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Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Roisin Maguire – Mitternachtsschwimmer

Wieder einmal erweist sich der Dumont-Verlag als Hort von wunderbar ausgewogener Unterhaltung zwischen Herz und Hirn, Emotionen und Handlung. Neu im Portfolio ist die Irin Roisin Maguire, die sich mit ihrem Roman Mitternachtsschwimmer auf das Passendste in das Oeuvre des Verlags einfügt. In ihrem Debüt nimmt sie die Leser*innen mit in ein kleines, pittoreskes Küstendorf an der irischen Küste – und lässt einen Mann Erlebtes verarbeiten und nebenbei auch noch Corona über die Welt hereinbrechen.


Mariana Leky, J. L. Carr, Caroline Wahl oder jüngst Ronan Hession (dessen Buch Leonard und Paul zwar strenggenommen nicht von Dumont, sondern vom Dumont-Mitarbeiter Torsten Woywod und seiner Partnerin Frauke Meurer verlegt wurde, nun aber auch in der Taschenbuchlizenz bei Woywods Arbeitgeber vorliegt). Immer wieder stellt der Verlag sein Talent in Sachen Unterhaltungsliteratur unter Beweis, die Kopf und Gefühl anspricht – und viele Leser*innen erreicht.

Doch nicht nur die Leserinnen und Leser überzeugt der Verlag mit dieser Art von Feelgood-Literatur – auch ist der Dumont-Verlag Dauergast bei der Wahl zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels. In dieser Wahl küren Buchhändler und Buchhändlerinnen ihre Lieblingsbücher des aktuellen Jahrgangs zu einer Liste, aus der dann der Siegertitel bestimmt wird. Sämtliche eingangs zitierte Autor*innen fanden sich auf der Nominierungsliste dieses Preises, einige gewannen ihn im Anschluss auch, wie beispielsweise Caroline Wahl im vergangenen Jahr.

Dieser Roman atmet Menschlichkeit

Roisin Maguire - Mitternachtsschwimmer (Cover)

Mit Mitternachtsschwimmer fügt Dumont dieser Riege an gelungener Unterhaltungsliteratur ein weiteres Werk hinzu. Es sollte dabei nicht verwundern, wenn auch Roisin Maguire mit ihrem Debüt in diesem Jahr den Sprung auf die Auswahlliste zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels schafft. Denn ihr Roman punktet mit seiner Geschichte, den ebenso kantigen wie warmherzigen Figuren und der Menschlichkeit, die ihr Debüt auf allen Seiten atmet. In Zeiten von verhärteten Fronten, dogmatisch ausgefochtenen Streits und allgemeiner Dünnhäutigkeit der Menschen ist das eine Wohltat.

Die Geschichte ist des Romans ist schnell erzählt. Evan mietet sich nach einer längeren Phase der Entfremdung von seiner Frau in einem kleinen Cottage in Ballybrady ein. Das an der irischen Küste gelegene Dorf enthält dabei eigentlich alles, was man sich so unter einem irischen Dorf vorstellt. Einen Pub, eine Steilküste mit dem dagegen anbrandenden Ozean, grüne Wiesen und jede Menge skurriler Einwohner*innen. Besonders Grace sticht unter den Originalen hervor. Sie ist die Besitzerin des Cottages, das Evan gemietet hat.

Eigenbrötler, Mitternachtsschwimmer, Whiskeytrinker

Neben dem Quilten ist vor allem das Schwimmen im eiskalten Meer ihr Hobby. Eigenwillig und unabhängig ist sie oftmals Ziel der Pub-Lästereien, bei der Evan auch einer der Einwohner von Ballybrady seine Meinung zur eigenbrötlerischen Frau mitteilt:

„Ach. Sie meinen Grace. Sie heißt Grace Kielty. Wohnt allein, da um die Ecke hinter dem Haus, außerhalb vom Dorf. Mag keine Menschen, wie gesagt. Läuft mit den seltsamsten Klamotten rum, sieht aus wie eine Bettlerin, obwohl sie wohl kaum am Hungertuch nagt. Sucht Aufmerksamkeit, würde ich sagen“.

