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Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht

Das Kino als Fluchtpunkt und als Errettung aus aller Trübnis und Not – Florian L. Arnold erkundet das in seinem neuen Roman Das flüchtige Licht und findet für die Welt des Films überzeugende literarische Bilder. So gelingt ihm eine Hommage an das Kino, die Stadt Rom und die Freundschaft der Kindertage, deren unterschiedlicher Facetten er in seinem Roman nachspürt.


Viel ist schon über Rom geschrieben worden und immer wieder ist der Ewigen Stadt auch in Filmen ein Denkmal gesetzt worden. Das reicht von den Kinoarbeiten Fellinis und Viscontis bis hin zu Paolo Sorrentino, der in La grande bellezza der römischen Hauptstadt ein Oscar-gekröntes Filmwerk widmete.

Der Ulmer Autor Florian L. Arnold erschafft aus der Arbeit all dieser Regisseure nun eine literarische Synthese über den Mythos Rom. Das Ganze verbindet er mit einer Hommage an das Kino und dessen lebensrettende Kraft.

La grande infanzia

Zunächst fühlt sich dabei alles wie in einem surrealen Gemälde von Giorgio de Chirico an. Eine Gruppe von Kindern wächst in einem rätselhaften Viertel einer nicht näher benannten Stadt auf, deren verwinkelte Gassen und Häuser die Kinder durchstreifen. Arnolds selbst gestaltetes Cover greift diese eigentümliche Stimmung jener Stadt auf, in der Spucino, Elio, Gianni und Aurelio eine verschworene Freundesgruppe bilden.

Florian L. Arnold - Das flüchtige Licht (Cover)

Auch der auch der rothaarige Enzo hätte gerne Zugang zu dieser Bande. Doch der „Junge mit dem Faunsgesicht“ ruft bei den anderen Kindern nur Ablehnung und Spott hervor. Nicht nur aufgrund seines Halbwaisen-Status wird er von den anderen Kindern gehänselt und mit abschätzigen Bezeichnungen wie „Das Gerippe“ oder „Der Zwerg“ versehen. Sogar bis hin zu Wünschen nach dem Tod Enzos reicht die Palette kindlicher Bosheit und Niedertracht.

Eines Tages verschwindet Enzo dann tatsächlich aus diesem Teil der Stadt, um durch Zufall in die Dreharbeiten eines Films des „Monsignore“, eines berühmten Regisseurs, zu stolpern. Dieser erkennt in Enzo das fehlende Puzzlestück für seinen Kinofilm Legenda, für den er den Jungen kurzerhand besetzt. Nicht nur für den Regisseur eine Fügung, sondern auch für Enzo ein Erweckungserlebnis, ist er doch von dieser magischen Welt des Films und seiner Erschaffer wie verzaubert.

Cinema paradiso

Aber nicht nur Enzo ist von der Welt des Films wie verzaubert. Auch für Gianni wird im Erwachsenenalter die Welt der Lichtspielhäuser zu dem Ort, an dem er sich am lebendigsten fühlt. Dort in der Welt der Filme findet er das, das ihm in der realen Welt nicht bieten kann.

Jeder ging ins Kino, das war nichts Außergewöhnliches, jedoch: Keiner kam so zerbrochen, verformt, mit Träumen angefüllt wieder heraus wie er. Im Kino war alles ohne Vorsicht und ohne Scham, dort war er der Liebende, auf der Leinwand sah er die eigenen Gefühle, erkundete er erschüttert und oft erstaunt seine Untiefen, seine Empfindungen, die er draußen, im zweidimensionalen Raum seines Lebens, nicht kannte. Manchmal kam er beruhigt aus dem Kino, weil er dort eine flüchtige Zärtlichkeit für andere Menschen empfunden hatte, während er draußen, im Ernst des Lebens, noch nicht einmal eine echte erste Liebe gefunden hatte, nun, da er vierunddreißig war.

Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht, S. 70

Der Cineast wird zum Filmjunkie, abhängigen von der Welt des Zelluloids. Manisch sucht er die unterschiedlichsten Kinos auf, wo er dann zufällig auf die Spur seiner eigenen Vergangenheit gerät, als er eines Tages auf der Leinwand einen rothaarigen Schauspieler erkennt, den er aus seiner eigenen Kindheit noch so gut kennt.

Lichtspiel

Nicht nur hier fallen Illusion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Mit harten Schnitten und einer collageartigen Erzählweise montiert Arnold die Leben und Themen seiner Figuren zusammen. Der Monsignore als großer Bilderdenker und noch vielmehr als Menschenlenker. Enzo als Ruheloser, der für die Welt des Kinos und des Films alles gibt, um dem Monsignore und vor allem Luisa nahezusein, die er bei den Dreharbeiten kennenlernte. Gianni und dessen farbloses Leben, das erst im Kinosaal wieder an Farbe und Tiefe gewinnt. Vor allem aber sind es auch die Träume der Kindheitstage, die seit dem Aufwachsen in den verwunschenen Gassen des Stadtviertels zerstört wurden und die nur noch in Filmen auf der Leinwand Bestand haben.

Überhaupt, die Läufe des Lebens, sie sind auch ein Motiv dieses Romans. Von der Verschworenheit der Kinderbande bis hin zur Entfremdung im Erwachsenalter, als man sich aus den Augen verloren und sich die Lebenswege gabelten, die hin zu so unterschiedlichen Karrieren als Angestellter, Filmstar, Clown oder Autohändler führten, Arnold zeichnet all das in seinem Roman manchmal skizzenhaft, dann wieder in präzisen Nahaufnahmen nach.

Das flüchtige Licht ist ein Gesamtkunstwerk, das in seinen unterschiedlichen Erzählsträngen, lyrischen Kurzaufnahmen und Spots, Zeichnungen des Autors, der verbindenden Sprachmacht und den unterschiedlichen Perspektivwechseln viele Elemente zu einem stimmigen Ganzen findet.

Fazit

Arnolds Roman funktioniert als Verneigung vor einem Rom, das sich als Kunstmotiv schon lange von der Wirklichkeit entkoppelt hat, wie auch vor dem Leben und dessen Überraschungen, das es für uns alle bereithält. Das flüchtige Licht spürt der Verzauberung der Welt nach, gibt der Entzauberung der Welt aber ebenso Raum. Denn so wie das Licht auf der Leinwand tanzen und uns in anderen Welten entführen kann, ebenso flüchtig ist dieses Licht doch auch. Es kann verschwinden und Menschen im Dunkeln zurücklassen.

Das zeigt dieser Roman gekonnt und gleicht damit einem guten Arthaus-Film. Nicht alles erschließt sich sofort, manches wird man auch erst bei einer zweiten Lektüre entdecken. Aber so schenkt dieser Roman neue Perspektiven und erzählt von der Kraft der Träume und der Fantasie, vom Kino und Kindheit – und nichts weniger als von dem Zauber, der von Filmen ausgehen kann. So gelingt Arnold der eine gelungene stilistische und inhaltliche Synthese, die Lust macht, nach der Lektüre schnellstmöglich Rom oder mindestens ein gutes Kino in der Nähe aufzusuchen.

Eine weitere Meinung zu Das flüchtige Licht gibt es auf dem Blog Begleitschreiben.


  • Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht
  • ISBN 978-3-947857-20-3 (Mirabilis)
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €

Daniela Raimondi – Das erste Licht des Sommers

Mit ihrem zweiten Roman Das erste Licht des Sommers kehrt Daniela Raimondi zumindest in Teilen zurück in ihr fiktives Dorf Stellata, das schon in ihrem ersten Roman im Mittelpunkt stand. Diesmal variiert die italienische Schriftstellerin ihre erzählerischen Mittel allerdings etwas und erzählt vom Sterben und Erinnerungen.


