Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Wo ist die Literatur, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt? Das fragte sich Bernd Ulrich im vergangenen Jahr und beklagte im Feuilleton der Zeit, dass uns die Literatur in Zeiten der ökologischen Krise alleine lasse. Dass diese Klage ziemlicher Unfug ist, zeigt ja schon die Fülle an Büchern, die den Klimawandel und dessen Folgen für unser Zusammenleben thematisieren.

Das reicht von „gehobener“ Literatur wie etwa Roman Ehrlichs Malé, Jonathan Franzens Freiheit oder John von Düffels Der brennende See über das Gebiet der Lyrik (hier wäre beispielsweise Marion Poschmann eine Autorin, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt) bis hin zur Genreliteratur. Egal ob Wolf Harlanders 42 Grad, Uwe Laubs Dürre oder Dirk Rossmann mit seinen Oktopus-Thrillern – Literatur, in der der Klimawandel und seine Folgen präsent sind, gibt es en masse – und massentauglich ist sie noch dazu.


Das Feld der Klimawandel-Literatur ist ein weites, das qualitativ und in Sachen Anspruch viele unterschiedliche Schattierungen aufweist. Neben den eingangs genannten Namen gibte s ja auch noch viele weitere Titel, die auf breites Interesse stoßen und vielfach rezipiert werden. Maja Lunde wäre hier ein Name, die mit ihrem Klimaquartett zeigt, dass sich ökonomischer Erfolg und ökologischer Anspruch in der Themenwahl überhaupt nicht ausschließen, sondern breit nachgefragt werden. Der erste Teil ihres Klimaquartetts Die Geschichte der Bienen war schließlich das meistverkaufte Buch des Jahres 2017, das geschickt Unterhaltung mit einer Botschaft verband.

Auch die 1988 geborene Autorin Charlotte McConaghy ist eine Autorin, die die These von der Ignoranz des Klimawandels durch die Literatur erheblich zum Wanken bringt. Ihr Debüt Zugvögel war vor zwei Jahren ein großer Überraschungshit, der nicht nur hierzulande viele Leser*innen begeisterte, sondern auch in vielen anderen Ländern große Erfolge erzielte und in den Bestsellercharts weit nach oben kletterte.

Wölfe in Schottland

Nun ist sie zurück und legt mit Wo die Wölfe sind ihren zweiten Roman vor. Spielte ihr Debüt in einer nahen dystopischen Zukunft, in der die Vögel nahezu vollkommen verschwunden war, ist ihr neues Setting deutlich konkreter in der Gegenwart verhaftet, genauer gesagt in den unwegsamen Highlands von Schottland.

Charlotte McConaghy - Wo die Wölfe sind (Cover)

Dort lebten einst die Wölfe, wie der Originaltitel im Präteritum erklärt. Dass aus dieser Vergangenheit wieder ein gegenwärtiger Zustand wird, wie ihn der deutsche Titel andeutet, dafür will Inti Flynn sorgen. Sie ist wie ähnlich wie Charlotte McConaghys Debütheldin Franny Stone eine kantige und sozial nicht immer ganz trittfeste Frau, die sich mit Leib und Leben dem Schutz der bedrohten Tierarten verschrieben hat.

Für ein Umweltschutzprojekt wollen Inti und ihre Mitstreiter Wolfsrudel in den Highlands ansiedeln. Ein Projekt, das auf den Erfahrungen aus einem Projekt im Yellowstone-Nationalpark basiert. Dort wurden Wolfsrudel freigelassen, die für eine Renaturierung der ganzen Umgebung sorgten, dezimierten sie doch die Wildherden, was wiederum für gesunde Herdengrößen und weniger Verbiss im Park sorgte, was schließlich Flora und Fauna merklich guttat.

Eine widerständige Heldin

So soll es jetzt auch im schottischen Hinterland laufen, wie sich die Projektverantwortlichen ausgerechnet haben. Gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung, die um ihre Schafherden und die eigene Sicherheit fürchtet, lassen Inti und ihre Mitstreiter die Wölfe unter permanentem Monitoring frei.

Während sich die Wölfe nun in der kargen Umgebung zurechtfinden, ihr neues Leben beginnen und in den Rudeln die sozialen Ordnungen festlegen, brodelt die Stimmung im Dorf, insbesondere, als es zu den ersten toten Tieren und einem gelynchten Wolf kommt. Nicht einfacher wird die Lage durch Intis Affäre mit dem lokalen Polizeichef und die Tatsache, dass sie einen toten Farmer verscharrt hat, der zu Gewalt neigte und dessen Leiche Spuren von Wölfen aufweist. Würde dieser Umstand publik, wäre das Projekt vorzeitig gescheitert, weshalb Inti schroff und abweisend alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um am Projekt festhalten zu können.

