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Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch

Während die Debatte um das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen heiß läuft und die erschütternden Bilder von dort fast jeden Tag zu neuen Diskussionen führen, kommt dieses Debüt der deutsch-israelischen Autorin Nirit Sommerfeld zur genau rechten Zeit. Denn Beduinenmilch gibt Einblicke in das tägliche Leben und Miteinander in Israel auf israelischer wie palästinensischer Seite . Damit liefert der Roman damit einen wichtigen Beitrag für Verständnis und Versöhnung und damit genau das, was dem Konflikt dort im Nahen Osten gerade so sehr fehlt.


Können Bücher die Welt besser machen? Ich meine eher nein, wie ich es in diesem vor fünf Jahre erschienenen Artikel schon einmal dargelegt habe. Wobei uns die Literatur aber helfen kann, ist ein besseres Verständnis für die Welt und ihre Bewohner*innen zu entwickeln. Geradezu ein Paradebeispiel für diese These liefert der Roman Beduinenmilch der Schauspielerin und Sängerin Nirit Sommerfeld, die damit ihr literarisches Debüt im ars vivendi-Verlag vorlegt.

Bei dem Roman handelt es sich um ein Buch, das sich der Gattung eines sommerlichen coming of age-Romans zuschlagen lässt und das auch als Jugendbuch funktioniert. Die Ich-Erzählerin Talia steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag und gedenkt diesen nicht mit ihren Eltern in Berlin zu feiern, sondern stattdessen nach Israel zu fliegen, wo sie ein paar Wochen verbringen will. Ähnlich wie ihrer Erschafferin Nirit Sommerfeld hat auch Talia deutsch-israelische Wurzeln, die sie im Lauf des Romans immer eingehender erkunden wird.

Familiäre Wurzeln in Tel Aviv

Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch (Cover)

Ihr Urgrovater Sigfried Edelman floh einst aus Chemnitz nach Israel. Hatte sein eigener Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, wurde dieser dennoch kurz darauf von den Nazis in einem Konzentrationslager umgebracht. Sein Sohn entgang der Ermordung durch die Flucht nach Israel.

Dort gründete Talias Großvater dann wieder eine Familie, zu der die junge Frau nun reist. Doch nicht nur das Wiedersehen mit der Familie und die Feier ihres 18. Geburtstags steht auf der Liste von Vorhaben, die Talia dort in Tel Aviv erleben will. Vor allem möchte sie zum Militär, um dort ihren Dienst genauso wie ihre Cousine und ihre Freunde abzuleisten. Zwar kann sie aufgrund ihrer doppelten Staatsbürgerschaft eine Brefreiung vom Dienst an der Waffe vorweisen, dennoch möchte sie diesen Dienst ableisten und fordert so schon bei der Einreise ohne das Wissen ihrer Familie einen Einberufungsbefehl an.

Das Wissen um ihr Vorhaben und die gleichzeitige Unkenntnis ihrer Familie von diesen Plänen bildet für die folgenden Tage in Israel einen moralischen Konflikt, der sich im Lauf des Buchs immer weiter verstärken wird. Während die ersten Tage vor Ort ganz unbeschwert sind, bringen zufällige Begegnungen Talia immer stärker ins Grübeln. Denn obschon ihre Cousine oder ein Schwarm von ihrem letzten Besuch in Israel den Dienst als patriotische Pflicht sehen, lernt Talia während ihrer Tage dort auch den Palästinenser Haytham kennen. Dieser muss sich als illegaler Bauarbeiter in einem Rohbau gegenüber des Hauses von Talias Familie verdingen.

Sie freunden sich an, doch die aufkommende Freundschaft wird rüde durch eine Verhaftung Haythams unterbunden. Ihm soll als illegaler Flüchtling in Israel der Prozess gemacht werden – nur einer von tausenden Illegalen, die zwar rechtlich in Israel unerwünscht sind, aber trotzdem für das Funktionieren der Gesellschaft gebraucht werden.

