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Louise Kennedy – Das Ende der Welt ist eine Sackgasse

Gute Laune bescheren sie nicht unbedingt, die Kurzgeschichten von Louise Kennedy, die der Band mit dem Namen Das Ende der Welt ist eine Sackgasse versammelt. In Sackgassen finden sich viele von Kennedys Figuren wieder, Hoffnung und Zuversicht sind rar gesät. Es sind Geschichten, die einen Blick in ein Irland abseits von Grüner Insel-Romantik geben.


Vor zwei Jahren erschien mit Übertretung der fabelhafte Debütroman der irischen Autorin Louise Kennedy. Darin erzählte sie von mannigfaltigen Übertretungen, die das Leben der jungen Cushla Lavery kennzeichneten. Ihre Affäre mit einem deutlich älteren, protestantischen Anwalt und ihr Einsatz für einen Schüler weit über das übliche Engagement hinaus brachten der Lehrerin viele Probleme ein, was Louise Kennedy vor dem Hintergrund der irischen Troubles zur Hochzeit der 70er Jahre schilderte.

Schon damals war gute Laune nicht unbedingt das Motiv, das sich durch ihren Roman als erzählerisches Programm zog. Zumeist war die Lebenswelt von Kennedys Figuren grau, gewaltgesättigt und wenig hoffnungsstiftend. Ebenjenen tristen bis düsteren Realismus findet man nun auch in den Geschichten, die Das Ende der Welt ist eine Sackgasse versammelt.

Bonjour Tristesse

Louise Kennedy - Das Ende der Welt ist eine Sackgasse (Cover)

Fast immer gilt das Motto Bonjour Tristesse, wenn man mit Louise Kennedy in die kurzen Ausschnitte aus dem Leben ihrer Figuren hineinblickt. Da ist eine Frau in der titelgebenden Geschichte, die den Auftakt des Erzählungsbandes bildet. Von ihrem Mann verlassen sitzt die Frau auf Schulden und in der trostlosen Siedlung aus leerstehenden Häuser, wo sich nur mal der Esel eines benachbarten Bauern in eines der Musterhäuser verirrt. Eine trostlose Affäre mit diesem Bauern, Drogen, trostloser Sex – und dann wieder Bonjour Tristesse. Willkommen in der Welt von Kennedys Figuren.

Dominante und herrische Männer, deprimierte Frauen – und wenn eine Geschichte mal aus dem auf Irland zentrierten Schema ausbricht wie in der Erzählung Hinter Karthago, in der zwei Freundinnen eigentlich in einem warmen Ferienort wie Ägypten reisen wollten, dann aber nur in einer seelenlosen, grauen Betonbunkeranlage in Tunesien abseits der Saison landen, wo sich so gar nichts einstellen mag von der erhofften Exotik und Ablenkung. Stattdessen ruft der Besuch bei einer der beiden Frauen Erinnerungen an ihre Brustamputation wach und vereint die beiden Frauen in der Tristesse, von der sie sich trotz aller ostentativ zur Schau getragenen Lust auf Ablenkung und Urlaub nicht freimachen können

Auch Gewalt spielt eine Rolle, mal deutlicher etwa in der stark mit Farben arbeitenden Erzählung Im Gegenlicht, in der der Bruder einer Kosmetikerin im Zuge des Nordirlandkonflikts getötet wird, mal subtiler, als die Suche und der ausstehende Fund einer Leiche eine zentrale Bedeutung spielt (Schongebiet).

Weibliche Perspektiven

Mit ihren überwiegend aus weiblicher Perspektive geschilderten Geschichten liest sich Louise Kennedys Kurzgeschichtenband fast wie ein Gegenentwurf zu Zach Williams´ ebenfalls in diesem Jahr erschienenen Kurzgeschichten, die allein um Männer kreisten.