Nature Writing und Krimi

In der Folge wechselt Charlotte McConaghys Roman zwischen Nature Writing und Krimiermittlungen, während in Inti ihr Kind heranwächst und die Dorfbevölkerung zunehmend aggresiv gegen die Biolog*innen und Forscher*innen rebelliert. Auch die Fragilität unseres Ökosystems und der Kampf um dessen Bewahrung sind Themen, die sich durch Wo die Wölfe sind ziehen.

Dabei gelingt McConaghy einmal mehr ein fesselndes Buch, das die mit seinen Schilderungen des Soziallebens der Wölfe ebenso überzeugt wie mit Rätselraten über die Hintergründe des Todes des Farmers. Inty ist eine widerborstige und doch sympathische Heldin, die im Zusammenleben mit anderen Menschen zu wenig Diplomatie und viel Vehemenz neigt, wenn es um ihr Anliegen der Wiederansiedelung der Wölfe geht.

Zudem katapultiert sich die Autorin mit dem Beginn ihres Buchs auf einen der ausichtsreichsten Plätze, was den besten ersten Satz des Jahres angeht:

Wir waren acht Jahre alt, da schnitt mein Vater mich auf, von der Kehle bis zum Bauch.

Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind, S. 9

Fazit

Zwischen krimitypischen Ermittlungen, Familiengeheimnissen, Wolfsrudeln und unwegsamer Natur sortiert sich dieses Buch ein, das abermals ein echter Pageturner ist, der die Fragen des Klimawandels und Möglichkeiten, diesem entgegenzuwirken, ebenso mitreißend wie engagiert verhandelt. Mit Wo die Wölfe sind beweist Charlotte McConaghy, das sich Anspruch, Massenkompatibiltät und solides Erzählhandwerk nicht ausschließen müssen und straft alle Debatten um mangelnde Repräsentation des Ökologischen und des Klimawandels in der Literatur Lügen. Da verzeiht man ihr sogar den einen Kitschausrutscher ganz am Ende des Romans.

Weitere Meinungen zu Wo die Wölfe sind gibt es unter anderem bei Constanze Matthes und Eulenmatz.


  • Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397100-2 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Claire Thomas – Die Feuer

Wer kennt es nicht. Da sitzt man in einer Theateraufführung mit womöglich mehreren Akten und einer Lauflänge über zwei oder drei Stunden – und der Funke der Inszenierung will nicht wirklich überspringen. Das Geschehen auf der Bühne löst nichts in einem aus, stattdessen lässt die Aufmerksamkeit nach und die Gedanken beginnen zu schweifen. Auch den drei Frauen, die in Claire Thomas´ Roman Die Feuer aufeinandertreffen, ergeht es nicht anders. Bei ihnen hat das allerdings ganz unterschiedliche Gründe.

Während auf der Bühne Beckett gegeben wird, lodern die Flammen rund um Melbourne immer höher und Sorgen, Erinnerungen und Überlegungen überlagern alles.


Pünktlich zum Klingeln der Vorstellung hat es Margot in den Theatersaal geschafft. Während draußen vor der Tür um 19:00 Uhr abends noch Temperaturen von vierzig Grad herrschen, ist es im Innenraum des Theaters doch verhältnismäßig kühl. Welches Stück gegeben wird, weiß sie als Abonnentin gar nicht und will sich überraschen lassen. Von ihrem unbekannten Sitznachbar erfährt sie noch, dass es sich um ein Stück von Samuel Beckett handelt, danach öffnet sich schon der Vorhang.

Drei Frauen, ein Theaterstück

Summer hingegen kennt sich sehr gut aus. Sie hat dem Stück schon mehr als fünfmal beigewohnt. Dies allerdings nicht aus Enthusiasmus, sondern weil es ihr Job als Schließerin im Theater erfordert, die Türen rechtzeitig zu öffnen und zu schließen und die Nachzügler im Theater noch einzuweisen. Auf einem Sperrsitz verfolgt sie einmal mehr die Vorstellung.

Claire Thomas - Die Feuer (Cover)

Und dann ist da noch Ivy, die ebenfalls im Zuschauerraum sitzt. Später in der Pause wird sie umschwärmt und verwöhnt werden, was einen einfachen Grund hat. Ivy ist als Mäzenin im Besitz von viel Geld, das natürlich Interesse und Begehren weckt. Auch das Theater möchte von ihren finanziellen Zuwendungen profitieren, weswegen sie als gern gesehener Gast natürlich hofiert wird.

