Tag Archives: Natur

María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier

Vom Stachelschwein bis zum Käfer – alles in María Ospina Pizanos Naturgeschichte ist beseelt. Sie erzählt in Für kurze Zeit nur hier vom Leben und Überleben der Tiere – und ihrem Nebeneinander neben dem Mensch. Leider lässt der Roman dabei eine überzeugende Idee hinter den einzelnen Episoden vermissen.


Alles beginnt mit einem Straßenhund, der im ersten Teil dieses aus insgesamt vier Episoden bestehenden Romans von den Straßen Bogotás weggefangen wird. Kati – so der spätere Name der Hündin – trifft im Tierheim auf die Hündin Mona, mit der sie sich anfreundet. Damit kommt dieses Hündinnengespräch übertitelte Kapitel schon zu seinem Ende und María Ospina Pizano wendet sich dem nächsten Tier in ihrer Reihe zu. Dafür geht es in die Luft, denn die Wanderung eines Scharlachkardinals steht im Fokus jenen Kapitels, das sowohl das längste und das überzeugendste in diesem Buch ist.

Der Weg dieses Zugvogels ist einer voller Mühen und Gefahren, die Pizano ausführlich schildert. Der zur Ordnung der Sperlingsvögel zählende Kardinal entgeht auf seinem Weg in den Süden nur knapp einem großen Vogelsterben zwischen den Wolkenkratzern Manhattans. Er überfliegt Statuen, sieht Geflüchtetencamps voller Minderjähriger an der Grenze zwischen den USA und Mexiko unter sich hinwegziehen. Er taucht auf dem Radar von Flughäfen auf und lässt sich weder von ausgebrachten Pestiziden noch von Ozeanen aufhalten, die er überquert, um dann am Ende seiner Kräfte doch noch sein Ziel zu erreichen.

Von Hunden, Vögeln, Maden und Stachelschweinen

María Ospina Pizano - Für kurze Zeit nur hier (Cover)

Dieser Episode folgen noch zwei kürzere Geschichten. Die erste handelt von einer Made, die in der Tradition Eric Carles zum Käfer wird und nach ihrer Verpuppung einige Abenteuer erlebt. Nach ihrem Weg aus der Erde gelangt das Käferweibchen zunächst in einen Kühlschrank – was dann schon eher an den Käferspezialisten Franz Kafka erinnert. Aus dem Kühlschrank setzt sich die Reise per Mangoldblatt und Auto über hundert Kilometer bis nach Bogotá fort, um schlussendlich im Magen einer Amsel zu landen.

Die letzte Geschichte in diesem fast ausschließlich aus tierischer Perspektive geschilderten Erzählreigen ist eine Erzählung, in der die menschliche Perspektive am ausgeprägtesten ist. Hier erzählt die 1977 in Bogotá geborene María Ospina Pizano von einer Frau, deren Hund einst ein trächtiges Stachelschwein riss. Das kaum überlebensfähige Stachelschweinbaby rettete die Frau aus dem Bauch der Mutter und zog es auf. Doch angesichts der Strafen, die die kolumbianische Regierung für die private Haltung solcher Wildtiere vorsieht, überantwortet sie das Jungtier nun einem sogenannten Wildtier- und Wildpflanzenversorgungs- und -begutachtungszentrum in Bogotá. Dort soll das junge Stachelschwein ausgewildert werden.

Es sind vier Geschichten, die nicht nur im Ausdruck und der Länge recht verschiedene sind. Sie alle verbinden sich zu einem mehr oder minder funktionierenden Reigen, da Pizano im letzten Teil des Romans das Zwiegespräch zwischen denen im ersten Teil eingeführten Hündinnen Kati und Mona wieder aufgreift, ehe es durch eine Adoption Katis zum Erliegen kommt.

Nezahualcóyotl und das indigene Erbe Kolumbiens

Wirklich rund oder stimmig ist das leider nicht wirklich, obschon Pizanos Debüt gleich mit einem Literaturpreis, nämlich dem Premio Sor Juana Inés de la cruz ausgezeichnet wurde und viele lobende Pressestimmen auf dem Buchrücken versammelt.

Kommend von der Forschung über Gewalt, Natur und Erinnerung in der zeitgenössischen kolumbianischen Kultur hat María Ospina Pizano an der Harvard University studiert – und diesen gelehrten Hintergrund merkt man Für kurze Zeit nur hier auch an.