Sowohl Grace als auch Evan haben Verletzungen erlitten und öffnen sich langsam ihrem Gegenüber. Während der Trinkerchor im Pub alles mit Argusaugen beobachtet und mit whiskeyschwerer, aber doch spitzer Zunge kommentiert, helfen sich die beiden Figuren, lernen sich kennen und es entsteht Raum für Situationskomik, der von Roisin Maguire auf den Punkt geschildert wird. Ihre Figuren haben Ecken und Kanten, mögen Hoffnungen aufgegeben haben – ihre Mitmenschlichkeit haben sie aber allesamt nicht verloren.

Auch ist Corona, deren Ausbruch auch das Sozialleben im kleinen irischen Dorf limitiert, hier nicht erdrückend oder mit schwerer Bedeutung aufgeladen. Vielmehr integriert Maguire das Weltgeschehen hier elegant, konzentriert sich aber ganz auf das Seelenleben ihrer Held*innen und fängt nebenbei die Stimmung rund um Ballybrady vortrefflich ist. Roisin Maguires Buch lesen, ist wie einen gut gemachte englische (beziehungsweise natürlich eher irische) Dramödie im Kopf zu schauen.

Fazit

Mitternachtsschwimmer ist ein Buch, das das Herz mindestens so erwärmt wie ein Schluck Whiskey nach den Bädern im eiskalten irischen Meer, wie sie Grace und später auch Evan nehmen.

Roisin Maguire ist ein Buch gelungen, dem eine möglichst große Leserschaft zu wünschen ist. Das Leichte ist ja oftmals die schwerste Kunst. Die in Nordirland lebende Autorin beherrscht in ihrem Debüt diese Kunst schon ganz vorzüglich.

Mitternachtsschwimmer dürfte nicht nur als ein Lieblingsbuch des Buchhandels Erfolge feiern, sondern auch jede Menge Leserinnen und Leser für sich einnehmen. Angesichts der Aufmachung, dem herausgebenden Verlag, der sicheren Übersetzung durch Andrea O’Brien und dem überzeugenden Inhalt voller Komik, Empathie und raubeiniger Figuren hege ich daran aber keinerlei Zweifel!


  • Roisin Maguire – Mitternachtsschwimmer
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8321-6829-2 (Dumont)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Claire Keegan – Reichlich spät

Wie prägen einen Menschen erlernte Verhaltensmuster? Claire Keegan untersucht es in ihrer kurzen Erzählung Reichlich spät auf eindringliche Art und Weise – und legt auf gerade einmal gut 50 Seiten Misogynie im Charakter eines Menschen und Frauenfeindlichkeit in einer ganzen Gesellschaft offen.


Achte auf deine Gedanken, denn sie formen deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie formen deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie formen deinen Charakter.

Diese Weisheit aus dem Talmud könnte man im Falle von Claire Keegans Erzählung Reichlich spät noch eine Dimension weiter fassen. Denn aus dem Charakter formt sich nicht nur ein Mensch alleine, auch formen die Charaktere die ganze Gesellschaft.

Das, was man hierzulande in Form von Gewaltexzessen gegen Wahlkämpfende und Politiker als Konsequenz einer Verrohung der politischen Sprache und des Diskurses beobachten kann, es ist auch im Text Keegans eine mitschwingende Dimension, die sich allerdings erst spät im Text offenbart.

Charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild eines durchschnittlichen Iren

Zunächst beginnt alles höchst alltäglich und wenig aufsehenerregend. Ein Mann names Cathal sitzt in einem Büro und geht seiner buchhalterischen Tätigkeit nach. Es ist kurz vor drei Uhr an diesem 29. Juli und der Feierabend steht bevor.

Vom Merrion Square im Zentrum Dublins aus nimmt er den Bus, um nach Hause in Richtung Arklow zu fahren. Alles ist eigentlich so unscheinbar wie die übliche Bürokluft aus Hemd, Anzug und Krawatte, die ihn kleidet. Doch nicht nur die Schuhe des Mannes sind ungeputzt – es gibt auch charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild dieses so durchschnittlichen Iren.

Es war ein ereignisarmer Tag gewesen, fast ein Tag wie jeder andere. Dann kam, nach der Haltestelle Jack White’s Inn, eine junge Frau den Gang entlang und setzte sich auf den freien Platz ihm gegenüber. Er saß da und atmete ihren Duft ein, bis ihm der Gedanke kam, dass es Tausende, wenn nicht Hundertausende von Frauen geben musste, die genauso dufteten.

