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Tommie Goerz – Im Schnee

Beklagte ich mich noch vor einigen Monaten über die mangelnde Abbildung Frankens in der Literatur beziehungsweise die dürftigen Ergebnisse literarischer Repräsentation dieses Landstrichs, so kommt mit dem gebürtigen Erlanger Tommie Goerz nun ein Autor daher, der diese Worte Lügen straft. In Im Schnee setzt er dem verschwindenden Dorfleben zwischen Nürnberg und Marktredwitz ein Denkmal und erzählt angenehm ambivalent vom Leben und Sterben. Ein Buch mit Relevanz, weit über Franken hinaus.


Weißt du, wir sind hier auf einem Dorf. Und in einem Dorf hat es Regeln.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 146

Wirklich viel ist nicht mehr los im Dorf, das Tommie Goerz in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Dort das Neubaugebiet mit seinen anonymen Einfamilienhäusern und Bewohnern, die man im alten Kern des Dorfs kaum zu Gesicht bekommt. Da die alten Bauernhäuser, die teils leerstehen oder nur noch von einzelnen Alten bewohnt werden, deren festgetretene Wege nicht aus dem Dorf herausführen und allerhöchstens im letzten Gasthaus am Ort enden, wo sie auf ein Bier und die Beschau der Vergangenheit zusammensitzen.

Der Pfarrer muss mehrere Gemeinden versorgen, der Wirt sperrt nur noch an einzelnen Tagen seine Gaststube auf und die Bahn hält gerade einmal in der Stunde am Gleis des Dorfs, irgendwo im Nirgendwo zwischen Mittel- und Oberfranken. Will man hier länger bleiben?

Weit mehr als nur ein Dorfroman

Max ist einer, der geblieben ist. Goerz‘ Held hat sein ganzes Leben dort im Dorf verbracht und die unsichtbaren Regeln des Dorfs längst verinnerlicht. Wie diese Regeln aussehen sind und was das namenlose Dorf (noch) am Leben hält, das untersucht Tommie Goerz im Lauf seines Romans genau. Denn Im Schnee ist nicht nur ein Dorfroman, er ist weit mehr als das, ist das Buch mit seiner Hauptfigur Max ist auch das eindringliche Porträt eines Mannes, der ebenso wie die Welt um ihn herum langsam ihrem Ende zugeht.

Der Uhu hatte drüben am Seuberthshof gewohnt, jahrelang, hat da gebrütet unterm Dach der alten Scheune. Wenn der nachts die Hauptstraße entlangflog, dieser fast unglaublich große Vogel, noch leiser als ein Lufthauch, mit seinen riesigen Flügeln … und wie der kurven konnte! … das ergriff noch heute sein Herz, wenn er daran dachte. Aber dann hattten sie die Scheune abgerisssen und den gesamten Hof mit dazu, und seitdem war der Uhu weg. Er ist nie wiedergekommen.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 132 f.

Nicht nur der Uhu ist verschwunden, auch Max‘ Lebenswelt ist schon lange eher Vergehen denn Werden. So sterben um ihn herum langsam seine Weggefährten aus. Jüngst ist sein bester Freund Schorsch von ihm gegangen. Ein einschneidendes Erlebnis, das Goerz‘ Roman in Gang setzt.

Erinnerungen an ihre besondere Freundschaft, das tiefe gegenseitige Verständnis und gemachte Erfahrungen ziehen noch einmal an Max vorbei, während dieser Totenwache hält- auch das eine dieser verschwundenen Tradition, die Goerz hier noch einmal in Erinnerung ruft. Zunächst die Männer, dann die Frauen kommen im Haus des Verstorbenen zusammen, um ihm zu gedenken und gemeinschaftlich seine letzte Reise vorzubereiten.

Erinnerungen an Tote und eine Welt, die verschwindet

Tommie Goerz - Im Schnee (Cover)

Während das Dorf nun also im Schnee versinkt und sich eine nächtliche Stille und Ruhe über die verbliebenen alten Häuser breitet, wird der Verstorbene und das Dorfleben in den kollektiven Erinnerungen noch einmal lebendig. Tommie Goerz vermeidet in seinen Schilderung dieses Kulturguts und den Erinnerungsbögen den Fehler, hierbei zu Nostalgie oder Dorfkitsch zu neigen.