Louise Kennedy hingegen erkundet jene Schattierungen von Weiblichkeit, die in der Literatur sonst eher ausgespart werden. Neben den Gewalterfahrungen sind es auch die Erfahrung von Untreue und Betrug, denen sich Kennedys Figuren immer wieder ausgesetzt sehen. Erlebte Abtreibungen, Vergewaltigungen oder der Rückzug von Männern aus der erzieherischen Verantwortung – am eindrucksvollsten mündet letzterer Aspekt in der Erzählung Brüchiges, in der Ciara an ihrer Rolle als Mutter des in seiner Entwicklung zurückgebliebenen Ferdia verzweifelt und dennoch zumindest die Fassade eines Familienidyll aufrecht erhalten will.

Junge Figuren wie der Cian, der mit seinen Händen bei Heilungen helfen soll oder die aus Nordirland stammende Róisín, deren Alltag durch die Ankunft eines neuen Paares aus England auf den Kopf gestellt wird (Belladonna), sie alle ergeben einen Erzählreigen, der auf die Brüche und Abgründe blickt, Irland Noir gewissermaßen.

Fazit

Genau beobachtet und eingefangen (so treffend wie konkret etwa die Wahl des Begriffs des Malzgeruchs, der die Atmosphäre eines ungelüfteten Schlafzimmers nach einer Nacht beschreibt) räumt Louise Kennedy in Das Ende der Welt ist eine Sackgasse all dem einen Platz ein, für das sich die romantisierende Literatur über Irland nicht immer interessiert. Drogen, lieblose Beziehungen, Konflikte mit Rollenerwartungen mit Platz auch für Abgründiges, gehalten in Moll, das kennzeichnet diese Geschichten, die die Erwartungen jener in eine Sackgasse führen dürfte, die „einfach mal etwas Schönes“ lesen wollen.

Alle anderen, die einen Blick auf sonst eher ausgesparte Themen werfen möchten, die weibliche Perspektiven und Literatur mit genauem und unbestechlichem Blick schätzen, die dürften wie schon mit Übertretung auch mit dem erneut von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser übersetzten Das Ende der Welt ist eine Sackgasse glücklich werden


  • Louise Kennedy – Das Ende der Welt ist eine Sackgasse
  • Deutsch von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-458-0 (Steidl)
  • 256 Seiten. Preis: 25,00 €

Alan Murrin – Coast Road

Ein kleines Städtchen in Irland – und viele Probleme, vor denen vor allem Frauen mit ihren Männern stehen. Alan Murrin zeichnet das Zusammenleben in seinem ersten, von Anna-Nina Kroll ins Deutsche übersetzten Roman Coast Road nach und erschafft damit ein Gesellschaftsporträt des ländlichen Irlands am Beginn der 90er Jahre, bei dem der Staat bis in die Beziehungen hinein mitregiert.


Am 25. November 1995 waren die Einwohner*innen Irlands zur Stimmabgabe bei einem Referendum aufgerufen. Die Frage über die Abschaffung des Ehescheidungsverbotes stand zur Disposition. Sollte das 1937 im katholischen Irland eingeführte Verbot von Scheidungen Bestand haben oder sollten sich von nun an Paare auch wieder scheiden lassen dürfen?

Vor diesem Hintergrund spielt Coast Road, das Debüt des in Berlin lebenden Iren Alan Murrin. Er nimmt mit ins County Donegal, wo ganz unterschiedliche Frauen im kleinen Örtchen Ardglas leben. Beginnend im Herbst des Jahres 1994 erzählt Murrin von der mit dem Politiker James verheirateten Izzy, die sich Eigenständigkeit und einen eigenen Laden an der Coast Road wünscht.

Die Straße, die den kleinen Ort durchschneidet, ist dabei auch ein gutes Symbol auf für so manche der Beziehungen, die in Ardglas geführt werden.

Die zwei Seiten der Coast Road

Alan Murrin - Coast Road (Cover)

Oftmals stehen sich Männer und Frauen hier eher wie auf den zwei Seiten der Straße gegenüber, als gemeinsam auf dem Lebensweg voranzugehen. So auch Dolores und ihr Ehemann, der Elektriker Donal. Eher gezwungenermaßen haben sie sich in ihre Ehe gefügt. Mittlerweile pflegt der gewalttätige Donal seine Affären recht offen und Dolores harrt derweil hochschwanger im eigenen Zuhause aus.