Claire Keegan – Reichlich spät. S. 17

Von der Bewunderung bis zu Abfälligkeit und Abwertung von Frauen ist es nur ein kleiner Schritt bei Cathal, wie sich nicht nur bei dieser Busfahrt zeigt. Denn die Prägung durch einen misogynen Haushalts, in dem seiner Mutter eigentlich nur eine Rolle als Essensproduzentin und als Opfer von Spott und Erniedrigung durch die Männer der Familie zukam, sie ist eine, die bei Claire Keegan auch für einen Teil der irischen Gesellschaft gilt.

Ein Kennenlernen, die wenig Schmeichelndes offenlegt

Dies wird besonders deutlich in Cathals Gegenpart, seiner Partnerin Sabine, die Cathals Verhalten und seine Äußerungen hinterfragt.

Claire Keegan - Reichlich spät (Cover)

Über ein Kennenlernen bei einer Konferenz, folgende Dates und ein gemeinsames Zusammenziehen bis hin zum wenig romantischen, mit der Frage „Warum heiraten wir nicht?“ halbgar eingeleiteten Hochzeitsantrag, sind sich die beiden immer nähergekommen. Diese Annäherung legt aber auch die wenig schönen Seiten von Cathal offen, bei denen der Geiz noch zu den geringeren Problemen zählt.

Bis zur Pointe des Textes hin schält Claire Keegan in diesem wieder äußerst fein, mit Nuancen und Andeutungen spielenden Text immer stärker den wahren Charakter Cathals heraus. Das gelingt ihr – ganz im Sinne des Talmud-Zitats – indem sie die Worte und Taten dieses vordergründig so durchschnittlichen Büroarbeiters zeigt, die seinen Charakter formten – und nicht nur seinen, wie die Französin Sabine durch ihre Außenperspektive im Gespräch mit einer Bekannten feststellt:

„Sie hat gesagt, dass die Dinge sich jetzt vielleicht ändern, aber dass gut die Hälfte der Männer in deinem Alter einfach nur will, dass wir den Mund halten und euch geben, was ihr verlangt, dass ihr verzogen seid und verachtenswert werdet, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ihr es wollt.“

„Ist das so?“

Er wollte es leugnen, aber was sie gesagt hatte, kam einer Wahrheit, die er bis dahin kein einziges Mal in Erwägung gezogen hatte, unangenehm nahe. Ihm ging durch den Sinn, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie in diesem Moment den Mund hielte und ihm gäbe, was er verlangte.

Claire Keegan – Reichlich spät, S. 40f.

So hat dieser Text neben der beobachtenden Bestandsaufnahme von Cathals Charakter auch wieder eine gesellschaftliche Dimension, die hier angedacht und angedeutet ist.

Knappe Erzählung, großer Raum dahinter

Mit nicht einmal fünfzig, äußert großzügig gesetzten Textseiten, öffnet Reichlich spät einen großen Raum, der sich mit den Mechanismen von Zusammenleben und erlernter Misogynie (so auch der Originaltitel der im vergangenen Jahr erstmals veröffentlichten Erzählung) beschäftigt.

Obschon noch einmal knapper als die letzten beiden vom Steidlverlag veröffentlichten und ebenfalls von Hans-Christian Oeser übersetzten Erzählungen Kleine Dinge wie diese und Das dritte Licht zeigt auch dieser Text Keegans erzählerische Kunst. Nicht ohne Grund wurde die Autorin jüngst mit dem 6. Internationalen Siegfried Lenz-Preis ausgezeichnet, dessen Jury Keegan vor allem für die Knappheit und Dichte ihrer Prosa rühmte. Das Ausgesparte sei bei ihr mindestens ebenso von Bedeutung wie das Gesagt, so du Jury in ihrer Urteilsbegründung zur Preisvergabe.

Das lässt sich zweifelsohne auch über Reichlich spät sagen, auch wenn diese Entzauberung einer Beziehung und eines Mannes in Sachen Verknappung und Reduzierung noch einmal ganz neue Höhen erklimmt.


