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Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Es gibt manche Lektüren, die gewinnen unter dem Eindruck der Außenwelt noch einmal ganz neue Bedeutung. So erging es mir, als ich vor wenigen Tagen zu Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein griff. Ursprünglich hatte ich das Buch schon seit meinem Gewinn bei einem Tippspiel in Sachen Deutscher Buchpreis im vergangenen Herbst im Regal stehen. Doch erst jetzt kam ich zur Lektüre – die durch den gerade ausgebrochenen Krieg in der Ukraine eine ganz eigene Brisanz und Wucht entfaltete.


Sie sprachen von der Arbeit, von Reisen und dem Fernsehprogramm. Gerade unterhielten sie sich über eine Serie, in der ein einfacher Lehrer aus Kiew wegen seiner Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Ab dem Moment, als der diese verantwortungsvolle Stelle bekleidet, wird es kompliziert für den jungen Mann, weil Politik Politik ist und Politik immer kompliziert zu sein scheint, aber der Held meistert auch diese Schwierigkeiten, alles meistert er, denn er ist reinen Herzens, und am Ende gewinnen die Guten, und die Bösen sind leicht an ihren schlechtsitzenden Anzügen und dem pöbelhaften Benehmen zu erkennen. Man konnte es kaum erwarten, wie die zweite Staffel ausgehen würde.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein, S. 364

Der Mann, der diesen Präsidenten in der Serie spielt, ist längst selbst zum wirklichen Präsidenten geworden. Sein Name ist Wolodymir Selenskyi – der nun als Präsident der Ukraine in einem Krieg kämpft, bei dem alles andere als sicher scheint, dass die Guten am Ende gewinnen.

Dieser Krieg und seine Fülle an Eindrücken, er hat meine Lektüre von Sasha Marianna Salzmann sehr stark überlagert, vergleicht man doch unweigerlich die im Buch geschilderte Welt mit der, die uns jeden Tag in den Nachrichten begegnet. Längst sind Begriffe wie die Donbass-Region oder Namen wie Mariupol zu Schlagzeilen geworden, die dieser Tage nur noch Erschütterung und Fassungslosigkeit auslösen.

Wechselvolle Geschichten aus der Ukraine

Zwar scheinen die gewalttätigen Konflikte auf der Krim und die Donbass-Region in Salzmanns im Jahr 2017 angesiedelten Buch auch immer wieder auf, aber man muss doch konstatieren, dass sich die Welt seit dem Erscheinen von Im Menschen muss alles herrlich sein doch auf ebenso schnelle wie radikale Weise weitergedreht hat, wenngleich nicht einmal ein halbes Jahr seit dem Erscheinen des Buchs im September des letzten Jahres vergangen ist.

Sasha Marianna Salzmann - Im Menschen muss alles herrlich sein (Cover)

Dass Frieden und Akzeptanz aller Volksgruppen und Ethnien im russisch-ukrainischen Grenzgebiet nie allumfassend waren, das beschreibt Salzmann in ihrem Buch anhand zweier Frauenschicksale, die sie in den Mittelpunkt rückt.

In der ersten Hälfte ist es die Lebensgeschichte von Lena, die Sasha Marianna Salzmann in Dekadensprüngen erzählt. Lena wächst in der Ostukraine im Städtchen Gorlowka auf. Die Sommer verbringt sie bei der Großmutter in Sotschi, den Rest des Jahres lebt sie in der Donbass-Region.

Nach einer Kindheit bei den Pionieren hat sie Medizin studiert und durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus nun ein sicheres Einkommen. Doch auch wenn Gorbatschow an die Macht gekommen ist und das Ende der alten Ordnung nahe scheint, so ist nicht alles gut. Der aufkeimende Antisemitismus bedeutet vor allem für Lenas jüdischen Mann Daniel große Probleme, sodass sie sich entschließen, nach Deutschland auszuwandern, um sich dort in Jena-Lobeda der ukrainisch-jüdischen Expatgemeinde anzuschließen.