Diese drei Frauen sitzen alle im selben Theaterstück, vom Inhalt bekommen sie allerdings nur wenig mit. Eine bis zu ihrem Rumpf eingegrabene Frau namens Willie unterhält sich im Stück mit ihrem Mann Winnie, der die meiste Zeit abwesend ist. Recht viel mehr passiert nicht in Samuel Becketts Stück Glückliche Tage, was den Frauen viel Raum zum Mäandern der Gedanken gibt.

Da ist die bedrohliche Lage der Feuer rund um Melbourne, die besonders Summer belasten. Ihre Freundin April befindet sich irgendwo da draußen in der Feuerzone und lässt nichts von sich hören. Margot belastet der Rauch in der Luft ebenso wie die Situation ihres Abschieds von der Uni und die schwierige Beziehung zu ihrem dementen Mann. Und Ivy hadert mit ihrem Dasein als stets umschwärmte Geldgeberin, bei der doch eher ihr Vermögen als ihre Persönlichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

Ein Theaterabend, drei ganze Leben

All diese Belastungen und Probleme wälzen die Frauen, während Willie auf der Bühne monologisiert. In der Pause werden alle drei Figuren aufeinandertreffen, die von Claire Thomas passenderweise in Form eines Theaterstücks mit reinen Dialogen und Handlungsanweisungen geschildert wird, ehe sie zum zweiten Teil verändert an ihre Plätze zurückkehren und neue Impulse gewonnen haben.

Claire Thomas ist dann aber souverän und klug genug, das Ende nach dem Fall des Vorhangs nicht auszuerzählen, sondern vieles offen zu lassen, womit sie sich natürlich auch an Samuel Becketts existenzialistischen Dramen und Schauspielen orientiert, die es den Zusehenden auch in ihrer Deutung nicht leicht machen und keine einfachen Antworten liefern.

Während die Einheit von Raum und Zeit gewahrt bleibt, fächert sie durch die Gedankenströme der drei Frauen ganze Leben auf, erzählt von Scheitern, Enttäuschungen, Ängste, Gewalterfahrungen und Lebensentwürfen, die doch ganz anders endeten, als sie eigentlich erhofft waren. Auch lässt das Stück selbst Rückbindungen auf die Leben der drei Figuren zu, erlaubt interpretatorische Ausdeutungen und ist reich an Zwischentönen.

Fazit

Das macht aus Die Feuer eine starke, intensive Lektüre, die auf 250 Seiten drei ebenso unterschiedliche wie gleichwertig überzeugende Leben und Schicksale präsentiert. Eine vibrierende Lektüre, die durch die abstrakte Gefahr des Feuers mitbangen lässt und durch die Konzentration auf das kleine Personenensemble Intimität und Eindringlichkeit entfaltet.

Literarisch durch die beständigen Abschweifungen und eingebauten Erinnerungsschleifen rund um das Beckett-Stück interessant erzählt, gönnte sich Claire Thomas den Luxus, nicht alles ganz genau auszubuchstabieren, sondern bei aller Verzahnung der drei Leben auch Leerstellen und Freiräume zu lassen, was das Buch umso überzeugender macht.

Mit Die Feuer reiht sich die australische Autorin nahtlos in ein wirklich exzellentes Bücherprogramm des Hanser-Verlags aus diesem Frühjahr ein, das in dieser Qualität länger nicht mehr da war. Nach Percival Everetts Erschütterung und Fatma Aydemirs Dschinns ein weiteres Highlight. So darf es im Herbst gerne weitergehen!


  • Claire Thomas – Die Feuer
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-446-27297-2 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 23,00 €
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Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2022

Wie jedes Jahr gibt es auch heuer wieder meine Tipps in Sachen Deutscher Buchpreis. Titel, die ich mir auf der Longlist vorstellen könnte, Titel, die ich mir auf der Longlist wünschen würde – und alles dazwischen.

Rege wird sie diskutiert werden, wenn die Liste am 23.08.2022 erscheint. Was fehlt, was steht zu Unrecht auf der Liste, und warum nur hat sich die Jury für diesen einen Titel entschieden? Zu viele große Namen, zu wenig Neues, zu viele Männer, zu wenig Debüts? Diese Fragen gehören zum Prozedere einfach dazu.