So ist das Zitat, das dem von Peter Kultzen aus dem Spanischen übersetzten Buch den Titel gibt, eine Zeile des Herrschers und Dichters Nezahualcóyotl, der im 15. Jahrhundert im präkolumbischen Mesoamerika lebte. In seinen Zeilen beschwört er die Vergänglichkeit unseres Daseins auf der Erde. Damit liefert Pizano den wohl deutlichsten Hinweis, in welcher Tradition sich Maria Ospina Pizanos Text sich sieht.

Das kulturelle und indigene Erbe Südamerikas speist diesen Roman, nicht nur in vielen Zitaten. Vor allem der Gedanke des Animismus, als der Beseeltheit der ganzen Welt und damit auch der Tiere, spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch, das Tieren auf der Erde und in der Luft eine Perspektive gibt.

Dazu gesellen sich viele Gedanken und Theorien von Denker*innen und Autor*innen wie Ocean Vuong, Cristina Peri Rossi, Jaques Derrida oder Gabriela Mistral, die im Text aufgegriffen werden.

Der fehlende rote Erzählfaden

Doch leider ist die animistische Perspektive ebenso wie die ganze Erzählhaltung dieses Romans nicht überzeugend, da sich María Ospina Pizano mit erzählerischer Halbherzigkeit begnügt. Statt konsequent aus den Augen der Tiere auf die Welt zu blicken, ist es ein wenig überzeugendes Gemisch aus auktorialem Erzähler und Tierperspektive. Woher soll das Käferweibchen wissen, dass es hundert Kilometer zurückgelegt hat und sich nun in Bogotá befindet? Woher weiß die Hündin, dass es ein Bolero ist, der der Kehle ihrer neuen Besitzerin entströmt oder dass die Statue, die sie in Bogotá passiert, Simon Bolivar zeigt? Die profunde Kenntnis menschlicher Kulturbegriffe der Tiere bleibt ebenso unklar, wie das erzählerische Ziel María Ospina Pizanos.

Statt sich wirklich konsequent auf die tierische Perspektive eizulassen und daraus auch auf das zerstörerische Verhalten der menschlichen Spezies in puncto Vergangenheit und Gegenwart zu schauen, schwankt sie zwischen Tier und Mensch, zwischen indigenem Erbe und unterschiedlich überzeugenden Kapitel, denen zumindest für mich in der Gesamtschau einen überzeugenden roten Faden vermissen ließen, der dabei helfen würde, die einzelnen Episoden zusammenzuhalten.

Alles wird kurz angerissen, verfliegt dann aber wieder wie der über Manhattan kreisende Vogelschwarm. In ihrer Erzählhaltung und Qualität sind Pizanos Geschichten, deren Verbindung nicht über kleine gegenseitige Cameos der Tiere und Figuren in den anderen Geschichten hinausreicht, einfach zu disparat.

Eher Kurzgeschichten denn ein stimmiger Roman

Was hätte dieses Buch für Chancen geboten. Der Umgang mit dem indigenen Erbe in Kolumbien, das Miteinander von Tier und Mensch auf dem Planeten, das eher einem Gegeneinander gleicht, und die Veränderungen, denen dieses Miteinander unterliegt. Auch die Wanderungen der Tiere hätte ein spannender Ansatzpunkt werden könnten, ahmt doch der Mensch zunehmend das Wanderverhalten von Tieren nach, und das nicht nur im gezeigten Grenzland zwischen Süd- und Nordamerika. All das hätte hochinteressantes Erzählmaterial ergeben.

Aber leider blitzt all dies nur kurz auf. Durch die Unverbundenheit der Episoden hat Für kurze Zeit nur hier eher den Charakter von Kurzgeschichten, die kaum in faszinierende Tiefen vordingen wollen oder können. Dass es möglich wäre, das zeigt ja wie schon erzwähnt die Geschichte des Scharlachkardinals, die Pizanos Erzähltalent und die profunde Beschäftigung mit ihren Themen erahnen lässt. In der Ganzheit aller Geschichten ergibt sich aber leider trotz viel Potential kein überzeugender und stimmiger Roman.

Mir ist das leider zu wenig. Wie man überzeugender den Blickwinkel ändert und aus ungewohnter Perspektive erzählt, das hat Samantha Harvey zuletzt mit Umlaufbahnen bewiesen. Dahinter bleibt María Ospina Pizano in allen Belangen leider zurück.


  • María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-293-00622-5 (Unionsverlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Carl Nixon – Kerbholz

Verschollen in Neuseeland. Spannend montiert schickt uns Carl Nixon in seinem Roman Kerbholz in die Wildnis Neuseelands und zeigt drei Kinder im Überlebenskampf – und eine unbeirrte Suche nach den Vermissten.