Es wird nicht der einzige Konflikt und Widerspruch bleiben, auf den Talia während ihrer Zeit dort stößt. Und auch die anfängliche Euphorie über den Wehrdienst soll im Laufe des Romans einer immer größeren Skepsis weichen. Das hat mit dem Geschehen vor Ort, aber auch ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun. Denn diese hängt mit einem palästinensischen Geisterdorf in der Wüste zusammen, auf das die junge Frau per Zufall stößt…

Tiefe und Erkenntnisreichtum

Beduinenmilch ist ein Roman, der aufgrund seiner Erzählhaltung und der unbedarften Erzählerin Talia zunächst leicht daherkommt. Dennoch entfaltet Sommerfelds Roman schnell eine Tiefe und Erkenntnisreichtum, weil man mit Sommerfelds Heldin Talia dazulernt und neue Einsichten gewinnt. Zwischen radikalen Siedlern, gegängelten Palästinensern, Erinnerungen an die Nakba wie auch die Perspektive der jüdischen Zivilbevölkerung gelingt es Nirit Sommerfeld, die vielen widersprüchlichen, geschichtlich gewachsenen und ihrer Komplexität nicht immer leicht zu durchdringenden Gemengelagen dort in Israel zwischen Palästinensern und Israelis verständlich zu schildern.

Ähnlich wie zuletzt Dana Vowinckels Gewässer im Ziplock bricht auch in Nirit Sommerfelds Roman eine junge Frau von Berlin aus nach Israel auf, um im Kulturclash vor Ort neue Perspektiven zu gewinnen und sich auch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Bei Sommerfeld hat das Ganze auch noch eine historische Komponente, denn immer wieder unterbrechen Briefe von Talias Großvater den Lesefluss, deren Schilderungen sich mit der Gegenwart (vielleicht eine Spur zu gerade und glatt, aber durchaus sinnreich) mit den aktuellen Geschehnissen verbinden.

So entsteht ein Roman, der einen historisch informierten und angenehm differenzierten Blick auf das Miteinander von Palästinensern und Israelis wirft. Das Ganze mag manchmal im Erzählton eine Idee zu didaktisch und zu plakativ sein, doch solcherlei Kritik verstummt angesichts des Leids und der teilweisen Ignoranz im Israel-Gaza-Konflikt dieser Tage wieder schnell.

Fazit

Auch wenn Beduinenmilch hauptsächlich 2014 spielt, ist Sommerfelds Roman aber ein Buch, das über diese konkrete Jahreszahl hinaus auf das grundsätzliche Miteinander und viel zu oft auch Gegeneinander der Völker dort blickt. Themen wie Raketenangriffe auf Israel, Sympatie für die Agitationen der Hamas, Hass und Hetze sind eben leider 2025 genauso präsent wie im von Nirit Sommerfeld beschriebenen Jahr 2014.

Diese traurige Aktualität und Zeitlosigkeit der Themen macht das Buch zu einem wichtigen und höchst niedrigschwelligen Beitrag, der neben seiner literarischen Unterhaltung auch unangestrengt viel Wissen und Perspektiven vermittelt, hin zu einem hoffentlich besseren Miteinander, das von Verständnis geprägt ist, ganz wie es Sommerfelds Protagonisitin Talia vormacht. Man wird ja wohl noch träumen dürfen…


  • Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch
  • ISBN 978-3-7472-0716-1 (Ars Vivendi)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

Audrey Magee – Die Kolonie

Kulturkampf auf der Insel. In Die Kolonie lässt Audrey Magee einen Maler und einen Linguisten auf einem kleinen irischen Eiland aufeinandertreffen und um künstlerischen Ausdruck, Autonomie und das Erbe des Kolonialismus ringen. Großartige und vielschichtige Unterhaltung, die die Bedeutung von Sprache herausstreicht. Da trifft es sich gut, dass Magees Buch mit Nicole Seifert eine passende Übersetzerin aufweist, die die vielen sprachlichen Schichten des Romans auch im Deutschen gelungen freilegt.


Diese Überfahrt hat es in sich. In einem kleinen Curragh, einer Art Ruderboot, wird der Künstler Lloyd zu Beginn des Romans von Audrey Magee auf eine namenlose kleine Insel übersetzt. Drei Meilen in der Länge, eine halbe in der Breite misst die Insel, die von gerade einmal 92 Menschen bevölkert wird.

Dort will Lloyd den Sommer verbringen – und vor allem zeichnen. Denn von der urwüchsigen Schönheit der Natur, den meeresumtosten Klippen und den Tieren auf der Insel erhofft er sich Inspiration und Motive, die er wieder mit nach Hause nach London bringen kann, wo seine Frau als Galeristin arbeitet.

Doch nicht nur, dass seine eigentliche Unterkunft für Lloyds Geschmack zu wenig Licht hat und er mit seinen Extrawünschen die Geduld seiner Vermieterin Bean Uí Néill und deren Tochter Mairéad strapaziert. Vor allem die Ankunft eines zweiten Mannes auf der Insel stört seinen inneren Frieden erheblich. Denn bei diesem handelt es sich um Jean-Pierre Masson, einen Linguisten aus Paris, der die Insel auch als Inspiration nutzt – allerdings für eine Studie über die irische Sprache.