Aus Mariupol nach Jena-Lobeda

Den zweiten Teil bildet neben der Geschichte von Lenas Tochter Edi dann die Erzählung von Tatjana, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland emmigriert ist. Ihr Schicksal, ihre Erfahrungen in der Mariupol und Deutschland bindet Salzmann mit der Fluchtgeschichte von Lena und Edis Geschichte zusammen, sodass ein vielstimmiges Bild von ukrainischem Leben in Deutschland entsteht. Sie erzählt von Hoffnungen und Enttäuschungen, die allen Frauen widerfahren sind. Die Frage der eigenen Existenz und Identität ist es, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

Es ist kein Zufall, dass schon auf den ersten Seiten des Buchs neben Leningrader Porzellan auch eine Faunfigurine zersplittert, die sich auch auf dem Cover wiederfindet. Von Biographien bis hin zum Miteinander: hier ist alles zersprungen, gebrochen und nicht mehr wirklich zu kitten, mag auch der Chefarzt in Lenas Krankenhaus seine Untergebenen mit dem titelgebenden Tschechow-Zitat aus Onkel Wanja anherrschen, dass im Menschen alles herrlich sein müsse.

Muss es eben nicht, wie das Buch und vor allem die Gegenwart der Ukraine zeigt. Salzmanns Buch liest sich besonders vor dem Hintergrund des Leids und der gegenwärtigen Zerstörung in der Ukraine bitter. Anhand der Migrationserfahrung und der Brüche in der Biographie wird erahnbar, wie es den hunderttausenden Frauen und Kindern gerade gehen muss, die die Flucht ins Ungewisse antreten, um dem Krieg in der Heimat zu entkommen.

Fazit

Losgelöst von diesen Überlegungen und Bilder der vergangenen Wochen ließ sich Im Menschen muss alles herrlich sein für mich unmöglich lesen. Wie schon bei ihrem Erstling Außer sich zeigt Salzmann auch hier ihr Faible für Zersplittertes, sowohl im Erzählen als auch in den Figuren selbst. Gewiss, es ist kein leichtes Buch, man muss auch überlegen, ob man sich die Lektüre in diesen Tagen wirklich zumuten möchte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Autorin hier ein geradezu prophetisches Gespür für die Themen dieser Tage und darüber hinaus die Problematiken seit dem Umbruch in der Sowjetunion bewiesen hat.

Weitere Meinungen zu Sasha Marianna Salzmanns Buch gibt es unter anderem bei Literaturreich, Rezensöhnchen und Wild Lines.


  • Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
  • ISBN 978-3-518-43010-1 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Doug Johnstone – Eingeäschert

Zu den Trends der letzten Jahre zählen Bücher über das Bestattungswesen. Trauerredner*innen, die ihre Erfahrungen teilen. Bestatter, die von ihrem Job berichten oder die gleich in den Mittelpunkt von Thrillern gestellt werden. Aber auch in leichteren Romanen ist das Gewerbe der Thanatopraxie und alle weiteren damit verbundenen Tätigkeiten mittlerweile keine Tabu.

Ein weiterer Trend ist die Erzählidee von unterschiedlichen, sich gegenseitig beeinflussenden Generationen von Frauen, die – die unzähligen austauschbaren Historiensagas einmal außen vor gelassen – zuletzt recht häufig Anwendung fand, etwa bei Evie Wylds Die Frauen, Alena Schröder oder jüngst bei Lea Dräger.

Man könnte nun im Falle von Doug Johnstone von einem kühl kalkulierten Mashup ausgehen, der einfach zwei Trends in seinem Krimi Eingeäschert amalgamiert hat, um auf Nummer sicher zu gehen und gleich auf zwei Erfolgswellen mitzuschwimmen. Könnte man, wenn der Autor eben nicht Doug Johnstone wäre, der mit dem im vergangenen Jahr ebenfalls im Polar-Verlag erschienenen Krimi Der Bruch einen der besten Kriminalromane des Jahres vorlegte. Nun also drei Generationen einer Bestatterdynastie mit ziemlich unterschiedlichen Charakteren, die doch ihre Familienbande eint.


Ihr Vater benötigte viel länger als erwartet, um zu verbrennen.

Doug Johnstone – Eingeäschert, S. 7

Es dürfte einer der eindrücklichsten Einstiegssätze der jüngsten Zeit sein, den Doug Johnstone an den Beginn seines Romans setzt. Wir lernen die drei Frauen der Familie Skelf hier gerade kennen, als diese auf eigenen Wunsch des Familien- und Firmenoberhaupts Jim Skelf diesen illegalerweise im heimischen Garten verbrennen. Hunderte von Beerdigungen hat er in ganz Edinburgh durchgeführt, nun hat ihn selbst das Zeitliche gesegnet.