Im Schnee ist vielmehr ein angenehm vielstimmiger und ambivalenter Blick auf dieses Dorf, das Gemeinschaft bedeuten konnte, ebenso aber auch Fremden gegenüber ablehnend und feindlich sein konnte, bis hin zu einer dörflichen Variante der Omerta, als man lieber das leerstehende Pfarrhaus zerstörte, denn die Möglichkeit der Unterbringung von Geflüchteten zuzulassen.

Es sind universelle Schilderungen und Beobachtungen, die Goerz‘ Erzählen ausmachen und die das Buch nicht nur im dörflichen Franken, sondern auch in vielen anderen Landstrichen der Bundesrepublik mit ähnlicher Struktur anschlussfähig machen dürften.

Menschen, die gehen, Lebensweisen und Kulturen, denen keine wirkliche Zukunft mehr beschieden ist, ländliche Räume, die neu aufgeteilt und überschrieben werden, Tradition, die verschwindet. Das ist die Welt, in der Im Schnee spielt und die jene Schwelle vom Übergang der althergebrachten Lebensweise hin zu einer neuen Orientierung der Menschen und Generationen besieht. Und das tut Tommie Goerz angenehm differenziert und klar, ohne einfache Antworten zu geben.

Fazit

Ähnlich wie Robert Seethalers Das Feld ist auch Im Schnee die Heraufbeschwörung einer Welt, die es so schon fast nicht mehr gibt und die dem Untergang geweiht ist. Still und gerade deswegen so eindringlich nutzt Goerz den engen erzählerischen Rahmen, um eine ganze Walt dort hineinzupacken. Mit Max steht zudem ein ähnlich stiller und tiefgründiger Charakter im Mittelpunkt, dessen Geschichte stellvertretend für die sterbende Welt steht und dessen Weg man gerne ein Stück geht – auch über das Ende der Lektüre hinaus.


  • Tommie Goerz – Im Schnee
  • ISBN 978-3-492-07348-6 (Piper)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Anna Katharina Hahn – Der Chor

Ob betagte Lektorin oder erfolgreiche Managerin – beim Singen sind sie alle gleich. Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Roman Der Chor von einem weiblichen Laienchor – und drei Generationen von Frauen, die sich im Chor begegnen.


Jeden Mittwochabend treffen sie sich in einem Stuttgarter Gemeindesaal, die Cantarinen. Unter wechselnder Leitung von Musikstudierenden proben die Mitglieder dieses Chors ihr Material. Basisdemokratisch darf jeder eigene Liedvorschläge mitbringen, die dann gemeinsam erarbeitet werden. Sogar die Einschränkungen in der Coronapandemie hat man mit digitalen Chorproben irgendwie überbrückt und nun findet man sich wieder direkt zusammen in der kirchlichen Atmosphäre des Gemeindesaals.

Viele verschiedene Charaktere sind es, die dort am Mittwoch unter der Leitung der jungen Estin Terje zusammenkommen. Unter dreißig ist niemand, die Altersspanne reicht von hochbetagt bis hin zu Frauen, die mitten im Berufsleben stehen. So wie im Falle von Alice, für die das Singen im Chor einen Ausgleich zu ihrer fordernden Tätigkeit im Management eines Stuttgarter Kaufhauses darstellt. Eine Chorfreundschaft verbindet sie mit Lena, die zwar schon lange im Ruhestand ist, dennoch aber immer noch mit dem geschriebenen Wort beschäftigt, wie sie es beruflich viele Jahre lang tat.

Der Chor der Cantarinen

Die eingeübte Praxis und die Routinen im Chor werden aber nun schon auf der ersten Seite des Romans von Anna Katharina Hahn empfindlich gestört – denn es steht einer neuer Gast auf der Schwelle des Gemeindesaals, um im Chor mitzusingen. Bei diesem Gast handelt es sich um die junge Sophie, die Alice sofort ins Auge fällt.

Das Mädchen verharrt auf der Schwelle, es scheint sich nicht hineinzutrauen. Während Alice näher kommt, tritt es von einem Fuß auf den anderen in ihren schmutzigen Sneakers, springt sogar zaghaft auf und ab. Alice findet die Hüpfbewegungen rührend, das ganze Geschöpf hat in seiner Unsicherheit etwas Kaninchenhaftes. Als sie mit einem Lächeln vor ihr steht, streift sich die junge Frau ihre Kapuze vom Kopf. „Möchtest du zur Chorprobe? Komm doch rein“, sagt Alice.

Anna Katharina Hahn – Der Chor, S. 7f.

