Sebastian Guhr – Chamissimo

Adelbert von Chamisso – war da nicht etwas? Vielleicht entsinnt sich manch einer noch des bekanntesten Werks des 1781 geborenen Autors, nämlich Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Vielleicht kramt man aus der Tiefe des eigenen Erinnerns noch den Adelbert von Chamisso-Preis hervor, der bis 2017 an Autor*innen nichtdeutscher Sprachherkunft verliehen wurde, etwa an Esther Kinsky oder Abbas Khider. Damit dürfte es dann aber alles gewesen sein, was man als durchschnittlich gebildeter Nicht-Germanist zu Chamisso beitragen kann.

Was für ein spannendes Leben Adelbert von Chamisso tatsächlich geführt hat, das zeigt der Berliner Autor Sebastian Guhr in seiner Romanbiografie Chamissimo, in der Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen, ganz wie im Schaffen von Chamisso selbst.


Unstetigkeit, sie war Adelbert von Chamisso schon von Kindesbeinen an vertraut. So musste die Familie im Jahre 1971 vor den anrückenden napoleonischen Aufständischen aus ihrem Schloss in Frankreich fliehen. Chamisso kam nach Bayreuth und fand Anschluss am preußischen Hof, an dem er trotz Romanzen und Freundschaftsbünden mit Männern wie Eduard Hitzig oder Karl August Varnhagen (dem später Mann von Rahel Varnhagen), Außenseiter blieb.

Sebastian Guhr - Chamissimo (Cover)

Zwar nahm Chamisso am höfischen Leben teil, verliebte sich und trat 1798 als Kadett dem Infanterieregiment Ferdinand von Goetzes ein und versuchte sich als preußischer Soldat – so recht wollte dieses Leben aber nicht zu ihm passen.

Er lernte im Rahmen von Salons Berühmtheiten seiner Zeit kennen, darunter Wilhelm Humboldt, Ludwig „Turnvater“ Jahn oder E.T.A. Hoffmann, das Rezept für ein gelingendes Leben lieferten sie ihm aber alle nicht. Seine Schreibversuche blieben in der Welt zwischen Frankreich und Deutschland beschränkt – und erst die (imaginierte?) Episode der Begegnung Chamissos mit einem Mann, der ihn um seinen Schatten ersuchte, brachte die Wende im Leben des unsteten Poeten.

Trotz gegenteiliger Anweisung veröffentlichte ein Freund Chamissos die Erzählung des gestohlenen Schattens als Peter Schlehmils wundersame Geschichte – die fortan für Ruhm und Ehre sorgte. Doch auch dieser erzählerische Durchbruch sorgte nicht für Konstanz – und Chamisso heuerte an Bord des russischen Schiffs Rurik unter Leitung des Kapitäns Otto von Kotzebue als Titulargelehrter einer Expedition an, die ihn bis nach Brasilien, den Nordpol und Kamtschatka bringen sollte.

Dort wird er zum Robinson, entdeckt auf der Reise neue Algenarten – und doch bleibt die Unstetigkeit auch dort in seinem Leben ein treuer Begleiter.

Voller Zeit- und Literaturgeschichte

Adelbert von Chamisso - Porträt
Adelbert von Chamisso

Chamissimo ist ein Werk, das von Zeit- und Literaturgeschichte durchzogen ist. Seit den Kindertagen Chamissos, als er mit der Familie vor Napoleons Aufständischen fliehen muss, ist der korsische General ein Wegbegleiter, dessen Treiben immer wieder Auswirkungen auf Chamisso haben wird. Entzweigerissen zwischen seinem Herkunftsland und seiner neuen Heimat wird Chamisso ein unangepasster Mensch bleiben, der zwischen Frankreich, Preußen und Russland hin und hermäandert und nicht zur Ruhe kommt, weder geographisch noch psychisch.

Genauso unklar wie seine wirkliche Heimat und Identität ist auch sein Schreiben, dass durch die Begegnungen mit vielen Schriftstellerinnen geprägt wurde und das sich irgendwo zwischen Klassik (Jean Paul), Vormärz (Kotzebue), dunkle Romantik (E.T.A. Hoffmann) und der hellen Seite der Romantik verortet.

Schön, dass sich Sebastian Guhr hier entscheidet, die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zu verwischen, indem er Chamissos erfolgreichstes Werk Peter Schlemihl auch auf Chamissos Leben selbst überträgt.