  • Claire Keegan – Reichlich spät
  • Aus dem Irischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-325-5 (Steidl)
  • 64 Seiten. Preis: 16,00 €
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Paul Murray – Der Stich der Biene

Mit Der Stich der Biene liefert Paul Murray den eindrücklichen Beweis, dass auch Iren einen Great American Novel schreiben können. Er erzählt in seinem für den Booker Prize nominierten Roman im Gewand eines Familienromans von der Vorzeigefamilie Barnes, in der jedes Mitglied doch auf eigene Weise unglücklich ist – und vom Crash der irischen Wirtschaft, der sich ebenfalls im Inneren der Familie niederschlägt.


Vater Dickie, Mutter Imelda, Tochter Cass und Sohn PJ. Was auf den ersten Blick wie eine perfekte Familie irgendwo in einer Kleinstadt im Herzen von Irland wirkt, bekommt auf den zweiten Blick erheblich Risse. Denn das alte Tolstoi’sche Diktum von den unglücklichen Familien, die alle auf ihre eigene Art unglücklich sind, es trifft auch auf die Barnes zu.

Eine irische Vorzeigefamilie?

Um das zu zeigen, lässt sich Paul Murray allerdings viel Zeit und Raum. Er erzählt separat von allen vier Familienmitgliedern und findet für jede Figur einen eigenen erzählerischen Tonfall (übersetzt von Wolfgang Müller). So knabbert Vater Dickie an der Rezession, die die gesamte irische Wirtschaft erfasst hat und für Massentlassungen gesorgt hat. Auch an der Familie Barnes geht der Crash nicht spurlos vorüber, denn das familieneigene Autohaus steht kurz vor dem Aus. Früher hatte es sein Vater Maurice als sein Lebenswerk zu Glanz und Blüte geführt, nun ist sein Sohn Dickie gezwungen, die Filiale im Nachbarort zu schließen und wird in der Folge auch zum Stadtgespräch.

Die Krise hatte die Hauptstraße in ein Maul voller Zahnlücken verwandelt. Große und kleine Geschäfte hatten in der Folge zugemacht. Aber die Pleite der Niederlassung empfanden die Stadtbewohner als eine ganz andere Größenordnung. Ein so verwirrender Niedergang wie der der Familie Barnes konnte nicht nur ökonomische Gründe haben. Da musste es ein moralisches Element geben.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 50
Paul Murray - Der Stich der Biene (Cover)

Der erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr und sorgt dafür, dass Mutter Imelda immer mehr aufgetürmte Besitztümer wieder per Ebay veräußern muss und auf das Erscheinen des Schwiegervaters als Retter in der Not hofft.

Tochter Cass steht derweil kurz vor den entscheidenden schulischen Prüfungen kurz vor dem Übertritt, ist aber eher von einer neuen Lehrerin, Partys und Alkohol fasziniert. Und dann ist da noch PJ, der Jüngste im Bunde. Auch er will seine eigenen Besitztümer veräußern, weil er von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird. Dabei würde er auch lieber in Dublin oder irgendwo ganz weit weg sein. Das Schicksal meint es nicht unbedingt gut mit der Familie.

Statt Zusammenhalt treibt die Familie im Laufe der exakt 700 Seiten immer weiter auseinander, spürt verschüttetem Begehren und neuen Anziehungen nach und entfremdet sich zusehend von den anderen Barnes bis hin zur Frage, ob das überhaupt noch eine Familie ist, die im Mittelpunkt dieses Familienromans steht. Durch seine vier getrennten Erzählstränge vermag Paul Murray dies wunderbar anschaulich zu schildern.

Ein bittersüßes Leseerlebnis

Der Stich der Biene erzählt vom Weglaufen vor Konsequenzen, von Begehren und der Vertuschung ebenjenem Begehrens, was sich in Verbindung mit komischen Elementen zu einem bittersüßen Leseerlebnis verbindet, bei dem schon der erste Satz des Romans auf die dramatische Konsequenz verweist, die Familie im größtmöglichen Katastrophenfall auch bedeuten kann.

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 8

Paul Murray nimmt sich viel Zeit, um das langsame, aber immer stärker werdende Auseinanderdriften der Familie Barnes zu schildern. Die Bewegung hin von einer vordergründigen Bilderbuchfamilie zu einem schon fast toxischen Miteinander mitsamt allem Aneinander-Vorbeireden oder besser Aneinander-Vorbeileben, das schildert der irische Autor glaubwürdig und nachvollziehbar über die ganze Länge des Romans, bei dem trotz des überschaubaren Handlungsrahmen eben zu keinem Zeitpunkt wirkliche Längen auftreten. Dazu verdichtet der irische Autor das Bild der Figuren und ihrem Miteinander zunehmend auf gekonnte Art und Weise.