Schon ab dem ersten Moment rührt die junge Frau etwas in Alice an. Die Überlassung einer teuren Jacke ob der mangelhaften Kleidung des Mädchens bei ungastlichen Temperaturen ist nur ein erster Schritt. Die weiteren Chorproben verstärken in Alice den Wunsch, das Mädchen näher kennenzulernen. Eine für die so kontrollierte Frau aus der Stuttgarter Oberschicht ganz untypische Regung, die Anna Katharina Hahn im Folgenden genau beobachtet.

So erzählt sie von der Faszination für Sophie und beobachtet Alice, die durch das Auftreten des Mädchens dazu animiert wird, ihre eingefahrenen Bahnen zwischen Europaviertel und Killesberg zu verlassen. Sogar an ihren schon längst überwunden geglaubten mütterlichen Gefühlen rührt die Begegnung.

Beziehungen und Freundschaften im Frauenchor

Anna Katharina Hahn - Der Chor (Cover)

Aber auch andere Damen rücken ins Zentrum des Romans, dessen Gravitationszentrum Alice ist. So haben Animositäten und die skeptischen Betrachtungen anderen Frauen genauso ihren Platz, wie Hahn gekonnt auch ihre Protagonistin Alice in das Bedürfnis nach Nähe und Anerkennung verstrickt. Mal aktiv in Form von mütterlichen Instinkten für Sophie und deren Leben, mal passiv in Form von mütterlicher Nähe, die sie selbst bei Lena sucht.

Dies ist überzeugend gezeichnet, da Hahn ein großes Gespür für Ambiguitäten und Widersprüche auszeichnet. Welche Formen weibliche Freundschaft und Abneigung haben kann, das untersucht Hahn in Der Chor eingehend. Zudem ist ihr Roman das fein gezeichnete Porträt ganz unterschiedlicher Frauen, deren Geschichte tatsächlich immer wieder mit „Geschichte“ übertitelten Rückblenden kurz erzählt wird, um dann mit der Gegenwart verschmolzen zu werden.

In der zweiten Hälfte verliert der Roman dann etwas seinen zuvor so ruhigen Rhythmus, wenn die Faszination für Sophie überhandnimmt. Dann wechselt das Ganze in ein schon fast hektisches Allegro zwischen einem Ausflug nach Paris, einem Todesfall und überraschender Enthüllungen. Das zuvor so wohlgeordnete Nebeneinander zwischen Alice und ihrem Mann gerät aus der Bahn, Geheimnisse und Unausgesprochenes drängt zwischen die Figuren und sogar die verlässliche Statik der Chormitgliedschaft gerät ins Wanken. Die literarische Harmonie des Beginns weicht einem polyphonen, manchmal schon etwas verwirrenden Stimmen- und Handlungsgewirr.

Stuttgart vom Kessel bis zum Killesberg

Nicht alles löst sich zufriedenstellend auf, es bleiben kleine Leerstellen wie die des Zerwürfnisses zwischen Alice und ihrer ehedem besten Freundin und Mitsängerin Marie. Auch bezüglich der genauen Beziehung und der Entwicklung zwischen Alice und ihrem Mann Fred bleiben offene Fragen. Stattdessen konzentriert sich Der Chor merklich auf die Frauenfreundschaften – oder etwas neutraler formuliert: die Beziehungen der Frauen untereinander und deren Dynamiken.

Das gelingt Anna Katharina Hahn sehr gut, die ihren schwäbischen Chor mitsamt seiner Mitglieder aus der gesamten Stuttgarter Stadtgesellschaft hier ein genau beobachtetes, in Teilen sogar fast hyperrealistisches Denkmal setzt. Zwischen Schicksalen, sozialen Biografien und einer Stuttgartrundfahrt vom Kessel bis hinauf zu den Oberschichtswohnung am Hang liefert die Stuttgarter Autorin ein polyphones Bild von (weiblichen) Beziehungen im 21. Jahrhundert.


  • Anna Katharina Hahn – Der Chor
  • ISBN 978-3-518-43160-3 (Suhrkamp)
  • 283 Seiten. Preis: 25,00 €
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Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Wo ist die Literatur, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt? Das fragte sich Bernd Ulrich im vergangenen Jahr und beklagte im Feuilleton der Zeit, dass uns die Literatur in Zeiten der ökologischen Krise alleine lasse. Dass diese Klage ziemlicher Unfug ist, zeigt ja schon die Fülle an Büchern, die den Klimawandel und dessen Folgen für unser Zusammenleben thematisieren.