Er lässt seine Frau Dorothy, seine Tochter Jenny und seine Enkelin Hannah zurück. Neben den drei Skelf-Frauen sind es zwei Herumtreiber, die den Frauen beistehen und die von Dorothy einst quasi adoptiert wurden, nachdem bei den Halt im Leben verloren hatten. Archie wurde zur rechten Hand von Jim und halb bei der Durchführung von Beerdigungen und dem Tischlern von Särgen. Und Indy, die zweite Streunerin ist nun mit Hannah liiert.

Bestattungen und Ermittlungen

Doug Johnstone - Eingeäschert (Cover)

Sie alle bleiben nun zurück – mitsamt der Firma, die ein skurriles Doppelkonstrukt darstellt. Denn Jim Skelf beschränkte sich nicht nur auf Bestattergewerbe, sondern zog auch noch eine Detektei mit auf, die sich die Räume mit dem Bestattungsinstitut teilt. Schon bald nehmen die drei Frauen den Betrieb beider Firmenzweige auf wieder auf – und stehen vor großen Fragen. Eine befreundete Mitstudentin von Hannah ist spurlos verschwunden. Ebenso verschwunden ist ein ehemaliger Mitarbeiter des Skelf’schen Bestattungsunternehmens – allerdings schon vor einigen Jahren. Und kurz nachdem die Frauen diese Fälle übernommen haben, melden sich weitere Klienten, die die Hilfe der Frauen in Anspruch nehmen wollen.

Doug Johnstone hat einen Krimi mit ungewöhnlichen Heldinnen geschrieben. Ermittelnde Kriminalbeamte, ausgebuffte Privatdetektive, Forensiker oder Senioren auf kriminalistischen Abwegen, davon ist die Kriminalliteratur übervoll. Aber drei Generationen von Frauen mit Hippiehintergrund, gescheiterten Kolumnistinnenkarrieren oder Studentinnen, die die familiäre Bande und finanzielle Nöte ins Bestattungswesen und dann ins Privatermittlungsbusiness bringt? So etwas liest man doch eher selten.

Ein Krimi voller Realismus

Schön auch, dass Doug Johnstone wie in seinem Krimi Der Bruch auch hier auf Realismus setzt. Hier wird nicht elegant mit dem Dietrich im Schloss gestochert bis die Türe aufspringt und Geheimnisse preisgibt. Hier tritt Jenny Skelf eine Tür, ziemlich ungeschickt und reichlich auffällig ein. Auch sind die Beschattungen und Spurensuchen ohne jeglichen Glamour, der solche Aktionen in anderen Romanen umgibt. Oftmals stehen die Frauen vor Problemen, bei denen sie auch nicht weiterwissen oder scheitern. Verdächtige werden sehr intuitiv und ohne wirkliches Konzept befragt, was natürlich auch schiefgehen kann.

Dass das alles am Ende doch auf einen krimigerechten Showdown hinausläuft und manche mal überraschenderen und mal weniger überraschenden Wendungen auf die Skelf-Frauen warten, das hat das Genre so an sich. Aber innerhalb seines Handlungsraums bietet Doug Johnstone mit Eingeäschert viel realistische Wahrheitssuche, die in einem Fall sogar noch ein altes literarisches Motiv mit Leben füllt (Jane Eyre-Fans dürften auch wissen, welches).

Eine Reflektion übers Sterben und Beerdigung

Nicht zuletzt bietet das Buch auch Impulse, um unseren Umgang mit dem Thema Tod, Sterben und Bestattungen zu reflektieren:

Es war schwer für jeden aus dieser Branche, mit Außenstehenden zu verkehren. Es kam häufig gar nicht gut an, wenn die Leute erfuhren, womit man sich seine Brötchen verdiente. Sie nahmen entweder an, dass man ziemlich morbid sein musste, oder sie hatten ihre eigenen gruseligen Fragen dazu, wie alles funktionierte – Oder sie schreckten komplett vor jeder Unterhaltung zurück, weigerten sich, über Sterblichkeit nachzudenken.

Doug Johnstone – Eingeäschert, S. 203

Doug Johnstone schaut genau hin (was ja schon die Setzung durch den Eingangssatz beweist). Er beschreibt, was nach unserem Verscheiden mit unseren Körpern passiert, was Beerdigungen vorangeht und was in einem Bestattungsinstitut so passiert. Alle, die solche Themen von sich weisen und Memento Mori für einen Charakter aus einem Disneyfilm halten, sie alle werden mit diesem Buch natürlich nicht glücklich werden. Alle anderen erhalten hier einen spannenden und ungewöhnlichen Krimi, dem in Großbritannien schon zwei weitere Bände rund um die Skelf-Frauen nachgefolgt sind.