Neuseeland, das ist diese grüne Insel, die für viele Urlauber, Student*innen und Weltreisende einen großen Reiz ausübt, befeuert nicht nur durch die Verfilmungen der Romane von J. R. R. Tolkien, die ein Land voller Idylle, weiter und abwechslungsreicher Landschaft zeigen. In Carl Nixons von Jan Karsten ins Deutsche übertragenen Roman Kerbholz ist das allerdings ganz anders. Denn der Neuseeländer zeigt sein Heimatland als ein gefährliches und dunkles, das einige Abgründe bereithält.

Die dunkle Seite Neuseelands

4. April 1978: kurz vor dem Dienstantritt seiner neuen Arbeitsstelle will der aus England stammende John Chamberlain die neue Heimat der Familie besser kennenlernen. Doch eine nächtliche Fahrt auf einem Highway inmitten der menschenleeren Wildnis Neuseelands geht gehörig schief.

Aufgrund des Aquaplanings stürzt das Auto der Familie mit den sechs Insassen von einer Brücke in den darunterliegenden Fluss, ohne dass irgendjemand in der Umgebung davon Kenntnis nimmt. Vater und Mutter sowie die jüngste, gerade neugeborene Tochter sterben. Nur die anderen drei Kinder überleben den Sturz in den Fluss und können sich ans Ufer retten.

Carl Nixon - Kerbholz (cover)

Jede Hoffnung auf Rettung zerschlägt sich allerdings rasch, da der Unfall in der unbelebten Einöde dort nicht registriert wurde. Und so liegt es nun an den Kindern, die für sich schauen müssen, wo sie inmitten dieser Landschaft aus Grün, Wasser und Felsen bleiben. Katherine übernimmt die Führung und versucht ihren Bruder Maurice und Tommy, der beim Unfall schwere Verletzungen an seinem Kopf davongetragen hat, irgendwie durch die neue Situation zu bringen.

Diesen Erzählstrang im Jahr 1978 kombiniert Carl Nixon mit dem Fund einer Leiche im Jahr 2010, der vor allem Suzanne, die Tante der damals verschwundenen Kinder, aufrüttelt. Bei dem Toten handelt es sich um Maurice, der per Zufall in der Nähe von Felsen gefunden wurde. Wäre dieser Fund der Leiche nun Jahrzehnte nach dem Verschwinden nicht schon für sich eine Sensation, findet sich bei ihm zudem auch noch eine ganze Menge Bargeld und ein Stock, der als Kerbholz identifiziert wird.

Verschollen in der Wildnis

Zudem stellt sich bei gerichtsmedizinischen Untersuchungen heraus, dass Maurice keineswegs unmittelbar nach dem Verschwinden der Eltern starb – vielmehr hat er noch einige Jahre gelebt, ehe er dann den Tod auf den Felsen fand. Was aber ist in der Zwischenzeit geschehen?

Das ist nicht nur eine Frage, die die Ermittlungsbehörden in Neuseeland interessiert – auch Suzanne lässt der Fund des toten Jungen nicht mehr los. Was ist damals wirklich passiert und wo sind die Kinder abgeblieben, warum führte Maurice so viel Bargeld mit sich und was hat es mit dem geheimnisvollen Kerbholz auf sich?

Diese Fragen dröselt Carl Nixon im Folgenden auf, wenn er die miteinander verflochtenen Erzählstränge wieder langsam entwirrt und von der unbeirrten Suche Suzannes ebenso wie vom Abenteuer – oder eher Martyrium – der Chamberlain-Kinder erzählt. Wie sich diese anpassen müssen, wie sich die Welt weiterdreht und diese vergessen werden, all das liest sich wirklich spannend.

Carl Nixon gelingt ein packender Roman, der ein Neuseeland fernab von Hobbit-Romantik und Backpackeridylle zeigt. Die Natur hier ist wild und rau, gefährlich und kommt Menschen mit wohlbegründeter Kontaktscheu äußert zupass, ohne an dieser Stelle zu viel von der Handlung vorwegnehmen zu wollen.

Fazit

Schnell liest man sich durch die flott getakteten Seiten, die zwischen Überlebenskampf und Überlebendensuche hin- und herwechseln und damit einen großen Drive entfalten. Nixon schafft es, sowohl das Schicksal der Kinder als auch die Kulisse seines Romans packend zu schildern. Dass dieser Roman im vergangenen Jahr zweimal für die Krimiwelt-Bestenliste nominiert war, ist keine Überraschung.