Unerwünschte Konkurrenz bekommt sie von Colette, die im zum Haus gehörenden Cottage einzieht. Sie ist schon längst zum Dorfgespräch geworden, da sie etwas im Irland der frühen 90er Jahre Unerhörtes getan hat. Ihr Mann und sie haben sich getrennt, trotz in der Ehe vorhandener Kinder.

Dass eine – wenn auch qua Gesetz gar nicht möglich, aber de facto – getrennte Frau mit Billigung des Pfarrers in der Kirche die Lesung abhalten darf, es taugt zum Skandal.

Mit ihrer Trennung ist sie in Murrins Buch allerdings nicht alleine, im Gegenteil. Viele der im tief katholischen Milieu aufgewachsenen Frauenfiguren suchen und finden Trost und Beistand außerhalb ihrer eigenen Ehen.

Donal sucht zunehmend die Nähe zu der in Trauer, Einsamkeit und Alkohol versinkenden Colette, Izzy sucht zum Missfallen ihres Mannes geistigen Beistand und Eheberatung beim Pfarrer. So driften die Beziehungen immer weiter auseinander und Alan Murrin begleitet sie dabei und blickt tief ins Innere seiner Figuren.

Unerfüllte Wünsche und losgelöste Partner

Coast Road besticht durch seine gute Figurenzeichnung, den genauen Blick für Details und die Sehnsüchte, die seine Figuren umtreiben. Was macht das mit Menschen, die sich längst schon von ihren Partnerinnen und Partnern gelöst haben, bei anderen Menschen mehr Erfüllung finden oder die entstandene Gräben zwischen sich am liebsten wieder überwinden würden, immer vor dem Hintergrund, dass es eine Scheidung dank des staatlichen Reglements gar nicht geben darf?

Das betrachtet Alan Murrin sehr lesenswert und erschafft ein Buch, das ähnlich wie zuletzt etwa der Roman Mitternachtsschwimmer von Murrins Landsfrau Roisin Maguire die unerfüllten Sehnsüchte und seelische Verarbeitungsprozesse von Menschen im ländlichen Irland zeigt.

Im Vergleich zu Maguires „Wohlfühlbuch“ fällt Coast Road einige Noten dunkler und tragischer aus, zeigt aber ebenso einen warmherzigen Blick des Autors auf seine Figuren, deren Fehler und das, was Menschen trennt.

Er stand auf, nahm seinen Rucksack vom Boden und murmelte: „Danke“. Sie schaute ihm hinterher, doch sie konnte nicht lange hinsehen, es zerriss ihr das Herz. Stattdessen blickte sie aufs Meer hinaus und wollte eigentlich zum Auto gehen, blieb jedoch sitzen. In dieser Position, an dieser Stelle der geschwungenen Küste wurde ihr bewusst, dass sie sich fast genau auf halbem Weg zwischen ihrem eigenen Haus auf der einen Seite der Bucht und dem Cottage auf der anderen befand. Ihr Leben war so lange stehen geblieben, hatte zwischen diesen beiden Orten in der Schwebe gehangen.

Alan Murrin – Coast Road, S. 377

Feine Zeichnungen im Inneren, seelenlose KI-Kunst im Äußeren

Dazu gibt es im Roman das, was man gemeinhin mit Irland verbindet. Das Dorfleben im County Donegal, die Troubles, die aus der Ferne grüßen und dazu die hohe Literarizität des Landes, die hier in Form eines Schreibkurses daherkommt, den Colette abhält und der das lyrische Talent so mancher Figur zum Vorschein bringt.

Schade nur, dass die Kunstfertigkeit, die Alan Murrin in Bezug auf Menschen- und Gesellschaftszeichnung im Inneren seines Buchs beweist, im Äußeren keine Entsprechung gefunden hat.