Das reicht von „gehobener“ Literatur wie etwa Roman Ehrlichs Malé, Jonathan Franzens Freiheit oder John von Düffels Der brennende See über das Gebiet der Lyrik (hier wäre beispielsweise Marion Poschmann eine Autorin, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt) bis hin zur Genreliteratur. Egal ob Wolf Harlanders 42 Grad, Uwe Laubs Dürre oder Dirk Rossmann mit seinen Oktopus-Thrillern – Literatur, in der der Klimawandel und seine Folgen präsent sind, gibt es en masse – und massentauglich ist sie noch dazu.


Das Feld der Klimawandel-Literatur ist ein weites, das qualitativ und in Sachen Anspruch viele unterschiedliche Schattierungen aufweist. Neben den eingangs genannten Namen gibte s ja auch noch viele weitere Titel, die auf breites Interesse stoßen und vielfach rezipiert werden. Maja Lunde wäre hier ein Name, die mit ihrem Klimaquartett zeigt, dass sich ökonomischer Erfolg und ökologischer Anspruch in der Themenwahl überhaupt nicht ausschließen, sondern breit nachgefragt werden. Der erste Teil ihres Klimaquartetts Die Geschichte der Bienen war schließlich das meistverkaufte Buch des Jahres 2017, das geschickt Unterhaltung mit einer Botschaft verband.

Auch die 1988 geborene Autorin Charlotte McConaghy ist eine Autorin, die die These von der Ignoranz des Klimawandels durch die Literatur erheblich zum Wanken bringt. Ihr Debüt Zugvögel war vor zwei Jahren ein großer Überraschungshit, der nicht nur hierzulande viele Leser*innen begeisterte, sondern auch in vielen anderen Ländern große Erfolge erzielte und in den Bestsellercharts weit nach oben kletterte.

Wölfe in Schottland

Nun ist sie zurück und legt mit Wo die Wölfe sind ihren zweiten Roman vor. Spielte ihr Debüt in einer nahen dystopischen Zukunft, in der die Vögel nahezu vollkommen verschwunden war, ist ihr neues Setting deutlich konkreter in der Gegenwart verhaftet, genauer gesagt in den unwegsamen Highlands von Schottland.

Charlotte McConaghy - Wo die Wölfe sind (Cover)

Dort lebten einst die Wölfe, wie der Originaltitel im Präteritum erklärt. Dass aus dieser Vergangenheit wieder ein gegenwärtiger Zustand wird, wie ihn der deutsche Titel andeutet, dafür will Inti Flynn sorgen. Sie ist wie ähnlich wie Charlotte McConaghys Debütheldin Franny Stone eine kantige und sozial nicht immer ganz trittfeste Frau, die sich mit Leib und Leben dem Schutz der bedrohten Tierarten verschrieben hat.

Für ein Umweltschutzprojekt wollen Inti und ihre Mitstreiter Wolfsrudel in den Highlands ansiedeln. Ein Projekt, das auf den Erfahrungen aus einem Projekt im Yellowstone-Nationalpark basiert. Dort wurden Wolfsrudel freigelassen, die für eine Renaturierung der ganzen Umgebung sorgten, dezimierten sie doch die Wildherden, was wiederum für gesunde Herdengrößen und weniger Verbiss im Park sorgte, was schließlich Flora und Fauna merklich guttat.

Eine widerständige Heldin

So soll es jetzt auch im schottischen Hinterland laufen, wie sich die Projektverantwortlichen ausgerechnet haben. Gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung, die um ihre Schafherden und die eigene Sicherheit fürchtet, lassen Inti und ihre Mitstreiter die Wölfe unter permanentem Monitoring frei.

Während sich die Wölfe nun in der kargen Umgebung zurechtfinden, ihr neues Leben beginnen und in den Rudeln die sozialen Ordnungen festlegen, brodelt die Stimmung im Dorf, insbesondere, als es zu den ersten toten Tieren und einem gelynchten Wolf kommt. Nicht einfacher wird die Lage durch Intis Affäre mit dem lokalen Polizeichef und die Tatsache, dass sie einen toten Farmer verscharrt hat, der zu Gewalt neigte und dessen Leiche Spuren von Wölfen aufweist. Würde dieser Umstand publik, wäre das Projekt vorzeitig gescheitert, weshalb Inti schroff und abweisend alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um am Projekt festhalten zu können.

Nature Writing und Krimi

In der Folge wechselt Charlotte McConaghys Roman zwischen Nature Writing und Krimiermittlungen, während in Inti ihr Kind heranwächst und die Dorfbevölkerung zunehmend aggresiv gegen die Biolog*innen und Forscher*innen rebelliert. Auch die Fragilität unseres Ökosystems und der Kampf um dessen Bewahrung sind Themen, die sich durch Wo die Wölfe sind ziehen.