Kerbholz vermengt Elemente aus Familienroman, Nature-Writing, Survivalthriller und Spurensuche zu einem tollen Roman, der nun nach der Erstausgabe im Culturbooks-Verlag nun auch in einer schön gestalteten Ausgabe der Büchergilde vorliegt.


  • Carl Nixon – Kerbholz
  • Aus dem Englischen von Jan Karsten
  • Artikelnummer 175134 (Büchergilde Gutenberg)
  • 304 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Daniel Mason – Oben in den Wäldern

Der kleine Garten am Rande der Welt. In seinem neuen Roman Oben in den Wäldern erzählt Daniel Mason literarisch clever verzahnt von der wechselvollen Geschichte eines Gartens im Hinterland von Massachusetts – und vom Werden und Vergehen im Lauf der Zeit. Literatur, die sich unterschiedlicher literarischer Erzählformen bedient und damit zu überzeugen weiß.


Zwei Romane sind von Daniel Mason bereits in deutscher Übersetzung erschienen. Auf Der Wintersoldat und Der Klavierstimmer Ihrer Majestät folgt nun das von Cornelius Hartz ins Deutsche übertragene Oben in den Wäldern. Von allen drei Büchern ist dies hier Masons bislang bester Roman, weil auch literarisch am überzeugendsten. Denn Daniel Mason gelingt hier ausgehend von einem Garten als erzählerischen Herzstück eine kunstvoll miteinander verbundene Geschichte, die durch ihre stilistische Collagentechnik und Formenvielfalt einen großen Reiz entfaltet.

Geschichte in Massachusetts

Ausgangspunkt des Ganzen ist ein junges Paar, das sich in den Tagen der ersten Siedler nach der Flucht vor ihren Häschern auf dem Grund des neu entdeckten Kontinents niederlässt. Er kam als Immigrant aus England nach Amerika, sie verliebte sich in Neuengland in ihn, beide schwören sich in einem fast heidnischen Ritual den Bund fürs Leben und leben fortan in den Wäldern Neuenglands, um sich dort die Erde untertan zu machen.

Schon nach wenigen Seiten bricht diese Erzählung zugunsten eines „Todesengel-Briefs“ ab, in dem eine Frau in einem altertümlichen, elliptischen Ton erzählt, wie sie mit ihrem jungen Kind vor Mord und Totschlag floh, bei einer Frau in deren Hütte Unterschlupf fand und wenig später selbst zu Axt und Muskete griff, um mehrere Soldaten zu töten, die ihrer habhaft werden wollten.

Diese beiden kurzen Geschichte in einem jeweils ganz eigenen Erzählton bilden die Anfangskapitel eines Reigens, dem viele weitere Episoden folgen werden, die von der Zeit der Gründungstage der USA bis in die Gegenwart hineinschreiten (für die Cornelius Hartz ein ebenso variantenreiches und spielerisches Deutsch findet).

Ein Netz an Themen und Figuren – mit einem Garten im Zentrum

Viele Motive und Figuren schälen sich aus den nun folgenden gut vierhundert Seiten allmählich heraus. Die größte Bedeutung als einer Art Ureltern-Generation aller folgenden Ereignisse kommt dabei den Osgood-Schwestern zu.

Daniel Mason - Oben in den Wäldern (Cover)

Diese übernahmen einst von ihrem Vater die Apfelplantage, die dieser nach seiner Zeit als Soldat begründet hatte. Dieser hatte in einer ruhelosen Suche, die ihm von seinem Umfeld schon als Wahn ausgelegt wurde, nach dem perfekten Apfel gesucht. Fündig wurde er durch Zufall im Hinterland von Massachusetts, wo er ein altes Haus vorfand, das ihm Heimstatt wurde und von dem aus er an seinem Plan der Zucht des perfekten Apfels arbeitete.

Die Schwestern widmeten ihr ganzes Leben nun der Hege und Pflege des von ihrem Vater hinterlassenen Erbes. Sie lassen in einer geradezu bukolischen Idylle Schafe zwischen den Bäumen weiden, kultivieren den angrenzenden Garten – und doch ist auch diesem Erzählstrang schon das eingeschrieben, was im Folgenden eines der großen Vorzeichen ist, unter dem die mühsam aufgebaute Idylle steht, nämlich der Verfall.