Ihm gelingt eine gut geschriebene und ebenso gut lesbare Romanbiographie, die in ihren Grundzügen etwas an Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder an die Pfaueninsel von Thomas Hettche erinnert. Sehr zugänglich und mit dem kleinen literarischen Twist der Vermengung von Fakt und Fiktion ist ihm so ein Buch gelungen, das durchaus empfehlenswert ist.

Fazit

Mit der bewegten Lebensgeschichte von Adelbert von Chamisso hat Guhr ein ergiebiges Ausgangsmaterial gefunden, das unter seinen Händen zu einem gut lesbaren Roman wird, der Lust macht, sich auch mit den Werken von Chamissos eingehender zu beschäftigen. Bravissimo für Chamissimo!


  • Sebastian Guhr – Chamissimo
  • ISBN 978-3-7374-1199-8 (S. Marix-Verlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Eberhard Seidel – Döner

Ist ein Deutschland ohne den Döner denkbar? Wer Eberhard Seidels türkisch-deutsche Kulturgeschichte des Döners liest, könnte da so seine Zweifel bekommen. Denn Migration, ökonomische Teilhabe, Rassismus, die Gewalt der Wendejahre, all diese Themen lassen sich fast mustergültig an der Geschichte des Döners in Deutschland ablesen, wie Seidel beweist. Und endlich wird auch die Frage geklärt, ob es jetzt Döner Kebap, Dönerkebab, Döner-Kebap oder Döner kebab heißt.


Mit Soße oder ohne, das Fleisch mit der Maschine geschnitten oder per Hand, die Zusammensetzung des Fleischspießes mit Lamm, Kalb oder Schwein – oder doch eine pflanzliche Alternative im Brötchen? Überhaupt das Brötchen – soll es ein Fladenbrot sein oder eine andere Art von Gebäck?

Die Frage nach dem „richtigen“ Döner ist eine Philosophie, über die es sich genauso vortrefflich streiten lässt wie die Frage, woher der Döner überhaupt stammt und wer ihn erfunden hat. War es ein türkischer Meister aus Bursa? Oder ist nicht eigentlich der griechische Bruder des Döners, das Gyros, das lange vor dem eigentlichen Döner populär wurde? Und warum hat sich der Döner ausgerechnet in Deutschland zum Massenphänomen entwickelt?

All diesen Fragen geht Eberhard Seidel in seinem Sachbuch nach und entwirft dabei eine wirkliche Kulturgeschichte des Döners, wie es der Untertitel des Buchs verspricht. Dabei zeichnet er ein Bild von den Ursprüngen des Gerichts über die Entwicklung des Döners als populäre Speise durch türkischstämmige Einwander*innen bis hin zu dem Produkt, das heute in den schier unfasslichen Stückzahlen von einer Milliarde Dönerprodukte pro Jahr in Deutschland verzehrt wird (wenngleich man hier Schawarma, Köfte und Co. neben den reinen Dönern hinzuzählen muss)

Die Entwicklung des Döners

Eberhard Seidel - Döner (Cover)

Seidel präsentiert Rezepte aus den Anfangstagen des Döners und blickt auf die Entwicklung dieses Gerichts, das in der Fremde dank seines unvergleichlichen Preis-Leistungsverhältnisses zum Erfolgsprodukt wurde. Er beschreibt die Kunst der Schichtung der Dönerkegel, geht aber auch auf die Probleme ein, die durch einen unregulierten Markt von Berlin ausgehend entstanden, ehe die Berliner Verkehrsauffassung dem kulinarischen Wildwuchs und geschmacklichen Schindluder einen Riegel vorschob. Denn die Geschichte des Döners ist auch eine Entwicklungsgeschichte, die die zunächst kaum Regeln kannte und deren kulinarische Revolution durch Innovationen und erst spät durch einheitliche Standards zu dem Massenphänomen wurde, das heute aus weder Fußgängerzonen, noch aus Industriegebieten oder Bahnhofsvierteln wegzudenken ist.

Dabei zeigt Seidel, wie erstaunlich es war, dass innerhalb kurzer Zeit die Gemeinschaft der Dönerproduzent*innen zu einheitlichen Spielregeln wie der Berliner Verkehrsauffassung kam, gleichzeitig aber bislang jeder Versuch einer Dönerfranchise á la MacDonalds oder Nordsee gescheitert ist. Und Seidel zeigt, welchen Muts und welcher Kreativität es bedurfte, um den Döner in Deutschland zu etablieren.