Dabei gelingt McConaghy einmal mehr ein fesselndes Buch, das die mit seinen Schilderungen des Soziallebens der Wölfe ebenso überzeugt wie mit Rätselraten über die Hintergründe des Todes des Farmers. Inty ist eine widerborstige und doch sympathische Heldin, die im Zusammenleben mit anderen Menschen zu wenig Diplomatie und viel Vehemenz neigt, wenn es um ihr Anliegen der Wiederansiedelung der Wölfe geht.

Zudem katapultiert sich die Autorin mit dem Beginn ihres Buchs auf einen der ausichtsreichsten Plätze, was den besten ersten Satz des Jahres angeht:

Wir waren acht Jahre alt, da schnitt mein Vater mich auf, von der Kehle bis zum Bauch.

Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind, S. 9

Fazit

Zwischen krimitypischen Ermittlungen, Familiengeheimnissen, Wolfsrudeln und unwegsamer Natur sortiert sich dieses Buch ein, das abermals ein echter Pageturner ist, der die Fragen des Klimawandels und Möglichkeiten, diesem entgegenzuwirken, ebenso mitreißend wie engagiert verhandelt. Mit Wo die Wölfe sind beweist Charlotte McConaghy, das sich Anspruch, Massenkompatibiltät und solides Erzählhandwerk nicht ausschließen müssen und straft alle Debatten um mangelnde Repräsentation des Ökologischen und des Klimawandels in der Literatur Lügen. Da verzeiht man ihr sogar den einen Kitschausrutscher ganz am Ende des Romans.

Weitere Meinungen zu Wo die Wölfe sind gibt es unter anderem bei Constanze Matthes und Eulenmatz.


  • Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397100-2 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Tana French – Der Sucher

Einmal mehr tritt Tana French mit Der Sucher den Beweis an, dass nicht Blutbäder und Metzelorgien die Qualität bestimmen, sondern gelungene Spannungsliteratur auch ganz anders aussehen kann. Während sich andere Autoren daran weiden, Figuren in Häckslern zu zerkleinern oder grausamst zu pfählen und das Ganze voyeuristisch ausschlachten, setzt Tana French auf die Kraft des Untergründigen. Bei ihr gerät ein pensionierter Cop an eine Dorfgemeinschaft, die er mit seinem erlernten Handwerkszeug kaum zu knacken bekommt. Dabei wäre das von höchster Dringlichkeit, denn ein Junge ist verschwunden.


Tana Frenchs titelgebender Sucher hört auf den Namen Cal Hooper. Er ist ein pensionierter Streifenpolizist aus Chicago, der sich in der irischen Provinz niedergelassen hat. Er hat sich ein kleines renovierungsbedürftiges Haus in der Nähe des Dorfs Ardnakelty gekauft. Ein paar Farmen, Wohnhäuser, ein Pub, dessen eine Hälfte der Dorfladen ist, viel mehr ist dort nicht. Genau das Richtige für Cal, der sich nach Ruhe und einem unspektakulären Leben sehnt. Doch mit der Ruhe ist es nicht weit her. Immer wieder hat er das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Und tatsächlich kann er den Eindringling schon bald stellen. Es handelt sich um Trey, einen Jungen aus der Nachbarschaft.

Nachdem sich die beiden etwas angenähert haben, fasst Trey Vertrauen und zieht Cal zu Rate. Sein Bruder Brendan ist verschwunden – allerdings scheint dieses Verschwinden niemanden zu irritieren oder gar zu interessieren. Treys Mutter sieht keinen Grund zur Beunruhigung und auch die lokale Garda pflegt eher eine unaufgeregte Arbeitsweise. Cals Alarmglocken hingegen schrillen – und so beschließt er, selber noch einmal aktiv zu werden. Er beginnt sich umzuhören – beißt sich aber an der verschworenen Dorfgemeinschaft seine Zähne aus.

Ruhiger Aufbau und untergründige Spannung

Tana French - Der Sucher (Cover)

Das ist die Rahmenhandlung von Tana Frenchs Buch, das sich durch viel (vordergründige) Ruhe auszeichnet. French nimmt sich die Zeit, ihr Szenario ausgiebig zu entwickeln. Sie beschreibt detailliert Cals handwerkliche Tätigkeiten, seinen rituellen Tratsch mit dem Nachbar und das soziale Gefüge, das sich im Pub offenbart. Auch die Annäherung von Trey und Cal inszeniert sie behutsam und mit viel Raum für genaue Beobachtungen. Als mit blutigen Metzelorgien sozialisierter Leser kann man da schon mal die Geduld verlieren. Bis es hier zu Toten kommt (die zunächst auch nur tierischer Natur sind) vergeht viel Zeit.

Zeit, die sich lohnt, da man mit feinen Beschreibungen und Beobachtungen belohnt wird und die Spannung stets untergründig vorhanden ist. Mit Der Sucher balanciert Tana French wie gewohnt auf der Spannungsgrenze von Roman und Kriminalliteratur – ohne abzustürzen oder von ihrem eingeschlagenen Erzählpfad abzukommen.

Mit minimalen Mitteln erzielt sie hier großen Ertrag. Stets schwebt über allem ein Gefühl der Bedrohung, selbst wenn eigentlich nur wenig passiert. Egal ob Cal sich nach dem verschwundenen Jungen umhört oder im Pub eigentlich harmlose Gespräche und Frotzeleien stattfinden – man hat das Gefühl, als könnte die sich die irische Erde jeden Moment öffnen, um einen Blick auf das echte Grauen freizugeben. Dieses Erzeugen von Furcht und Argwohn ist literarische Kunst, die Tana French hier einmal mehr eindrucksvoll gelingt. Ihr ländliches Irland, die verschworene Dorfgemeinschaft, die Hartnäckigkeit Cals – all das ist großartig eingefangen und wird stets von einem Gefühl der Bedrohlichkeit grundiert, was man so erst einmal hinbekommen muss.

Fazit

Mit der Lektüre dieses Krimis ist es wie mit dem Besuch bei einem Gourmetrestaurant, nachdem man sich zuvor über lange Zeit mit Fastfood und Geschmacksverstärkern den Magen vollgeschlagen hat. Hier lässt sich wieder entdecken, wie Spannungsliteratur auch sein kann. Eben nicht platt voyeuristisch, voller Blut und Metzeleien – sondern so ganz anders als der Fitzek’sche Mainstream. Spannungsreiche Ruhe, einige punktuelle Andeutungen, Zeit für Entwicklung – das sind die Zutaten, mit denen Tana French in Der Sucher beste Spannungsqualität produziert.

Ein Buch, das die Natur Irlands genauso gut einfängt, wie die verschworenen und verschwiegenen Dorfgemeinschaften, denen man auf der Insel begegnen kann. Ein eindrucksvoller Beweis, dass es bei guten Krimis eben nicht die Leichendichte, sondern das literarische Handwerkszeug die Qualität ausmacht.


  • Tana French – Der Sucher
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN: 978-3-651-02567-7 (S. Fischer)
  • 496 Seiten. Preis: 22,00 €
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Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber

Ein Roman wie ein Orgelkonzert. Von wuchtig brausend bis hin zu verspielten Passagen präsentiert Mathias Énard Literatur einer anderen Liga. Ein grenzen- und rahmensprengendes Werk, aufregend, fordernd und überwältigend. Eine Sinfonie der Sinne – ich bin begeistert.


Für seinen neuen Roman greift Mathias Enard so richtig in die Tasten. Sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber liegt eine umfangreiche Klaviatur von Stimmungen und Klängen zugrunde. Das ist am ehesten mit einer volltönenden und registerreichen Orgel zu vergleichen, auf der der Meister für seinen Roman in die Vollen geht und nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern – um im Bild zu bleiben – ein ganzes Konzert präsentiert, wie zumindest ich es schon lange nicht mehr gehört beziehungsweise gelesen habe.

Dabei beginnt alles noch ganz überschaubar mit der Exposition. Ein junger Ethnologe kommt in ein kleines Dorf im Westen Frankreichs in der Nähe von La Rochelle. Dort bezieht er Quartier – das er in Erinnerung an Claude-Levi Strauss Das Wilde Denken tauft. Sein Ziel ist es, für seine Promotion eine anthropologische Studie des Lebens auf dem Dorf anzufertigen. Nicht weniger als ein Standardwerk schwebt dem jungen Mann vor.

In Tagebucheinträgen lernen wir das Dorf namens La Pierre-Saint-Christophe kennen, das eine soziologische Struktur aufweist, wie sie auch vielen deutschen Dörfern gemein ist. Eine Kneipe als Gesellschaftsmittelpunkt, eine Kirche, ein paar Zugezogene, die nicht wirklich in die Dorfgemeinschaft integriert sind. Ihnen allen fühlt David Mazon, so der Name des jungen Forschers, mal mehr und mal weniger erfolgreich auf den Zahn. Seine Feldforschung beginnt, während er sich in seiner Behausung in einem Bauernhof mit zahlreichen Tieren einrichtet (unter anderem zwei Katzen, die er passenderweise Nigel und Barley tauft) Doch nach etwas mehr als einem Monat Tagebucheinträgen bricht dieser erste Teil des Buchs unvermittelt ab.

Ein Anthropologiestudent, Seelenwanderungen und ein Schweine-Priester

Ging es zuvor um das Leben dort im Dorf, wendet sich Enard in der Folge auch dem Sterben und dem ewigen Leben zu. Hierfür wechselt er die erzählerischen Register. Denn statt der Tagebucheinträgen David Mazons wählt er nun die auktoriale Erzählperspektive, aus der er auf das Dorf blickt. Er erzählt von den Dorfbewohner*innen und deren Sterben, das keineswegs das Ende des Lebens ist. Denn in Enards Welt Welt herrscht die Idee eines Bardo, auch genannt Seelenrad oder Transmigration. Der Tod führt hier stets zu einer Wiedergeburt der Dörfler*innen, die sich auch schon mal als Geziefer in David Mazons Badezimmer oder als mnemotechnisch begabter Automechaniker manifestieren können. Der skurrilste Fall ist sicherlich der des Dorfpfarrers Largeau, dessen Seele nach seinem Verscheiden in den Körper eines Wildschweins fährt. Ein klarer Fall eines Schweine-Priesters, könnte man sagen.

Mit solchen Einfällen ist Das Jahresbankett der Totengräber randvoll. Höhepunkt dieser sprudelnden Seelenwanderungsfantasien ist das Kapitel And we shall play a game of cards…, bei dem Enard in die Vollen geht. Vordergründig beschreibt er dabei zunächst graphisch und literarisch die waghalsien Zockerpartien im Dorfwirtshaus. Doch dabei bleibt es nicht. Er verknüpft diese Spielbereichte mit Schilderungen der Feldzüge Chlodwigs 507, Episoden um Heinrich von Navarra oder Napoleon Bonaparte. Das ist fantasievoll und in Sachen Erfindungsgabe und Ideenreichtum mehr als bemerkenswert. Schon lange ist mir kein Buch mehr untergekommen, das eine derart überbordende Schöpfungs- und Ideenkraft an den Tag legte. Das lässt sogar den vielgelobten und ähnlich waghalsigen Roman Lincoln im Bardo von George Saunders hinter sich. Aber auch die Sprachmacht Enards ist mehr als bestrickend.

Das Jahresbankett der Totengräber

Mathias Enard - Das Jahresbankett der Totengräber (Cover)

Das wird im Kernstück des Romans dann vollends offenbar. Dieses bildet das titelgebende Kapitel Das Jahresbankett der Totengräber. In ihm schildert Énard das rituelle jährliche Zusammentreffen der Totengräber, das in diesem Jahr vom lokalen Bestatter ausgerichtet wird, der auch als Bürgermeister des Dorfes fungiert. Während sich die Totengräber der Völlerei hingeben, steht das Rad des Sterbens still. Die Zeit scheint aufgehoben und der Tod hat Pause. So können sich die Totengräber, Sargkutscher und Leichenwäscher einem Schmaus hingeben, der alle Veganer*innen, Diabetiker*innen oder Weight Watchers um den Verstand bringen dürfte. Mit größter Freude schildert Enard die Orgie, bei der geschmaust und gezecht wird, das selbst die Saturnalien im alten Rom oder barocke Tafeleien daneben verblassen. Wie es ihm hier gelingt, die lukullischen Ausschreitungen und sinnlichen Grenzüberschreitungen erfahrbar zu machen, das ist größte literarische Kunst, die bleiben wird. Dessen bin ich mir sicher.

Während die Totengräber tafeln, werden Debatten geführt (sehr aktuell etwa die Debatte, ob Frauen auch zum Bankett zugelassen werden sollten) oder Erzählungen dargeboten. Mit diesen Erzählungen knüpft Enard an die Größen der französischen Literatur an. So ist es während des Jahresbanketts etwa die Sage von Gargantua und Pantagruel von Jean Rabelais, die Enard zitiert und interpretiert. Sein junger Anthropologe David Mazon liest in seinem Wilden Denken 1793 von Victor Hugo. Und nicht nur die beim Jahresbankett gereichten Meerestiere sind á la Dumas zubereitet. Auch einige Passagen im Buch selbst erinnern an den Großmeister der Mantel- und Degenromane. Hier wandelt Enard auf großen literarischen Spuren – kann aber angesichts seiner Sprachmacht, Ideenfülle und Fabulierlust im Konzert der Großen bestehen.

Eine nuancenreiche und bemerkenswerte Übersetzung

Die literarische Meisterschaft von Mathias Enard wird in diesem Kapitel genauso wie im Rest des Buchs offenbar. Dabei sollte man allerdings Eines nicht vergessen. Dass wir diese rauschhafte und so vielstimmige Literatur auch im Deutschen genießen können, hat einen, besser gesagt zwei Gründe. Diese hören auf die Namen Holger Fock und Sabine Müller. Ihnen ist das Kunststück gelungen, diesen Sprachrausch auch ins Deutsche zu übertragen.

Marcel Gendreau, der schriftstellernde Lehrer, wartete also ungeduldig auf die Kommentare von Honoratioren und Journalisten.

Die Reaktionen übertrafen seine Erwartungen bei Weitem.

Während der Bürgermeister die Mehrheit der Romanfiguren wiedererkannte und sich über einige Porträts gewaltig amüsierte, war das bei seiner Gattin weniger der Fall, die sich als gnadenlose Klatschbase beschrieben fand und teilweise für Louises Leiden verantwortlich gemacht wurde; sie beklagte sich sofort bei ihrem Mann darüber und forderte entweder das Einstampfen des Werks oder zumindest eine komplette Neufassung, was den Ädilen in Bedrängnis brachte.

Der Tierarzt erkannte in dem Roman nur die Frau des Ädilen, aber das genügte zunächst, um ihn im höchsten Maße zu belustigen, bis die Jeremiaden der Frau Bürgermeister aus Solidarität ein Echo bei seiner eigenen Lebengefährtin fanden und er ebenfalls in Bedrängnis kam.

Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber, S. 165

Jeremiaden, Klatschbase, Ädile oder auch Wortschönheiten wie Schnabulieren, die sich im Text finden. Ganze Gedichte, die übertragen wurden. Kulinarische Beschreibungsexzesse, Gerichtsverhandlungen mit Zeuginnen, die einen unverständlichen Dialekt sprechen: Die sprachliche Fülle, die die beiden Übersetzer*innen für Enards Wortrausch finden, ist überzeugend. So gelingt es ihnen auch kreativ, den Abschluss des Jahresbanketts ins Deutsche übertragen. Hier muss jeder Totengräber eine Formulierung fürs Sterben finden. Was die beiden Übersetzer*innen daraus gemacht haben, das ist aller Ehren wert. Man kann dieses Buch in meinen Augen nicht rühmen, ohne die Übersetzungsleistung bei diesem Buch auch in den Blick zu nehmen.

Fazit

Das Jahresbankett der Totengräber ist wahrlich ein literarisches Konzert. Überbordend und donnerend wie eine Sinfonie aus der Feder von Bruckner oder Strauss. Verspielt, experimentell, mal schnell, mal verträumt, mal historisierend, mal romantisierend. Das alles ist dieses Enard’sche Werk. Das Buch weist eine Fülle an Themen und Leitmotiven auf, die sich zwischen den einzelnen Kapiteln hindurchschlängeln. Immer wieder unterbrechen kleine Zwischenspiele in Form der Chansons das Buch und geben ihm Struktur.

Mag manch einer auch einen fehlenden Fokus oder die (nur scheinbar) disparaten Teile des Buchs kritisieren, so greifen für mich diese Kritikpunkte nicht. Enard gelingt in seinem Buch ein schier berstendes Poträt eines Landstrichs und seiner Bewohner*innen, das man in dieser überbordenden barocken Fülle so lange nicht mehr gelesen hat. Zudem ist das Buch sinnig durch das Leitmotiv von Leben und Sterben durchkomponiert.

Oder um es etwas bündiger zu sagen: Die Lust am Geschichtenerfinden ist überzeugend, die Themen decken eine große inhaltliche und zeitliche Breite ab, der Anspruch ist angenehm fordernd. Zudem ist das Buch ein großer Sprachrausch, der ebenso überzeugend übersetzt wurde. Große Literatur, die bleiben wird!


  • Mathias Énard – Das Jahresbankett der Totengräber
  • Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
  • ISBN 978-3-446-26934-7 (Hanser)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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