Nun aber erst einmal meine Lottotipps für 20 potentielle Kandidat*innen auf der Longlist:

Lucy Fricke – Die Diplomatin | Robert Menasse – Die Erweiterung | Annika Büsing – Nordstadt | Mirjam Wittig – An der Grasnarbe | Viktor Funk – Wir verstehen nicht, was passiert

Senthuran Varatharajah – Rot (Hunger) | Eckhart Nickel – Spitzweg | Claudia Schumacher – Liebe ist gewaltig | Fatma Aydemir – Dschinns | Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf

Esther Kinsky – Rombo | Norbert Scheuer – Mutabor | Steffen Mensching – Hausers Ausflug | Reinhard Kaiser-Mühlecker – Wilderer | Karen Duve – Sisi

Abbas Khider – Der Erinnerungsfälscher | Katharina Hacker – Die Gäste | Bettina Scheiflinger – Erbgut | Anna Yeliz Schentke – Kangal | Leona Stahlmann – Diese ganzen belanglosen Wunder

Daneben bleiben natürlich viele weitere mögliche Tipps. Schafft es Wolf Haas mit seinem neuen Brenner-Krimi Müll auf die Liste? Oder Charles Lewinsky nach dem Halbbart erneut mit Sein Sohn? Oder macht im Verbrecher-Verlag statt Viktor Funk Bettina Wilpert das Rennen? Findet ein spannendes Debüt wie die Nachtbeeren von Elina Penner Widerhall auf der Liste? Fragen über Fragen, auf die wir am 23.08.2022 um 10:00 Uhr eine finale Antwort bekommen werden. Habt ihr Tipps oder rechnet ihr fest mit bestimmten Büchern?

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Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Kaum ein Buchtitel verursacht einem Buchblogger ein derartig flaues Gefühl als der des Romans der Niederländerin Hanna Bervoets. In Dieser Beitrag wurde entfernt erzählt sie aber nicht von der immanenten Bedeutung von Back-Ups und Sicherungskopien, die digitales Schreiben und Publizieren erheblich vereinfachen, sondern wirft einen Blick hinter die Kulissen des Arbeitsalltes von Content Moderator*innen, die in sozialen Netzwerken gemeldete Beiträge sichten und kategorisieren – mit schlimmen Folgen für die Psyche, wie Bervoets zeigt.


Fand das Themenfeld der Digitalität zunächst recht spärlich einen Widerhall auf dem Feld der Literatur, so lässt sich in letzter Zeit hier langsam ein echter Wandel beobachten. Berit Glanz überführte in ihrem Debüt Pixeltänzer die Welt des Digitalen in die der Literatur und beschrieb eine Schnitzeljagd zwischen digitaler und echter Welt. In ihrem zweiten Buch Automaton, das in diesem Frühjahr im Berlin-Verlag erschien, zeigt sie in Form einer Spurensuche die Abgründe eines jener Tätigkeitsfelder auf, das uns die Digitalisierung beschert.

Bei ihr ist es die junge alleinerziehende Tiff, die für eine anonyme Firma als Micro-Job Überwachungsvideos hinsichtlich bestimmter Merkmale sichtet. Eine ebenso eintönige wie schlecht bezahlte Arbeit, die Glanz sehr eindrücklich schildert.

Im Buch von Hanna Bervoets steht nun eine sogenannte Content-Moderatorin im Mittelpunkt, die wie eine Schwester zur Heldin aus Glanz‘ Roman wirkt. Dass Glanz selbst einen Werbespruch für Bervoets Roman auf dem Buchumschlag beisteuert, ist da angesichts der Kongruenz der Themen nur konsequent.

Schöne neue Arbeitswelt

Okay. Und jetzt ein paar Dinge, die Sie bestimmt brennend interessieren, Herr Stitic – sind Sie bereit? Also: Alles, was meine ehemaligen Kollegen über die schlechten Arbeitsbedingungen erzählen, ist wahr. Hatten wir wirklich nur zwei Pausen, eine davon kaum sieben Minuten, die damit vergingen, dass wir an den zwei einzigen vorhandenen Toiletten anstehen mussten? Jep. Saßen sie uns im Nacken, wenn wir weniger als fünfhundert Tickets pro Tag schafften? Natürlich. Bekamen wir eine ernste Verwarnung, sobald unsere Trefferquote auf unter neunzig Prozent sank? Ganz bestimmt. Kam es zu Entlassungen, wenn manche regelmäßig einen zu niedrigen Score hatten? Ist vorgekommen. Und eine Stoppuhr, die anfing zu laufen, sobald wir unseren Bildschirm verließen, und sei es nur, um kurz mal die Beine zu strecken? So war das bei Hexa.

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt, S. 19

So war das bei Hexa, wie uns Kayleigh berichtet. Sie schreibt einen langen Brief über die 107 Seiten des Buchs, gerichtet an Herrn Stitic, einen Rechtsanwalt, der gerade eine Sammelklage gegen die Firma Hexa vorbereitet. Warum Kayleigh trotz aller Erfahrungen nicht Teil dieser Sammelklage sein möchte, das legt sie im Folgenden dar.

Ich bin doch keine Maschine

Hanna Bervoets - Dieser Beitrag wurde gelöscht (Cover)

Sie erzählt von den harten Arbeitsbedingungen und den noch härteren Belastungen für die Psyche, die die Arbeit der Content-Moderatorinnen bedeutet. Tag für Tag sichten sie als menschliche Maschinen gemeldete Beiträge, überprüfen sie hinsichtlich alles andere als nachvollziehbarerer Richtlinien, heben oder senken den digitalen Daumen, ob die Inhalte weiterhin auf den digitalen Plattformen gezeigt werden dürfen.

Sie erzählt von den Verformungen der Seele, die diese Arbeit bedeutet. Immer wieder gleiten psychisch Kolleg*innen ab, reagieren zunehmend rassistisch, stumpfen ab oder erleiden anderweitigen Schaden an Körper und Seele.

Ehemalige Kollegen gehen nur noch mit Elektroschocker ins Bett oder vor die Tür, andere finden gar keinen Schlaf mehr, so hat sie das Erlebte und das Gesehene mitgenommen. Aber inmitten dieser Menschenpresse aus Unmenschlichkeit, Leid und jedweder Grausamkeit ist auch Platz für die Liebe.

So verliebt sich Kayleigh an ihrem Arbeitsplatz in Sigrid, eine Kollegin, mit der sie eine stürmische Romanze beginnt. Doch ist die Beziehung der Beiden vor dem Druck ihres täglichen Erlebens und der Flut der Bilder gefeit? Oder kann man den Verformungen der eigenen Seele durch die Arbeit nicht einmal durch die Kraft der Liebe entkommen?

Wie kann ein Mensch das ertragen?

Das ist die Frage, die für mich den Kern von Dieser Beitrag wurde entfernt ausmacht. Was kann man als Mensch ertragen, wann schaut der Abgrund aus einem heraus, in dem man bei solcher Arbeit tagtäglich stundenlang hinschaut und sich dabei auf Regeln stützt, die ebenso widersinnig wie willkürlich sind?

Das beleuchtet Hanna Bervoets in ihrem Briefroman, ihrer langen Selbsterklärung ihrer Heldin Kayleigh sehr eindringlich. Sie richtet ähnlich wie Berit Glanz ihren Blick auf ein Tätigkeitsfeld, das durch die (vermeintlich) Sozialen Netzwerke erst erschaffen wurde, und das die meisten von uns weit wegschieben. Wen interessiert schon, was nach dem Klick auf einen „Melden“-Button auf einer Plattform passiert? Was sich Menschen anstellen von Maschinen ansehen, sichten und bewerten müssen?

Es ist so weit weg und fern von uns, ganz wie andere Teilbereiche – vom Sterben bis hin zur Fleischherstellung, deren Hintergründe wir so gut es geht ausblenden und uns nur mit den Endprodukten solcher Prozesse befassen wollen, seien es nun Würste, ein Grabstein oder eben eine saubere Timeline, in der alle zweifelhaften oder gewaltverherrlichenden Beiträge verschwunden sind.

So blenden Facebook, Twitter und Co ja alle weiteren Schritte nach dem Melden eines Beitrags aus und wahrscheinlich hat man selbst die Meldung rasch wieder vergessen. Aber wenn diese Meldungen dann eben Tag für Tag in höchster Schlagzahl auf fühlende Menschen einprasseln, hier lässt es sich eindrücklich nachvollziehen.

Fazit

In diesem Sinne ist Dieser Beitrag wurde entfernt ein aufklärerisches und engagiertes Buch, das für die Arbeit von Content-Moderator*innen sensibilisiert und die prekären Arbeitsbedingungen und das völlige Fehlen von psychologischer Unterstützung und Supervision beleuchtet. Und ein Buch, das inmitten von allem psychischen Leid und Druck aber auch die Möglichkeit einer Liebe eröffnet und so nuanciert von Schönem in Schrecklichem erzählt – und das knapp und präzise, ohne viel Rahmenhandlung oder Ausdeutungen. Fokussiert auf den Kernkonflikt zwischen Leid und Begehren, stabiler Arbeit und Druck auf der Seele erzählt Bervoets eine eindringliche Geschichte, die durch Form und Inhalt besticht.


  • Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt
  • Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
  • ISBN 978-3-446-27379-5 (Hanser)
  • 112 Seiten. Preis: 20,00 €

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Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

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