Wenn es ums Sterben geht, dann macht der italienischen Literatur so schnell niemand etwas vor. So zählt die Szene des Todes des alten Don Fabrizio in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard zu den ergreifendsten Schilderungen der Weltliteratur. Di Lampedusas Landsfrau Daniela Raimondi widmet dem Sterben in ihrem Roman nun nicht nur ein Kapitel, sondern montiert ihren ganzen Roman um das den langsamen Tod einer Figur herum.

Es handelt sich um Elsa, die im Jahr 2015 das Ende ihres Lebenswegs erreicht hat. Umsorgt von ihrer Tochter Norma, erinnert sich diese immer wieder an ihr eigenes Leben und das ihrer Mutter. Am Krankenbett wachend geht sie den Erinnerungen nach, die die zweite Hälfte dieses Romans bilden.

Leben und Sterben in Stellata

Einsetzend nach dem Krieg schildert Daniela Raimondi das Leben von Elsa und ihrer Freundin Zena, die gemeinsam in Stellata aufwachsen, jenem Dorf, dessen Entstehung Raimondi bereits ihren ersten Roman widmete. Trotz dieser engenen Verbindung sind es unterschiedliche Richtungen, in denen sich ihre deren Lebenswege nach der gemeinsamen Zeit in diesem fiktiven italienischen Dörfchen entwickeln. Zwar heiraten beide Zwillingsbrüder und bekommen beide im Altern von 20 Jahren ihre Kinder, doch immer weiter entfernen sich die beiden Frauen voneinander, und das nicht nur geografisch.

Daniela Raimondi - Das erste Licht des Sommers (Cover)

Von 1947 bis in das Todesjahr 2015 hinein zeichnet Raimondi die voltenvollen Leben ihrer Figuren und die ihrer Kinder nach. Treue und außereheliches Begehren spielen dabei genauso eine Rolle wie die Verhältnisse von Kindern zu ihren Eltern. Raimondi garniert das mit Ausflügen in die Zeitgeschichte und lässt auch einige Figuren aus dem ersten Roman über den Stellata-Kosmos wieder auftreten.

So gibt es auch hier einen entscheidende Begegnung mit Nachkommen der ersten Stellata-Familien, die sich in Brasilien niedergelassen haben oder die wie im Fall von Neve, die nach einer Wunderheilung von Bienen umschwärmt wird. Aber auch ohne die Kenntnis des ersten Romans mit seiner Fülle an Figuren bleibt die Lektüre von Das erste Licht des Sommers verständlich.

Neu ist, dass Raimondi ihre Erzählen über mehrere Generationen hinweg im vorliegenden Roman etwas einhegt. Erinnerte ihr Ton und der Umfang von An den Ufern von Stellata an Gabriel García Marquez‚ Klassiker Hundert Jahre Einsamkeit und dessen Entwicklungsbogen des fiktiven Dörfchens Macondo, so ist hier nun alles etwas konzentriert.

Konzentration auf zwei Erzählstränge

Es sind nur zwei Generationen, zwei Erzählstränge und zwei Frauen, auf die sich Raimondi in ihrem Buch kapriziert. Zwar ist der erzählerische Rahmen somit enger als der des drei Jahrhunderte umspannenden Debüts, dennoch weiß Raimondi auch diesen Rahmen mit viel Dramen, Beziehungschaos und Zeitgeschichte zu füllen.

Der Kalte Krieg oder die islamische Revolution im Iran finden sich mal direkter, mal indirekter im Roman wieder. Die immensen Veränderungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Welt und auch für die Figuren des Romans brachte, schildert Raimondi nachvollziehbar und mit dem Blick für das Große im Kleinen.