Denn was damit beginnt, als eine der Schwestern nicht nur sprichwörtlich die Axt an einige der Apfelbäume legt, wird sich im Folgenden fortführen. Hotelbesitzer, Liebespaare, Insekten und Pilzsporen, sie alle tun ihr Übriges, um die einstige Pracht der Plantage zu Fall zu bringen.

Hundert Jahre sind vergangen, seit der Berglöwe alle Schafe der Osgoods gerissen und Veränderungen in Gang gesetzt hat, die die Landschaft rund um das Haus stark geprägt haben. Das Weideland ist Brombeergestrüpp gewichen, das Brombeergestrüpp Unterholz und das Unterholz Birken und Kiefern, Aus den Vorräten, die das Eichhörnchen angelegt hatte, das eines winterlichen Morgens von einer Eule erbeutet worden ist, sind Eichen, Buchen und Kastanien gewachsen. Im Lauf der Jahre sind in dieses zweite Stück Wald mehrere kleinere Lichtungen geschlagen worden: ein Gemüsegarten, ein Krocket-Rasen für Hotelgäste, die niemals kamen. Am Rande ebenjenes Rasens steht eine Buche, die geschwächt ist durch einen Riss, den ein morgendlicher Frostanfall verursacht hat, sowie durch die Übergriffe von Spechten und Miniermotten, die kryptische Runen in die Blätter geritzt haben.

Daniel Mason – Oben in den Wäldern, S. 239

Das Werden und Vergehen als große erzählerische Motive

Ähnlich wie Annie Proulx interessiert sich auch Daniel Mason hier für die langen Zeitläufe, das Auf und Ab im ökologischen Gleichgewicht und die Mitwirkung des Faktor Mensch über die Jahrhunderte hinweg.

Ein Maler, dem das Haus und der angrenzende Wald später als Rückzugsort und für Inspiration dient, einfallende Liebespaare, die die Hütte nutzen, ein Jäger, der aus dem Gelände rund um das baufällige Haus, in dem seit den Anfangstagen des Landes immer wieder Menschen Zuflucht fanden, ein Hotel machen will (es dann aber mit Geistern zu tun bekommt): immer wieder tauchen Figuren und Motive als Widergänger auf, hat das Erbe, das einst mit dem „Todesengel“ und des jungen Paars auf der Flucht begann, Auswirkungen auf die Gegenwart, spinnen sich frühere Motive und Schicksale fort, bilden erzählerische Fäden ein ganzes Knäuel aus Bezügen.

Der Apfel als Symbol der Pracht und des Begehrens, eine alte Bibelausgabe mit Notizen, die Osgood-Schwestern mitsamt der von ihnen verfassten Balladen, die immer wieder zwischen den insgesamt etwa zehn Kapiteln und Geschichten auftauchen, ein irrlichternder Berglöwe – alles ist hier mit allem verbunden, wie es auch im konzeptionell ähnlichen strukturierten Roman Der Wolkenatlas von David Mitchell heißt.

Eine Fülle an Erzählformen

Besonders schön an diesem Roman ist neben aller erzählerischen Verzahnung von Motiven und Figuren über die Jahrhunderte hinweg auch die bewundernswerte Fülle an Erzählformen und -weisen.

Neben den schon erwähnten Balladen und Briefen gibt es die herzzerreißende Korrespondenz zwischen einem Maler und Dichter, bei dem sich alles Entscheidende nur zwischen den Zeilen abspielt. Ein Redemanuskript zu einem Vortrag, eine Studie zum psychischen Status eines Patienten, der großartig parodierte Stil eines Revolvermagazins aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (das mit seinem Titel True Crime schon heutige Sensationslust und Gewaltfaszination vorwegnimmt). All das und noch so viel mehr steckt in dieser literarischen Wundertüte namens Oben in den Wäldern.

Bei so viel erzählerischer Kreativität verzeiht man Daniel Mason auch die unfreiwillig komische Perspektive eines Ulmensplintkäfers, dessen sexuelle Begierde den Niedergang des einstigen Prachtgartens beschleunigt. Hier einmal etwas zu sehr verrutscht zeigt das Buch aber ansonsten in einer wirklich großartigen Qualität, wie sich Nature Writing, konzeptionelle Finesse und erzählerische Fabulierlust zu einem großartigen und kurzweiligen Leseerlebnis vereinen. In diesen literarischen Garten darf man sich gerne wagen – und immer wieder kommen. Es gibt nämlich so viel zu entdecken!