Lieber hat man bei der deutschen Version des im dtv-Verlags erscheinenden Buchs auf die seelenlose Kunst gesetzt, die durch künstliche Intelligenz kreierte wurde, anstelle das Buch mit einer echten künstlerischen Leistung gestalterisch aufzuwerten. Das bleibt ein Wermutstropfen, zeigt sich hier umso deutlicher, was eine echte künstlerische Leistung im Inneren ist, hinter der die mit schiefen Proportionen gezimmerte KI-Kunst des Covers um Welten zurückbleibt.


  • Alan Murrin – Coast Road
  • Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
  • ISBN 978-3-423-28457-8 (dtv)
  • 380 Seiten. Preis: 24,00 €

Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit

Treibend im Meer der Erinnerung, vielleicht sogar unter Mordverdacht stehend: in seinem neuen Roman Jenseits aller Zeit taucht der irische Autor Sebastian Barry tief in das Leben eines pensionierten Polizisten ein. Der Besuch zweier Kollegen weckt beim ehemaligen Ermittler Erinnerungen an Geschehnisse aus längst vergangenen Tagen. Was schlummert da alles in den Tiefen des Gedächtnisses von Tom Kettle? Sebastian Barry legt es lesenswert frei.


Dass es stürmt und der Regen fast senkrecht gegen die Scheiben von Tom Kettles Wohnung peitscht, als dieser auf den ersten Seiten von Sebastian Barrys Roman Jenseits aller Zeit Besuch bekommt, ist hochsymbolisch. Denn es sind zwei Kollegen, die vor der Tür des pensionierten Polizisten in Dalkey stehen. Mit sich bringen die beiden Kollegen nicht nur das Unwetter, sondern auch eine Akte, die in Tom Kettle einen Sturm der Erinnerung entfesseln wird.

Ein Sturm der Erinnerung

Was es mit dieser Akte auf sich hat, das erschließt sich erst langsam, denn Sebastian Barry setzt für seinen Roman auf einen Erzählstil, der stark von der Technik des Bewusstseinsstroms beeinflusst ist, wie ihn sein Landsmann James Joyce oder auch seine britische Kollegin Virginia Woolf einsetzten. Immer wieder gleiten die Gedanken von Tom aus der Realität ab, findet sich der mittlerweile Sechsundsechzigjährige in Erinnerungen an sein Leben wieder. Immer tiefer taucht der pensionierte Polizist dabei in das Reich der Vergangenheit ab, wie es auch das vom Steidl-Verlag ersonnene Cover beschreibt.

Es ist ein Reich, in dem der Takt und die Gesetzmäßigkeit anderen Regeln unterliegen.

Wenn genug Zeit vergeht, ist es so, als wären die alten Dinge nie geschehen. Dinge, früher frisch, unmittelbar, erschreckend, entschwinden in eine Zeit jeseits aller Zeit, wie die Wanderer, die am Killiney Strand so weit spazieren, dass sie, wenn man sie lange genug beobachtet, nur noch ein schwarzer Fleck sind, und dann sind die fort. Vielleicht sehnt sich diese Zeit jenseits aller Zeit nach der Zeit, als sie nur Zeit war, so wie die Zeit auf dem Zifferblatt einer Wand- oder Armbanduhr. Aber das bedeutete nicht, dass sie herbeizitiert werden konnte oder sollte. Er war gebeten worden, in seinem Gedächtnis zu wühlen, als ob ein Mensch das wirklich vermochte.

Sebastian Barry – Jenseits der Zeit, S. 180

Langsam legt Sebastian Barry aus den Erinnerungen und Gedankenschleifen den Charakter Tom Kettle frei. Biografische Wegmarken wie sein tödliches Tun einst im Krieg in Malaya, das Schicksal seiner Familie und das aktuelles Leben des Ruheständlers in seiner höhlenartigen Einliegerwohnung im Wohnensensemble einer viktorianischen „Burg“ dort im Süden von Dublin, das schält sich immer klarer im Lauf des Buchs heraus.