Gewiss: es mag in der Konzentration auf Dramen und Gefühle, Liebeschaos und Herzschmerz Einiges fehlen zur Weltliteratur eines Gabriel García Marquez. Auch erreicht sie in ihrem Blick auf die unterschiedlichen Frauen und ihre Schicksale nicht die Intensität, wie sie beispielsweise ihre Landsfrau Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett entfaltete.

Aber dennoch gelingt es Daniela Raimondi mit Das erste Licht des Sommers, ihren Kosmos um das Dorf Stellata und das Leben ihrer Figuren, das dort seinen Ausgang nahm, unterhaltsam und nie langweilig zu schildern. Hier entsteht fast so etwas wie ein literarischer Ort, den Raimondi mit ihren bisher erschienen Romanen in der Landkarte der italienischen Literatur einschreibt und für dessen Beschreibung sie schon jetzt eine stimmige Mischung aus Historie, Gefühlen, familiärer Verbundenheit mitsamt einer Prise Mystik gefunden hat.

Es bleibt spannend zu sehen, ob sie wieder nach Stellata zurückkehren wird, um die hier aufgegriffenen Fäden fortzuführen und welche Form sie für dieser literarischen Orts- und Menschenchronik im nächsten Roman wählen wird.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20289-6 (Ullstein)
  • 432 Seiten. Preis: 24,99 €

Adriano Sack – Noto

Sizilien als Sehnsuchts- und Trauerort. Adriano Sack erkundet in seinem Roman Noto die Landschaften der italienischen Insel und zugleich die Seelenlandschaften seines Helden, der einen Todesfall verwinden muss. Es entsteht so ein durchaus stimmiger Roman, dem man die oftmals exaltierten und prätentiösen Figuren am Ende gerne nachsieht.


Italien, altes Sehnsuchtsland. Seit jeher zieht es die Menschen in das Land, in dem die Zitronen blühen und in dem la dolce vita alle anderen Aspekte von organisierter Gewalt bis hin zum politischen Rechtsruck locker in den Schatten stellt. Adriano Sack fügt dieser Facette an Italiensehnsucht einen weiteren Roman hinzu und erzählt zugleich von zwei Figuren, die dieser Italiensehnsucht ebenfalls erlegen sind. Sie haben sich Sizilien als Hort ihrer Träume auserkoren.

Doch mit dem Traum von Italien ist es nicht weit her. Denn Adriano, der sich zusammen mit seinem Mann, dem Ich-Erzähler Konrad, ein Haus dort im Süden des Landes gekauft hat, ist verstorben. Und so bricht der Konrad trauerüberwältigt von seiner Wohnung nahe des Tiber in Rom nach Noto auf, um noch einmal zu jenem Haus zurückzukehren, das für seinen Mann und ihn Fluchtpunkt, Zuhause und Verwirklichung all ihrer Sehnsüchte war. Mit im Gepäck hat er einen Teil der Asche seines verstorbenen Partners, irgendwo auf der italienischen Insel will er diese noch verstreuen, um so Abschied zu nehmen.

Trauer in Sizilien

Während er zurückreist, mit der Autofähre nach Palermo übersetzt und sich auch mit dem Gedanken trägt, das gemeinsame Zuhause zu veräußern, drängen immer wieder die Gedanken an das Leben mit Adriano in seine momentane Trauer. Patenkinder, Bekannte und andere Expats, die dem Traum von Sizilien ebenfalls erlegen sind, besuchen Adriano und langsam entfaltet sich ein Bild des Lebens dort auf jener Insel, die an guten Tagen wie dem berühmten Roman Giuseppe Tomasi di Lampedusas nachempfunden zu sein scheint, wie Konrad einmal bemerkt. Ebenso wird auch die tiefe Liebe zwischen den beiden Männern offenbar, die in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander gefunden haben.

So gelingt dem Journalisten und Autor Adriano Sack ein Doppelporträt einer großen, queeren Liebe, und einer Hommage an Sizilien, das bei aller Faszination auch seine Schattenseiten hat. Waldbrände und Müllverbrennung im eigenen Garten, Korruption und Einfluss der Mafia sind nur einige Faktoren, die das Leben dort am Fuße des Ätna trüben.

Zu den Verdiensten von Noto zählt, dass der Roman all das in den Blick nimmt und so ein vielschichtiges Bild der Italiensehnsucht und den Kosten dieser Sehnsucht zeichnet. Auch den Prozess der Trauer und die Verarbeitung des Todes seiner großen Liebe Adriano zeigt Adriano Sack nachvollziehbar und glaubwürdig, indem er auch immer wieder einzelne Erinnerungen oder gegenläufige Stimmen des verstorbenen Partners einflicht und sich Konrad in seinen Erinnerungen verlieren lässt.

Katikatureske Figuren und Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm

Diese Stärken wiegen die manchmal schon karikatureske Zeichnung vieler Figuren auf, die von skurrilen Auftritten wie Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm am Ätna bis zur queeren CDU-Politikerin Annabelle von Gumppenberg reichen, auf deren reichlich dekadenter Hochzeit nicht nur Pasta mit wildem Fenchel und gehobelter Seeschnecke gereicht werden, sondern sogar ein Double von Mick Jagger auftreten darf.

Der belgische Starkoch hat es sich scheinbar einfach gemacht. Laut dem dem handgeschriebenen Hochzeitsmenü, das an jedem Platz liegt, gibt es Crudo di frutti di mare, als rohe Meeresfrüchte. Diese hier sind allderdings so frisch, dass Donatella dramatisch die Hand vor den Mund hält und ruft: „Oh my god. This is pure sex. I want to eat the chef! Grab him, wash him an bring him in my tent!“

Adriano Sack – Noto, S. 310 f.

Derartig überspannte Ausbrüche, Exaltierheit und prätentiöse Figuren und Gehabe gibt es in Noto reichlich. Sie alle werden aber auch immer wieder gebrochen und treffen auf durchaus amüsante Karikaturen wie etwa den an sich berauschten Großfeuilletonisten, der in seiner Hochzeitsrede während der schon erwähnten sizilianischen Vermählung seine eigene Belesenheit und Weltgewandtheit trefflich ausstellt, dafür aber den Anlass seiner Rede ebenso wie den Namen der Braut völlig aus dem Blick verliert.

Fazit

Komik und Tragik, Präzision und Überschwang, Sehnsucht und Flucht liegen in diesem Roman eng beieinander. Dem Journalisten Adriano Sack gelingt das Bild einer großen queeren Liebe und eine Hommage an das vielschichtige Sizilien. Und diesem Bild verzeiht man da die eine oder andere Karikatur auch gerne, besonders, da der Roman von Lizzo über Beyoncé bis zu den Pure Shores zudem einen exzellenten Soundtrack wachruft.


  • Adriano Sack – Noto
  • ISBN 978-3-312-01314-2 (Nagel & Kimche)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €

C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen

Gar nicht so paradiesisch, dieses Land Wo Milch und Honig fließen. In ihrem neuen Roman erzählt C Pam Zhang von einer Enklave reicher Menschen, die mit den Segnungen von Technologie und unermesslichem Reichtum die grassierende Klimakatastrophe überleben wollen. Die Arche Nova trifft dabei auf Spitzencuisine.


Diese Chuzpe muss man erst einmal haben. Denn obwohl ihr eigentlich die formalen Qualifikationen für einen mehr als exklusiven Job als Köchin fehlen, bewirbt sich die namenlose Ich-Erzählerin in C Pam Zhangs neuem Roman trotzdem auf die Stelle als Spitzenköchen für eine Forschungsgemeinschaft in den italienischen Alpen, wie es in der Anzeige heißt.

Der kreativ frisierte Lebenslauf macht es möglich, dass die Erzählerin auf den Berg dort im französisch-italienischen Grenzland eingeladen wird, wo sie für ihre Auftraggeber Menüs auf Spitzenniveau zubereiten soll.

Das Ganze stellt sich als reichlich paradoxer Job heraus. Denn während auf dem abgeschotteten Areal des Bergs sich eine Elite aus finanzkräftigen Investoren und Risikokapitalgebern zurückgezogen hat, um dort zu dinieren und scheinbar allen irdischen Sorgen enthoben die feine Lebensart zu genießen, ist die Welt am Fuß der Berge längst in Chaos und Monotonie versunken.

Kochen in der Klimakatastrophe

C Pam Zhang - Wo Milch und Honig fließen (Cover)

Ein Smog hat die Ökosystem vollständig zum Erliegen gebracht. Die Flora und Fauna verenden, das einzige Nahrungsmittel, das der Menschheit das Überleben sichert, ist Mungoprotein-Soja-Algenmehl. Die USA haben die Grenzen längst dichtgemacht und so sitzt die Erzählerin fern ihrer Heimat fest, als sie dann auch noch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter und der Zerstörung der eigenen Wohnung in Chicago erreicht. Inmitten dieser hoffnungslosen Lage ist es der Mut der Verzweiflung, die die Erzählerin zu einer Köchin dort droben auf dem Berg werden lässt.

So experimentiert sie zusammen mit Aida, der Tochter der Milliardärs und Enklavengründers, in der Küche diverse Genüsse aus, die aus den Zuchthäusern der Kolonie stammen. Zwischen Sinnlichkeit und Ekel bewegen sich dabei die Menüs, die sie ihren Gästen kredenzen. Exklusives Fleisch, sogar von schon ausgestorbenen Wollmammuts, Schildkrötenblut oder Pflanzen, die außer dem Land Wo Milch und Honig fließen schon längst verschwunden sind. An scheinbar nichts mangelt es dort oben auf dem Berg, auf den mithilfe der Menüs die reichen Geldgeber angelockt werden sollen, auf dass die Elite dort hoch droben am Berg noch exklusiver und finanzkräftiger werde.

Doch nicht nur mit Menüs soll die Erzählerin die Elite verwöhnen und unterhalten. Schon bald schlüpft sie in die Rolle der verstorbenen Gattin des Enklavengründers, um auch auf diesem Wege eine enge Bindung der Gäste an das wahnwitzige Projekt zu erzeugen Doch wie lange kann es funktionieren, etwas vorzugeben, das man nicht wirklich ist?

Dystopie und Climate Fiction mit biblischen Bezügen

Es ist eine spannende Mischung aus Dystopie, Climate Fiction und Arche Nova-Neudeutung, die C Pam Zhang in ihrem neuem Roman mischt. Die Abschottung der Reichen, der schon fast unverschämte Luxus, an dem auch die Erzählerin ihren Anteil hat, indem sie verschwenderisch mit Zutaten experimentiert und die exklusiven Kochergebnisse dann teilweise in die Schlucht auf dem Berg entsorgt, all das neben der im Hintergrund dräuenden Klimakatastrophe, das bildet den Spannungsbogen dieser Geschichte, die sich nicht nur durch den Titel auf die biblischen Erzählungen bezieht.

Schlussendlich nimmt Zhangs Erzählung auch Züge der biblischen Episode rund um die Arche Nova an, als sich der Milliardär zum modernen Noah berufen fühlt und für den Fortbestand der menschlichen Spezies eigene Auswahlkriterien anlegt, um diese mit sich in einem Raumschiff in ein neues gelobtes Land zu bringen.

Fazit

Mit Wo Milch und Honig bewegt sich Zhang in Nachbarschaft von T. C. Boyle, der sich jüngst in seinem Roman Blue Skies ebenfalls an einer Vorschau unseres möglichen Lebens und Arrangements mit der Klimakatastrophe versuchte – obschon bei Boyle der Himmel noch deutlich blauer ist als in Zhangs düsterer Dystopie. Auch weißt ihr Roman Anklänge an den Fatalismus und die Problemlösungsstragie aus Adam McKays Filmsatire Don’t look up auf.

Sicherlich keine leichte Lektüre, aber eine erschreckend plausible Vorausschau dessen, was uns schon in wenigen Jahrzehnten drohen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher in Sachen Umweltschutz, Abschottung, Raubbau an der Natur und Entkopplung der reichen Eliten von der Gesamtverantwortung für diese Welt. Paradiesisch wird das sicher nicht, wenn wir C Pam Zhang folgen!


  • C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen
  • Aus dem amerikanischen Englischen von Eva Regul
  • ISBN 978-3-10-397543-7 (S. Fischer)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens

Italienisches Tagebuch 1939/40

Beginnt er oder beginnt er nicht? In Iris Origos Tagebuch der Jahre 1939 und 1940 lässt sich die gespannte Lage kurz vor Kriegseintritt und die Konsequenzen nach der Mobilmachung aus Sicht der italienischen Landbevölkerung nachspüren. Nun hat der Berenberg-Verlag das Buch in der Übersetzung von Anne Emmert unter dem Titel Eine seltsame Zeit des Wartens auf Deutsch publiziert. Lektüre, die die Bedeutung des Kriegs unmittelbar erfahrbar macht.


Schreibe ich in der Einleitung von der Sicht der italienischen Landbevölkerung, dann ist das nur zum Teil richtig. Denn die Tagebuchschreiberin Iris Origo war zwar italienische Staatsangehörige, stammte aber ursprünglich aus Großbritannien und war mit einem begüterten Italiener verheiratet. Gemeinsam investierten sie ihre in die Ehe eingebrachten finanziellen Mittel in den Erwerb eines Landguts namens La Foce. Dieses in der Südtoskana gelegene Gut zeichnete sich vor allem durch die karge Umgebung aus, in der es sich befand. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung wollten die Origos das Land wieder urbar machen.

Aus diesem Hintergrund heraus erklärt sich auch die Sympathie, die Iris Origo anfänglich noch für den Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hegte. Dieser trieb unter dem Motto „Kampf für den Weizen“ die agrikulturelle Rückeroberung des kargen Landes voran. So profitierten auch die Origos von der Zuwendung der faschistischen Partei. Im Lauf der Zeit ist allerdings ein Wandel in der Wahrnehmung und Einstellung von Iris Origo feststellbar. Denn je näher der Krieg rückt, umso konkreter wird auch die Gefahr und die Bedrohung, was Origo zum Umdenken bewegt. Auch die Freundschaft mit einer antifaschistischen Familie sorgt für eine zunehmende Abkehr ihrer ursprünglichen Position.

Krieg zieht auf

Ihr Tagebuch widmet sich aus Sicht der Landbevölkerung dem aufkeimenden Zweiten Weltkrieg. Als begüterte, gebildete Frau mit besten Verbindungen hat sie dabei eine durchaus kosmopolitische Sicht auf die Dinge, die sich nicht nur in einer reinen Nabelschau der italienischen Verhältnisse erschöpft. Denn ihr Schwiegervater war nicht nur Bildhauer, sondern Freund des Dichter Gabriele D’Annunzio, der dem Faschismus unter Mussolini entscheidend den Boden bereitete. Ihr Patenonkel ist der US-amerikanische Botschafter in Rom, stets verkehrt Iris Origo unter Mächtigen der Republik.

Iris Origo - Eine seltsame Zeit des Wartens (Cover)

Insofern ist ihr Blick ein vielschichtiger. Sie erzählt von den Spannungen, die sich langsam auch unter der Bevölkerung breitmachen. Die Radioansprachen, die sich verdichtenden Zeichen, die auf Krieg stehen. Anschließend der Einmarsch Hitlers in Polen, der zum Auslöser des Zweiten Weltkriegs wird. Der Durchbruch an der Maginot-Linie, der Rückzu der Alliierten und die Eroberung Belgiens und Frankreichs, all diese zeitgeschichtlichen Themen bilden sich auch in Origos Eine seltsame Zeit des Wartens ab.

Dabei legt das Tagebuch davon Zeugnis ab, wie zwei Herzen in Origos Brust schlagen. Während ihr aktuelles Land Italien langsam aber sicher dem Kriegsbeginn entgegenschreitet oder taumelt, ist ihr Kopf auch stets bei den Entwicklungen in ihrem Heimatland England. Die aufkeimende anti-englische Stimmung, die verzweifelten Versuche der Diplomaten, den Krieg doch noch abzuwenden und die landläufige Meinung und Ressentiments der Landbevölkerung, ihr Tagebuch ist ganz nah dran an den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Der genaue Blick der Iris Origo

Origo erzählt von Presse, Propaganda und der großen Politik, die sich doch noch Hoffnung auf ein glimpfliches Ende des Konflikts macht, genauso von den expansionistischen Bestrebungen Deutschlands und dem sich verstärkenden Antisemtismus, der auf den Straßen offenbar wird. Aber auch die Vorzeichen des Kriegs im Privaten sind in ihrem Tagebuch immer wieder Thema.

Sie weiß aus erster Hand zu berichten, wie die Anzeichen des Kriegs nicht nur auf höchster politischer Ebene mehren, auch im letzten Winkel der Südtoskana liegt etwas in der Luft. So erweist sich die lange geplante Einfuhr eines Traktors, den Antonio für La Foce aus den USA importieren möchte, plötzlich als nicht zu überwindendes Hindernis. Auch sind es kleine Szenen wie die Notiz am 15. Mai, die einen Eindruck von der Geschwindigkeit und Macht jener Lawine gibt, die über der Welt niedergeht und die Menschen bis ins Innterste erschüttert.

15. Mai

Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens, S. 93

Es ist vielmehr Welthaltiges und dezidiert Politisches, das Iris Origo in ihren Tagebüchern der Jahre 1939 und 1940 umtreibt, denn persönliche Einblicke. So handelt sie nahezu im Vorbeigehen die Geburt ihres zweiten Kindes ab, erlaubt sich keinen Raum für Sentimentalitäten und erweist sich als genaue Beobachterin mit wachem Blick und offenen Ohren, die alle Schwingungen von den Regierungspalästen bis zu den Ackerschollen aufnimmt und beschreibt.

Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis

Zwei (in manchen Teilen fast etwas redundanten) Begleittexte in Form eines Nachworts von Iris Origos Enkelin Katia Lysy sowie einem Vorwort der Herausgeberin Lucy Hughes-Hallett begleiten das Werk, in dem auch die Übersetzerin Anne Emmert immer wieder hilreiche Verweise zu auftretenden Personen oder Ausrufen einfügt.

Hier lässt sich unmittelbar erlesen und erfahren, wie es gewesen sein muss, als plötzlich der Krieg vor der Tür stand und der ganze Kontinent in den Abgrund „schlafwandelte“, wie es Origo an einer Stelle formuliert. Dem Berenberg-Verlag gelingt hiermit die Entdeckung eines Werks der Zeitgeschichte, dessen Verfasserin mit feinem Sensorium auf die Druckunterschiede auf dem Kontinent reagiert. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis und ein Tagebuch, das besonders durch die kleinen und ruhigen Momente besticht

So schlicht wie nahegehend ihr Befund vom 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsbeginn:

Nach wie vor keine neuen Nachrichten, daher fuhren wir gestern Abend aufs Land zurück. Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens. S. 55

  • Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-949203-07-7 (Berenberg)
  • 136 Seiten. Preis: 22,00 €