  • Daniel Mason – Oben in den Wäldern
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-81381-8 (C. H. Beck)
  • 429 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Peter Heller – Die Lodge

So ein Blog hat auch sein Gutes. So dachte ich, mit Peter Heller einen ganz neuen Autoren entdeckt zu haben, nur um dann festzustellen, dass er bereits seit einigen Jahren auf dem Blog hier vertreten ist. So hatte ich sein dystopisches Debüt The Dog Stars im Jahr 2013 unter dem Titel Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte tatsächlich schon gelesen und besprochen, wie ich bei einem Blick ins Archiv feststellen durfte. Die damalige Erstbegegnung mit Peter Heller war mir – auch eingedenk der verstrichenen Zeit von neun Jahren – so gar nicht mehr präsent.

Erst vor zwei Jahren war Peter Heller wieder auf meinem Radar aufgetaucht, damals veröffentlichte der Verlag Nagel & Kimche den Outdoor-Thriller Der Fluss um zwei Freunde, die eine Kanutour auf dem Maskwa River in Nordkanada unternehmen wollen. Die Lodge ist die Fortsetzung des Vorgängerbandes, die mit 272 Seiten exakt die gleiche Lauflänge wie der erste Outdoor-Thriller aufweist, für dessen Lektüre man Der Fluss allerdings nicht gelesen haben muss. Nach den Geschehnissen in jenem Buch ist es nun nur noch Jack, der im Mittelpunkt steht.

Ein Job auf einer exklusiven Fishing-Lodge

Dieser möchte es etwas ruhiger angehen und hat auf einer exklusiven Fishing-Lodge eine Stelle als Guide erhalten. Den restlichen Sommer über bis zum Beginn des Winters dauert sein Engagement, das äußerst gut dotiert ist:

Die Lodge sei ab dem zwanzigsten August ausgebucht, hatte ihm der Manager gesagt. Sie würden entweder am einunddreißigsten Oktober schließen oder wenn es zu sehr schneite, je nachdem, was zuerst kam. Jack würde einen Angler pro Tag führen, höchsten zwei, aber nicht mehr. Absolutes Luxusangeln. Zweihundert Dollar pro Tag plus Trinkgeld, alle zehn Tage einen Tag frei, es sei denn, er verzichtete darauf. Ein schönes Sümmchen. Weniger, als er auf einen Driftboot auf dem Colorado verdienen konnte, aber dafür inklusive Lost, Logis und [zwei Drinks oder zwei Bier am Abend].

Peter Heller – Die Lodge, S. 10
Peter Heller - Die Lodge (Cover)

Das lässt sich nicht schlecht an, sodass Jack den Job gerne antritt. Allerdings beunruhigt ihn das hermetisch abgeschlossene Gebiet der Lodge etwas. Er braucht einen Code, um die Lodge zu verlassen, Waffen muss er abgeben, auf dem angrenzenden Grundstück lebt ein schießwütiger Nachbar, der bei unerlaubtem Eindringen auf sein Gebiet zur Flinte greift. Auf einem anderen Grundstück laufen Mastiffs frei herum. Und als Jack das erste Mal zum Angeln aufbricht, entdeckt er unter einer Brücke eine Kamera, die ihn beobachtet.

Zusammen mit seinem Gast, der Sängerin Alison, versucht Jack langsam hinter das Geheimnis der Lodge zu kommen. Welche Geheimnisse verbergen die anderen Gäste? Wozu dient die Videoüberwachung? Und welches Spiel spielt der Manager der Lodge?

Ein geradliniger Outdoor-Thriller

Peter Heller hat einmal mehr einen geradlinigen Outdoor-Thriller geschrieben, der das Angeln in der wilden Natur mit dunklen Machenschaften kreuzt, die der findige, waffenversierte und äußerst kernige Held Jack nach und nach aufdeckt. Vom friedlichen Angeln in der Idylle bis zu einem finalen Survivalthriller reicht der Bogen, den Peter Heller spannt. Dabei passiert alles vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie. Die Menschen tragen Masken, strecken sich nur Ellenbogen oder die Fäuste zur Begrüßung hin – und von der Ferne dräut schon wieder eine weitere Pandemie…

Das Buch liest sich schnell, kann durch die ausgiebigen Naturschilderungen überzeugen und passt sich damit in eine ganze Reihe ähnlicher Bücher ein, beispielsweise die Erzählungen von Taylor Brown, Claire Fuller oder Michael Christie. Ein Thriller, wie gemacht, um ihn in einem Zug zu lesen. Eine imposante Kulisse, ein uramerikanischer Held, dunkle Machenschaften. Peter Heller liefert, was von ihm erwartet wird und knüpft damit an seinen Erfolg Der Fluss an.