Fazit

Ich für meinen Teil muss gestehen, dass ich im direkten Vergleich Doug Johnstones deutsches Debüt Der Bruch immer noch um eine Idee stärker fand, da er sich in diesem ganz auf seinen jugendlichen Helden Tyler konzentrierte, anstatt von drei Figuren parallel zu erzählen. Aber auch ohne solche Unterschiede im Millimeterbereich ist hier ein superber Krimi aus Schottland zu entdecken, der durch Realismus und eine ungewöhnliche Prämisse überzeugt.


  • Doug Johnstone – Eingeäschert
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • Mit einem Nachwort von Anthony J. Quinn
  • ISBN 978-3-948392-42-0 (Polarverlag)
  • 424 Seiten. Preis: 25,00 €
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Michael Christie – Das Flüstern der Bäume

Ein Roman wie ein Schuss mitten durch einen mächtigen Baum: der Kanadier Michael Christie erzählt in Das Flüstern der Bäume von vier Generationen natur- und waldverbundener Menschen. Eine opulente Familiensaga mit aktuellen Themen, bestechend montiert.


Gesetzt den Fall, man schösse auf einen dicken Baum. Träfe man den Baum genau in der Mitte und hätte die Kugel genug Kraft, sie würde ungefähr folgende Reise erleben: zunächst wäre da die Rinde, die die Kugel durchschlägt. Es folgt das Kambium, das die Kugel passiert, ehe sie auf ihrer Reise durch den Baum das Splintholz erreicht. Immer weiter dringt sie auf ihrer Reise durch den Baum vor, durchmisst Jahresring um Jahresring, ehe sie schließlich in das Kernholz des Baumes vordringt. Dort passiert sie das Herz des Baums, ehe sie die Reise dann wieder in umgekehrter Reihung aus dem Baum hinaus antritt.

Genau auf die gleiche Weise montiert Michael Christie seinen Roman, der das erzählerische Konzept schon in einem Schaubild zu Beginn des Buchs präsentiert. Da ist der Querschnitt eines Baumes zu sehen, der von einem Zeitstrahl durchkreuzt wird. Der Zeitstrahl setzt 2038 an, um dann ins Innere des Baums vorzudringen, das 1908 seinen Endpunkt erreicht. Danach geht die Reise wieder wie gewohnt vorwärts weiter, um dann wiederum im Jahr 2038 seinen Abschluss zu finden.

Das erzählerische Konzept Michael Christies (Quelle: „Das Flüstern der Bäume“, Penguinverlag)

Erzählen in Schichten

Diese interessante Erzählweise, die so auch ein Stück weit an eine russische Matruschka-Puppe erinnert, entfaltet bei Michael Christie einen ganz eigenen Charme. Je weiter er in der Zeit zurückgeht, umso stärker wird sein Erzählen, das eigentlich mit einem Zusammenprall im Jahr 1908 beginnt. Dieser Zusammenprall bindet das Schicksal der Kinder Everett und Harris Greenwood aneinander, die beide der Unfall zu Waisen macht. In der Folge gelingt Harris eine Karriere als Holzmagnat, der mit der Abholzung von Bäumen und der Ausbeutung seiner Mitarbeiter ein Vermögen macht. Everett zieht in den Ersten Weltkrieg und wird in der Folge zu einem Herumtreiber. Erst mit dem Zufallsfund eines Babys findet Everett seine Bestimmung.

Drei Generationen Greenwoods werden folgen. Eine Aussteigerin, die sich vom Erbe ihrer Eltern lossagt. Ihr Sohn, der als Handwerker wieder mit Holz zu tun bekommt. Und als äußerte Schicht der Matruschka-Puppe Jacinda. Sie ist im Jahr 2038 nach Kanada geflüchtet, um zu Überleben. Das sogenannte Welken hat große Teile der Erde nahezu unbewohnbar gemacht. Sie arbeitet als Führerin nun auf einer Insel vor der Küste Kanadas, einem Resrevat, in dem die letzten großen Bäume Nordamerikas zu finden sind. Mit ihr fängt im Buch alles an, und mit ihr wird alles enden.

