leider kein Highlight. Auf dieses Buch unterm Weihnachtsbaum kann man verzichten, außer es handelt sich beim Beschenkten oder zu Beschenkenden um einen beinharten Fan britischer Landhauskrimis jeglicher Couleur.

Weitere Meinungen zu Geheimnis am Weihnachtsabend gibt es bei Andreas Kück, beim Beutelwolf-Blog und bei der Literaturwerkstatt kreativ.


  • Gladys Mitchell – Geheimnis am Weihnachtsabend
  • Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
  • ISBN 978-3-608-98673-0 (Klett-Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 20,00 €
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