Dabei war es alleine das Bilderberger-Eliten-Verschwörungsnarrativ, das Peter Heller in Die Lodge bedient, das mich in seiner Einfachheit und Abgedroschenheit etwas störte. Ansonsten gibt es bei diesem geradlinigen Thriller wenig zu meckern. Und da Nature Writing in Verbindung mit Krimihandlungen gerade sowieso boomt (man denke nur an Delia OwensDer Gesang der Flusskrebse), rechne ich auch diesem Buch durchaus wieder gute Chancen auf dem Buchmarkt aus.


  • Peter Heller – Die Lodge
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Marlene Fleißig
  • ISBN 978-3-7556-0008-4 (Nagel & Kimche)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage

Romane, die vom Überleben in der Natur erzählen, liegen im Trend. Das zeigen viele der Neuerscheinungen in letzter Zeit. Da wäre etwa Gabriel Tallents Mein Ein und Alles, in dem der Autor von einem Mädchen und dessen Vater erzählt, der sich als Prepper auf das Überleben in der Natur vorbereitet und sein Kind als Waffe erzieht und prägt. Diesem mit zu viel literarischen Geschmacksverstärkern, krasser Explizität und Fehltönen aufgeladenen Roman folgten eine ganze Riege an thematisch ählich gelagerten Romanen.

Mick Kitson tat dies mit Sal, und machte seinen Job deutlich besser. Auch C. H. Beck brachte eine Überlebensgeschichte in der Wildnis auf den Markt. Diese lieferte Rye Curtis mit dem Titel Cloris und erzählte von der gleichnamigen Seniorin, die sich nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der Bitterroot Mountains durchschlägt. Während eine alkoholkranke Rangerin die Seniorin sucht, kämpft sich diese mithilfe eines mysteriösen Helfers durch die unwirtliche Natur.

Auch könnte man Michael Crummeys Schilderung des Überlebenskampfes eines Geschwisterpaars vor der rauen Kulisse Neufundlands um 1800 in diese Reihe stellen. Oder in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt wäre Edan Lepuckis California zu nennen. Viele Bücher also, zu denen sich nun auch noch Claire Fullers Roman Unsere unendlichen Tage gesellt. Ein Roman, der viele Themen und Motive der eingangs erwähnten Bücher in sich vereint.

Trotzdem sollte man dieses Buchs nicht der billigen Kopie oder einer lieblosen Amalgamierung von bereits Bestehendem bezichtigen. Denn dieser Roman ist das Debüt Claire Fullers, der eigentlich schon 2015 erschien, nun aber erstmals auf Deutsch vorliegt. Ein Buch, das viele der späteren Themen der Autorin vorwegnimmt und das vom Überleben in der Bergwelt Bayerns erzählt.


Liest man Unsere unendlichen Tage, so ist man erstaunt, wie viele Motive und Themen sich hier finden, die später in den Romanen der Britin wichtig werden sollten.

Sie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Peggy, die in den 70ern als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter aufwächst. Ihre Mutter Ute ist eine gefeierte Konzertpianistin, die sogar den renommierten Chopin-Wettbewerb gewonnen hat. Ihr Vater ist das, was wir heute als Prepper bezeichnen. Ein Apokalyptiker, der sich mittels hauseigenem Atombunker, Listen und Vorräten auf das Überleben nach einem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereitet. Als ihre Mutter zu einer längeren Konzertreise aufbricht, beginnt Peggys Vater zusammen mit ihr eine Reise.

Eine Reise, die sie über den Ärmelkanal führen wird, quer durch verschiedene Länder, ehe die beiden einer Bergregion ankommen, in der die Bewohner Bajuwarisch sprechen, wie ihr Vater es Peggy erklärt. Er ist von der Idee einer hutta besessen, die sich dort irgendwo in den Bergen befinden soll. Nach einiger Suche stoßen die beiden tatsächlich auf die Überreste einer Hütte, die zum Unterschlupf der beiden für die nächsten acht Jahre werden soll. Die Menschheit, so erklärt es Peggy ihr Vater, ist vernichtet worden, hinter den Gipfeln und einem reißenden Fluss befindet sich das Nichts. Nur sie beiden hätten überlebt, so geht die Geschichte ihres Vaters, die Peggy zunächst nicht hinterfragt.

Vom Überleben in der Natur

Claire Fuller - Unsere unendlichen Tage (Cover)

Immer wieder springt Claire Fuller in ihrem Roman zwischen den Ereignissen in jenen acht Jahren und der Gegenwart des Jahres 1985 hin- und her. Peggy ist in der erzählten Gegenwart zurück im Elternhaus – inzwischen hat sie sogar einen Bruder bekommen. Doch der ganze Umfang der damaligen Ereignisse und die Hintergründe liegen noch im Nebel. Erst allmählich dröselt sie ihre Geschichte auf, verbindet Erkenntnisse aus der Gegenwart mit Zurückliegendem.

Unsere unendlichen Tage ist eine Geschichte, die vom Überleben erzählt und die die Natur mitsamt all ihrer Reize und Gefahren ausleuchtet. Stark, wie Claire Fuller die archaische Bergwelt inszeniert. Der reißende Fluss, die reichhaltige Flora und Fauna, aber auch die tödlichen Gefahren durch lange Winter und Waldbrände. Fuller zeichnet das Überleben in der Natur in sämtlichen Schattierungen.

Dass die Plausibilität des Debüts manchmal etwas auf der Strecke bleibt, möchte ich hier nicht verschweigen. Dass Peggy und ihr Vater unbemerkt in dieser Hütte acht Jahre leben sollten, das scheint mir auch im Bayerischen Wald der 70er Jahre etwas übertrieben, vor allem eingedenk der Tatsache, dass der Bayerische Wald seit dem Jahr 1970 Nationalpark ist. Zwei Menschen in einer Hütte, unbemerkt von Landvermessern, Waldarbeitern oder Jägern, da scheint doch die Realität mit der Fiktion zu kollidieren.

Nicht immer ist dieses Erählen ganz präzise, manchmal bleiben Leerstellen, auch die Auflösung deutet sich schon etwas zu klar an. Die psychologische Ausdeutung des Vaters bleibt durch den kindlichen Blick Peggys über lange Zeit auf der Strecke und wird genauso wie die räumliche Verortung des Schauplatzes erst sehr spät angegangen. Dennoch hat das alles Wucht – für ein Debüt läuft der Erzählmotor erstaunlich rund und kraftvoll.

Viele spätere Themen sind schon angelegt

Blickt man nun auf diesen Erstling zurück, ist es auch faszinierend, wie viele Themen aus den folgenden Werken Claire Fullers hier schon angelegt sind.

Da ist zunächst die Kultur als Überlebenstechnik, wie sie später für Ingrid in Eine englische Ehe essenziell wird. Wo Ingrid die Literatur zum Leitstern der eigenen Existenz wird, ist es in Unsere unendlichen Tage die Musik in Form eines selbstgebauten Klaviers, das sich Peggy und ihr Vater ausgedacht haben. Darauf lernt Peggy das Klavierspiel und kehrt immer und immer wieder zu Lizsts La Campanella zurück, das ihr Kraft und Trost spendet.

Doch nicht nur die Kultur ist schon hier als Motiv zu entdecken, auch die Natur spielt immer wieder im Schreiben Claire Fullers eine Rolle, etwa wenn das Herrenhaus in Bittere Orangen langsam von der Natur zurückerobert wird, während die Beziehungen der Protagonist*innen ebenfalls großen Veränderungen unterworfen sind.

Auch die Frage weiblicher Selbstbestimmung ist ein Motiv, das sowohl Unsere unendlichen Tage als auch die späteren Romane der Autorin prägt. Das Erkennen eigener Bedürfnisse, die Ausprägung eines eigenen Charakters gegen männliche Widerstände, das ist etwas, das die Autorin merklich umtreibt.

Schön, wie man diese ganzen Motive und ihre Entwicklung nun dank des abermals von Susanne Höbel ins Deutsche übertragenen Debütromans verfolgen kann. Hier ist eine Autorin zu entdecken, die sich mit jedem Buch neu erfindet, in ihren übergreifenden Motiven aber treu bleibt – und das auf einem erfreulich hohem Niveau.

Fazit

Trotz aller Mängel und kleinen Unwuchten im Erzählen ist Unsere unendlichen Tage ein beeindruckendes und nachhallendes Buch. Für ein Debüt schnurrt der Erzählmotor hier bereits sehr rund. Claire Fuller gelingt ein Buch, das vom Überleben in der Natur und der Rettungskraft der Musik erzählt. Im Konzert der eingangs erwähnten Überlebenstitel kann Fullers Roman absolut bestehen.

Schön, dass dieses nachgereichte Debüt nun endlich auf Deutsch vorliegt. Claire Fuller wäre größerer Ruhm zu gönnen – ihr vielfältiges Schreiben verdient es!


  • Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-492-05828-5 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen