Tag Archives: Suche

Amor Towles – Lincoln Highway

Vier Jungen ohne Väter, eine Reise in zehn Tage. Dazwischen ein Bogen aus Geschichten, Schicksalen und antiken Mythen. Mit Lincoln Highway gelingt Amor Towles ein Gegenentwurf zu seinem vorhergehenden Roman Ein Gentleman in Moskau – und ein Buch mit fast klassikerhaften Zügen und dem Zeug zum Bestseller.


„Das ist der Lincoln Highway“, erklärte Billy und fuhr an der schwarzen Linie entlang. „Er ist 1912 erfunden worden und nach Abraham Lincoln benannt, die erste Straße, die Amerika von Osten nach Westen durchquert.“

Billy setzte die Fingerspitze auf den Anfang am Atlantik und fuhr an der Linie entlang.

„Der Lincoln Highway fängt in New York am Times Square an und geht bis zum Lincoln Park, San Francisco, der dreitausenddreihundert Meilen weiter westlich liegt. Und er führt durch Central City, das ist nur zwanzig Meilen von unserem Haus entfernt.“

Amor Towles – Lincoln Highway, S. 32 f.

Saß Graf Rostov, der Held von Amor Towles letzten Roman Ein Gentleman in Moskau im Hotel Metropol fest und verbüßte seine lebenslange Haft in statischer Verdammtheit, so ist in Lincoln Highway nun alles beständig in Bewegung. Es beginnt schon mit einer Autofahrt zu Beginn des Romans, der noch viele weitere Kilometer folgen werden.

Von Nebraska bis San Francisco (eigentlich)

Nach einem unglücklichen Zufall, der zum Tod eines anderen Jungen führte, befand sich Emmet in der Besserungsanstalt Salina, die er nun im Juni des Jahres 1954 als 18-Jähriger verlässt. Auf der elterlichen Farm in Nebraska wartet allerdings nur sein Bruder in Begleitung eines benachbarten Farmers – und ein Banker, der Emmett über die Schulden seines verstorbenen Vaters unterrichtet.

Amor Towles - Lincoln Highway (Cover)

Auf der elterlichen Farm hält Emmett nach seiner Vorgeschichte nicht mehr viel – besonders als sein kleiner, hochintelligenter Bruder Billy zehn Postkarten enthüllt, die ihnen ihre Mutter einst schrieb und die Stationen des Lincoln Highways markieren. Billy vermutet seine Mutter in San Francisco, weswegen die Brüder in zehn Tagen von Nebraska gen Westen reisen wollen. Der Studebaker, den Emmetts Vater seinem Sohn vererbte, steht bereit und so könnte es eigentlich losgehen. Doch statt eines brüderlichen Roadtrips durch die Weiten der USA kommt alles ganz anders.

Denn kurz nach der Ankunft auf der heimischen Farm klopft es an der Tür und es stehen zwei weitere Insassen der Besserungsanstalt von Salina vor Emmetts Haustür. Woolly und der Ich-Erzähler Duchess erweisen Emmett die Ehre, nachdem sie als blinde Passagiere im Kofferraum des Direktorenwagens gereist sind. Sie haben ganz andere Reisepläne als Emmett, denn sie wollen nach New York, um an ein Erbe von Woolly zu gelangen. Und so beginnt eine Reise, die sich völlig unvorhergesehen entwickelt und die immer wieder mannigfaltige Überraschungen und Begegnungen bereithalten soll.

Stets in Bewegung

Ob im Studebaker oder als blinde Passagiere in Zügen, ob vertikal in Aufzügen oder horizontal auf Seen oder Straßen – beständig drängen die Figuren in diesem Roman voran, jagen Idealen, verschollenen Familienmitgliedern oder dem großen Geld hinterher, stets begleitet von antiken Vorbildern, die Billy im Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden des Professors Abernathe entdeckt und seinen Reisegefährten nahebringt.

Das erinnert in seiner überstürzenden Hast und der vorwärtsdrängenden Bewegung an Klassiker der Reiseliteratur wie Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt, wenngleich es hier nur zehn Tage sind, die das Handlungsgeschehen bestimmen (und immer wieder als Leitmotiv in verschiedensten Abwandlungen auftauchen, von Hausregeln und Countdowns bis hin zu den Zehn Geboten, die das Personal des Romans immer wieder bricht)

Zwischen all diese Bewegungen und Reisen setzt Amor Towles mitreißende Begegnungen, die von reisenden Hobos und Illusionisten bis zu doppelzüngigen (und reichlich gefährlichen) Predigern reichen, was an einen anderen Klassiker erinnert, nämlich Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das lässt trotz der Länge von fast 580 Seiten keine Langweile aufkommen, da durch die Struktur eines Countdowns, die Vielfalt der Figuren und den immensen Geschichts- und Schicksalsbogen Abwechslung ebenso wie Dramatik gegeben ist.

Weit mehr als ein schlichter Road Novel

Diese Vielfalt ist es, die Lincoln Highway auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit verleiht, wenngleich der Handlungsrahmen des Buchs ja eigentlich mit zehn Tagen im Juni 1954 sehr eng gesteckt ist. Diese Enge weiß Amor Towles aber maximal für sich zu nutzen und erzeugt durch seine Schilderungen von Tramps und Reisenden das Bild eines nostalgischen Amerikas, das aber nie in platten Americana-Kitsch abkippt. Stets ist doch auch das Gefühl des Verlusts, des Platzens von Illusionen und des Schmerzes präsent, der besonders am Ende des Romans zum Vorschein kommt und der das Buch zu weit mehr als einem gewöhnlichen Road-Novel macht.

Auch maximiert er durch diese Vielfalt an Schicksalen das Identifikationspotenzial, das dem Buch innewohnt. Acht ebenso heterogene wie plausibel geschilderte Figuren aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sind es, denen man in Lincoln Highway begegnen kann und deren Schicksale und Geschichten zur Identifikation einladen. Das macht das Buch maximal anschlussfähig und sollte für viele begeisterte Leserinnen und Leser sorgen, weshalb ich Towles Buch durchaus einen ähnlichen Erfolg zutraue, wie er ihm schon in den USA beschieden war. Dort stand das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten und verkaufte sich innerhalb weniger Monate millionenfach.

Zeitdruck bei der Übersetzung?

Schade nur, dass die Übersetzung von Susanne Höbel ins Deutsche mit der Güte von Towles Werk nicht so ganz mithalten kann. An einigen Stellen wirkt es so, als sei nicht allzu viel Zeit für gründliches Arbeiten geblieben. Die Protagonisten begrüßen sich des Öfteren mit einem „Hallo da“, was im Englischen als „Hello there“ gang und gäbe sein mag, im Deutschen allerdings etwas merkwürdig klingt und eher ein „Hallo zusammen“ oder „Hallo miteinander“ wäre.

Auch wirkt es wenig idiomatisch, wenn Emmets Bruder Billy auf Seite 405 Folgendes erklärt: „Im Jahr 49 BC war Cäsar Gouverneur von Gallien“. Before Christ hätte man hier durchaus als „vor Christus“ übersetzen können, statt den englischen Terminus stehen zu lassen. Auch andere Formulierung wirken ab und an etwas befremdlich, sodass sich der Eindruck von Übersetzungshektik in der deutschen Version manifestiert. Das ist schade, da Susanne Höbel ja ansonsten Romane wirklich gelungen ins Deutsche zu übertragen weiß.

Fazit

So bleibt festzuhalten, dass Lincoln Highway das Zeug zum Klassiker hat. Amor Towles bietet darin neben überzeugendem Erzählhandwerk eine Vielzahl an Figuren und Schicksalen auf, die die Leser*innen für sich einnehmen dürften. Er zeigt in der Tradition von Mark Twain Hobos, Dynastiesprößlinge, Farmerkinder und falsche Prediger, die sich alle auf der Suche befinden und denen allesamt Unrast und ein steter Bewegungsdrang zueigen ist. Das macht aus Lincoln Highway ein nimmermüdes Lesevergnügen, bei dem es zu keinem Zeitpunkt zu Stillstand oder gar Langeweile kommt. Es ist ein Road Novel, es ist mehr als ein Road Novel, es ist eines der Bücher, das die Bestsellerlisten erobern dürfte und auch über das kurzlebige Novitätengeschäft hinaus das Zeug zum Longseller hat.


  • Amor Towles – Lincoln Highway
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)
  • 576 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Kyle Perry – Die Stille des Bösen

Krimis aus Übersee findet man in den Buchhandlungen en masse, auch Australien als Handlungsort ist schon gut erschlossen. Krimis aus Tasmanien hingegen sind bislang Mangelware. Generell ist Tasmanien ja ein literarischer Schauplatz, der außer von Richard Flanagan zumindest auf dem hiesigen Buchmarkt kaum bespielt wird. 68.000 Quadratmeter umfasst die Insel, deren größter Teil unter Naturschutz steht und die zumindest für uns Europäer schon fast den Rand der Welt darstellt. Nun betritt mit Kyle Perry ein Krimiautor die Bühne, der mit Die Stille des Bösen ein formidables Debüt vorlegt. Ein Debüt, dessen nichtssagender deutscher Titel noch der schwächste Aspekt des Buchs ist.


Im Original trägt Perrys Buch den Titel The Bluff. Ein stimmiger Titel, geht es doch um Täuschung, Manipulation und das Spiel mit Erwartungen und Öffentlichkeit. Ausgangspunkt ist der Schulausflug einer Gruppe von Schüler*innen in die Great Western Tiers, eine im Herzen Tasmaniens gelegene Region. Bei diesem Ausflug verschwinden vier Schülerinnen spurlos, eine betreuende Lehrerin wird vor Ort verletzt. Die beiden Polizisten Cornelius „Con“ Badenhorst und Gabriella Pakinga übernehmen die Ermittlungen und versuchen den Verbleib der Mädchen in der Wildnis Tasmaniens zu klären.

Besonders brisant wird das Verschwinden durch die Legende des „Hungermanns“. Dieser forderte schon einmal im Jahr 1985 Opfer, als Schülerinnen ebenfalls verschwanden. Seitdem wurde ein Mantel des Schweigens über die Geschehnisse gebreitet und die Legende des „Hungermanns“ war tabu. Doch mit dem Verschwinden der jungen Frauen taucht die Legende wieder auf, befeuert durch das Agieren ihrer Mitschülerin Madison. Diese betätigt sich als reichweitenstarke Influencerin und verfügt dadurch über ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument, nämlich die öffentliche Wahrnehmung.

Gezielt streut sie Informationen und hält andere wichtige Beobachtungen zurück, mobilisiert durch ihre Videos die lokale Bevölkerung in Limestone Creek und manipuliert ihre Mitmenschen und die Polizei. Eine echte Blufferin also, die die Suche nach ihren Mitschülerinnen als Spiel begreift.

Aufruhr in Tasmanien

Kyle Perry - Die Stille des Bösen (Cover)

Um seinen Krimi zu erzählen wählt Kyle Perry drei Perspektiven, aus denen er hauptsächlich erzählt. So erlebt man die Ermittlungen aus Sicht von Con Badenhorst. Für den Aspekt der lokalen Bevölkerung ist Murphy zuständig, er ist der Vater eines der verschwundenen Mädchen versorgt als Drogenproduzent halb Limestone Creek. Und einen Einblick in die Schulklasse erhält man durch die Lehrerin Eliza, die beim Klassenausflug niedergeschlagen wurde und die vier Mädchen als letzte Zeugin sah. Diese drei Personen sind aufeinander angewiesen, um das Verschwinden der Mädchen zu klären. Doch nicht jeder von ihnen ist ein verlässlicher und ehrlicher Zeuge, auch hier greift der Originaltitel des des Buchs.

Kyle Perry gelingt es, Stück für Stück die Wahrheit über das Verschwinden der Mädchen zu enthüllen. Er schildert die von Madisons Agieren ausgelösten Dynamiken und treibt das Buch in gutem Tempo voran. Immer wieder wechselt er die Blickwinkel, erzählt von der komplizierten Suche im unzugänglichen tasmanischen Hinterland und inszeniert diese Kulisse mit tollen Bildern. Man meint förmlich, sich in dort in den Great Western Tiers zu befinden, die dschungelartige Natur dort voller Berge, Grünzeug und Gumpen gemeinsam mit Badenhorst und Co zu durchstreifen. Das, was das Cover verheißt, liefert Kyle Perry dann im Inneren uneingeschränkt. Suspense und Natur, es ist hier alles drin.

Fazit

Vertrügen auch einige der Figuren noch ein Mehr an Profil und Hintergrund, ist das Buch doch ein erstaunlich souverän erzählter Krimi, dessen Taktung und Wendungen routiniert wirken. Themen wie das Aborigine-Erbe Tasmaniens, gefährliche Dynamiken der Sozialen Medien und der lokale Drogenhandel werden von Kyle Perry gestreift, ohne dass sie die Handlung beschweren. Der Plot ist gut entworfen, der Schauplatz plastisch eingefangen und die Lektüre von Die Stille des Bösen macht Lust auf mehr. Hier schreibt ein echtes Krimitalent, das Tasmanien mit Verve auf die kriminalliterarische Landkarte packt. Bravo!


  • Kyle Perry – Die Stille des Bösen
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-117-6 (Atrium)
  • 460 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Beth Ann Fennelly / Tom Franklin – Das Meer von Missisippi

Überschwemmungen in einigen Teil Deutschlands wie aktuell in Teilen Frankens und Nordrhein-Westfalens lassen aufhorchen. Immer wieder sind es Starkregen oder Wetterlagen wie die in Stuttgart, die Teile des Landes unter Wasser setzen. Solche Ereignisse lassen Erinnerungen hochkommen an Naturkatastrophen, die zu Landmarken der deutschen Geschichte wurden, etwa die Sturmflut in Hamburg oder das Elb-Hochwasser im Jahr 2002.

Während wir uns in Deutschland an diese Ereignisse immer wieder erinnern, ist es in Amerika eine deutlich größere Flutkatastrophe, die nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist, wie es das Autorenpaar Beth Ann Fennelly und Tom Franklin im Vorwort zu Das Meer von Mississippi schildert. 1927 kam es in großen Teilen der Mississippi-Region nach starken Regenfällen zu einer Überflutung der Region, die zahlreiche Menschenleben forderte.

Doch weder den amtierenden Präsidenten Coolidge noch sonstige ranghohe Repräsentanten schien die Katastrophe zu kümmern. Während bei uns schnell Regierungsvertreter zu den Schauplätzen solcher Katastrophen eilen und sich als Krisenmanager*innen inszenieren, glänzte die Obrigkeit in Mississippi mit Abwesenheit und Desinteresse. Aber nachdem der Landstrich von überwiegend armer und damit nicht wahlentscheidender Bevölkerung besiedelt war, hielt sich das Engagement der Regierung eher in Grenzen (was sich ja nicht nur beim Hurrikan Katrina wiederholen sollte). Auch das Erinnern an die Katastrophe wurde nicht wirklich aktiv betrieben, der Blick ging schnell nach vorne. Und so haben es sich Fennelly und Franklin zum Ziel gesetzt, die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse noch einmal wachzurufen und die Leserinnen und Leser mitzunehmen in ein von Regen getränktes Mississippi-Delta im Jahr 1927.

Ein Paar voller Gegensätze

Dazu setzen sie ein äußerst gegensätzliches Paar Protagonisten in den Mittelpunkt des Buchs. Da ist der Bluesliebhaber und Prohibitionsagent Ted Ingersoll, der mit seinem Partner Johnson einen Spezialauftrag von Herbert Hoover erhält. Im Süden der USA sind zwei andere Agenten verschwunden, die mit dem Aufspüren von Schwarzbrennern beauftragt waren. Nachdem die Männer wie vom Erdboden verschluckt sind, sollen Ingersoll und Johnson nun Licht in die Angelegenheit bringen. Bei ihrer Suche im Dauerregen von Mississippi stoßen die beiden bei ihrer Suche auf ein herrenloses Baby, dessen sich Ingersoll annimmt.

Beth An Fennelly / Tom Franklin - Das Meer von Mississippi (Cover)

Um sich auf ihre Suche konzentrieren zu können, gibt Ingersoll das Baby in die Obhut von Dixie Clay Holliver, der zweiten Hauptfigur des Romans. Dabei ahnt Ingersoll allerdings nicht, dass es just Dixies Mann war, in dessen Gegenwart man die zwei verschwundenen Agenten zuletzt gesehen hat. Denn Dixies Mann ist ein Alkoholschmuggler, der die strengen Prohibitionsgesetze geschickt zu umgehen weiß. Die eigentliche Kraft hinter seinen Umtrieben ist allerdings Dixie selbst, eine hochtalentierte Schwarzbrennerin, die auf ihrer Farm in der Nähe des kleinen Dörfchens Hobnob den besten Moonshine im Süden brennt.

Aus der Spannung zwischen diesen eigentlich diametral entgegengesetzten Figuren zieht Das Meer von Mississippi seinen Reiz. Während der Regen unerbittlich vom Himmel fällt und einen immer größeren Druck auf die Flüsse und Deiche ausübt, kommen sich Ingersoll und Dixie näher. Beth Ann Fennelly und Tom Franklin inszenieren das mit wuchtigen Bildern und viel Gespür für Timing und Tempo. Wie sich die beiden immer weiter annähern, wie zugleich die Pegelstände steigen und sich die Handlung um die beiden gegensätzlichen Figuren herum immer schneller beschleunigt und schließlich in nicht nur einem metaphorischen Dammbruch endet, das ist ausnehmend gut gemacht. Immer wieder gelingen den beiden eindrucksvolle Szenen und farbig geschilderte Momentaufnahmen aus einer Welt, die sich zunehmend im Chaos verliert (übersetzt von Eva Bonné).

Fazit

Das Buch kann überzeugen und ist eine wirkliche Lesefreude, wenngleich der Publikationsort im Verlag Heyne Hardcore etwas in die Irre führt. Schreibt Tom Franklin sonst Thriller ganz anderen Kalibers, handelt es sich hier doch zuvorderst um einen Roman, der Elemente aus Krimi, Schmonzette und historischem Schmugglerepos á la Dennis Lehane miteinander formidabel verzahnt. Hardcore ist hier nichts, dafür aber durchaus eindrücklich. Und somit ist das Anliegen des Autoren- und Ehepaars durchaus gelungen, an diese vergessene Katastrophe zu erinnern und ihr ein literarisches Denkmal zu setzen! Ein Buch, das nicht nur in diesen regnerischen Tagen wärmstens empfohlen sei!


  • Benn Ann Fennelly / Tom Franklin – Das Meer von Mississippi
  • Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
  • ISBN: 978-3-453-27285-9 (Heyne Hardcore)
  • 384 Seiten. Preis: 22,00 Euro
Diesen Beitrag teilen

Louisa Luna – Tote ohne Namen

Eine neue Ermittlerin hat den deutschen Buchmarkt betreten – und das mit einem gehörigen Knall. Alice Vega ist ihr Name. In Tote ohne Namen verschlägt es sie nach San Diego. Dort wird sie angeheuert – die Morde an zwei Minderjährigen aufzuklären. Und entdeckt bei ihren Recherchen ein gefährliches Geflecht von Menschenhändlern, staatlichen Behörden und mexikanischen Kartellen.