Die familiären Hintergründe werden konkreter, im Zusammenfallen verschiedener Perspektiven werden bestimmte Episoden verständlicher und anekdotisches Erinnern entzaubert. Schlussendlich ergibt sich so ein Bild einer Familie, in der nach Tolstoi’scher Manier wirklich jeder auf seine eigene Art und Weise unglücklich ist.

Damit stellt sich Paul Murray in die Erzähltradition großer amerikanischer Erzählwerke wie Jonathan Franzens Die Korrekturen oder aktueller etwa Miranda Cowley-Hellers Der Papierpalast. Es ist eine Reihe, in die sich das Werk des Iren ausnehmend gut einfügt.

Fazit

Der Stich der Biene ist ein Familienroman im besten Sinne, der langsam das Bild einer irischen Vorzeigefamilie entzaubert und vom Zerfall eines familiären Gefüges erzählt. Mit Sinn für Timing und gegensätzliche Perspektiven nimmt Paul Murray das Unglück in den Blick, das Familie bedeuten kann – und wie man sich trotzdem irgendwie durchs Leben mogelt.

Wer sich nach der Lektüre des Romans für das Schreiben und die Hintergründe zu Der Stich der Biene interessiert, dem sei auch das Interview auf der Webseite des Booker Prizes empfohlen, für den der Ire im vergangenen Jahr bereits zum zweiten Mal nach Skippy stirbt im Jahr 2010 nominiert war


  • Paul Murray – Der Stich der Biene
  • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
  • ISBN 978-3-95614-581-0 (Kunstmann)
  • 700 Seiten. Preis: 30,00 €
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Sarah Gilmartin – Service

Ein Restaurant der Spitzenklasse, eine Servicekraft, ein Küchenchef, seine Frau – und dann steht da mitten im Raum der schwerwiegende Vorwurf einer Vergewaltigung. Was das mit den Beteiligten macht und wie sie auf das (möglicherweise) Geschehene blicken, das erkundet die irische Schriftstellerin Sarah Gilmartin in ihrem Roman Service.


Vor wenigen Wochen sorgte einmal mehr eine ein juristischer Lehrfilm aus der Feder Ferdinand von Schirachs für Aufsehen. Während er in Terror die Zuschauer selbst zu einer Jury in einem Gerichtsverfahren werden ließ, so wendete er sich im Fernsehfilm Er sagt, sie sagt dem Sujet einer mutmaßlichen Vergewaltigung zu, bei der Aussage gegen Aussage der Beteiligten steht.

Es ist kein ganz neues Konzept, die Schwierigkeit einer Wahrheitsfindung nach solchen Anschuldigung, der prozessualen Dynamiken und den widersprüchlichen Aussagen herauszuarbeiten. Was beispielsweise der Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachelmann unter großem Interesse der Öffentlichkeit und sensationsheischender Boulevardmedien-Begleitung in realiter zeigt, auch in der Literatur wird es immer verhandelt.

So schilderte die Autorin Bettina Wilpert in Nichts, was uns passiert schon fast lehrbuchhaft die Aufarbeitung einer potentiellen Vergewaltigung, die sich in einer Sommernacht in Leipzig ereignet haben könnte. Sie nutzte dazu ebenso wie Schirach zwei Perspektiven, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven nebeneinander zu stellen um so auch auf das Interessanteste zu blicken: das Dazwischen, in dem die Wahrheit liegen könnte.

Der Service, die Ehefrau, der Spitzenkoch

Auch Sarah Gilmartin bedient sich für ihren Roman Service dieser Erzählweise, indem sie mehrere Perspektiven nebeneinanderstellt, die auf das blicken, was sich im legendären Dubliner Restaurant, das hier nur T geheißen wird, abgespielt haben könnte.