Eine hochinteressante Kompositionsform

Die Kompositionsform, die Michael Christie für seinen Roman gewählt hat, ist bestechend. Dabei zählt für mich die äußerte Erzählschicht um Jane zu den schwächeren Seiten dieses Buchs. Denn der der erhobene pädagogische Zeigefinger ist schon sehr deutlich, wenn Christie in düsteren Farben ausmalt, wohin der fehlende Umweltschutz und das Welken in der Zukunft geführt haben. Diese Volksschulhaftigkeit von Christies Agenda erinnert doch auch sehr an das Sendungsbewusstsein der Bestseller Maja Lundes.

Michael Christie - Das Flüstern der Bäume (Cover)

Doch je mehr weiter Christie mit seinem Erzählen in der Zeit zurückreist, umso dichter und runder wird seine Familiensaga. Besonders schön die Tatsache, dass sich Christie für seine Erzählung nicht nur für ein durchgehendes Erzählkonzept, sondern für literarische Varianz entschieden hat. So bekommt jede der vier Generationen Greenwoods einen eigenen Erzählstil zugesprochen. Währendd die Geschichte um Everett und Harris Greendwood von einem „Wir“ erzählt wird, ist es die Erzählung um den Schreiner Liam, die eigentlich fast nur über Rückblenden erzählt wird.

Die große Kunst an diesem Buch ist die Tatsache, dass sich die kleinen Mosaiksteinchen, die Christie im Lauf seiner vier Generationen verstreut, immer klarer zu einem Bild verfugen. Manche Andeutungen oder Besonderheiten der Figuren werden erst durch die Lebensgeschichten der anderen Figuren klar, womit Christie hier das Wurzel- und Lebensgeflecht der Bäume auf das der Menschen überführt. Das ist schrifstellerisch gut gelungen und bereitet durch die Montagetechnik das ein ums andere Mal erstaunliche Freude. Auch die Übersetzung von Stephan Kleiner überzeugt.

Fazit

Das Leben der Bäume ist ein mehr als empfehlenswerter Roman, dem man angesichts seiner im innewohnenden Qualität auch den kitschigen Titel verzeiht. Das Buch ist ein klug konstruierter Familienroman, der zugleich eine Hymne auf die Bäume darstellt. Formal toll durchkomponiert mit einer Botschaft versehen, deren Penetranz sich im Buch dann wohltuend abmildert, sodass am Ende eine klare Leseempfehlung von mir steht. Nicht nur zur Weihnachtszeit ein guter Geschenktipp.


  • Michael Christie – Das Flüstern der Bäume
  • Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-328-60079-4 (Penguin)
  • 560 Seiten. Preis: 22,00 €
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Regensburg, München, Eisenstein

Christoph Nußbaumeder – Die Unverhofften

120 Jahre. So viel Jahre umfasst die Geschichte, die Christoph Nußbaumeder in seinem Debütroman Die Unverhofften präsentiert. Der bayerische Autor erzählt in seinem Roman von Glasbläsern, Immobilienspekulanten und Kriegsgewinnlern. Ein Buch, das in Form eines Wirtschafts- und Politikromans die Entwicklungen Bayerns im 21. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachzeichnet. Groß angelegte Lektüre, leider zu brav und mutlos erzählt.


Christoph Nußbaumeder hat sich etwas vorgenommen für sein Debüt im Suhrkampverlag. Schon 2010 kam das Stück Eisenstein des im bayerischen Eggenfelden geborenen Dramatiker in Bochum auf die Bühne. 2014 folgte eine weitere Inszenerierung in der Württembergischen Landesbühne. Manuel Soubeyrand inszenierte damals das rund dreistündige Stück, das im bayerischen Grenzort Eisenstein angesiedelt war. Darin verhandelte Nußbaumeder das Schicksal der Eisenstein’schen Dorfbewohner*innen, ihre Wünsche nach Entgrenzung und die Versuche, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Zehn Jahre nach der Premiere des Stücks liegt das Stück nun in Romanform vor. Die Handlungsfäden sind die gleichen geblieben – und auch die Probleme, die Kritiker damals in Inszenierungen des Stücks ausmachten. Aber der Reihe nach.

Eisenstein ist ein kleines Dorf im Bayerischen Wald. Die tschechische Grenze verläuft gleich hinter dem Dorf, der Große Arber ist in Sichtweite. Dort, im niederbayerischen Hinterland, gehen 1900 die Uhren noch anders. Glasbläserhütten finden sich dort im Böhmischen und Bayerischen Wald zuhauf, die Patrone der Hütten bestimmen das Leben. Hier arbeitet man nicht, um zu leben, sondern lebt, um zu arbeiten. Tödliche Unfälle in den Glasbläserhütten sind an der Tagesordnung, Not und Elend herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung.