Denn zuvorderst ist Döner in meinen Augen auch eines, nämlich eine Geschichte der Migration und des Rassismus, wie Eberhard Seidel deutlich zeigt.

Eine Geschichte der Migration

Er beschreibt, wie die Entwicklung mit der schwierigen Akzeptanz der türkischen Mitbürger*innen einherging, die man eigentlich nur als „Gastarbeiter“ akzeptieren wollte, ehe diese durch harte Arbeit und Selbstausbeutung in der deutschen Gesellschaft Fuß fassten und somit die Kulinarik der Deutschen langsam aber entscheidend prägten.

Vor allem auf die gewaltsame Ausgrenzung, Bedrohung und Ermordung von türkischen Bürger*innen in Ostdeutschland während der Wendezeit geht Seidel dabei ein. Er erzählt von antitürkischer Stimmung, die in den 70er und 80er Jahren durch Medien, NPD und anderen Parteien als sogenanntes „Türkenproblem“ geschürt wurde, und das sich vor allem in der Wendezeit im Osten fortsetzte.

Erschreckend die Geschichte des türkischen Unternehmers, Izzet Aydogdu, der zusammen mit seiner deutschen Partnerin Ursula Bielack für den Döner den Osten kulinarisch erschließen wollte und dafür die „Dönerix“-Kette ins Leben rief. Die Gewalt der Neonazis gegen Aydogdus Lebenswerk, die in Gewaltexzessen während dieser Baseballschläger-Jahre mündete, schockiert.

Diese Geschichte verstört dadurch so sehr, da diese Gewalterfahrung und Ausgrenzung des Hoyerswerdaer Unternehmerpaares eben kein Einzelschicksal ist, wie Seidel zeigt. In seiner Kulturgeschichte des Döners macht er auf das Kontinuum der Gewalt und des Rassismus aufmerksam, dem sich die türkische Community seit ihren Anfangstagen in Deutschland ausgesetzt sieht. Er schlägt einen einen weiten Bogen der mit dem Döner assoziierten Gewalt – und landet damit schlussendlich wieder in unserer Gegenwart.

Das Kontinuum der Gewalt

Unvollständig nur die seitenlange Liste, die Übergriffe und Anschläge gegen nicht-deutsche Restaurantbetriebe dokumentiert, bei der Seidel für die Aufzählung alleine der Jahre von 2000 bis 2004 ganze elf Seiten benötigt.

Trauriger Höhepunkt – und sicherlich nicht Schlusspunkt in dieser Darstellung der kontinuierlichen Gewalt gegen Migranten ist dabei die Mordserie an türkischstämmigen Kleinunternehmern, die von den Ermittlungsbehörden und der Öffentlichkeit schnell und respektlos als „Döner-Morde“ tituliert wurden und bei der jahrelang der Mörder innerhalb der türkischen Community gesucht wurde, ehe sich der wahre Charakter der rechtsextremen Mordserie offenbarte.

Auch der Gammelfleisch-Skandal, der einige Jahre vor dem Terror des NSU die Republik in Atem hielt, waren dabei ganz ähnliche Mechaniken in der öffentlichen Debatte zu beobachten, wie Seidel in Döner zeigt.

Denn jener Skandal, der eigentlich einer der deutschen Fleischproduzenten war, wurde durch die einschlägigen Bekannten wie etwa die Bild-Zeitung schnell zum „Döner-Skandal“ umetikettiert und damit der türkischen Community beziehungsweise einer ominösen „Döner-Mafia“ in die Schuhe geschoben, obwohl er dieser Skandal doch eigentlich auf den kriminellen Machenschaften skrupelloser deutscher Geschäftsmänner beruhte, bei denen die Türk*innen auch Opfer der kriminellen Machenschaften waren.

Aber lieber schob man den Skandal den vermeintlich immer noch Fremden zu, statt sich mit den wahren Ursachen des Skandals zu befassen, wie dies schon unzählige Male der Fall war – und immer wieder sein wird. Denn die deutsche Bevölkerung tut sich noch immer schwer mit der Akzeptanz jener, die zwar für preiswerte Nahrung sorgen, denen man aber trotzdem noch immer bisweilen mit Klischees, Verachtung und Rassismus gegenübertritt.