Immer wenn man in einem Fall besonderer Expertise bedarf, ist Alice Vega das Mittel der Wahl. Denn die Ermittlerin hat ein Auge für Details und schreckt auch vor robustem körperlichen Einsatz zurück. Zusammen mit ihrem Kollegen Max Caplan, einem ehemaligen Polizisten, begibt sie sich nach San Diego. Dort soll sie im Auftrag der Polizei als externe Beraterin einen besonderen Fall bearbeiten. Zwei minderjährige Mädchen wurden tot und misshandelt aufgefunden. Ihre Identität ist unklar, allerdings fällt der gewieften Rechtsmedizinerin ein besonderes Detail ins Auge. Die beiden Mädchen haben ein Intrauterinpessar mit ähnlicher Chargennummer in ihrem Körper. Aufgrund der Nummerierung dieser Pessare liegt der Verdacht nach, dass es irgendwo da draußen noch weitere Mädchen gibt, die als Prostituierte missbraucht werden. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere, und so kommen Vega und Caplan ins Spiel.

Und sie liefern tatsächlich schon bald erste Ergebnisse. Sie stoßen auf die Spur eines Drogendealers und kommen langsam, aber sicher einer Bande von Menschenhändlern auf die Spur. Allerdings mischt sich auch die DEA in Form zweier Agenten in ihre Ermittlungen ein. Und diese geben den beiden recht schnell zu verstehen, ihre Ermittlungen einzustellen. Doch obrigkeitshörig ist keine hervorstechende Charaktereigenschaft von Vega. Und so folgt sie unbeirrt den Spuren, die sie noch in große Bedrängnis bringen werden.

Auf den Spuren von Menschenhändlern

Louisa Lunas erster auf Deutsch vorliegender Roman ist ein Buch, das durch Rasanz, eine sympathische Ermittlerin und eine gnadenlos gute Taktung besticht. Die Handlung des 443 Seiten starken Romans erstreckt sich nur über wenige Tage, die Haupthandlung findet an gerade einmal zwei Tagen statt. Das verleiht dem Buch einen Drive, der nur so durch die Seiten fliegen lässt. Je weiter sich Vega durch San Diego ermittelt, umso mehr Feinde macht sie sich und umso größer wird das kriminelle Geflecht, das sie aufdeckt.

Louisa Luna - Tote ohne Namen (Cover)

Tote ohne Namen ist ein Buch auf der Höhe der Zeit. Sie erzählt vom unbändigen Leid, das unter dem Deckmantel von „Law and Order“ im Grenzland zwischen Mexiko und den USA stattfindet. Kinder, von denen niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Ermittlungsbehörden, die sich selber die Finger schmutzig machen. Kartelle, die auch durch Mauerbau nicht aufgehalten werden. Und einer Politik, die eher auf markige Gesten denn auf konkrete Lösungsansätze setzt. All das beschreibt Louisa Luna in Tote ohne Namen genau

Dabei fungiert Alice Vega auch ein Stück weit als Katalysator für das eigene Unrechtsbewusstsein und die eigene Hilflosigkeit. Denn obschon wir von dem Unrecht wissen, von Kindern, die in Käfigen gehalten werden, von Familien, die getrennt werden und von Kriminellen, die die Notlage der mexikanischen Bevölkerung für ihre Zwecke ausnutzen, passiert ja wenig. Hier kommt Vega ins Spiel, die mit unorthodoxen Mitteln selbst aktiv wird und dem Unrecht so entgegentritt. So fungiert diese Privatermittlerin nicht nur als Spurensucherin, sondern auch ein Stück weit als Katharsis.

Der gesellschaftliche Anspruch, die erzählerische Taktung, der klug ausbalancierte Plot machen aus Tote ohne Namen ein wirkliches Leseerlebnis und einen unbedingten Krimitipp.

Eine fragwürdige Veröffentlichungspolitik

Fragwürdig allerdings einmal mehr die Veröffentlichungspolitik des Suhrkampverlags und von Herausgeber Thomas Wörtche. Denn bei Tote ohne Namen handelt es sich mitnichten um den Beginn der Reihe um Alice Vega. „The Janes“, so der Originaltitel (übersetzt von Andrea O’Brien) ist der zweite Band der Reihe. 2018 erschien mit „Two Girls Down“ der erste Band der Reihe, in dem sich Alice Vega und Max Caplan zum ersten Mal begegnen. Warum man diesen ersten Band nicht einfach zuerst veröffentlicht hat, will sich mir nicht wirklich erschließen. Schließlich nimmt Tote ohne Namen an zahlreichen Stellen Bezug auf die Geschichte des ersten Bandes, die im zweiten Band der Reihe immer wieder aufgegriffen wird.

Hier hätte man sich in meinen Augen wirklich einen Gefallen getan, hätte man schon allein der erzählerischen Logik wegen die Reihe chronologisch beginnen lassen. Es bleibt zu hoffen, dass uns der erste Band auch noch zeitnah zugänglich gemacht wird, schließlich ist der zweite Band derart verheißungsvoll, dass auch der erste Band nicht enttäuschen sollte (was auch die amerikanischen Kritiken nahelegen).

Insofern bleibe bei mir neben der unbedingten Empfehlung für den Roman Louisa Lunas der Wunsch, das man eine derartig unlogische und unchronologische Reihenentwicklung künftig sein lässt und Serien wieder den Raum gibt, sich von Beginn an zu entwickeln. Schließlich rühmt sich der veröffentlichende Verlag, nicht Bücher sondern Autor*innen verlegen zu wollen. Ich als Leser würde es sehr honorieren!


  • Louisa Luna – Tote ohne Namen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-518-47135-7 (Suhrkamp)
  • 444 Seiten. Preis: 15,95 €
Diesen Beitrag teilen

Candice Fox – Dark

Candice Fox hat es schon wieder getan. Mit einer beachtenswerten Konstanz erscheint jedes Jahr ein neuer Krimi der australischen Autorin. Mit Dark liegt ein Band vor, der erneut eine Reihe begründen könnte. Und obschon ich bei einer derartigen Publikationsfrequenz stets skeptisch bin: auch hier enttäuscht Fox nicht und liefert gelungene Kriminalliteratur.


Auch nach einer Trilogie rund um den „Herren der Unterwelt“ Hades Archer und die Crimson Lake-Reihe (hier zuletzt Missing Boy) gehen Candice Fox die Ideen nicht aus. Mit Dark beginnt sie eine neue Reihe, die nun nicht mehr auf Fox‘ Heimatinsel Australien, sondern in Los Angeles angesiedelt ist.

Hier versieht die Hispanic Jessica Sanchez ihren Dienst auf dem lokalen Polizeirevier. Bei den Kolleg*innen ist sie nicht wohlgelitten. Der Grund: sie hat einen Cold Case durch Beharrlichkeit nach vielen Jahren zu einem erfolgreichen Ende geführt. Der Vater des Mordopfers hat ihr aus Dankbarkeit für ihre Aufopferung ein millionenschweres Haus vermacht. Das alarmiert nicht nur die internen Kontrollorgane der Polizeibehörde. Auch die Kolleg*innen neiden Jessica die Immobilie und schneiden sie, wo sie können.

Die zweite Hauptfigur in Candice Fox‘ neuester Kreation ist Blair. Die Ich-Erzählerin war früher eine erfolgreiche Chirurgin. Doch nach einer Anklage wegen Totschlags und dem anschließenden Gefängnisaufenthalt, hat sie ihren sozialen Status verloren. Auch ihr Kind musste sie gleich nach der Geburt im Gefängnis in die Obhut einer Pflegefamilie geben.

Eingedenk dieses Hintergrundes ist Blair höchst alert, als ihre ehemalige Mitinsassin Sneak sie um ihre Hilfe bittet. Sneaks Tochter Dayly ist verschwunden. Kurz zuvor hat diese die Tankstelle überfallen, an der Blair nach ihrer Haftenlassung jobbt, um sich durchzuschlagen. Die beiden Frauen beschließen, sich zusammenzutun, um die spärlichen Spuren von Sneaks Tochter zu verfolgen.

Vier Frauen auf der Suche nach Dayly

Hilfe bekommen sie dabei von zwei gegensätzlichen Seiten. In ihrer Not wenden sich die beiden Frauen an Ada, die sie als gefürchtete Bandenchefin noch aus dem Gefängnis kennen. Die vierte im Bunde ist keine Kriminelle, sondern Kriminalerin. Jessica Sanchez unterstützt die Suche ebenfalls. Sie treibt primär nicht die Suche nach Sneaks Tochter sondern das Gefühl einer Verpflichtung Blairs gegenüber. Die Ahnung aus , im Falle der Verurteilung Blairs einige entscheidende Details übersehen zu haben, sie lässt Jessica nicht los. Und so beteiligt sich an der Suche nach Dayly.

Candice Fox - Dark

So suchen die vier Frauen aus ganz unterschiedlichen Motiven nach Dayly, deren Spuren ins Hinterland von Los Angeles führen. Dort im Niemandsland verlieren sich die Spuren.

Konkreter allerdings werden die Spuren im Falle von Blair. Jessica vertraut, unbeirrt vom Mobbing ihrer Kolleg*innen, ihren Instinkten, und geht den alten Spuren nach. Immer stärker wird ihre Ahnung, damals im Fall der Verurteilung etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Und so entwickeln sich in Dark zwei Spurensuchen. Die nach dem Verbleib Daylys und die nach den Hintergründen von Blairs Tat.

Dabei kommen dem regelmäßigen Leser der Werke Candice Fox‘ einige Motive sehr bekannt vor. Dass jemand für eine Tat verurteilt wurde, dessen Unschuld beziehungsweise der korrekte Tathergang im Laufe des Buchs offenbar wird, das war schon in ihrer Crimson Lake-Reihe ein zentrales Motiv. Auch andere Elemente kennt man, wenn man schon Bücher der Australierin gelesen hat. Das Mobbing durch Polizeiangehörige oder ungewöhnliche Haustiere, zu denen die Protagonist*innen eine Bindung entwickeln, all das sind Fox’sche Versatzstücke, die auch schon in anderen Büchern Verwendung fanden.

So fällt das Buch, im Gesamtkontext von Candice Fox‘ Schaffen betrachtet, nicht unbedingt durch Innovation auf. Vielmehr wirkt Dark stellenweise wie ein Remix aus früheren Erfolgstiteln der Australierin.

Candice Fox‘ knappe Figuren und Dialoge

Auch lässt die Figurenzeichnung und die manchmal fast comicartige Dialogregie zu wünschen übrig.

Dann: „Willst du mich verarschen?“

„Was? Liege ich etwa falsch?“

„Aber so was von, Bitch! Ich bin doch keine ersiffte Taube, die man vom Highway retten muss! Ich bin ein Raubvogel. Solche Opfer kill ich. Eiskalt!“

Mir erstarrt das Grinsen im Gesicht

„Wenn du jemandem diese Scheiße erzählst, tätowiere ich deine Fersse mit dem Taschenmesser!“

„Mach ich nicht“ stammelte ich, aber sie hatte schon aufgelegt.

Fox, Candice: Dark, S. 120

Für sich genommen liest sich das stellenweise schon arg dünn und klischiert. Aber wie es Candice Fox gelingt, die Perspektiven der vier Frauen auszubalancieren, die Handlung voranzutreiben und dann einen multiperspektivischen Showdown über zwei Erzählstränge anzulegen – das ist gut gemacht und zeigt ihr schriftstellerisches Können. Das Tempo ist bestechend hoch und so etwas wie Langeweile kommt auf den Seiten von Dark eh nie auf. Da nimmt man auch den ein oder anderen misslungen Dialog in Kauf.

Gekonnt beschreibt sie die ihren Schauplatz Los Angeles, weckt Sympathien der Leser*innen und unterhält auf einem wirklich tollen Niveau, sieht man über manche Dialoge und allzu grobe Pinseleien hinweg. Mit ihren vier Frauen renoviert sie das männderdominierte Genre des Krimis ordentlich. Davon gerne noch mehr!


  • Candice Fox – Dark
  • Übersetzt von Andrea O’Brian
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47101-2 (Suhrkamp)
  • 394 Seiten. Preis: 15,95 €
Diesen Beitrag teilen