Dafür kommen zu Wort: Hannah, die als Servicekraft eines der Gesichter des nahe des Unterhauses des irischen Parlaments gelegenen Edelrestaurants war. Daniel Oswald Costello, der als Küchenchef hinter den Kulissen für außergewöhnliche kulinarische Genüsse sorgte und mit seinen Kochkünsten den Ruhm des Restaurants mehrte. Julie, seine Ehefrau, die zusammen mit Daniel und den beiden Kindern in einem noblen Anwesen wohnt und schon seit langer Zeit mit Daniel verheiratet ist.

Sarah Gilmartin - Service (Cover)

Sie sind die drei zentralen Figuren in diesem Roman, die aus ihren Augen auf das Geschehen blicken, das sich hinter den Türen des T ereignet haben könnte und das aufgrund der Prominenz Daniels für viel Aufmerksamkeit und Paparazzi vor der Haustür der Costellos sorgt. Denn Daniel steht vor Gericht, weil ihm durch eine ehemalige Mitarbeiterin eine Vergewaltigung vorgeworfen wird.

Einstweilen ruht das Geschäft im T und die Figuren beginnen sich zu erinnern. Julie daran, wie das mit der Beziehung zu Daniel anfing, für den Frauen entweder Süße oder Schlampen sind und der mit seinem Charme und seiner Präsenz Menschen im Handumdrehen für sich einnehmen kann. Hannah daran, wie es zuging im Restaurant, wie man die herausfordernden Schichten zwischen ordinärem Küchenpersonal auf der einen und den anstrengenden Kunden auf der anderen Seite der Küchentür überstand. Und Daniel, wie es ist, vor Gericht zu stehen, zusammen mit seiner Anwältin eine Verteidigungsstrategie zu entwerfen und von alten Bekannten nicht mehr gegrüßt zu werden.

Drei Blicke auf das Geschehene

Aus diesen drei Strängen montiert Sarah Gilmartin eine spannende Erzählung, die durch ihre erzählerischen Gegenschüsse, das Miteinander aus Gegenwart und Rückblenden auf die atemlose Atmosphäre des Restaurantbetriebs überzeugt. Nicht ganz so ambivalent schwebend wie die zitierten Erzählungen liegt bei Sarah Gilmartin der erzählerische Fokus weniger auf der Frage, was wirklich passiert ist, sondern konzentriert sich eher auf die Dynamiken und Prozessen, die nach den Anschuldigungen einsetzen und auf die die Beteiligten ganz unterschiedlich reagieren.

Wie sich Daniel als Opfer von Neidern und „aufmerksamkeitsgeilen“ Me-Too-Hysterikerinnen sieht, wie Julie trotz der Kenntnis des Charakters ihres Mannes weiterhin das Familienleben aufrecht erhält und wie Hannah mit den eigenen Erinnerungen und dem Erlebten hadert, das verbindet sich in Service zu einer mitreißenden Lektüre, die durch die multiperspektivische Erzählweise noch einmal gewinnt und die Schwierigkeiten einer Anklage nach einem sexuellen Übergriff eindrücklich vor Augen führt.

Dass der im Roman geschilderte Prozess so in der Realität kaum möglich wäre, da die Hürden (nicht nur) in Irland nach solchen Anschuldigungen noch einmal höher sind, peinliche Befragungen, Verzögerungen in der Bearbeitung und andere Widerstände inklusive, all das lässt schlucken, ist Sarah Gilmartins Buch doch schon so harter Tobak. Der Umstand, dass es das System Menschen nach einem Übergriff gegenwärtig noch einmal schwerer macht, ist wirklich schwer zu fassen und braucht eben solche Bücher wie das von Sarah Martin, die unterhaltsam und nicht platt moralisierend vor Augen führen, was sich ändern muss.

Fazit

Service ist ein überzeugend geschilderter Roman, der durchdacht montiert aus drei Blickwinkeln auf das Tun und Treiben hinter den Kulissen eines Spitzenrestaurants blickt. Sarah Gilmartin gelingt ein eindrücklicher Roman, der von den erniedrigenden Prozeduren in einem Prozess nach dem Vorwurf einer Vergewaltigung erzählt, wie er auch die Verteidigung und die Angehörigen in einem solchen Prozess klug in den Blick nimmt. Ebenso unterhaltsam wie aufrüttelnd!


  • Sarah Gilmartin – Service
  • Aus dem irischen Englische von Anna-Christin Kramer
  • ISBN 978-3-0369-5018-1 (Kein & Aber)
  • 320 Seiten. 24,00 €
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