Fazit

Dieses schizophrene Verhältnis arbeitet Eberhard Seidel in Döner eindrucksvoll heraus und schafft damit eben weitaus mehr, als nur eine Geschichte des Döners zu erzählen, wie er es bereits im Vorgängerbuch Aufgespießt – Wie der Döner über die Deutschen kam, tat. Vielmehr vereint das Buch Kulinarik-Historie und Gesellschaftsanalyse, Migrationsgeschichte und Genuss.

Es ist dabei gerade auch die gesellschaftliche Komponente, die das Buch so lesenswert und eindringlich macht. Sie ist es, die mich auch für Vegetarier*innen und Veganer*innen eine unbedingte Leseempfehlung für Döner – Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte aussprechen lässt.

Und um hier abschließend die Eingangsfrage aufzulösen, sei auf die dudengerechte Lösung der Benennungsfrage in Sachen Drehspieß hingewiesen. Diese lautet korrekt geschrieben Döner Kebap, wie Eberhard Seidel im ersten Kapitel des Buchs erklärt. Damit wäre das nun auch geklärt.


  • Eberhard Seidel – Döner: eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
  • Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
  • Bestellnummer: 174030 Preis: 22,00 €

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Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

„Die Kleinfamilie“, zitiere ich, „ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau. Er ist der Bourgeois, sie das Proletariat.“

„Wer sagt das? Marx?“, will meine Mutter wissen.

„Nein, Engels.“

Sie nickt

„Vielleicht hat er nicht ganz unrecht, dein Engels.“

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter. S. 204

Nicht erst seit der Zuerkennung des diesjährigen Literaturnobelpreises an die Französin Annie Ernaux ist die Erkundung der eigenen weiblichen Identität in Verschränkung mit der Klassenfrage in den literarischen Fokus gerückt. Annie Ernaux in Frankreich, Elena Medel in Spanien, Autorinnen wie Daniela Dröscher oder Marlen Hobrack hierzulande gehen mal mehr und mal weniger fiktionalisiert ihrer eigenen Familiengeschichte und Herkunft auf den Grund, um Klassismus und die Prägung der eigenen Identität durch die Herkunft zu ergründen und offenzulegen.

Gab es zwar schon vereinzelt schreibende Selbsterkunderinnen wie Ulla Hahn, doch bislang war das Feld in Deutschland bislang eher in der Hand schreibender Männer wie Andreas Maier, Christian Baron oder Alem Grabovac. Nun sind es verstärkt weibliche Schreibende, die dieses Genre auch durch die Mittel der Autofiktoentscheidend prägen und bestimmen.


So ist es bei Daniela Dröscher die Ich-Erzählerin Ela, die sich an ihre eigene Kindheit erinnert. Einsetzend im Jahr 1983 wird die Erzählerinnen chronologisch vier Jahre ihrer Kindheit präsentieren. Jahre, in denen das Unglück der eigenen Mutter wie Blei auf den Schultern der Erzählerin lag, was die Geschichte der Mutter auch zu ihrer höchsteigenen Geschichte macht, wie sie im Prolog des Buches erklärt.

Dabei sind den vier Jahren vier Attribute zugeschrieben, die ironischerweise der Beziehung der eigenen Eltern und der zu ihrem Kind spotten. So beginnt das Jahr 1983 als Jahr der Kommunikation, es folgen das Jahr der Frauen in Südafrika, das Jahr der Vereinten Nationen, ehe 1986 zum Jahr des Friedens getauft wird. Doch weder Frieden, noch Kommunikation, Einheit oder gar Respekt vor dem Weiblichen sind der Beziehung der eigenen Eltern eingeschrieben, wie Daniela Dröscher eindrucksvoll zeigt.

Eine Familie im Grabenkampf

Denn obschon Elas Eltern ein heteronormatives BRD-Eigenheim-Leben in der fiktiven Kleinstadt Obach im Hunsrück führen, hat die Beziehung der Eltern Risse oder gleicht besser gesagt eher einem Grabenkampf.