Ein Maler und ein Linguist – und der Kampf um die Insel

Unter dem englischen Einfluss ist das Irische nahezu ausgestorben. Nur auf dieser Insel spricht man es noch wie früher, ohne dass die englische Sprache bislang eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Doch nun taucht dieser sasanach – so der irische Ausdruck für die Engländer – auf und bedroht die Reinheit der Sprache und damit auch sein Forschungsprojekt. Schnell sind sich die beiden Männer in ihrer gegenseitigen Ablehnung einig.

Also, sind wir bereit für einen Sommer mit diesen beiden Männern?

Das wird höchst unterhaltsam, sagte Mairéad.

Meinst du?, fragte Bean Uí Néill.

Ein Spektakel, Mam.

Mir gefällt das nicht. Zwei Ausländer gleichzeitig.

Lehn dich einfach zurück und guck zu, Mam. Genieß es.

Die werden den ganzen Sommer lang streiten, sagte Bean Uí Néill.

Kampf der Egos, sagte Francis. Frankreich gegen England.

Audrey Magee – Die Kolonie

Und so beginnt der Sommer, der – abgesehen von den Streitigkeiten, die fast an Loriots Zwist zwischen den beiden Herren im Bad erinnern – eine Idylle sein könnte, dort auf der Insel, fernab von allen Problemen.

Nachrichten von den Troubles

Audrey Magee - Die Kolonie (Cover)

Doch eine Idylle ist es nicht, mag die Insel in ihrer Unberührtheit und der Entfernung zum Festland auch so scheinen. Denn Die Kolonie spielt in Irland zur Hochzeit der Troubles, als der Kampf zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Loyalisten auf der Insel zu heftigen Kämpfen und vielen Toten führte, darunter mit Lord Mountbatten sogar ein Onkel der Queen.

Während auf der Insel der Linguist und der Maler miteinander streiten, versinkt die irische Insel in Blut, was auch den Bewohnern des wesentlich kleineren Eilandes nicht verborgen bleibt. Und auch Audrey Magee platziert die Troubles im Herzen dieses Buchs. Die Kapitel werden nämlich allesamt durch fast telegrammartige Schilderungen des brutalen Terrors eingeleitet. Dieser kommt in Form von Totschlag, Schießereien und Bomben in kurzen Schlaglichter daher. Diese wirken zwar wie Nachrichten aus einer fernen Vergangenheit, sind es aber mitnichten.

Die Kolonie ist ein Roman über die Spaltung und den Kampf um Deutungshoheit, der sich bei Audrey Magee nicht nur zwischen Nordirland und dem Rest der Insel vollzieht, sondern der sich auch in anderen Form im Zwist auf der Magees wesentlich kleineren Insel spiegelt. Wie umgehen mit dem Erbe der Engländer, das sie Irland geopolitisch und sprachlich hinterlassen haben? Wie bewahrt man sich eine eigene Identität?

Von der Macht der Sprache

Im Falle von Die Kolonie ist es hauptsächlich das Feld der Sprache, auf denen dieser grundsätzliche Glaubensstreit ausgetragen wird. Jean-Pierre Masson, der aus den Erfahrungen des Umgangs der Kolonialmacht Frankreich mit Algerien heraus verhindern will, dass in Irland ähnliches geschieht und die Insel mit dem wachsenden Einfluss des Englischen auch ihre Identität verliert.

Dieses Land wurde kolonisiert, sagte Lloyd

Wird, sagte Francis.

Lloyd zuckte mit den Schultern.

Die Sprache ist ein Opfer der Kolonisierung, sagte er. In Indien. In Sri Lanka. In Algerien. (…)

Die Sprache lebt noch, sagte Masson. Hier auf dieser Insel.

Audrey Magee – Die Kolonie

Folglich beäugt er nicht nur die Anwesenheit eines Vertreters dieser ehemaligen Besatzungsmacht misstrauisch, auch versucht er, nicht nur in Interviews und seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch praktisch den Einfluss des Englischen zurückzudrängen, was ihn natürlich in Opposition zu Lloyd bringt. Denn dieser sieht die Insel nicht nur als Materiallieferant für seine eigene Karriere, auch Séamus, Mairéads Sohn, ist von der Kunst des Malens fasziniert, in die ihm Lloyd einführt. Während er dessen Nähe sucht und mit der Idee seines Weggangs von der Insel liebäugelt, versucht Masson diesen nicht nur durch das beharrliche Ansprechen mit seinem irischen anstelle des anglisierten Namen James zur Besinnung auf seine Herkunft zu überzeugen.

Im Kleinen wie Großen vollziehen sich in Audrey Magees Buch diese Konflikte, die aber auf den zweiten Blick oftmals gar keine sind. Nicht nur dadurch, dass sich die traditionelle, an Rembrandt ebenso wie an Gaugin geschulte Maltechnik und Bildwelten Lloyds JP Massons Versuchen der Bewahrung des Vergangen ähnelt, ergeben sich Parallelen und Ansichten, die die Figuren so manches Mal lieber nicht wahrhaben wollen.

Dass sich Audrey Magee entschieden hat, auch den beiden Antipoden dieses Romans auch ganz unterschiedliche Sprachprägungen zu verleihen, ist ein großer Glücksfall, der von Nicole Seifert gelungen im Deutschen wiedergegen wird. Da die impressionistische Sprache Lloyds, der viel in Motiven, Farben und Gemäldetiteln denkt, da der zu ausschweifenden Formulierungen neigende JP, der auf der Insel seine Arbeit über das Irische abfasst.

Fazit

Fein ausgemalte Figuren und große und kleine Brüche ergeben ein faszinierendes Bild und großartiges Leseerlebnis, das von der Macht der Sprache und den Einflussfaktoren, die sie bedrohen, erzählt. Audrey Magee gelingt mit Die Kolonie ein klug konstruiert und ebenso gut durchdachter Roman, der der Betrachtung in Form einer genauen Lektüre lohnt. Wunderbar ins Deutsche übertragen ist dieser 2022 für den Booker Prize nominierte Roman nun auch endlich auf Deutsch zu entdecken – eine feine Sache!


  • Audrey Magee – Die Kolonie
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-312-01289-3 (Nagel und Kimche)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €

Don Winslow – City on fire

Ist das noch Troja oder schon Dogtown, dass da brennt? Zum (angeblich) letzten Mal beglückt uns Don Winslow mit einer Trilogie um Rache, Verrat, Mobster, Gewalt und Liebe. City on fire ist eine klassischen Tragödie im Gewand eines Mafiathrillers, der den Auftakt zu einer Reihe um Danny Ryan bildet. Dieser findet sich in einem verzehrenden Kampf zwischen italienischer und irischer Mafia wieder. Nicht ganz so voluminös wie Winslows Zyklus um den DEA-Agenten Art Keller und dessen Kampf gegen das mexikanische Kartell, aber auf dem erfreulich hohem Niveau, das er zuletzt nach den Tiefschlägen mit seinem Kurzgeschichtenband Broken wieder erreichte.


In letzter Zeit machte Don Winslow eher auf dem Feld der Social-Media-Kommunikation denn literarisch von sich reden. Mit seinen Kurzfilmen griff er in den US-Wahlkampf ein, twitterte und positionierte sich lautstark gegen die Politik Donald Trumps. Auch in seinem letzten, 2019 erschienenen Teil der Art-Keller-Trilogie ließ er Trump, dessen Schwiegersohn Jared Kushner und den Rest des damaligen republikanischen Regierungsapparat kaum verfremdet auftreten und zog dabei mächtig vom Leder, um die Bigotterie und Korruption im System mithilfe des fiktionalen Thrillers aufzuzeigen.

Seine politische Positionierung und klaren Ansichten etwa der amerikanischen Einwanderungspolitik an der Grenze zu Mexiko führte er auch in seinem zuletzt veröffentlichten Kurzgeschichtenband Broken fort. Und auch künftig gedenkt Winslow dieses politische Engagement nicht ruhen zu lassen, vielmehr will er seine schriftstellerische Karriere zugunsten der Verhinderung einer Wiederwahl Donald Trumps aufgeben, wie jüngsten Pressemeldungen zu entnehmen war.

Der Auftakt zu Winslows letzter Trilogie

Bis es nun aber soweit ist, gibt es mit City on fire den Auftakt seiner vielleicht letzten Trilogie zu lesen, die sich wieder etwas von der politischen Agenda Winslows entfernt. Denn anstelle von der gegenwärtigen Politik und Gesellschaft zu erzählen, begibt sich der Autor fast vierzig Jahre zurück, nämlich ins Jahr 1986, genauer gesagt in den August jenes Jahres.

Don Winslow - City on fire (Cover)

Alles beginnt mit einem Clambake, also einem Zusammentreffen beim italienischen Padrone Pasco Ferri am Goshen Beach in Rhode Island. Wenn Ferri einlädt, dann kommen sie alle, egal ob irische oder italienische Mobster. Man trifft sich bei gegrillten Meeresfrüchten und Bier, badet und parliert am Strand.

Es sind friedliche Treffen, genauso wie es eigentlich friedliche Zeiten im kriminellen Milieu sind. Iren und Italiener haben sich miteinander arrangiert, es herrscht der Zustand einer friedliche Co-Existenz. Die Iren kontrollieren die Gewerkschaften und den Hafen, die Italiener Drogen und Glücksspiel. Alles könnte eigentlich in bester Ordnung sein. Doch Ferris Einladung zu seinem Clambake ist neben den jeweiligen Sprösslingen der Anführer auch Pam gefolgt, die neue Freundin von Paulie Moretti. Sie verdreht mit ihrem Sexappeal und Aussehen sämtlichen Männern und Frauen am Goshen Beach den Kopf.

Danny Ryan sieht die Frau dem Wasser entsteigen, sie taucht auf wie ein Bild aus seinem Traum vom Meer, wie eine Vision. Nur dass sie real ist und es wegen ihr Ärger geben wird.

Wie meistens mit schönen Frauen.

Danny weiß das; nur ahnt er nicht, was für einen Wahnsinnsärger diese hier lostreten wird. Wüsste er, was passieren wird, würde er vielleicht zu ihr in die Wellen waten und ihren Kopf unter Wasser drücken, bis sie sich nicht mehr rührt.

Aber er weiß es nicht.

Don Winslow, City on fire, S. 11

Eigentlich ist Pam, die hier Botticelli-gleich den Fluten entsteigt, die Freundin von Paulie Moretti, dem Sohn des italienischen Paten. Doch auch bei Liam Murphy, dem Sohn des irischen Paten, weckt Pam Begehrlichkeiten. Er spannt Paulie Moretti seine Freundin aus – und setzt damit eine blutige Dominokette in Gang. Denn den Verlust seiner Freundin kann und will Moretti nicht hinnehmen, und so entspinnt sich ein tödlicher Kampf, in dem Autobomben und Drive-by-Shootings, viele Tote und noch mehr Leid zu beklagen sind.

Klassischer Tragödienstoff

Es ist ein klassischer Tragödien-Stoff, den Winslow hier verarbeitet. Der Kampf zweier Männer um eine Frau, der anschließende Krieg, Täuschungsmanöver und Verrat mit sich bringt und ganze Reiche in den Abgrund reißt. Die Themen sind die immergleichen, egal ob Trojanischer Krieg oder der Kampf um Dogtown in Rhode Island. Mögen sich auch die Mittel und Worte unterscheiden, die Konflikte, sie bleiben doch gleich. Und so setzt Winslow seinen verschiedenen Kapiteln auch Zitate etwa von Homers Ilias oder Virgils Aeneis voran, um das Klassische seines Stoffs hervorzuheben. Das ist zwar in seiner Überdeutlichkeit nicht besonders subtil, für die ganz feinen Zwischentöne sollte man aber eh zu anderen Autor*innen denn Winslow greifen.

Wo bei Homer das Versmaß und die Abgewogenheit in Form und Inhalt herrschte, so geht Winslow literarisch durchaus rustikaler zu Werke. In der für ihn so typischen atemlos hetzenden Prosa (abermals von der verdienten Winslow-Übersetzerin Conny Lösch ins Deutsche übertragen) beschreibt er die eskalierende Gewalt in Rhode Island, reißt kurz, aber wirkungsvoll die Hintergrundgeschichten seiner Figuren an, lässt seine Figuren und damit die Leser*innen kaum zur Ruhe kommen und kegelt seine Figuren schnell wieder vom literarischen Spielbrett, nachdem er sie zu Beginn sorgsam platziert hat.

Das hat einen enormen Drive, ist mitreißend geschildert und lässt durch den gut gesetzten Cliffhanger am Ende des ersten Buchs schnell auf das zweite Buch namens City of Dreams hoffen, dessen in Kalifornien spielender Beginn schon als Leseprobe dem ersten Teil beigefügt ist. Geht es auf diesem Niveau weiter, wäre der Entschluss Winslows zum Ende als Schriftsteller zugunsten seines politischen Engagements wirklich bedauerlich. Hier schreibt ein echter Könner, der die Welt der amerikanischen Mobster eindrücklich zu schildern weiß und dessen Ideen der Überführung eines antiken Tragödienstoffs ins Mafiamilieu der 80er Jahre plausibel aufgeht.


  • Don Winslow – City on Fire
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-7499-0320-7
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €

Belfast revisited

„Ich werde mich zur Rückseite dieser verlassenen Häuser dort schleichen, mich in einem davon verstecken und darauf warten, dass unser Bursche auftaucht.“

„Billy?“

„Nein, Billys kleiner Freund Shane. Ich glaube, er weiß etwas, das er uns nicht sagt.“

„Jeder in Belfast weiß etwas, das er uns nicht sagt.“

Adrian McKinty – Der katholische Bulle, S. 222

Acht Jahre nach der Erstlektüre war es für mich mal wieder an der Zeit, mich ins Irland der 80er Jahre zu begeben. Nachdem die Irland-Sehnsucht in letzter Zeit doch zu groß wurde, konnte ich Adrians McKinty Der katholische Bulle in meinem Regal nicht länger ignorieren. Eine Reise zurück in eine der wohl explosivsten Phasen irischer Geschichte stand an. Belfast revisited quasi.


Die grüne Insel, ein cooler Ermittler, viel Zeitkolorit und Popkultur, das waren die Landmarken, die ich im Bezug auf Der katholische Bulle noch im Kopf hatte. Ebenso im Kopf war dabei aber auch stets die Frage, ob die Zweitlektüre meiner Begeisterung vor acht Jahren noch Stand halten würden. Hatte sich mein Geschmack entscheidend weiterentwickelt, ist das Buch durch neue Kriminalliteratur inzwischen ästhetisch überholt worden, kurz: vermag das Buch nicht mehr zu begeistern?

Adrian McKinty - Der katholische Bulle (Cover)

All diese Fragen konnte ich nach wenigen Seiten schon mit einem klaren Nein beantworten. Denn obschon nun einige Zeit seit dem Erscheinenen des ersten Bandes der Reihe vergangen ist, besitzt es eine zeitlose Qualität, die das Buch der breiten Masse an Kriminalliteratur deutlich enthebt.

Da ist zum einen der Entschluss, sich nicht mit dem Zeitgeist auseinanderzusetzen, sondern zurückzublicken. Der katholische Bulle spielt zur Hochzeit der Troubles im Jahr 1981. Die Hohzeit von Charles und Diana steht kurz bevor, im Gefängnis sterben IRA-Mitglieder im Hungerstreik. Margaret Thatcher regiert mit eiserner Hand und Sean McDuffy ist in eine eine heruntergekommene Sozialwohnung in der Coronation Road in Carrickferrgus gezogen. Als katholischer Bulle in protestantischem Land hat er es schwer. Von seinen IRA-Nachbarn auch als Fenier geschmäht bekommt er es mit aufdringlichen Strohwitwen, komplizierten Liebschaften und einem echten Serienkiller zu tun.

Nach dem Fund eines ermordeten Homosexuellen bekommt Duffy Post vom Täter, der weitere Morde ankündigt. Besonders dringlich wird der Fall, als man herausfindet, dass die eine Hand des Ermordeten zu einem weiteren Toten führt. Dieser wurde ebenfalls hingerichtet, eine Spur aus Notenblättern verbindet die beiden. Doch nicht nur Duffys Kollegen sind skeptisch, auch sein Vorgesetzter ist sich sicher: so etwas wie einen Serienkiller hat es noch nie auf irischem Boden gegeben. Sämtliche mörderische Psychopathen stehen im Dienst der IRA oder anderen Terrororganisationen und benutzen den Mantel des Politischen, um ihr Treiben zu verbrämen. Aber Duffy lässt nicht locker und verbeißt sich in den Fall.

Bestechendes erzählerisches Handwerkszeug

Neben dem Thema, das erzählt wird, ist es vor allem die Art, wie es erzählt wird, die die Güte dieses Buchs ausmacht. Atemlos hetzt Duffy zwischen Carrickferrgus und Belfast hinterher, findet sich in Angriffen der IRA wieder, ermittelt ertrag- und orientierungslos im Fall des Serientäters und kippt Wodka Gimlet um Wodka Gimlet.

Der katholische Bulle ist superb rhythmisiert und zeigt einen Adrian McKinty auf der Höhe seiner Kreativität und literarischen Schaffenskraft. Er stellt einen umfassend gebildeten Erzähler mit klaren Schwächen in den Mittelpunkt, bricht die Männlichkeit in allen Facetten und hat keine Scheu vor Ironie und Uneindeutigkeit. Der Ire kann Action und Liebesszenen, er kann langsam und schnell erzählen und er vermag ein Gefühl dafür zu wecken, wie es sich damals angefühlt haben muss zwischen allen Fronten. Das Handwerkszeug, das er in Der katholische Bulle zeigt, ist in seiner Vielfalt und Güte beeindruckend (und ebenso großartig und souverän von Peter Torberg ins Deutsche übertragen).

Randvoll mit Popkultur, vertrackten Fährten und Zeitkolorit ist Der katholische Bulle nichts anderes als ein Meisterwerk, das Adrian McKinty da gelungen ist. Auch Jahre nach seinem Erscheinen hat es nicht einen Gran an Qualität eingebüßt. Bestechende Kriminalliteratur, weit weg von dem Quatsch, den Adrian McKinty Jahre später unter dem Titel The Chain publizieren sollte. Auch nach acht Jahren immer noch von zeitloser Qualität und Güte. Ein erneuter Besuch, der sich mehr als gelohnt hat. Oder um es in der Sprache des katholischen Bullen zu sagen: ein stróc ádh!


  • Adrian McKinty – Der katholische Buller
  • Aus dem Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-518-46523-3 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 10,00 €

Nicola Kabel – Kleine Freiheit

Ein Vater und seine Tochter. Er: Alt-68er mit Pferdeschwanz und Gemeinschaftshaus im Périgord. Sie: Juristin mit Familienhaus im Grünen. Ihre unterschiedlichen Lebensmodelle, Ansichten und Widersprüche seziert Nicola Kabel in ihrem Debüt Kleine Freiheit.


Es ist ein Schreckgespenst, das den Frieden im kleinen Dorf bedroht, in dem sich die Richterin Saskia mit ihrer Familie niedergelassen hat. Dieses Schreckgespenst trägt den Namen Windpark. Ein solcher soll in der Nähe des Dorfs entstehen – und die Anwohner gehen auf die Barrikaden. Infraschall, geschredderte Zugvögel, Verlust der Attraktivität der Landschaft – all das sind Argumente, die die Dorfbewohner umtreiben. Ihre Hoffnung im Widerstand gegen das Projekt setzten sie auch auf Saskia. Schließlich ist sie Juristin, kennt sich mit Verfahren und Einsprüchen aus.

Nicola Kabel - Kleine Freiheit (Cover)

Mit Widerstand und Verfahren kennt sich auch Hans aus. Er rebellierte einst gegen das Elternhaus, zog aus, fand in einer Kommune Anschluss. Er kämpfte gegen das System, gegen das Toschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus und versuchte eigene Ideale durchzusetzen. Und bei allem Wunsch nach der Rebellion gegen das Establishment und all ihre starren Regeln – am Ende veränderte nicht Hans das System, sondern das System ihn.

Alleinerziehend fand er sich nach dem Weggang seiner Frau mit seinen beiden Töchtern Saskia und Sophie wieder. Seine Mandate von Protestlern und Widerständlern tauschte er schon bald gegen den Dienst in einer großen Kanzlei. Die Zeit und das Leben schliff seine jugendlichen Ideale. Aus den Kommunen und dem wilden Leben wurde ein kleines renoviertes Steinhaus im Périgord. Aus dem wilden Liebesleben und den unübersichtlichen Beziehungsverhältnissen wurde eine Liaison mit der Französin Céline. Und trotz (oder vielleicht wegen) seines turbulenten Lebens fehlt Hans nun im fortgeschrittenen Alter ein Fixpunkt im Leben. Die Bindung zu seinen Töchtern ist alles andere als stabil. So beschließt er, seine Tochter Saskia in der norddeutschen Provinz zu besuchen. Während diese im Kampf gegen den Windpark die Bekanntschaft eines deutlich mehr als konservativen Herren namens Joachim von Wedekamp macht, macht sich Hans auf den Weg in die Provinz zu seiner Tochter.

Widerstände und Anpassungen

Im Gegensatz zum thematisch ähnlich gelagerten Roman Unterleuten von Juli Zeh ist es bei Nicola Kabel etwas anderes, das sie in ihrem Buch interessiert. Sie konzentriert sich in ihrem Debüt auf die beiden Hauptfiguren Hans und Saskia, von denen sie zumeist abwechselnd erzählt. Dabei verschränkt sie kunstvoll Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander. Die Rahmenhandlung der Gegenwart unterbricht sie häufig, um vom Werdegang der beiden zu erzählen. Immer wieder schneidet sie auch mehrfach Rückblenden in die Rahmenhandlung der Kapitel. Ihre Sozialisation, ihre Ideale, die Anpassungen, die das Leben den beiden unterschiedlichen Figuren abfordert, all das sind Themen, die Nicola Kabel interessieren.

Die Frage nach Widerstand und Anpassung ist in Kleine Freiheit eine zentrale. Immer wieder kreist Nicola Kabel um diese Themen, vergleicht diese in den Leben von Vater und Tochter. Sie tut das mit knappen, aber sehr präzisen Worte. Sie versteht es, Verständnis für Hans und Saskia zu wecken, ihr Handeln und ihre Ansichten plausibel darzustellen.

Gegen diese Plastizität fallen die anderen Figuren deutlich ab. Ihr neurechter Herr von Wedekamp oder Saskias Mann Christian bleiben im Vergleich zu den kräftig gezeichneten Hauptfiguren blass und sind schnell wieder vergessen. Auch die Handlung des Buchs selbst verliert gegenüber den fein nuancierten Figurenporträts . So ist das schon das Schreckgespenst des Windparks eines, das gegenwärtig kaum mehr großes Bedrohungspotenzial besitzt. Die im Buch thematisierten Ängste und Bedrohungen waren vielleicht vor einigen Jahren noch akut. Inzwischen hat das politische Handeln der Windkraft ja mehr oder weniger die Handlungsgrundlage entzogen.

Der Verlust des erzählerischen Fadens

Auch verpufft der Clash zwischen Vater und Tochter, auf den das Buch hinarbeitet, dann doch recht unspektakulär. Beim weihnachtlichen Gansessen fliegen die Fetzen, damit hat es sich dann aber schon wieder. Beide Figuren fliehen wieder in ihre gewohnten Umgebungen und Verhaltensmuster, ein tiefschürfenderer Erkenntnisgewinn oder eine neue Stoßrichtung für die Handlung bleibt aus. Die rechtsgerichteten Ansichten Saskias interagieren nicht mit den linksgerichteten ihres Vaters – stehen damit aber auch symbolisch für unsere Gesellschaft, die das Streiten verlernt hat.

Leider verliert Nicola Kabel nach diesem Aufeinanderprall dann aber auch etwas den erzählerischen Faden. Hier finden dann – Achtung Spoiler – zahlreiche Themen wie Krebsdiagnose, Kinderwunsch, außereheliches Begehren und Tod in die Handlung. Diese dramatische Überfrachtung steht in Kontrast zu dem zuvor so ruhig und entschieden aufgebauten Setting.

Symbolisch ist hier für mich, dass plötzlich auch Saskias Ehemann Christian ein Kapitel erhält, in dem plötzlich aus seiner Sicht erzählt wird. So ganz mag das für mich erzählerisch nicht aufgehen. Auch löst sich manches dann allzu leicht auf, etwa wenn sich Herr Wedekamp einfach aus der Handlung davonschleicht. Manches Angerissene bleibt etwas in der Luft hängen und wird zumindest für mein Empfinden nicht souverän aufgelöst. Für mich drängte sich der Eindruck auf, dass nach der starken ersten Hälfte dem Erzählen im zweiten Teil dann etwas die Luft ausgeht.

Fazit

So bleibt Kleine Freiheit für mich ein Buch, dessen Handlung klar hinter der Figurengestaltung zurückbleibt und das manchmal etwas den Fokus verliert. Festzuhalten ist aber auch, dass mit Nicola Kabel eine Erzählerin hier ein Werk vorlegt, das vor allem auf Figurenebene und Erzählebene erstaunlich fein ausgearbeitet ist. Die ehemalige dpa-Redakteurin zeigt sich sehr versiert in der Kunst der plastischen Figurenbeschreibung mithilfe unterschiedlicher gestalterischer Mittel. Sie beobachtet genau, beschreibt treffsicher, schildert ihre Milieus glaubhaft und weckt Empathie sowohl für Hans als auch für Saskia. Das ist in seiner literarischen Ausarbeitung wirklich überzeugend, weshalb ich Kleine Freiheit trotz der von mir ausgemachten Mängel gerne empfehle. Eine interessante neue Stimme, gerne mehr hiervon!