Hier setzt Nußbaumeders Roman ein, der als erste zentrale Figur des Romans Maria einführt. Diese will der Enge und dem Elend dort in Eisenstein entfliehen. Ihr Sehnsuchtsort heißt Amerika. Dort erhofft sie sich ein besseres Leben und hegt Auswanderungspläne. Nach einer Vergewaltigung durch den Dorfmagnaten und Besitzer der Glashütten beschließt sie, Eisenstein den Rück zu kehren. Das Schweigen der Dorfbewohner*innen und die Doppelmoral tun ihr Übriges zu Marias Entschluss. In einem letzten Akt der Rebellion setzt sie die Glasfabrik in Brand und flieht aus Eisenstein.

Aus Eisenstein nach München

In der Folge erzählt Nußbaumeder von der Entwicklung der Familie des Glasfabrikanten und dem Fortschreiten des zunächst noch jungen Jahrhunderts. Besonders der Zweite Weltkrieg wirkt sich auf die Bewohner Eisensteins aus. So werden die Söhne des einstigen Glashüttenmagnaten zu Nazis, die Kriegsverbrechen begehen. Aber besonders Josef, der talentierte der beiden Brüder wird zum Kriegsgewinnler. Nahtlos setzt er nach dem Einmarsch der Amerikaner seine Karriere fort. Er wird zum Dorfbürgermeister und schließlich sogar Abgeordneter der Christsozialen Union im Maximilianeum in München.

Christoph Nußbaumeder - Die Unverhofften (Cover)

Aus Eisenstein nach München führt auch der Weg einer der anderen zentralen Figuren des Buchs. Georg Schatzschneider erfährt ebenfalls am eigenen Leib die raschen Wandel, die das 20. Jahrhundert so mit sich bringt. Vor allem die wirtschaftlichen Veränderungen durchlebt er wie wohl kein anderer in Die Unverhofften.

Mussten die Eisensteiner 1900 noch gegen viele Widerstände und den teuflischen Ruch des „Sozialismus“ kämpfen, um mit einer Gewerkschaft ihre Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen, so wird Georg im Lauf des Buchs zum Selfmademillionär. Nach seinem Weggang aus Eisenstein baut er sich in Regensburg ein eigenes Bauunternehmen auf und wird dann zum Investor für Wohnungen und dann gar zum Immobilienspekulanten. Eine solch große Entwicklung ist nicht allen Figuren im Buch vergönnt.

Manche der Figuren bleiben ihrer Heimat treu, andere zieht es weit nach Bayern hinaus. Nach Eisenstein kehren sie allerdings alle irgendwann zurück, und wenn auch nur für ihre eigene Beerdigung.

Ein Füllhorn an Themen und Figuren

Christoph Nußbaumeder gießt in seinem Roman ein ganzes Füllhorn von Figuren, Themen und Verbindungen aus. Die 120 erzählten Jahre stecken voller Zeitgeist, Entwicklungen und Schicksale. Die dominierenden Themen sind die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die Nußbaumeder ausgiebig behandelt. Von der Gründung von Gewerkschaften über das Wirtschaftswunder bis hin zur New Economy, Bauspekulation und Hartz IV reicht der Bogen, den der Autor in Die Unverhofften schlägt. Dieser Aspekt, einen Generationenroman mit jenen Themen zusammengebunden zu erzählen, zählt zu den interessantesten Aspekte dieses mit knapp 670 Seiten voluminösen Buchs.

Leider lässt das Buch einen eigenen Sound oder einen eigenen Zugriff auf die erzählten Themen vermissen. Brav montiert Nußbaumeder seine chronologisch erzählten Jahressprünge hintereinander. Diese reichlich konventionelle Erzählweise wäre zu verzeihen, wenn Nußbaumeder einen eigenen Sound hätte, um daraus eine genuine literarische Erzählweise zu entwickeln. Der aber fehlt dem Buch in weiten Teilen. Sprachlich ist Die Unverhofften nicht schlecht, aber eben auch nichts besonderes.

Wenngleich er seinen Roman im tiefsten Niederbayern, der Oberpfalz und Oberbayern ansiedelt, fehlt dem Buch der Mut zu einem bayerischen Idiom. Alle Figuren sprechen gleich, Mundart oder eine gewisse bajuwarische G’schertheit fehlen. Auch vertrüge dieses Buch mehr schwarzen Humor, mehr Deftigkeit und einen böseren Blick auf die Realität, wie er viel zu selten im Buch aufblitzt. Dieses Buch ist entschieden zu vorsichtig mit all diesen Zutaten gewürzt und entwickelt so eher den faden Geschmack eines monotonen literarischen Eintopfs denn einer wirklichen Kraftbrühe, um hier mal mit einem kulinarischen Bild zu sprechen.

Fehlender Mut

Was hätte dieses Buch mitsamt seiner Themen und Figuren hergegeben, hätte Nußbaumeder nur den Mut gehabt, Die Unverhofften gegen den Strich zu bürsten. Hatte ich nach der Lektüre des Klappentext und den ersten Seiten des Romans noch die Hoffnung auf moderne bayerische Prosa im Geiste von Oskar Maria Graf oder Georg Queri, so zerschlug sich diese Hoffnung zusehends. Ein bisschen mehr der schwarze Humor eines Gerhard Polt (der ja durchaus etwa in einer Hochzeits-Szene aufblitzt) oder der Mut zur Nestbeschmutzung eines Georg Ringsgwandl, und dieses Buch wäre sicher ein Ereignis geworden, so bin ich mir sicher. In der vorliegenden Form ist Die Unverhofften zu bieder und auch zu überladen, um wirklich zu überzeugen.

Auch die zahlreichen Figuren, die im Buch so auftauchen, mögen dargestellt auf einer Bühne funktionieren. Im Buch hingegen hätte es noch mehr Tiefe und Ausgestaltung gebraucht, um ihnen unverwechselbares Profil und eigene Charaktere zu verleihen. Viel Tiefe habe ich in den meisten Eistensteiner*innen nicht ausgemacht. Hier manifestiert sich wieder das Problem, das die Kritiker*innen schon bei der theatralen Version von Nußbaumeder Werk feststellten. Zu viel Figuren und Themen, bei denen eine Reduktion hin auf das Wesentlich Not getan hätte.

Aber abgesehen von diesen Punkten und Ausrutschern wie den wirklich kitschigen Sterbeszenen sowie dem Volkstheaterhaften, das dem Buch und seinen Figuren manchmal anhaftet: als brav erzähltes Stück bayerische Geschichte und Hommage an Eisenstein und die Bewohner des Bayerischen Waldes ist das Buch nicht schlecht. Ein Spitzentitel im Suhrkamp-Programm ist Die Unverhofften in meinen Augen allerdings auch nicht.

Eine weitere Meinung zum Buch gibt es bei Stefan vom Blog Bookster HRO.

  • Christoph Nußbaumeder – Die Unverhofften
  • ISBN 978-3-518-42962-4 (Suhrkamp)
  • 671 Seiten. Preis: 25,00 €
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Verena Güntner – Power

Wenn die Suche nach einem Hund die ganze Dorfgemeinschaft auseinanderzureißen droht – Verena Güntners zweiter Roman „Power“.


Wenn man im namenlosen Dorf Verena Güntners jemanden etwas wiederfinden will, dann betet man nicht zum Heiligen Antonius. Kerze ist es, die man fragen muss. Die junge Schülerin hat ein Talent im Auffinden von Dingen. Und so ist es auch sie, die von der alten Frau Hitschke kontaktiert wird. Denn ihr geliebter Hund Power ist verschwunden. Hatte sie ihn kurz vorher noch vor dem Edeka angebunden, findet sich von ihm nach dem Supermarktbesuch keine Spur mehr. Jetzt soll Kerze helfen, den Hund wiederzufinden. Und Kerze stürzt sich gleich in die Ermittlungen, die am Ende zu einem völligen Riss zwischen den Generationen im Dorf führen werden.

Dabei ist eigentlich der Rahmen der Geschichte schon nach wenigen Seiten klar. Der verschwundene Power und die Tatsache, dass Kerze nach sieben Wochen den madenzersetzten Leib Powers gefunden haben wird. Doch die Zeit dazwischen ist es, für die sich Verena Güntner in ihrem Buch interessiert. Dabei beschränkt sie sich hauptsächlich auf drei Figuren, mithilfe derer sie ihre Geschichte erzählt. Da ist die alte Hitschke, die nach dem Tod ihres Mannes isoliert in ihrem Haus lebt. Dann gibt es noch den Sohn des Bauern Huber, der neben dem teuren Fendt 1000 Vario-Traktor, Freiwild und der Abrichtung des hofeigenen Hundes keine großen Hobbys hat. Er fungiert als Bindeglied zwischen Alt und Jung. Und da ist zu guter Letzt noch Kerze, die im Lauf des Buchs zur Anführerin der Dorfkinder wird.

