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Romain Gary – Europäische Erziehung

Unter großen Entbehrungen entstanden, lange Zeit vergriffen liegt Romain Garys Antikriegsroman Europäische Erziehung nun endlich in einer deutschen Neuübersetzung durch Birgit Kirberg vor und lässt sich wieder entdecken. Darin erzählt Gary vom Widerstand polnischer Partisanen während des Zweiten Weltkriegs, vom Überleben und der Kultur, die uns zu Menschen macht.


Waldler, so werden die Partisanen, die sich in den Wäldern Polens eingegraben haben, von den deutschen Besatzern genannt. Auch in den Wäldern rund um die polnische Stadt Sucharki haben sich Waldler verschanzt, um Widerstand zu leisten. Juden, Ukrainer, Polen, sie alle eint der Kampf gegen die Besatzer, die in Form der SS-Division mit dem Namen „Das Reich“ über ihre Heimat gekommen ist.

Eigentlich für den Kampf um Stalingrad vorgesehen halten diese Soldaten nun die polnischen Dörfer besetzt und entführen und ermorden immer wieder Frauen, Alte und andere Dorfbewohner, um den Widerstand der Waldler endgültig zu brechen. Doch mit der Kraft der Verzweiflung harren diese so unterschiedlichen Männer gemeinsam weiterhin in den Wäldern aus und ertragen Kälte, Entbehrung und Einsamkeit, um ihr Ziel der Vertreibung des Feindes nicht aufgeben zu müssen.

Partisanen im Wald

Romain Gary - Europäische Erziehung (Cover)

Auch der junge Janek Twardowski kommt in Kontakt mit den Waldlern, als er von seinem Vater kurzerhand in einer Höhle dort in der Nähe der Partisanen versteckt wird. Nach einer ersten Kontaktaufnahme wird der Junge immer wichtiger für die Partisanen, da dieser als Bote zwischen dem besetzten Dorf und den Widerstandskämpfern agiert.

Und so lernt er die Bevölkerung des nahen Dorfes besser kennen, wo Väter und Mütter um ihre Kinder im Widerstand bangen und sich einheimische Kollaborateure ebenso wie Deutsche finden.

Auch werden die in den Wäldern hausenden Partisanen mit dem Voranschreiten der Zeit immer unterscheidbarer für ihn. Da ist der alte, aus der Ukraine stammende Krylenko, dessen Sohn es zum General bei der Roten Armee gebracht hat, was seinen Vater aber trotzdem nicht mit Stolz erfüllt. Er macht die Bekanntschaft mit Juden wie Yankel Cukier, der sich ins benachbarte Vilnius davonschleicht, um dort mit der Gemeinde anderer versteckter Juden Gottesdienst zu feiern oder lernt die Zborowski-Brüder, die in Sachen Widerstand wenig zimperlich vorgehen.

Sie alle lernt Janek kennen ebenso wie die junge Zosia, die sich im Auftrag der Waldler bei den Deutschen prostituiert, um so an wichtige Informationen zu gelangen. Mit ihr verbindet Janek schon bald eine Romanze, die der allgegenwärtigen Not, Gewalt und Kälte das Mittel der Liebe entgegensetzt. Doch Unschuld hat in Zeiten des Kriegs keinen allzu langen Bestand. Und so bleibt auf Janek vor der Brutalität des Krieges nicht verschont und muss erkennen, dass man im Krieg zugleich Opfer als auch Täter sein kann.

Widerstand, Leid und die Kraft von Kultur

Vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad erzählt Europäische Erziehung vom Widerstand der Partisanen und vom Leid, das die Deutschen über die polnische Zivilbevölkerung brachten. Romain Garys Buch erzählt aber auch vom Überleben und der Kultur, die Kraft und Zuversicht spendet.

Immer wieder flüchtet sich Janek in Winnetou-Lektüren und schöpft Kraft, wenn die Musik des polnischen Komponisten Chopins erklingt, mal auf einem Klavier im besetzten Dorf dargebracht, mal über einen Transistorradio in einem der Erdlöcher der Partisanen abgespielt.

Besonders der junge Partisan Dobranski und dessen Literaturbegeisterung wird zu einem Orientierungspunkt, und das nicht nur für Janek. So dichtet Dobranski und arbeitet an einem Werk, das den Titel Europäische Erziehung trägt. Denn obschon die aktuelle europäische Erziehung eine der Gewalt und Entmenschlichung ist, so ist es doch Dobranski, der dieser die Werte von Brüderlichkeit, Kultur, Zivilisation und Frieden entgegenhält.

Die Europäische Erziehung als Ziel

Mal surreal, mal tragisch sind die Episoden, die er bei den abendlichen Runden der Partisanen als Lesung zu Gehör bringt, wodurch Romain Garys Roman nicht nur eine zweite literarische Ebene erhält, sondern eben auch von Hoffnung, Aufklärung und Humanismus inmitten allen Leids kündet.

Er blieb stehen, mitten im Schnee, der ihnen bis zu den Knien reichte, hob er den Blick und fing an zu sprechen. Er sprach von Freiheit und Freundschaft, von Fortschritt und Frieden, von Brüderlichkeit und umfassender Liebe; er sprach von den Völkern, die vereint sind in ihrer einmütigen Mission, dem Versuch, dem Leben sein Geheimnis, seinen Sinn abzuringen; er sprach von Kultur und Kunst und von Musik, er sprach von Büchern, und er sprach von Schönheit… Es war, als spräche er nicht, nein, er sang, fuhr es Janek durch den Kopf; wie er da im Schnee stand, in seinem schwarzen offenen Ledermantel über der Militärjacke, mit seinem Koppel, den schmalen Schultern und den leuchtenden Augen, die eine solche Hoffnung, eine solche Freude auf sein schönes Gesicht zauberten, dass er strahlte; er gestikulierte mit hoch erhobenen Armen, mit einer solchen Begeisterung, dass Janek den Kontrast zu den in gefühlskalter Starre und Feindseligkeit verharrenden Bäumen beinahe lustig fand. Dobranski sprach nicht, er sang.

Romain Gary – Europäische Erziehung, S. 210 f.

Mit dem jungen Dichter Dobranski, der inmitten von Erschießungen, Überfällen und Mangel im bitterkalten Winter in den Wäldern Polens noch Zeit für Poesie und Prosa findet, verbindet den 1914 in Vilnius geborenen Romain Gary das fieberhafte Schreiben und das Festhalten an der Kraft des Wortes inmitten des Kriegs.

Denn Gary verfasste Europäische Erziehung während seiner Zeit im Zweiten Weltkrieg nachts, wo er bei der Luftwaffe diente. Der als Roman Kacew geborene Gary schrieb in der Nacht auf dem Schlachtfeld, während seine Kameraden schliefen und er in Handschuhen an seinem Text arbeitete, um ihn dann auf dem Stützpunkt seines Geschwaders auf der Schreibmaschine abzutippen, ehe es dann in den Morgenstunden per Fahrrad wieder zu seinen Kameraden zurückging, wo die Kampfhandlungen dann wieder fortgesetzt wurden, ehe er sich wieder an die Arbeit an seinem Text machen konnte, wie die Übersetzerin Birgit Kirberg in einem Interview zum Roman erläutert.

Fazit

Diese Mühe, unter der Romain Gary dem Krieg den Roman abrang, sein Blick auf den Schrecken vor Ort im Osten, der in den Literatur hierzulande sowieso zu wenig Platz einnimmt und dazu noch die entschiedene Hymne auf Kultur, die eine Besserung der Verhältnisse bewirken kann, all das macht Europäische Erziehung zu einem starken Stück Literatur, das auch achtzig Jahre nach seiner Veröffentlichung in Frankreich unbedingt lesens- und bedenkenswert ist, jetzt vielleicht sogar wieder mehr denn je.

Der Übersetzerin Birgit Kirberg und dem herausgebenden Wagenbach-Verlag ist damit ein echter Coup gelungen, der das Werk dem Vergessen entreißt und dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist, damit diese so wichtige Arbeit belohnt wird. Es würde sich lohnen!


  • Romain Gary – Europäische Erziehung
  • Aus dem Französischen von Birgit Kirberg
  • ISBN 978-3-8031-3378-6 (Wagenbach)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €
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Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit

Schicksale am Fuße des Dente del lupo. In ihrem mit dem diesjährigen Premio Strega ausgezeichneten Roman Die zerbrechliche Zeit erzählt Donatella di Pietrantonio von prägenden Erlebnissen auf einem Campingplatz in den Abruzzen, die in einer Mutter durch die Heimkehr ihrer Tochter wieder wachgerufen werden.


Dente del lupo, Wolfszahn, so wird der Berg in den Abruzzen geheißen, der in Donatello di Pietrantonios Buch alles überragt. Am Fuße dieses Berges liegt ein Grundstück, das der Vater seiner Tochter Lucia überschreiben will. Früher befand sich auf dem Grundstück ein Campingplatz, nun aber hat die Natur dort am Berg mit der Rückeroberung des Gebiets begonnen. Längst haben die Schäfer und ihre Herden dem Dente del lupo wieder einen Lebensraum abgetrotzt und beweiden Flächen dort oben. Eine Schärfe besitzt der Berg aber immer noch, wenngleich eher in psychologischer Hinsicht. Denn einst schlugen Ereignisse dort oben Wunden in Lucias Seele, die im Lauf des Romans wieder aufbrechen.

Denn nicht nur, dass ihr Vater ihr das fragliche Grundstück mit den Überresten des Campingplatzes vermachen will. Auch ihre Tochter Amanda ist auch Mailand heimgekehrt, kurz bevor die Corona-Pandemie das ganze öffentliche Leben zum Erliegen brachte.

Rückkehr zum Dente del lupo

Ich habe sie zu viel allein gelassen in der Großstadt. Bei ihrer Rückkehr war sie eine andere. Ich glaubte, sie sei von ihren neuen Freundschaften in Anspruch genommen, aber sie existierten nur in meiner Fantasie.

Nach ihrer Abreise füllte ich meine Tage mit Patienten, suchte in der Arbeit Betäubung. Daheim kam zu der kalten Hälfte des Ehebetts Amandas leeres Zimmer. Sie waren im Abstand von wenigen Monaten gegangen, Vater und Tochter. Mein Mann, unser Kind. Im November habe ich den Heizkörper abgestellt und die Tür des Zimmers, in dem sie aufgewachsen war, geschlossen. Habe mich dem Winter gestellt.

Sie muss frei sein, sagte ich mir, deshalb bestieg ich keinen Zug. Innerlich fühlte ich mich schwach, beschränkte mich auf die Alltagsdinge, mehr wagte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie sag, wie es mir ging. Ich habe die Angst gezähmt, die ich um sie hatte. Ein Ort, den sie sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihr nichts Böses tun.

Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit, S. 65

Langsam versucht Lucia zu ergründen, was Amandas Heimkehr und ihre charakterliche Veränderung verursacht hat. Die Suche nach den auslösenden Momenten fördert dabei auch aus Lucias eigener Jugend Erinnerungen zutage und bringt Dinge zum Vorschein, die vor allem mit dem Campingplatz zu tun haben, auf dem Lucia einst ihre Sommer verbrachte.

Das Leben von Mutter und Tochter

Donatella di Pietrantonio - Die zerbrechliche Zeit (Cover)

In zwei Rückblenden verschränkt di Pietrantonio das gegenwärtige Leben von Mutter und Tochter mit dem Sommer vor vielen Jahren, als ein Vorfall im Dorf für Aufsehen sorgte und der Erinnerungen an Fälle männlicher Gewalt wachruft. Diese Gewalt, sie dauert an und setzt sich wie ein Kontinuum bis zum heutigen Tag fort – und das nicht nur in Italien, sondern auch in unserer Gesellschaft. Liest man Die zerbrechliche Zeit, werden Assoziationen geweckt, etwa jüngst an die grauenvollen Ereignisse, die zwei amerikanischen Touristinnen nahe Schloss Neuschwanstein widerfuhr.

Donatello di Pietrantonios Roman öffnet den Raum für derlei Themen und Gedanken. Es ist ein präziser Roman, in dem die schreibende Kinderzahnärztin Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und verknotet – und langsam wieder entspinnt. Das erfordert ein langsames und genaues Lesen, denn Die zerbrechliche Zeit ist gesättigt von Atmosphäre und Schwebungen, die zwischen den Charakteren und den Zeilen herrschen (übersetzt von Maja Pflug).

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

„Es geht nicht nur um das, was du siehst“. Dieser Satz, den Lucias Vater bei der Begehung des familieneigenen Besitzes auf dem Berg äußert, er lässt sich auch auf Pietrantonios Roman übertragen. Denn die äußere Handlung in der Gegenwart ist alles andere als spektakulär, vielmehr geht es um das Innere, um Seelenlandschaften und die Gefahren, die sich Frauen heute wie einst ausgesetzt sehen.

Filigran und durchdacht werden die Themen von di Pietrantonio in einen genauen Erzählton gekleidet, was mich persönlich in einigen Passagen an das ebenfalls so verdichtete Erzählen Maja Haderlaps erinnerte. Mit Sinn für Verletzlichkeit, Präzision und einem Fokus auf den Auswirkungen von Gewalt erzählt Die zerbrechliche Zeit von einer Mutter und Tochter und arbeitet Erinnerungen und kontinuierliche Gewalt als Themen des Romans gekonnt auf.

Die Auszeichnung mit dem Premio Strega ist mehr als gerechtfertigt, vor allem in einer Zeit, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung nicht nur in Italien sondern weltweit in Gefahr geraten und die Gesellschaft in alte, patriarchale Rollenmuster zurückzufallen droht. Hier braucht es Romane wie den von Donatella di Pietrantonio, um aufzurütteln, zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Dass die Autorin dabei nicht nur mit der Relevanz ihres Themas sondern auch der literarischen Ausgestaltung überzeugt, macht Die zerbrechliche Zeit noch einmal wertvoller!


  • Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit
  • Aus dem Italienischen von Maja Pflug
  • ISBN 978-3-95614-621-3 (Kunstmann)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück

Von einer Familie kommt Anne Rabe in ihrem Debütroman Die Möglichkeit von Glück auf einen ganzen Staat und dessen Nachwirkungen, nämlich die DDR. Deren Nachwirkungen und den Wechselwirkungen von Staat und Bewohnern spürt dieser Roman mit schon fast essayistisch-soziologischen Zügen nach. Vom Kleinen kommt die Autorin so auf das Große – und zielt mitten hinein in unsere Gegenwart.


35 Jahre nach dem Mauerfall beziehungsweise der Wende gibt es wieder einen Boom an Texten und Analysen, die sich mit dem Osten Deutschlands und der Geschichte der DDR beschäftigen. Unlängst wurde Jenny Erpenbeck für ihren Roman Kairos der International Booker Prize zugesprochen – zum Erstaunen einiger Kommentatoren hierzulande. So war dieses Buch bei Erscheinen hierzulande für keinen der großen und aufmerksamkeitsstarken Preise, weder den Preis der Leipziger Buchmesse noch den Deutschen Buchpreis nominiert worden, traf aber nun international den Nerv der Kritikerjury.

Viel Aufmerksamkeit und mindestens ebenso viel Tadel fing sich auch die Historikerin Katja Hoyer mit ihrem Blick auf die DDR unter dem Titel Diesseits der Mauer – eine neue Geschichte der DDR ein. Und dem Germanisten Dirk Oschmann gelang mit dessen Erregung Der Osten – eine westdeutsche Erfindung ein veritabler Longseller, der dem Autor auch viel medialen Raum gab, um seine Thesen zu verbreiten.

Vom aktuellen Boom abgesehen ist die literarische und soziologische Beschäftigung mit dem untergegangenen Staat bis hin zu den Auswirkungen der Wiedervereinigung aber eine dauerhaftes. Oft sind es Bücher mit DDR-Bezug, die beim Deutschen Buchpreis gewinnen (man denke nur an Uwe Tellkamps Der Turm oder Kruso von Lutz Seiler).

Biografisch grundierte Blicke auf die DDR

Auch in Sachen Sachbuch erregt die Beschäftigung mit der DDR viel Aufmerksamkeit, etwa Steffen Maus Untersuchung des Lebens in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, das er 2019 durch die biografische Brille betrachtete. Der vielbesprochene Titel trug jenen Ort im Namen. in dem Mau selbst einst in der DDR aufgewachsen war, nämlich der Rostocker Stadtteil Lütten Klein. Und auch Ines Geipel blickte im selben Jahr biografisch gefärbt auf die DDR und ihre Nachwirkungen, indem sie in Umkämpfte Zone auch die eigene Biografie und Familiengeschichte als Anlass nahm, um mithilfe der Geschichte ihres Bruders auf den Osten und den Hass zu blicken, der sich dort nicht nur in Progromen wie dem von Hoyerswerda oder in Rostock Bahn brach und immer wieder bricht.

Oftmals werden solche Bücher auch als Erklärstücke für die latente Fremdenfeindlichkeit, die Tendenz zu autoritären Regimen und mehr gelesen. Auch Anne Rabes Buch, das mit Ines Geipel nicht nur die Herangehensweise über eine Familie, sondern auch den herausgebenden Klett Cotta-Verlag teilt, funktioniert neben dem erzählerischen Inhalt auch ein Stück weit als Erklärstück für jenen Landesteil, indem es ein Viertel aller Wähler bei einer Landratswahl vertretbar fand, einen einschlägig bekanntem Neonazi die Stimme zu geben.

Was da los im Osten sei ist eine Frage, die die Medien gerne stellen. Wer Die Möglichkeit von Glück gelesen hat, kann das zumindest ein wenig besser beantworten.

Ausgangspunkt ist wieder einmal eine Familie, die auf ihre ganz eigene Art unglücklich ist. Stine, die Erzählerin, blickt in diesem in Erinnerungs- und Betrachtungsfetzen erzählten Text auf ihre eigene Familie, in der die Lieblosigkeit zu einer hervorstechenden Eigenschaften zählt.

Zwar war die Mutter in der DDR Erzieherin, mit den heutigen pädagogischen Konzepten von Bedürfnisorientierung und Kindeswohl hatte die Erziehungsschule der Mutter aber überhaupt nichts gemein. Schläge, Lieblosigkeit, Sprechverbote und Gewalt waren Mittel, derer sich ihre Mutter bediente und die das Aufwachsen von Stine und ihrem Bruder Tim kennzeichneten.

Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir übere unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.

Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück, S. 26

Von der Lieblosigkeit in der eigenen Familie bis zu den Baseballschlägerjahren

Nun, da Stine selbst Mutter ist, blickt sie auf ihre eigene Kindheit, die Familie und die mannigfaltigen Brüche in diesem familiären Verbund. In Rabes Roman lässt sich eine glaubwürdige Linie ziehen von der Lieblosigkeit in der eigenen Familie über physischen und vor allem psychischen Schmerz in der Schulzeit bis hin zur omnipräsenten Gewalt der Baseballschlägerjahre. Auch der erste Amoklauf auf deutschem Boden, der sich 2022 an einer Schule im thüringischen Erfurt ereignete, fügt sich konsequent in Stines Nachdenken über die Verletzungen, die sie und mit ihr so viele andere Menschen in diesem System namens DDR erlitten haben.

Es sind solche Reflektionen und Erinnerungen, die verdichtet und verklebt die Stärke dieses Textes ausmachen.

Durch die Recherche über ihren eigenen Großvater in Archiven und Stasi-Unterlagenbehörden findet auch so etwas wie ein dramatischer Bogen und eine Entwicklung in diesen Text, den vor allem die starke Introspektion kennzeichnet. Die Verletzungen und Gewalterfahrungen im Kleinen werden hier auch zum Erklärmuster für einen Staat im Ganzen, der von der Bespitzelung der eigenen Bürger bis zur Inhaftierung von nicht-systemkonformen Bürger und Erschießung von Fluchtwilligen keine Unterdrückungsmöglichkeit ausließ.

Fazit

Mit diesem von Erinnerungssplittern und Erkenntnis gespickten Roman mit geschichtlich-soziologischer Tiefe gelingt es Anne Rabe, so etwas wie ein Bindeglied zwischen der Belletristik und den schon erwähnten Arbeiten etwa von Steffen Mau oder Ines Geipel herzustellen. Ein Roman, der auf interessante Art und Weise den Verletzungen einer Familie und deren Kind nachspürt, der in Zeiten des Erstarkens rechter Kräfte besonders im Osten Erkläransätze liefert und der sich nicht mit einfachen Wahrheiten begnügt.

Dass Anne Rabe mit diesem Debüt gleich für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert war, das ist folgerichtig, denn hier lässt eine Autorin zwar ihre Heldin zurücklicken, dieser Blick ist aber zugleich auch einer, der nicht nur die Brüche einer Familie und eines Staates nachzeichnet, sondern eben auch von hoher Aktualität und analytischer Kraft ist.


  • Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück
  • Büchergilde-Nr.: 175223
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht

Das Kino als Fluchtpunkt und als Errettung aus aller Trübnis und Not – Florian L. Arnold erkundet das in seinem neuen Roman Das flüchtige Licht und findet für die Welt des Films überzeugende literarische Bilder. So gelingt ihm eine Hommage an das Kino, die Stadt Rom und die Freundschaft der Kindertage, deren unterschiedlicher Facetten er in seinem Roman nachspürt.


Viel ist schon über Rom geschrieben worden und immer wieder ist der Ewigen Stadt auch in Filmen ein Denkmal gesetzt worden. Das reicht von den Kinoarbeiten Fellinis und Viscontis bis hin zu Paolo Sorrentino, der in La grande bellezza der römischen Hauptstadt ein Oscar-gekröntes Filmwerk widmete.

Der Ulmer Autor Florian L. Arnold erschafft aus der Arbeit all dieser Regisseure nun eine literarische Synthese über den Mythos Rom. Das Ganze verbindet er mit einer Hommage an das Kino und dessen lebensrettende Kraft.

La grande infanzia

Zunächst fühlt sich dabei alles wie in einem surrealen Gemälde von Giorgio de Chirico an. Eine Gruppe von Kindern wächst in einem rätselhaften Viertel einer nicht näher benannten Stadt auf, deren verwinkelte Gassen und Häuser die Kinder durchstreifen. Arnolds selbst gestaltetes Cover greift diese eigentümliche Stimmung jener Stadt auf, in der Spucino, Elio, Gianni und Aurelio eine verschworene Freundesgruppe bilden.

Florian L. Arnold - Das flüchtige Licht (Cover)

Auch der auch der rothaarige Enzo hätte gerne Zugang zu dieser Bande. Doch der „Junge mit dem Faunsgesicht“ ruft bei den anderen Kindern nur Ablehnung und Spott hervor. Nicht nur aufgrund seines Halbwaisen-Status wird er von den anderen Kindern gehänselt und mit abschätzigen Bezeichnungen wie „Das Gerippe“ oder „Der Zwerg“ versehen. Sogar bis hin zu Wünschen nach dem Tod Enzos reicht die Palette kindlicher Bosheit und Niedertracht.

Eines Tages verschwindet Enzo dann tatsächlich aus diesem Teil der Stadt, um durch Zufall in die Dreharbeiten eines Films des „Monsignore“, eines berühmten Regisseurs, zu stolpern. Dieser erkennt in Enzo das fehlende Puzzlestück für seinen Kinofilm Legenda, für den er den Jungen kurzerhand besetzt. Nicht nur für den Regisseur eine Fügung, sondern auch für Enzo ein Erweckungserlebnis, ist er doch von dieser magischen Welt des Films und seiner Erschaffer wie verzaubert.

Cinema paradiso

Aber nicht nur Enzo ist von der Welt des Films wie verzaubert. Auch für Gianni wird im Erwachsenenalter die Welt der Lichtspielhäuser zu dem Ort, an dem er sich am lebendigsten fühlt. Dort in der Welt der Filme findet er das, das ihm in der realen Welt nicht bieten kann.

Jeder ging ins Kino, das war nichts Außergewöhnliches, jedoch: Keiner kam so zerbrochen, verformt, mit Träumen angefüllt wieder heraus wie er. Im Kino war alles ohne Vorsicht und ohne Scham, dort war er der Liebende, auf der Leinwand sah er die eigenen Gefühle, erkundete er erschüttert und oft erstaunt seine Untiefen, seine Empfindungen, die er draußen, im zweidimensionalen Raum seines Lebens, nicht kannte. Manchmal kam er beruhigt aus dem Kino, weil er dort eine flüchtige Zärtlichkeit für andere Menschen empfunden hatte, während er draußen, im Ernst des Lebens, noch nicht einmal eine echte erste Liebe gefunden hatte, nun, da er vierunddreißig war.

Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht, S. 70

Der Cineast wird zum Filmjunkie, abhängigen von der Welt des Zelluloids. Manisch sucht er die unterschiedlichsten Kinos auf, wo er dann zufällig auf die Spur seiner eigenen Vergangenheit gerät, als er eines Tages auf der Leinwand einen rothaarigen Schauspieler erkennt, den er aus seiner eigenen Kindheit noch so gut kennt.

Lichtspiel

Nicht nur hier fallen Illusion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Mit harten Schnitten und einer collageartigen Erzählweise montiert Arnold die Leben und Themen seiner Figuren zusammen. Der Monsignore als großer Bilderdenker und noch vielmehr als Menschenlenker. Enzo als Ruheloser, der für die Welt des Kinos und des Films alles gibt, um dem Monsignore und vor allem Luisa nahezusein, die er bei den Dreharbeiten kennenlernte. Gianni und dessen farbloses Leben, das erst im Kinosaal wieder an Farbe und Tiefe gewinnt. Vor allem aber sind es auch die Träume der Kindheitstage, die seit dem Aufwachsen in den verwunschenen Gassen des Stadtviertels zerstört wurden und die nur noch in Filmen auf der Leinwand Bestand haben.

Überhaupt, die Läufe des Lebens, sie sind auch ein Motiv dieses Romans. Von der Verschworenheit der Kinderbande bis hin zur Entfremdung im Erwachsenalter, als man sich aus den Augen verloren und sich die Lebenswege gabelten, die hin zu so unterschiedlichen Karrieren als Angestellter, Filmstar, Clown oder Autohändler führten, Arnold zeichnet all das in seinem Roman manchmal skizzenhaft, dann wieder in präzisen Nahaufnahmen nach.

Das flüchtige Licht ist ein Gesamtkunstwerk, das in seinen unterschiedlichen Erzählsträngen, lyrischen Kurzaufnahmen und Spots, Zeichnungen des Autors, der verbindenden Sprachmacht und den unterschiedlichen Perspektivwechseln viele Elemente zu einem stimmigen Ganzen findet.

Fazit

Arnolds Roman funktioniert als Verneigung vor einem Rom, das sich als Kunstmotiv schon lange von der Wirklichkeit entkoppelt hat, wie auch vor dem Leben und dessen Überraschungen, das es für uns alle bereithält. Das flüchtige Licht spürt der Verzauberung der Welt nach, gibt der Entzauberung der Welt aber ebenso Raum. Denn so wie das Licht auf der Leinwand tanzen und uns in anderen Welten entführen kann, ebenso flüchtig ist dieses Licht doch auch. Es kann verschwinden und Menschen im Dunkeln zurücklassen.

Das zeigt dieser Roman gekonnt und gleicht damit einem guten Arthaus-Film. Nicht alles erschließt sich sofort, manches wird man auch erst bei einer zweiten Lektüre entdecken. Aber so schenkt dieser Roman neue Perspektiven und erzählt von der Kraft der Träume und der Fantasie, vom Kino und Kindheit – und nichts weniger als von dem Zauber, der von Filmen ausgehen kann. So gelingt Arnold der eine gelungene stilistische und inhaltliche Synthese, die Lust macht, nach der Lektüre schnellstmöglich Rom oder mindestens ein gutes Kino in der Nähe aufzusuchen.

Eine weitere Meinung zu Das flüchtige Licht gibt es auf dem Blog Begleitschreiben.


  • Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht
  • ISBN 978-3-947857-20-3 (Mirabilis)
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €
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Vicente Valero – Krankenbesuche

Die Ferieninsel Ibiza dürften wohl die wenigstens mit dem Topos der Krankheit und des Siechtums in Verbindung bringen. Und doch siedelt der Spanier Vicente Valero seine Erzählung Krankenbesuche auf ebenjener Insel an und erzählt aus Sicht eines zehnjährigen Jungen von den Kranken und verschränkt dabei Kindheit, Sonneninsel und moribundes Siechtum auf überzeugende Art und Weise


Schon seit langem hat sich der kleine Berenberg-Verlag auf die Herausgabe dünner Preziosen spezialisiert, die mal in Chile, mal in Palästina oder in Deutschland spielen, und die meist zumeist ihre Perspektive eint. Oftmals wird aus der Sicht der Unterschätzten, der Kinder und anderen Underdogs erzählt und deren Sicht auf die Welt in den Blick genommen. Krankenbesuche macht da keine Ausnahme

Vicente Valero - Krankenbesuche (Cover)

Hier ist es der namenlose Erzähler, der zurück in sein zehnjähriges Ich schlüpft und von seinem Aufwachsen auf der Sonneninsel Ibiza im Jahr 1973 erzählt. Seine Mutter bestreitet auch nach dem Tod der eigenen Mutter weiterhin viele Krankenbesuche bei Bekannten und nimmt dafür stets den eigenen Sohn mit, den die Zusammenkünfte am Krankenbett oder Nebenzimmer wechselweise anöden und elektrisieren.

Während die Erwachsenen bei Dessertwein und Knabbergebäck palavern und dem eigentlichen Anlass des Besuchs, den Kranken selbst, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zukommen lassen, ist der Junge von dieser Welt so manches Mal fasziniert. Ärzte, die mit ihren Doktorenkoffern bei den Kranken die Aufwartung machen und deren Ansehen zwischen Göttern in Weiß und Kurpfuschern schwankt. Und die Patienten selbst, die manchmal eine wundersame Auferstehung feiern – oder aber überraschend schnell aus dem Leben scheiden.

Häuser, Diktatoren, Kranke – alles bröckelt

Die Feuchtigkeit und der Salpeter setzten den Häusern zu, nicht nur im Hafenviertel, sondern auch in der Altstadt, und ebenso im neuen Teil, dessen moderne Gebäude aus schlechtem Material errichtet worden waren. Wir lebten nun einmal mitten im Meer, auf einer Insel, und die Winter dort umhüllten uns mit ihrer salzigen und kalten Luft, ihrer regenschweren Musik, ihren dunklen Nebeln. Wo der Putz abbröckelte, setzte sich der Schimmel fest, und in den Ecken der Zimmerdecken bildeten sich schwärzlich-grüne Flecken, die man für schmutzige verlassene Nester hätte halten können. Wie saurer Schaum drang über Nacht zähflüssig-stockender Salpeter aus den Mauern, als überzöge sich eine Wunde mit Eiter.

Vicente Valero – Krankenbesuche, S. 21

Alles auf dieser Insel ist irgendwie bröckelig. Die Hausmauern und Bauruinen, die vom Meereswind angegriffen werden, der sieche Diktator Franco, dessen starke Hand so stark nicht mehr ist, die Buchseiten, die sich aus dem Büchern lösen – und natürlich die Patientinnen und Patienten in den Krankenbetten.

Vielleicht manchmal etwas überdeutlich

Manchmal vielleicht etwas überdeutlich beschreibt Vicente Valero diese Welt des Zerfalls, der immer und überall auf der Insel ist. Aber es gibt auch Abwechslung vom omnipräsenten Zerfall. Denn die Ankunft einer französischen Familie verheißt dem jungen Erzähler Abwechslung in seinem Lebensrhythmus, der bis hierhin durch Krankenbesuche und Schule strukturiert war.

Guillaume ist mit seiner Schwester und der gesamten Familien aus Toulouse in Frankreich auf die Insel übergesiedelt, wo der Großvater seine letzten Wochen genießen soll. Einst lebte der Großvater mit seiner Familie in hier Spanien, floh dann aber vor dem Krieg nach Frankreich, wohin er nun im Frühjahr des Jahres 1973 zurückkehrt, um als Kranker seinen Lebensabend zu genießen.

Mit Guillaume, aus dem schnell Guillermo werden soll, schließt der Erzähler Freundschaft, erlebt die typischen Kinderabenteuer (Fußball auf Brachflächen, gefährliche Rettung des Spielgeräts) und bekommt es in der Schule mit einem höchst unkonventionellen Lehrer zu tun, der das Leben des Jungen nachhaltig prägt. Doch auch in der Schule sind Krankheit und Tod präsent – und so bleibt das Siechtum ein steter Begleiter auf dem Lebensweg des kindlichen Erzählers.

Ibiza fernab aller Klischees

Mit Krankenbesuche gelingt Vicente Valero ein in sich stimmiges Büchlein über eine Kindheit auf Ibiza, die konsequent alle Klischees meidet. Hier ist nichts mit Cocktails am Meer, Sonnenbrand und Sandstrand, stattdessen besticht das Buch durch einen ungeschönten Blick auf die Insel der Balearen vor allen in den späteren Jahren folgenden Tourismusexzessen.

Vicente Valero erzählt höchst vielfältig vom Siechtum und den manchmaligen Auferstehungen der Kranken konsequent durch die Brille eines Kindes. Wenn man Krankenbesuche liest, fühlt man sich selbst wieder wie ein kleiner Besucher im Krankenzimmer, der vor lauter Beinen der Erwachsenen kaum zum Blick auf den Kranken kommt. Die verwirrenden Rituale der Erwachsenen, die sich nicht immer erschließen, die Freiheiten der eigenen Kindheit und Jugend – und nicht zuletzt das Siechtum und der Tode – es ist alles drin in diesem Buch (übersetzt von Peter Kultzen).

Fazit

Wieder einmal präsentiert der Berenberg-Verlag ein Kunstwerk, das durch Gehalt und Perspektivwahl überzeugt. Nach seinem im vergangenen Jahr erschienen Werk Schachnovellen ist hier wieder ein tolles Buch von Vicente Valero zu entdecken, in dem er zurück ins Jahr 1973 nach Ibiza entführt, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt in die Klischeefalle zu tappen. Ein schöner Beitrag aus dem diesjährigen Buchmesse-Gastland Spanien, das vielleicht nicht für den Besuch im Krankenhaus das ideale Mitbringsel ist. Aber für alle anderen Begegnungen mit literarisch Interessierten umso mehr!


  • Vicente Valero – Krankenbesuche
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-949203-39-8 (Berenberg)
  • 112 Seiten. Preis: 22,00 €
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