In den Tagen zuvor war es eisig bei uns zu Hause zugegangen. Martha-Oma schwieg beleidigt, mein Vater ebenso. Auch meine Mutter hatte neuerdings das Schweigen für sich entdeckt. Nun hatte ich also zwei Elternteile, die schwiegen. Es war wie im Kalten Krieg, nur dass ich keine Ahnung hatte, wer von beiden jetzt der OSTBLOCK war.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 98
Daniela Dröscher - Lügen über meine Mutter (Cover)

Dabei sind die Konflikte und beharkten Themenfelder äußerst vielfältig. Das präsenteste ist sicherlich das vom Vater ständig bemängelte Übergewicht seiner Frau, das ihm ein Dorn im Auge ist. Er fordert ihr Diäten ab und sorgt mit seiner beständigen Kritik und Disziplinierungsversuchen durch Wiegen für eine Scham auch bei Ela. Doch auch ansonsten sind die Konfliktfelder vielfältig. Die Abwertung der Mutter durch die Schwiegereltern, die ungleich verteilte Sorgearbeit (neben Ela werden in den folgenden Jahren noch eine weitere Tochter, ein Pflegekind und die demente Großmutter in ihren Aufgabenbereich fallen) reicht bis hin zu den Finanzen, die völlig ungleich verteilt sind. So hat der Vater „Spielgeld“ zur eigenen Verfügung, den eigentlichen Unterhalt der Familie muss die Mutter aus ihrem Vermögen bestreiten.

Der Versuch von beruflicher Qualifizierung und ökonomischer Selbstständigkeit wird von ihrem Mann argwöhnisch beäugt und abgewertet. Als dann eine Erbschaft den Bau eines neuen Eigenheims ermöglicht, ist es vor allem der Vater, der dann mit extravaganzen Ausgaben für luxuriöse Autos auffällt.

Das Kind im Spannungsfeld

Die Beziehung der Eltern ist von Taktieren, Heimlichkeiten, Lügen und der Aufführung einer fadenscheinigen Komödie (oder eher Tragödie) vor den Augen des eigenen Kindes bestimmt, das in die Konflikte hineingezogen wird und oftmals gar nicht weiß, wie es sich verhalten soll, wenn die Konfliktregeln der Erwachsenen so undurchschaubar sind, wie es in der eigenen Familie der Fall ist.

„Wir werden das schon schaffen“, sagte sie. „Aber du musst mir versprechen: kein Wort zu Papa.“

Mir war flau im Magen. Ich fühl[t]e mich beklommen, gleichzeitig aber machte es mich stolz, dass sie mir so geheime Sachen erzählte.

„Klar“, sagte ich. „Mach ich.“

Das war meine Rolle. Inzwischen war ich geübt darin, Geheimnisse zu hüten. Und allmählich verstand ich, dass Geheimnisse eine gewisse Verwandschaft zu Lügen besaßen.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 254

Eine noch größere Fallhöhe bekommt das Beschriebene durch die Kommentierung der erwachsenen Erzählerin, die sich vor den einzelnen Kapiteln zu Wort meldet und mit einem emanzipierten und gebildeten Blick das damalige Schauspiel analysiert und sich auch in ihre Mutter einzufühlen und zu verstehen versucht. Hier wird aus dem chronologisch voranschreitenden Familienbild dann ein Sachbuch, das die Frage von Klasse, Herkunft, der Prägung des sozialen Milieus verhandelt und untersucht.

Und nicht zuletzt auch die Sprache stimmt in diesem Buch. Gelungen schafft es Daniela Dröscher, sich die Perspektive eines Kindes anzueignen und aus den Augen der kindlichen Ich-Erzählerin auf diesen elterlichen Kampf nach undurchsichtigen Regeln zu blicken. Immer wieder sind Floskeln und Redewendungen der Erwachsenen kursiv gesetzt (was etwas an die erzählerischen Mittel von Heinz Strunks letztem Roman erinnert) und zeigen Sprache beziehungsweise den Dialekt, der in vielen Dialogen zum Einsatz kommt, als Marker von Bildung, Alter und sozialem Rang. Auch dieser Aspekt des Buches ist gut gelungen und hochinteressant.

Fazit

Vor dem Hintergrund der 80er Jahre, der diffusen Angst vor dem Atomunglück in Tschernobyl, dem sowjetischen Feind oder der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, dem Tennisfieber rund um Steffi Graf und Boris Becker und dem sozialen Druck der Kleinstadt seziert Daniela Dröscher das Kleinbürgertum, die Unterdrückung der Frau in der Ehe und den Blick eines Kindes auf die seltsame Welt der Eltern, das sie zugleich mit dem späteren analytischen und gebildeten Blick der erwachsenen Erzählerin vergleicht und kontrastiert.

Toll erzählt und genussvoll spielend mit den Möglichkeiten der (Auto-)Fiktion dringt sie mit ihrem Roman ganz tief in das Geflecht von Familie ein, zeigt Widersprüche und patriachale Strukturen auf und unternimmt den Versuch, ihre Mutter zu verstehen – und setzt der fiktiven Mutter damit auch ein höchst plastisch und anschaulich geratenes Denkmal, das es völlig verdient in die Endrund des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft hat.


  • Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter
  • ISBN 978-3-462-00199-0 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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Elena Medel – Die Wunder

Mit Spanien als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gibt es ein literarisch vielfältiges Land zu entdecken, dessen Autorinnen und Autoren in loser Folge hier im Mittelpunkt stehen sollen. Zwei Beiträge zu Spanien erlesen gab es bereits. Nun ist mit Elena Medel eine junge Stimme zu entdecken, der mit ihrem Prosa-Debüt Die Wunder laut Suhrkamp-Verlag ein literarischer Sensationserfolg gelang, oder wie es die Zeitung El País formulierte: „Die beste Lyrikerin dieses Landes hat sich mit nur einem Buch in die beste Romanschriftstellerin dieses Landes verwandelt.“

Nun habe ich natürlich nicht die gesamte spanische Literaturszene gelesen und für einen Abgleich parat. Aber auch mit den bislang hier auf dem Blog vorgestellten Werken als Referenzgröße würde ich diese etwas steile These doch bezweifeln.


Die Wunder erzählt von zwei Frauen, deren Leben abwechselnd in Schlaglichtern vorgestellt werden. Da ist María, die als Alleinerziehende ihre Tochter Carmen in der Obhut ihres Bruders lässt und die neben ihrem Brotjob auch am politischen Kampf Interesse gefunden hat. Sie motiviert ihre Bekannten zu Protest und versucht eine Verbesserung ihrer prekären Stellung als Frau in der Gesellschaft herbeizuführen.

Die andere Frau ist Alicia, die Enkelin von María. Sie laboriert am Schmerz des Verlusts ihres Vaters. Dieser, dem Anschein nach ein erfolgreicher Geschäftsmann und Gastronom, begann von Schulden bedroht, Selbstmord. Diese Erfahrung des Verlusts prägt Alicias Leben seit Kindertagen und setzt sich in der Schule mit Mobbing und Ausgrenzung fort. Beide Frauen kämpfen mit der von der Gesellschaft ihnen zugedachten Rollen, müssen um ihr finanzielles Auskommen kämpfen und werden sich erst sehr spät im Buch überhaupt einmal wirklich begegnen.

Die Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft

Elena Medel - Die Wunder (Cover)

Die Wunder ist ein Buch, das seinen Finger in die Wunde legt und von der schwierigen Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft erzählt. Im Doppelporträt der beiden Frauen treten die Strukturen deutlich zutage, die zu prekären Lebensverhältnissen führen und ein Vorankommen der Frau verhindern, sei es Ende der 70er Jahre oder in der Gegenwart. Auch die Großstadt Madrid, in die beide Frauen unabhängig voneinander kommen, ist dabei nicht viel fortschrittlicher als die ländliche Umgebung, der sie eigentlich entfliehen wollen. Armut, Geldmangel und fatale Abhängigkeiten von Männern lauern überall.

Leider ist Die Wunder aber auch ein Buch, das sichtlich schwer am eigenen Gewicht und der Bedeutung trägt. Die Absätze stehen in monolithischen Blöcke, der Ernst und die Gravitas sind jeder Seite eingeschrieben. Dabei entwickeln die beiden Hauptfiguren zumindest für mein Empfinden auch kein wirklich spannendes Eigenleben, stattdessen blieb ich den Medels Frauen gegenüber merkwürdig distanziert und konnte keinerlei Bindung zu ihrer Lebenswelt und Problem aufbringen, auch wenn ich mich wirklich bemüht habe.

Die Sprache (Übersetzung aus dem Spanischen von Susanne Lange) ist recht uniform und austauschbar, die Dialoge oftmals von einem politischen Programm denn der glaubhaften Artikulation von Befindlichkeiten oder Eindrücken geprägt. Die schlaglichtartige Erzählweise, die sich auf Schlüsselmomente und -erlebnisse im Leben der Figuren konzentriert, konnte mich trotz einzelner starker Episoden (etwa die Verzweiflung Marias nach dem Auffinden der toten Seniorin, die ihr zur Pflege anvertraut war oder die Hängung Alicias durch eine Gruppe von Schüler*innen während der Schulzeit) über die ganze Länge des Buchs ebenfalls nicht wirklich mitreißen.

Fazit

In Bezug auf Elena Medels Buch lässt sich für mich einmal mehr die großartige Sentenz Goethes aus dem Schauspiel Torquato Tasso: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Hier tritt mir auch das Anliegen der Autorin, vom Kampf zwei Frauen in zwei Generationen gegen die herrschenden patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen etwas zu sehr in den Vordergrund und drängt Figuren, Prosa, Sprache und den Plot zu sehr in den Hintergrund, als dass sich für mich Lesefreude eingestellt hätte.

Von einem aktivistischen Standpunkt aus ist Die Wunder sicher spannend zu lesen, für mich als Roman ist das Ganze leider nicht wirklich überzeugend, auch wenn ich mit dieser Meinung sicherlich in der Minderheit bin, wenn ich die begeisterten Stimmen des Guardian, von Hilary Mantel bis zur Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski nachverfolge.

Auch die Bloggerinnen Petra Reich und Sandra Falke sind angetan, ich selbst stehe eher etwas ratlos wie die Rezensentin Sylvia Staude in Frankfurter Rundschau vor dem Buch. Aber so ist es manchmal im Leben, ich bleibe dann lieber bei Sara Mesa und Jose Ovejero und freue mich auf den nächsten Titel bei Spanien erlesen, der mir persönlich auch wieder mehr zusagt.


  • Elena Medel – Die Wunder
  • Aus dem Spanischen von Susanne Lange
  • ISBN 978-3-518-43028-6 (Suhrkamp)
  • 221 Seiten. Preis: 23,00 €
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Dörte Hansen – Zur See

Mit ihren beiden bislang erschienen Romanen Altes Land und Mittagsstunde hat sich Dörte Hansen weit nach vorne in die Riege wichtiger deutscher Erzählerinnen katapultiert. Glänzend ihre Erzählweise zwischen Anspruch und Unterhaltung, mit der sie die Bestsellerlisten erklommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden bislang erschienen Werke auch als Serie fürs Fernsehen (Altes Land) und als Verfilmung fürs Kino (Mittagsstunde) adaptiert. Nun liegt mit Zur See der dritte Roman der 1964 geborenen Autorin vor, der erwartungsgemäß aus dem Stand die Bestsellerlisten erklommen hat. Auch hier bleibt sie ihren Themen des norddeutschen Settings und der Beschreibung lebensnaher Charaktere treu. Und hat mich dennoch etwas enttäuscht.


Eine nicht näher benannte Nordseeinsel ist der Schauplatz von Dörte Hansens neuem Buch. Hier lebt die Familie Sander in dem wohl schönsten Haus der Insel, reetgedecktes Dach und Delfter Kacheln an den Wänden inklusive. Doch nicht nur der Knochenzaun, der das Haus umgibt, ist morsch. Auch die Familie im Inneren des Hauses leidet unter Auflösungserscheinungen.

So ist Jens Sander, der Ehemann von Hanne Sander und Vater der drei Kinder, schon vor längerem ausgezogen und lebt auf der kleinen Nordseeinsel Driftland als Vogelwart. Hanne hält derweil das Haus sauber und ist vor allem mit der Betreuung ihres Sohnes Ryckmer beschäftigt.

Dieser war einst Kapitän auf einem Nordseeschiff, doch seine Erfahrungen im Sturm haben ihn zum Alkoholiker gemacht, dem von seiner Mutter täglich sechs Flaschen Bier zugestanden werden, keine mehr und keine weniger. Nächtens erbricht er sich nach Exzessen schon einmal in die Rosen und unterhält an guten Tagen die Touristen, indem er die Rolle als Seemann gibt. Dabei hat er sein Kapitänspatent schon lange verloren.

Seine Schwester Eske pflegt im lokalen Altersheim die Senioren, Henrik ist als jünster ein arrivierter Künstler, der mit Treibgut Skulpturen formt, die sich die reichen Inseltouristen gerne in ihre luxuriösen Häuser stellen.

Während die Mitglieder der Familie Sander alle ihre Leben leben, kämpft der Inselpfarrer Matthias Lehmann derweil mit einer handfesten Glaubenskrise und seiner Beziehung zu seiner Frau und Töchter. Als dann ein Wal an den Strand der kleinen und so pittoresken Insel angespült wird, kommt einiges in Bewegung, auch bei Hanne und Jens.

Die Prägung der Heimat

Dörte Hansen - Zur See (Rezension)

Zur See ist ein Roman, der von der Prägung der Heimat erzählt, aber auch von den Gefahren, die ihr drohen. So ist Hansens nicht näher benanntes Eiland wohl auch mit einigen Parallelen zur Insel Sylt zu sehen, bei der die reichen Touristen und die dauerhafte touristische Ausbeutung längst alles Einheimische, Autochthone verdrängt hat und zur Kulisse werden hat lassen.

Dörte Hansen zeigt (ähnlich wie zuletzt auch Susanne Mathiessen) , wie die monetären Anreize durch die zahlungskräftigen Touristen langsam alles Einheimische Verdrängen, wie die Fischkutter und Kutschfahrten über die Insel längst zum Folklorekitsch geworden sind, die zwar ein einträgliches Auskommen bescheren, aber keinen Sinn. Sogar das letzte Inselwäldchen wurde hier verkauft – und beständig klopfen die Immobilienmakler an Hanne Sanders Tür und lassen ihren Briefkasten von Kaufangeboten überquellen.

Scharf auch ihre Blick auf die Rituale auf einer solchen Insel, etwa der Alkoholkonsum, der schon den jungen Konfirmanden eingeschrieben wird. Auch der Tourismus, der längst vom familiären Miteinander der Gästezimmer zu einer anonymen Beherbung anspruchsvoller Fremder geworden ist. Doch neben aller Kritik ist Zur See auch ein beobachtungsscharfes Buch, das dem Inselgeist nachspürt und dem, was im Verschwinden begriffen ist.

Die Kräfte der Insel

Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlicher, aber stärker.

Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.

Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.

Dörte Hansen – Zur See, S. 18 f.

Schade nur, dass Dörte Hansen allzu deutlich das Klischee der menschenscheuen und einsilbigen Norddeutschen auf die Spitze treiben muss. Jeder hier lebt für sich, stirbt für sich und lässt andere kaum in die Seele blicken. Die Nachbarin mit dem ausgestopften Dackel, die sich als ernährungstechnischer Messie entpuppt. Jens Sander auf seiner Vogelbeobachtungsstation. Eske Sander nacht allein im Altersheim. Hanne in ihrem viel zu großen Haus. Jens in seinem Atelier. Alle leben sie nebeneinander her, statt miteinander.

Dieser Roman kommt mir vor wie ein Schachbrett, auf dem Dörte Hansen filigran ihre Figuren aus einem Stück holz drechselt und die sorgsam ausgestalteten Figuren in Position stellt, aber nicht mit ihnen spielt, sondern sich in der Beobachtung des Spielbrett ergeht.

Die Figuren interargieren so rein gar nicht miteinander. Jeder lebt für sich, denkt und handelt alleine, niemand reagiert auf das Schicksal der anderen oder unternimmt einen Versuch der Gestaltung des eigenen oder fremden Schicksals. Das mag natürlich dem Klischee der Norddeutschen entsprechen, für einen gelungenen Roman war es mir aber deutlich zu wenig. Da kann selbst der angeschwemmte Wal nicht mehr für Abhilfe schaffen, der ebenso verloren am Strand liegt, wie es die übrigen Figuren in diesem Buch tun.

Fazit

Mit Zur See bleibt sich Dörte Hansen treu und erzählt abermals von einer Welt, die im Verschwinden inbegriffen ist. Statt auf dem norddeutschen Land ist es hier nun eben eine Insel, deren Rituale und Bewohner*innen sie höchst plastisch mit einem tollen Sprachzugriff schildert. Vom sich wandelnden Tourismus, der Kulisse und der Folklore, die man den Fremden vorgaukelt und von der Einsamkeit, die allen unglücklichen Familien auf ihre Art und Weise eingeschrieben ist, erzählt die Bestsellerautorin und wird damit viele Leser*innen wieder glücklich machen.

Und doch bleibt bei mir das Gefühl von verschenktem Potenzial, interagiert doch keine ihrer sorgsam entworfenen Figuren miteinander, leben alle für sich und und sind auf ihre Art und Weise unglücklich. Es ist ein Buch, das viel beschreibt und bei dem ich mir ein wenig mehr zwischenmenschliche Handlung gewünscht hätte, selbst wenn das dem Klischee der menschenscheuen und wortkargen Norddeutschen entsprechen mag.


  • Dörte Hansen – Zur See
  • ISBN 978-3-328-60222-4 (Penguin)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

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