Aufstand der Kinder

Glaubt man sich zunächst in einem schon hundertmal gelesenen Coming-of-Age Roman (das sommerliche Dorf fernab der Zivilisation, die kindliche Protagonistin, die scheinbare Ereignislosigkeit, geschildert in eigenwillig-jugendlicher Sprache), kippt das Ganze schon bald. Denn aus Kerzes Suche wird etwas sehr Eigentümliches. Kerze fühlt sich nämlich auf beängstigende Art und Weise in Power ein. So wird sie sukzessive selbst zum Hund und eignet sich tierische Verhaltensweisen wie etwa den Gang auf vier Beinen oder Bellen zur Kommunikation an. Und mit dieser Nachahmung ist sie nicht alleine. Immer mehr Kinder schließen sich ihr an, die schließlich dahin flüchten, wo schon seit den Gebrüdern Grimm die meisten Märchen spielen – in den Wald. Dort werden die Kinder zum wilden Rudel, die versuchen, Powers Spuren aufzunehmen.

Power

Versucht man Power auf realistische Art und Weise zu lesen, dann scheitert man schnell. Weder kann oder will Verena Güntner die Motivation Kerzes und ihrer Gefolgsleute erklären, noch spielen äußere Ordnungsmächte wie Lehrer*innen oder die Polizei eine Rolle. Auch kommen Medien, die eine solche Entwicklung aufgreifen würden, allenvoran die sozialen, überhaupt nicht vor. Die Lösung des Problems wird nur unter den Erwachsenen und den Kindern des Dorfs ausgemacht. Während die alte Hitschke als Verursacherin der Entwicklungen im Dorf langsam ausgehungert wird, rotten sich die Kinder im Wald zusammen. Schon bald wird klar, dass man mit den Kriterien des Realismus an Power scheitert.

Vielmehr muss man Power in meinen Augen als Generationenfabel oder Groteske lesen. Der Wald als Schauplatz setzt schon einen gewissen märchenhaften Ton, der durch das Tun und Treiben der Kinder verstärkt wird. Durch die Fokussierung auf die drei Hauptfiguren Hitschke, Hubersohn und Kerze zeigt die Berliner Autorin und Schauspielerin das Auseinanderdriften der Generationen, in deren Mitte der Hubersohn steht, der symbolhaft selbst ganz zerrissen ist, zwischen Vater und Hund, zwischen dem potentiellen Erbe des Hofs und dessen Zerstörung.

Zwischen den Generationen

Wie weit das Verschwinden eines Hundes zu einer Radikalisierung auf beiden Seiten der Demarkationslinie Generation führen kann, das exerziert die Autorin in Power durchaus eindrücklich durch. Aber hat das Buch neben dieser Schilderung der Radikalisierung mehr zu bieten? Ich finde leider nein. Denn eine allzu tiefe Bedeutung sollte man in Güntners Fabel nicht suchen (zumindest habe ich sie nicht gefunden). Bezeichnend war für mich ein Dialog, der am Ende des Buchs steht.

Kerze läuft an ihr vorbei, die Treppe hinauf, wirft einen Blick ins Zimmer der Mutter, sieht die Monstera auf dem Sims stehen, halb vertrocknet wie immer.

„Schön, dass die noch da ist“, ruft sie nach unten.

„Bitte?“

„Ach, Egal“

Im Badezimmer macht sie das Duschwasser an, geht kurz in ihr Zimmer, in dem die Geister nicht mehr sind.

Güntner, Verena: Power, S.

Irgendwo zwischen skurril, beunruhigend, grotesk und märchenhaft ordnet sich dieses Buch mit seiner Handlung ein. In welche Richtung Verena Güntner am Ende damit wollte, könnte ich selber nicht sagen. Einen wirklichen Angriffspunkt für eine stringente Lesart habe ich leider nicht entdeckt. Für mich eine interessante Stimme mit einem originellen Plot. Vollkommen überzeugt hat es mich dennoch leider nicht, weshalb ich auch nicht glaube, dass Güntner mit Power den Preis der Leipziger Buchmesse erringen wird. Aber vielleicht hat Güntner doch die Power, um mich zu überraschen? Am 12.03 um 16:00 Uhr wissen wir dann mehr, wenn die Jury in der Glashalle der Leipziger Buchmesse verkündet, wer den Preis der Buchmesse erringen konnte.

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