Jenseits aller Zeit – und auch jenseits des Rechts?

Sebastian Barry - Jenseits aller Zeit (Cover)

Dabei ist es mit der Klarheit aber so eine Sache. Was ist wahr, was sind Einbildungen und was die Realität? Jenseits aller Zeit lässt Gewissheiten verschwimmen, etwa wenn Tom Kettle den Besuch seiner ehemaligen Kollegen im Polizeirevier in Dublin schildert. Dass sich Ganze sich dann aber als reine Vorstellung jenseits der Realität entpuppt, die der Rentner im Park St. Stephens Green gesponnen hat, ist nur ein Indiz für die Unzuverlässigkeit von Toms Erzählen.

Was aber klar ist, ist dass dieses Buch eine Abrechnung mit dem System des Missbrauchs der katholischen Kirche in Irland im 20. Jahrhundert darstellt. Denn dieses Thema dominiert das ganze Buch und die Erinnerungen Tom Kettles. Nicht nur das Anliegen, das initial die beiden Polizisten inmitten des Sturms die Einliegerwohnung Kettles führt, hat mit diesem Thema zu tun. Auch er selbst und seine Frau haben ihre Erfahrungen mit dem Missbrauch in Kirche und kirchlichen Heimen gemacht, der sich dutzendfach dort abspielte und bei dem Behörden und Kirchenleitung gerne wegsahen und sich weigerten, Fälle des sogenannten Crimen Pessimum nachzuverfolgen. Doch hat Tom eventuell selbst daran einen Anteil, diese Missstände auf Wegen abseits des Rechts zu lösen?

Ein gesellschaftskritisches Werk – und die Fortschreibung von Sebastian Barrys literarischem Kosmos

Jenseits aller Zeit fügt sich ein in die Riege gesellschaftskritischer Werke, mit denen irische Schriftsteller*innen die Auswirkungen des vielfachen Missbrauch der katholischen Kirche und des dahinterliegenden Systems der Deckung dieser Taten aufarbeiten. Autoren wie John Boyne oder Claire Keegan untersuchten dieses Thema bereits auf unterschiedliche Weise – und auch Sebastian Barry reiht sich nun in diese literarische Aufarbeitung des in der Realität immer noch mangelhaft untersuchten Komplexes ein.

Das gelingt ihm überzeugend, verbindet sich das genaue Nachspüren der Auswirkungen dieses Missbrauchs mit einer komplexen und durchaus herausfordernden literarischen Erzählweise. Zugleich schreibt sein Roman auch jenen Kosmos fort, den Sebastian Barry über seine so unterschiedlichen Bücher hinaus entwickelt. Immer wieder berühren sich die Lebenslinien von Figuren über Bücher und Zeiten hinweg. Hier ist es nun eine Ms. McNulty, die mit Tom in dem viktorianischen Wohnungsensemble wohnt, deren Vorfahren Abenteuer in Amerika erlebt haben dürften.

Fazit

Für den Booker Prize 2023 nominiert (übrigens die sage und schreibe bereits fünfte Nominierung für Sebastian Barry) ist Jenseits aller Zeit ein wahrer Strudel an Erinnerungen und Schicksal, der die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs ebenso zeigt, wie er auch hinabführt in die Seele eines Menschen, in dem sich Verlust und Tod schon zu sedimentieren scheinen. Einmal mehr fabelhaft übersetzt von Hans-Christian Oeser ist dieser Text ein beeindruckendes Dokument jener Zerrüttung, der der systematisierte Missbrauch in Irland (und nicht nur dort) in Menschen angerichtet hat.


  • Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-401-6 (Steidl)
  • 288 Seiten. Preis: 28,00 €

Audrey Magee – Die Kolonie

Kulturkampf auf der Insel. In Die Kolonie lässt Audrey Magee einen Maler und einen Linguisten auf einem kleinen irischen Eiland aufeinandertreffen und um künstlerischen Ausdruck, Autonomie und das Erbe des Kolonialismus ringen. Großartige und vielschichtige Unterhaltung, die die Bedeutung von Sprache herausstreicht. Da trifft es sich gut, dass Magees Buch mit Nicole Seifert eine passende Übersetzerin aufweist, die die vielen sprachlichen Schichten des Romans auch im Deutschen gelungen freilegt.


Diese Überfahrt hat es in sich. In einem kleinen Curragh, einer Art Ruderboot, wird der Künstler Lloyd zu Beginn des Romans von Audrey Magee auf eine namenlose kleine Insel übersetzt. Drei Meilen in der Länge, eine halbe in der Breite misst die Insel, die von gerade einmal 92 Menschen bevölkert wird.

Dort will Lloyd den Sommer verbringen – und vor allem zeichnen. Denn von der urwüchsigen Schönheit der Natur, den meeresumtosten Klippen und den Tieren auf der Insel erhofft er sich Inspiration und Motive, die er wieder mit nach Hause nach London bringen kann, wo seine Frau als Galeristin arbeitet.

Doch nicht nur, dass seine eigentliche Unterkunft für Lloyds Geschmack zu wenig Licht hat und er mit seinen Extrawünschen die Geduld seiner Vermieterin Bean Uí Néill und deren Tochter Mairéad strapaziert. Vor allem die Ankunft eines zweiten Mannes auf der Insel stört seinen inneren Frieden erheblich. Denn bei diesem handelt es sich um Jean-Pierre Masson, einen Linguisten aus Paris, der die Insel auch als Inspiration nutzt – allerdings für eine Studie über die irische Sprache.

Ein Maler und ein Linguist – und der Kampf um die Insel

Unter dem englischen Einfluss ist das Irische nahezu ausgestorben. Nur auf dieser Insel spricht man es noch wie früher, ohne dass die englische Sprache bislang eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Doch nun taucht dieser sasanach – so der irische Ausdruck für die Engländer – auf und bedroht die Reinheit der Sprache und damit auch sein Forschungsprojekt. Schnell sind sich die beiden Männer in ihrer gegenseitigen Ablehnung einig.

Also, sind wir bereit für einen Sommer mit diesen beiden Männern?

Das wird höchst unterhaltsam, sagte Mairéad.

Meinst du?, fragte Bean Uí Néill.

Ein Spektakel, Mam.

Mir gefällt das nicht. Zwei Ausländer gleichzeitig.

Lehn dich einfach zurück und guck zu, Mam. Genieß es.

Die werden den ganzen Sommer lang streiten, sagte Bean Uí Néill.

Kampf der Egos, sagte Francis. Frankreich gegen England.

Audrey Magee – Die Kolonie

Und so beginnt der Sommer, der – abgesehen von den Streitigkeiten, die fast an Loriots Zwist zwischen den beiden Herren im Bad erinnern – eine Idylle sein könnte, dort auf der Insel, fernab von allen Problemen.

Nachrichten von den Troubles

Audrey Magee - Die Kolonie (Cover)

Doch eine Idylle ist es nicht, mag die Insel in ihrer Unberührtheit und der Entfernung zum Festland auch so scheinen. Denn Die Kolonie spielt in Irland zur Hochzeit der Troubles, als der Kampf zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Loyalisten auf der Insel zu heftigen Kämpfen und vielen Toten führte, darunter mit Lord Mountbatten sogar ein Onkel der Queen.

Während auf der Insel der Linguist und der Maler miteinander streiten, versinkt die irische Insel in Blut, was auch den Bewohnern des wesentlich kleineren Eilandes nicht verborgen bleibt. Und auch Audrey Magee platziert die Troubles im Herzen dieses Buchs. Die Kapitel werden nämlich allesamt durch fast telegrammartige Schilderungen des brutalen Terrors eingeleitet. Dieser kommt in Form von Totschlag, Schießereien und Bomben in kurzen Schlaglichter daher. Diese wirken zwar wie Nachrichten aus einer fernen Vergangenheit, sind es aber mitnichten.

Die Kolonie ist ein Roman über die Spaltung und den Kampf um Deutungshoheit, der sich bei Audrey Magee nicht nur zwischen Nordirland und dem Rest der Insel vollzieht, sondern der sich auch in anderen Form im Zwist auf der Magees wesentlich kleineren Insel spiegelt. Wie umgehen mit dem Erbe der Engländer, das sie Irland geopolitisch und sprachlich hinterlassen haben? Wie bewahrt man sich eine eigene Identität?

Von der Macht der Sprache

Im Falle von Die Kolonie ist es hauptsächlich das Feld der Sprache, auf denen dieser grundsätzliche Glaubensstreit ausgetragen wird. Jean-Pierre Masson, der aus den Erfahrungen des Umgangs der Kolonialmacht Frankreich mit Algerien heraus verhindern will, dass in Irland ähnliches geschieht und die Insel mit dem wachsenden Einfluss des Englischen auch ihre Identität verliert.

Dieses Land wurde kolonisiert, sagte Lloyd

Wird, sagte Francis.

Lloyd zuckte mit den Schultern.

Die Sprache ist ein Opfer der Kolonisierung, sagte er. In Indien. In Sri Lanka. In Algerien. (…)

Die Sprache lebt noch, sagte Masson. Hier auf dieser Insel.

Audrey Magee – Die Kolonie

Folglich beäugt er nicht nur die Anwesenheit eines Vertreters dieser ehemaligen Besatzungsmacht misstrauisch, auch versucht er, nicht nur in Interviews und seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch praktisch den Einfluss des Englischen zurückzudrängen, was ihn natürlich in Opposition zu Lloyd bringt. Denn dieser sieht die Insel nicht nur als Materiallieferant für seine eigene Karriere, auch Séamus, Mairéads Sohn, ist von der Kunst des Malens fasziniert, in die ihm Lloyd einführt. Während er dessen Nähe sucht und mit der Idee seines Weggangs von der Insel liebäugelt, versucht Masson diesen nicht nur durch das beharrliche Ansprechen mit seinem irischen anstelle des anglisierten Namen James zur Besinnung auf seine Herkunft zu überzeugen.

Im Kleinen wie Großen vollziehen sich in Audrey Magees Buch diese Konflikte, die aber auf den zweiten Blick oftmals gar keine sind. Nicht nur dadurch, dass sich die traditionelle, an Rembrandt ebenso wie an Gaugin geschulte Maltechnik und Bildwelten Lloyds JP Massons Versuchen der Bewahrung des Vergangen ähnelt, ergeben sich Parallelen und Ansichten, die die Figuren so manches Mal lieber nicht wahrhaben wollen.

Dass sich Audrey Magee entschieden hat, auch den beiden Antipoden dieses Romans auch ganz unterschiedliche Sprachprägungen zu verleihen, ist ein großer Glücksfall, der von Nicole Seifert gelungen im Deutschen wiedergegen wird. Da die impressionistische Sprache Lloyds, der viel in Motiven, Farben und Gemäldetiteln denkt, da der zu ausschweifenden Formulierungen neigende JP, der auf der Insel seine Arbeit über das Irische abfasst.

Fazit

Fein ausgemalte Figuren und große und kleine Brüche ergeben ein faszinierendes Bild und großartiges Leseerlebnis, das von der Macht der Sprache und den Einflussfaktoren, die sie bedrohen, erzählt. Audrey Magee gelingt mit Die Kolonie ein klug konstruiert und ebenso gut durchdachter Roman, der der Betrachtung in Form einer genauen Lektüre lohnt. Wunderbar ins Deutsche übertragen ist dieser 2022 für den Booker Prize nominierte Roman nun auch endlich auf Deutsch zu entdecken – eine feine Sache!


  • Audrey Magee – Die Kolonie
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-312-01289-3 (Nagel und Kimche)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €

Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €