Tag Archives: Nationalsozialismus

Andreas Pflüger – Ritchie Girl

In den letzten Monaten hat wieder zunehmend eine Debatte eingesetzt, die um das Erbe deutscher Firmen in der Zeit des Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Konsequenzen kreist. Viel Aufmerksamkeit erzeugte das Gespräch von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, in dem sie sich auf Instagram über das Erbe des Nationalsozialismus und die Frage von Kontinuitäten unterhielten. Doch nicht nur Hilal und Varatharajah thematisierten öffentlichkeitswirksam die Frage nach Verantwortung, die aus dem nationalsozialistischen Erbe erwächst. Auch Jan Böhmermann beschäftigt sich immer wieder in einem Showsegment seines ZDF Magazin Royal mit der Familie Stoschek. Diese sehen sich aufgrund ihres Umgangs mit ihrem Familienerbe, das durch den Wehrwirtschaftsführer Max Brose begründet wurde, der Kritik des Satirikers ausgesetzt.

Der Umgang mit der eigenen Geschichte zwischen 1933 und 1945 ist bisweilen arg sorglos und unreflektiert, wie etwa der Fall von Verena Bahlsen zeigt. Die Aufarbeitung des Erbes dauert nach wie vor an, vieles verschweigen Firmen und scheuen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Zu diesen aktuellen Debatten passt auch das neue Buch von Andreas Pflüger ganz hervorragend, in dem er die Verflechtungen deutscher und amerikanischer Firmen und Strippenzieher zur Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet. In Ritchie Girl steigt er tief hinab in die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen von Nazis und Amerikanern, fragt nach Schuld und erzählt von einer jungen Frau, die der machtpolitische Pragmatismus und das bewusste Wegsehen ihre Mitmenschen an die eigenen Grenzen bringt. Ein eindringliches Buch und sicherlich keine leichte Kost.

Zurück nach Deutschland

Nach seinem BRD-Kartellepos Operation Rubikon und der exquisiten Thriller-Trilogie um die blinde Polizistin Jenny Aaron wechselt Pflüger nun das Fach und erzählt einen historischen Roman, der zurückführt in die letzten Tage des Dritten Reichs und der unmittelbaren Zeit danach. In einem Vorklapp erzählt Pflüger von Paula Blooms Ankunft in Italien, das gerade inmitten von Chaos versinkt. Die Deutschen befinden sich auf dem Rückzug. Deserteure, widerständige Nazis und ein verhafteter Duce sind nur einige Faktoren in dem ganzen Chaos, das Paula am eigenen Leib erlebt. Nachdem sie in Berlin in einer Villa am Hundekehlesee aufgewachsen ist, hat sie nach ihrer Flucht nach Amerika beschlossen, in das Land ihrer Väter zurückzukommen. Sie will verstehen, wie es mit dem Land so weit kommen konnte. Doch ihre Bereitschaft zum Begreifen wird von den Geschehnissen vor Ort auf eine harte Probe gestellt.

Nach einem Zeitsprung erzählt Pflüger dann von der Ankunft Paulas im zerstörten Deutschland. Als Teil der Streitkräfte wird sie im sogenannten Camp King untergebracht, dem Areal, auf dem sich neben dem Militär auch zahlreiche Nazis tummeln. Egal ob Gehlen, Streicher oder Speer, sie alle befanden sich dort und wurden von den Amerikanern verhört. Und obwohl Paula aufgrund ihres Geschlechts beständig angefeindet wird, ist es gerade dieses Geschlecht, das sie in den Augen der Verantwortlichen für einen ganz besonderen Fall prädestiniert. Denn neben all den ranghohen Nazis sitzt auch ein ganz besonderer Mann im Camp King ein, der von sich behauptet, ein legendärer Spion im Dienst der Nazis zu sein. Doch kann man dem Mann trauen? Um einen Zugang zu dem potentiellen Spion zu finden, setzt man Paula auf ihn an. Doch das, was ihr der Mann in den Verhören offenbart, ist dazu angetan, Paulas Welt auf den Kopf zu stellen.

Skrupellose Geschäftemacher und historische Kontinuitäten

Ritchie Girl ist ein Roman, der die letzten Kriegstage wieder zum Leben erweckt. Er erzählt vom gnadenlosen Opportunismus der Nazis und der Amerikaner, deren Pragmatismus nicht selten zum Verwechseln gleicht. Paula als Deutsch-Amerikanerin ist besonders sensibel für diese Verwerfungen, die Pflüger mit großer Detailschärfe skizziert. So erzählt von vom skrupellosen Allen Dulles, der mit den Nazis Geschäfte machte, mithilfe der Operation Sunrise sogar mit den Nazis über eine Kapitulation und den gemeinsamen Kampf gegen den Kommunismus verhandelt. Der jüngere Bruder des späteren Außenministers John Foster Dulles ist nur eine der Figuren, deren moralische Skrupellosigkeit im Buch schaudern macht.

Andreas Pflüger - Ritchie Girl (Cover)

Ähnlich wie Chris Kraus in Das kalte Blut beschäftigt sich auch Andreas Pflüger in seinem Buch mit der Kontinuität der Täterkarrieren der Nationalsozialismus, beispielsweise der von Reinhard Gehlen, den man zum Chef der Operation Gehlen, dem späteren BND machte. Pflüger zeigt in seinem Roman die Geräuschlosigkeit auf, mit der man den strammen Nazis erlaubten, als Entscheider und Führungskräfte in der BRD nahezu unbeschadet ihrer Karrieren fortzusetzen. Der Kalte Krieg und der drohende Kommunismus stand ja vor der Tür, sodass man die Tätigkeit der Kader während 1933 und 1945 lieber nicht hinterfragte, sondern sie in Machtpositionen und Schaltstellen hievte. Einmal mehr rechtfertigte der Krieg die Mittel. Ein Zustand, an dem Paula Bloom in Pflügers Roman zunehmend verzweifelt.

Da kann auch der Besuch der Nürnberger Prozesse keine wirkliche Abhilfe schaffen. Paula Blooms moralischer Kompass stößt in dieser Welt eindeutig an seine Grenzen. Zudem sind die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schuld und Sühne geradezu verschwindend, sodass nicht nur Paula, sondern auch wir als Leser immer wieder an die Grenze des Hinnehmbaren stoßen. Und nicht zuletzt reift auch die Erkenntnis, dass skrupellose, machthungrige und über Leichen gehende Machtmenschen nicht nur auf der deutschen Seite des Verhörtisches sitzen…

Faktensatt und bisweilen schwer erträglich

Pflügers Roman ist wahrhaft keine leichte Lektüre. Das liegt schon am Sujet der Nachkriegszeit und ihrer ganzen Not und Brutalität. Zudem ist Ritchie Girl mehr als faktensatt. Die Verflechtungen der Wirtschaftsinteressen, der Apparat von Amerikanern und Nazis, die Politik von Siegern und Besiegten fächert Pflüger detailliert auf und steigt tief hinab in die Geschichte. Egal ob IBM, amerikanische Dependancen der IG Farben, das Vorkriegsgebaren von amerikanischer Wirtschaftselite und deutschen Nazis – Pflüger thematisiert die mannigfachen (und nach dem Krieg totgeschwiegenen) Beziehungen. Dass ein Essay von Bodo Hechelhammer, seines Zeichens Chefhistoriker des BND, den Roman abschließt, ist bei dieser Fülle an Themen und Material nur konsequent.

Doch nicht nur die faktensatte Erzählweise und die schnellen Dialoge erfordern Aufmerksamkeit. Auch der Inhalt vieler Gespräche ist kaum auszuhalten, etwa wenn Pflüger in Gesprächen Nazis zu Wort kommen lässt, die über den Genozid und die damit verbundenen unmenschlichen Grausamkeiten lachend parlieren. Nazis, die ihre eigene Rolle während des Nationalsozialismus relativieren und ihrem Antisemitismus weiterhin freie Bahn lassen. Solche Verhöre und geschilderte Szenen erfordern einen starken Magen und rufen den Schrecken des Nationalsozialismus noch einmal wach.

Fazit

Liest man Ritchie Girl, erfasst einen die Wut über die Geschmeidigkeit, mit der man die Seiten wechselte und über den Opportunismus, der die Moral schlug. Das Buch ist eine literarisch versierte, rhythmisch durchdachte und ausnehmend gut geschriebene Geschichtsstunde, die das Schweigen vieler über die Rolle ihrer Vorfahren und das Wegducken vor der eigenen Verantwortung anklagt. Das Buch nimmt die historischen Kontinuitäten in den Blick und ist ein genauer Blick auf die moralische Flexibilität, die die Nahtstelle vom Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Kriegs für Amerikaner und Deutsche kennzeichnete. Keine leichte Kost, aber mehr als lesenswerte. Einmal mehr bestätigt Andreas Pflüger seine Ausnahmeerscheinung auf dem aktuellen deutschen Buchmarkt.


  • Andreas Pflüger – Ritchie Girl
  • ISBN 978-3-518-43027-9 (Suhrkamp)
  • 464 Seiten. Preis: 24,00 €
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Christian Kracht – Eurotrash

Das Spiel mit den Erwartungen und der medialen Öffentlichkeit beherrscht wohl kein Autor momentan so gut wie Christian Kracht. Egal ob Imperium, Die Toten oder nun eben Eurotrash. Sobald ein neuer Roman des neben Martin Suter wohl bekanntesten Schweizer Autors erscheint, gibt es kein Halten mehr. Lobeshymnen, Verrisse, energisch geführte Debatten in allen großen Feuilletons. Bei seinem neuen Buch ist das nicht anders. Gehypt seit der Ankündigung von Eurotrash in der Vorschau des Kiepenheuer-Witsch-Verlags erreichte die Spannung nun Anfang März ihren Höhepunkt. Obwohl mit einer Sperrfrist versehen, brachen fast alle großen Medien diese Frist unisono. Kracht-Porträts, ein viel kommentiertes Interview und Rezensionen, die von himmelhoch jauchzend bis zum Vollverriss alles umfassten. Kurzzeitig konnte man wieder das nostalgische Gefühl von einer wirklichen Diskussion und Literaturpräsenz in der Öffentlichkeit bekommen, wie sie früher noch häufiger war.

Apropos früher: die Nostalgie schien in der ganzen Debatte auch eine große Rolle zu spielen. Schließlich handelt es sich bei Christian Kracht ja um einen der wichtigsten Vertreter der in den 90er-Jahre zur Blüte gelangten Popliteratur. Und während außer Benjamin von Stuckrad-Barre die meisten damals gefeierten Autor*innen eher aus der öffentlichn Aufmerksamkeit verschwunden sind (empfehlenswert in diesem Zusammenhang auch die Frühjahrs-Literaturbeilage der Augsburger Allgemeinen, die sich mit der Pop-Literatur beschäftigt), ist Kracht eben immer noch präsent. Und nun ist Eurotrash nicht irgendein neues Buch, sondern die Fortsetzung von Faserland, jenem Werk, das archetypisch für die 90er und die Gattung der Popliteratur ist. Oder zumindest steht es in Zusammenhang mit diesem vor 25 Jahren erschienenen Werk, wie uns der Autor denken machen will. Und das nicht nur in puncto Rechtschreibung, die sich längst überkommener Regeln beugt.

Das Ende von Faserland, der Beginn von Eurotrash

Das letzte Wort von Faserland ist zugleich der Anfang von Eurotrash. Und so hebt das Werk mit folgender Sentenz an:

Also, ich mußte wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Meine Mutter wollte mich dringend sprechen. Sie hatte angerufen, ich solle doch bitte mal rasch kommen, es war ganz unheimlich gewesen. Und aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, daß ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muß ich sagen, daß ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun leider nicht mehr einfällt, Faserland genannte hatte. Es endet in Zürich, sozusagen mitten auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.

Christian Kracht – Faserland, S. 11

Und da ist es wieder, jenes aufsehenerregende Debüt namens Faserland, das der Erzähler hier schon im ersten Absatz nennt. Auch ansonsten enthalten diese ersten Sätze schon alles, was im Folgenden wichtig werden wird. Die Mutter als zentrale Figur des Romans, das Reisen, die Schweiz als Handlungsort, die Verdauungsprobleme. Alles ist angelegt in diesen wenigen Sätzen, die die Anknüpfungspunkte an Krachts Debüt herstellen. Doch ist Eurotrash die Fortsetzung von Faserland? Und ist der Erzähler hier überhaupt Christian Kracht, auch wenn er behauptet, Faserland geschrieben zu haben?

Wahrheit und Fiktion

Eurotrash ist ein vertracktes Spiel mit Wahrheit und Fiktion. So erzählt Kracht von seiner Mutter, mit der er sich auf einen Roadtrip durch die Schweiz begibt. Schnell wird noch ein Bankdepot aufgelöst, die Franken in einer billigen Plastiktüte deponiert und schon kann es losgehen. Die Mutter neigt zu boshaftem Witz, übermäßigem Alkoholkonsum und einer steten Rastlosigkeit. Das Porträt, das der Erzähler von dieser Frau zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft, um es vorsichtig auszudrücken. Und doch widmet Kracht dieses Buch explizit seiner Frau, Tochter, Schwester und eben Mutter.

Christian Kracht - Eurotrash (Cover)

Und auch ansonsten bedient sich Kracht munter an der eigenen Familienbiographie, de er aber immer wieder bricht und ins Groteske umbiegt. Er erzählt von den Verstrickungen seiner Vorfahren in den Nationalsozialismus, von Luxusverwahrlosung, vom Aufstieg des eigenen Vaters im Springerkonzern. Gleicht man das Erzählte mit der Realität ab, finden sich immer wieder Kongruenzen, dann aber auch wieder Fantasmen und Übertreibungen. Was ist wahr, was erdacht? Was gelogen, was gut erzählt? Ist Christian Kracht Christian Kracht, auch wenn er sich im Roman sogar selbst so nennt? Eurotrash führt aufs Glatteis und nimmt viel von der Lesefreude, wäre man nur auf die Überpüfung der Realien bedacht.

Denn dieser rasant geschilderte Roadtrip im Taxi führt von Zürich nach Bern und Montreux, auf Berge, in Kommunen und in die Abgründe der eigenen Vergangenheit. Immer wieder sieht der Erzähler Kracht Nazis am Werk und erinnert damit stark an Bov Bjergs letztjährigen buchpreisnominierten Roman Serpentinen. Ist dort ein Vater mit seinem Sohn im Auto in der Berglandschaft der Schwäbischen Alb unterwegs, ist es hier eben der Sohn mit der Mutter in der Schweiz, die allerdings standesgemäß im Taxi reisen. Generell scheint in der (Schweizer) Gegenwartsliteratur der motorisierte innerfamiliäre Roadtrip zum probaten erzählerischen Mittel geworden zu sein. Man denke etwa auch nur an Tom Kummers Von schlechten Eltern.

Trügerische Sicherheiten

Doch weiter im Text mit Krachts Roman. Dieser beschränkt sich nicht nur auf die Erzählung dieses stellenweise fast surreal anmutenden Roadtrips. Auch in der Erzählung selbst sind einige kurze Erzählminiaturen eingebaut. Immer wieder verlangt seine Mutter zur Ablenkungen Geschichten, die ihr der Sohn erzählen soll, etwa dann, wenn beide in einer Seilbahn festsitzen. Dann fabuliert der Christian Kracht beispielsweise von einer ins Totalitäre gekippte Schweiz. Grotesk, manchmal nur hingeschludert sind diese Erzählungen, die eine weitere mögliche Ebene in Eurotrash hineinbringen. Nicht umsonst ist auch das Grab von Jorge Luis Borges im Roman von zentraler Bedeutung. Oftmals fühlt man sich auch hier in einem Spiegelkabinett der Realitäten und Wahrheiten.

Christian Kracht treibt ein hintergründiges Spiel mit uns Leser*innen und mit unseren Erwartungen. Und heizt damit wieder Spekulationen und Deutungen an – die dann im Feuilleton wieder aufgegriffen werden. So zeigt sich einmal mehr seine Raffinesse und seine Fähigkeiten im Spiel mit der Öffentlichkeit. Er beherrscht die Kunst, den Diskurs zu dominieren und sich dabei einer klaren Einordnung zu entziehen. Das ist eine wohltuender Gegenentwurf zu all den Autor*innen da draußen, die sich ständig selbst produzieren, ihr Schreiben erklären, jeglichen Mut zum Ambivalenten vermissen lassen.

Und auch die literarische Ebene von Eurotrash überzeugt neben all den Nebelkerzen, die Kracht so zündet. Der Blick des Erzählers ist genau, weicht auch vor Peinlichem oder Unschönem nicht zurück und treibt die Handlung rasant voran. Der Blick auf die Schweiz ist ganz eigen und changiert zwischen Heimat- und Antiheimatliteratur. Und auch die Frage nach Autofiktion oder reiner Fiktion verhandelt das Buch klug. Eines der wohl interessantesten Bücher in diesem Frühjahr, über das man vortrefflich streiten kann und das sich (genau wie sein Titel) einer eindeutigen Lesart gekonnt entzieht. Wahrlich geschickt gemacht von Christian Kracht!


  • Christian Kracht – Eurotrash
  • ISBN 978-3-462-05083-7 (KiWi)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ulrike Draesner – Schwitters

Literarische Künstlerbiografien boomen. Beschäftigte sich mit Markus Orths jüngst mit dem Maler Max Ernst, so wandte sich Robert Seethaler in seinem aktuellen Buch dem Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler zu. Und das mit durchwachsenem Erfolg. Nun hat sich auch Ulrike Draesner einen bedeutenden Künstler ausgesucht, von dessen Leben sie erzählt. Es handelt sich um Kurt Schwitters. Einflussreicher Dadaist, Gestalter, Fotograf, Künstler und Urheber des Gedichts An Anna Blume. Ein umtriebiger, getriebener Mensch und ein Sprachkünstler. Ein Protagonist, wie gemacht also für Ulrike Draesner, Professorin für Deutsche Literatur und akribische Spracharbeiterin.

Ein dreigeteiltes Leben

Nach ihrem kompakten Männerporträt in Kanalschwimmer nun also Kurt Schwitters. Dessen Leben erzählt sie dreigeteilt, einsetzend zur Zeit des Nationalsozialismus. Kurt Schwitters entschließt sich, zusammen mit seinem Sohn Ernst und dessen Frau nach Norwegen vor den Nazis zu fliehen. Dort, wo die Familie schon zuvor auf der Insel Hjertøya ihre Urlaube verbrachte, versucht er sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken. Zuvor hatten sie Schwitters Kunst als „entartet“ gebrandmarkt. Seine Frau Helma bleibt derweil in der familieneigenen Villa in Hannover zurück.

Ulrike Draesner - Schwitters (Cover)

Doch der Eroberungswillen der Nationalsozialisten kennt keine Grenzen. Immer weiter rücken sie in den Norden vor. Und so tritt Kurt mit seinem Sohn erneut die Flucht Flucht an, immer höher in den Norden hinauf. Schließlich entkommen sie per Schiff aus Norwegen. Eine Odyssee schließt sich an, bei der sie sich schließlich in einem Internierungslager auf der Isle of Man wiederfinden.

Der zweite Teil erzählt dann von Kurt „Körrrt“ Schwitters Leben in England. Seine Frau ist in Hannover verstorben, und so versucht sich Schwitters ein zweites Leben auf der Insel aufzubauen. Sein Schwanken zwischen den Ländern und vor allem zwischen den Sprachen fängt Ulrike Draesner in diesem Teil an. Den letzten Part des Buchs bildet das Nachleben von Schwitters. Der Streit, der um seine Kunst entbrannte, die Kämpfe, die Schwitters Sohn und die Geliebte ausfochten und dergleichen mehr. Davon erzählt Ulrike Draesner dann im Abschluss des Buchs.

Die drei Teile aus deutschem, englischen und Nachleben bilden Schwitters und zeigen einen vielschichtigen, komplizierten und ungemein produktiven Mann. Einen, der sich mit seiner Merz-Kunst beschäftigte, der die Frauen liebte, mit der Sprache kämpfte, der nicht anders konnte, als Künstler zu sein.

Schwitters-Sprache und Draesner-Sprache

Nun kann man über dieses Buch allerdings auch nicht sprechen, ohne über die Sprache des Buchs zu sprechen. Denn Ulrike Draesner eignet sich Schwitters Merz-Sprache an. Sie verknappt, spielt mit Worten, sucht, umkreist, tanzt. Das ist ungemein kunstfertig und untermauert Draesner Status als Wortkünstlerin – manchmal ist es allerdings auch ein wenig zu viel des Guten. Denn vor allem im England-Teil droht die Handlung gegen die Sprache zu verlieren. Etwas antriebslos dreht dieser Teil im Leerlauf und kommt nicht wirklich vom Fleck. Das Verloren-Sein nach dem Krieg, die Unentschiedenheit zwischen Deutsch und Englisch (nicht zuletzt entbrannte über den Staatsbürgerschaft-Antrag Schwitters nach seinem Ableben ein Streit) und die kreativen Themen. Sie interessieren Ulrike Draesner in diesem Teil mehr, als wirklich mit der Handlung voranzukommen. Das lässt diesen Teil gegen den hektischen, immer vorwärts treibenden ersten Teil des Schwitters auf der Flucht etwas blass erscheinen.

Ein Merzheft von Kurt Schwitters

Dieses Sprach-Problem, dass die Handlung an die Wand drückt, ist auch im Nachwort dieses Buchs zu besichtigen. In manchen Passagen droht vor lauter Wortspielen und ungewohnten Zugriffen auf die Sprache dieses Nachwort nahezu unlesbar zu werden. Die Virtuosität, die Draesner hier und an anderen Stellen im Buch ausstellt, ist für mich ein bisschen zu viel des Prunkens. Dass sie umgehen kann mit Sprache wie kaum ein anderer Autor oder eine Autorin, das hat sie ja schon hinlänglich bewiesen. Und auch der erzählerische Kniff, die Verlorenheit Schwitters zwischen der deutschen und englischen Sprache sprachlich nachzubilden, ist durchaus interessant. Hätte sie sich damit zurückgehalten und etwas mehr erzählt, dann wäre das Buch ein Meisterwerk geworden. So ist dieser Schwitters-Roman manchmal sprachlich etwas zu viel des Guten und hätte ein wenig mehr Lektorat und Streichungen verdient.

Fazit

Nichtsdestotrotz originell und eine angemessene Würdigung dieser Gestalt Schwitters, deren vielfältiges Oeuvre und Leben hier wieder begreifbar wird. Und eines, das ein Künstlerleben selbst wieder in ein Kunstwerk überführt. Ein Buch, das an Stelle des blassen Seethaler’schen Mahler-Portraits durchaus einen Platz auf der Longlist beim Deutschen Buchpreis verdient hätte.


Ein kleiner Hinweis noch an alle Leser eines physischen Schwitters-Romans: Es empfiehlt sich durchaus, dem Schutzumschlag etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und diesen einmal abzunehmen.

  • Ulrike Draesner – Schwitters
  • ISBN: 978-3-328-60126-5 (Penguin)
  • 480 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ein Gang ins Gericht mit sich selbst

Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe

Einmal mehr eine erstaunliche Wiederentdeckung, die dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis da gelungen ist. Susanne Kerckhoffs Berliner Briefe aus dem Jahr 1947. Ein Briefroman, der sich mit Schuld, Sühne, Verdrängung und der Frage auseinandersetzt, ob das geht: passiver Widerstand und aufrechtes Leben in einer Diktatur. Ein Roman, in dem sich in Form von Briefen seine Verfasserin und damit eine ganze Gesellschaft hinterfragt.


Betrachtet man die Nachkriegszeit und die Beschäftigung mit der Schuld der Deutschen, dann geht die Erzählung zumeist ja so: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug die Stunde Null. Verdrängung, Verleugnung und Totschweigen der Ereignisse während des Nationalsozialismus herrschten vor. Das Wirtschaftswunder brachte dem Land wieder den Aufschwung. Zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe und der eigenen Schuld kam es dann aber erst durch die 68er-Bewegung und die Hinterfragung der Schuld der Eltern durch ihre Kinder und Enkel.

Der Autor Harald Jähner schreibt über jene Nachkriegszeit, die er in seinem preisgekrönten Roman Wolfszeit getauft hat:

Wo waren sie hin, die stolzen Herrenmenschen, die angeblich lieber sterben wollten, als jedwede Form von Fremdherrschaft zu erdulden? Das fragten sich nicht nur die Besatzer, sondern auch die Deutschen selbst. Die meisten hatten ihre Führertreue mit einem Schlage eingestellt. Sie knippsten ihre ehernen Überzeugungn wie mit einem Schalter aus – und die Vergangenheit gleich mit. Wie sonst hätte jemand keine zwei Jahre nach Kriegsende auf die irre Idee kommen können, zu fragen, warum eigentlich niemand auf der Welt die Deutschen so richtigen leiden könne? „Was macht den Deutschen in der Welt so unbeliebt?“ überlegte tatsächlich im Januar 1947 die Zeitschrift „Der Standpunkt“, als hätte es den Krieg nie gegeben.

Jähner, Harald: Wolfszeit, S. 375

Eine vergessene Autorin wird wiederentdeckt

Doch dass es nicht alle Deutschen mit Verdrängung und Verleugnung bewenden lassen wollten, davon zeugt der Briefroman von Susanne Kerckhoff. Er zeigt eine Deutsche, die sich in Form eines Briefwechsels mit einem emigrierten Freund selbst hinterfragt. Sie geht mit sich selbst ins Gericht – und zeigt eine durchaus schizophrene Gesellschaft. Und das schon im Jahr 1948, zwanzig Jahre vor der Zäsur 68. Ein erstaunliches Buch.

Susanne Kerckhoff - Berliner Briefe (Cover)

Dabei ist schon das Schicksal seiner Autorin außergewöhnlich. Die 1918 geborene Susanne Kerckhoff schloss sich schon zu Schulzeiten der Sozialistischen Arbeiterjugend an, begann ab 1935 zu schreiben (zu Beginn noch weitestgehend unpolitische Prosa) und wurde 1937 Mitglied der Reichsschrifttumkammer. Nach dem Krieg trat sie in die SPD ein, trennte sich von ihrem Mann und den Kindern und wurde 1948 Mitglied der SED. Zugleich erschienen in diesem Jahr auch ihre Berliner Briefe. Ein Jahr später macht sie als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung Karriere. Nach publizistischen und ideologischen Debatten und sinkendem Rückhalt durch die SED-Regierung beging Kerckhoff 1950 schließlich Suizid. Ihr Grab befindet sich auf dem Berliner Waldfriedhof Grünau.

Ihr schriftstellerisches und lyrisches Werk fiel mehr oder minder dem Vergessen anheim, obwohl Monica Melchert und Ines Geipel schon lange für eine Wiederentdeckung dieser Autorin kämpften, wie Herausgeber Peter Graf in seinem Nachwort schreibt. Er hat nun im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis den Versuch unternommen, dieses Buch abermals einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Mit Erfolg, wie auch die Debatte im Literarischen Quartett nun zeigt.

Eine erstaunliche Selbstbefragung

Dass dieses Buch so erstaunlich ist, liegt auch darin begründet, dass es dem altbekannten Narrativ von einer gesamtgesellschaftlichen Verdrängung so offensichtlich widerspricht. Denn wie Susanne Kerckhoff hier mit ihrer Briefeschreiberin Helene und dem ganzen Land ins Gericht geht, und das schon drei Jahre nach Kriegsende, das erstaunt doch sehr. Unbarmherzig befragt sich die junge Frau selbst, indem sie 13 Briefe an Hans schriebt. Dieser hat das Land verlassen – und Helene legt ihm nun die Gründe für ihren Verbleib in Deutschland und die momentane Lage dar.

Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen: der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besigtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:

„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden! „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden! „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (…)

Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten“

Kerckhoff, Susanne – Berliner Briefe, S. 15f

Ihre Schilderungen der Nachkriegsgesellschaft, die Abwesenheit von Schuld- und Sühnebereitschaft, das beeindruckt. Ein wichtiges Zeitdokument, dass der Stunde-Null Erzählung leise, aber umso entschiedener widerspricht. Eine wirkliche Wiederentdeckung, die zurecht in den Medien nun vielfältiges Echo erfährt. Zudem noch ausnehmend toll gestaltet – so wie alle Bücher dieses Verlags.


Informationen zum Buch

  • Susanne Kerckhoff – Berliner Briefe
  • Herausgegeben von Peter Graf
  • ISBN: 978-3-946990-36-9
  • Erschienen im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
  • 120 Seiten, 20,00 €
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Andreas Eschbach – NSA

Wenn anstelle des Hashtags das Hakenkreuz fungiert – Andreas Eschbachs Fantasie über ein Drittes Reich mit Sozialen Medien und globaler Überwachung

Hier lernt man noch einiges: Anne Frank und ihre Familie wurden in ihrem Hinterhaus in der Prinsengracht in Amsterdam nicht etwa durch eine oder einen VerräterIn aufgestöbert. Nein, es waren die Daten der Familie Gies‘, die zur Ergreifung der Familie führten. Diese Daten wurden in Weimar ausgewertet, im NSA. Bei Eschbach wird aus der eigentlich amerikanischen Behörde das sogenannte Nationale Sicherheitsamt, das alle Daten der deutschen Bevölkerung und der unterworfenen Länder analysiert. Darunter fallen auch die Daten aus Amsterdam, die von fähigen Programmiererinnen und Analysten ausgewertet werden. Zu Demonstrationszwecken zeigt das NSA bei einem Besuch von Heinrich Himmler, wozu es mit seinen gespeicherten Daten in der Lage ist. So fallen bei Routineüberprüfungen die Einkaufs- und Verbrauchskennziffern in der Prinsengracht ins Auge. In einem Tony-Scott-reifem Showdown zeichnet Eschbach nach, wie es dem NSA gelingt, die Einsatzkräfte in Amsterdam nur per neuartigen Komputern und Daten zum Haus zu dirigieren und so für die Verhaftung von Anne Frank und Familie zu sorgen . Der Staatsfeind Nummer 1 trifft auf George Orwell – so könnte man die Grundidee hinter Eschbachs wuchtiger alternativen Geschichtsschreibung zusammenfassen.

Auch die Gemeinschaft der Weißen Rose um die Geschwister Hans und Sophie Scholl wird so gestellt, nachdem in Deutschland und anderen Orten plötzlich Flugblätter der Bewegung auftauchen. Doch die Macht von Big Data und die umfassende Überwachung des Sicherheitsamtes sorgt auch für ein schnelles Ende dieser Gruppe.

Ein Drittes Reich mit der Überwachung von Heute

Was wäre, wenn es im Dritten Reich bereits Computer, soziale Medien und die dadurch entstehenden Überwachungsmöglichkeiten gegeben hätte? Aus diesem Gedankenexperiment schöpft Eschbach. Dies tut er, indem er zwei unterschiedliche Mitarbeiter des NSA in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt.

Zum Einen ist da die Programmstrickerin Helene, die für die Ausarbeitung und korrekte Formulierung von Programmen zuständig ist, die dann von ihren männlichen Kollegen ausgewertet werden (es herrscht klare Geschlechtertrennung zwischen minderwertigen und höheren Tätigkeiten). Zum Anderen arbeitet im NSA Eugen Lettke, der seine Machtfülle und seinen Zugriff auf die Daten ausgiebig zu nutzen und missbrauchen weiß.

Diese beiden unterschiedlichen Charaktere lassen den Nutzer in ein NSA eintauchen, das gespenstisch unseren heutigen Behörden und ÜBerwachungsmöglichkeiten ähnelt. Auch wenn sich die Begriffe unterscheiden – in Eschbachs Fantasie des Dritten Reichs sind Hassrede, Denunziationen im Deutschen Forum, Whistleblower und Vollzeitüberwachung auch Themen, die einen stetigen Machtzuwachs der Überwachungsbehörde rechtfertigen. Immer wilder wuchert die Datenkrake, immer umfangreicher werden die Oberservationsmöglichkeiten, die den Machthabern zur Verfügung stehen. Das Volkstelephon lädt zur Belauschung und Ortung der Bevölkerung ein – schließlich will man ja möglichst genau wissen, was das eigene Volk so tut und treibt und welche Umtriebe zu befürchten sind. Besonders pikant wird das natürlich dann, wenn eine professionelle Aufdeckerin von Geheimnissen plötzlich selbst Geheimnisse hüten muss.

NSA liest sich wie eine Kreuzung aus Philipp K. Dicks The man in the high castle, seinem Minority-Report und wohl am deutlichsten George Orwells 1984.

Auch wenn das alles zunächst hanebüchen wirken mag, eher als Geschichtsklitterung und Parodie erscheinen mag – wie Eschbach seine Alternate History zu einem Ende bringt und seinen eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende geht, das ist dann doch sehr eindringlich gestaltet.

Angesichts des Umfangs von knapp 800 Seiten sind Flüchtigkeitsfehler (man kann wohl eher Tiere schlachten, Fleisch schlachtet man eigentlich nicht) und stellenweise stilistische Holprigkeiten zu verzeihen. Denn auf die Länge und besonders auf den Paukenschlagschluss hin betrachtet liegt mit NSA hier wieder ein stärkeres Buch aus dem Oeuvre von Eschbach vor, das zumindest mich größtenteils zu überzeugen wusste.

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