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Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter

Dass Weihnachten nicht unbedingt immer ein Fest der Liebe und der Harmonie ist, das beweisen viele Familienfeste landauf, landab. Bei den Edgeworths in Ivy Compton-Burnetts Roman Ein Haus und seine Hüter ist das nicht anders. Doch hier stellt das wenig besinnliche Weihnachtsfest nur der Auftakt zu einem ganzen Reigen aus Konflikten, Ehen und Toden dar, der sich im Laufe des Romans entspinnt und der der Autorin dem Vergleich mit Jane Austen auf Drogen eingetragen hat, wie das Magazin Harpers Bazar einmal schrieb. In der vorliegenden Ausgabe der Anderen Bibliothek kann man sich davon überzeugen, dass der Vergleich durchaus zutrifft.


Nein, dieses Weihnachtsfest lässt sich wirklich nicht gut an. Schon alleine, dass sich die Kinder und der Neffe nicht rechtzeitig zum Frühstück einfinden wollen, erzürnt den Patriarchen Duncan Edgeworth. Dann noch eine kritikwürdige Predigt in der Kirche, eine Nachbarin, die die Familie heimsucht, um persönlich noch einmal die Weihnachtsbotschaft und die Erwartungen eines Besuchs der Mette vorzutragen. Und zu allem Überfluss ist da auch noch ein – zumindest in den Augen des Familienvorstandes – unziemliches Buch, das sein Neffe Grant als Geschenk erhalten soll, welches Duncan Edgeworth aber lieber in den prasselnden Kamin wirft, anstelle es dem jungen Mann zu überlassen.

Ein wenig besinnliches Weihnachtsfest

Die Zeichen in Ivy Compton-Burnett ursprünglich 1935 erschienenen Roman Ein Haus und seine Hüter stehen wahrlich nicht auf Harmonie und Besinnlichkeit. Dass die gereizte Stimmung der ersten Seiten weit über die Festtage hinaus andauern wird, das zeigt sich dann auch recht rasch im Lauf des Romans. Denn im Laufe der knapp 370 Seiten Romanhandlung kommt es zu einem ganzen Reigen an Konflikten und Reibereien, die den eingangs zitierten Vergleich mit Jane Austen auf Drogen gar nicht so abwegig erscheinen lassen.

Es ist schon unglaublich, was in diesem Haus vor sich geht!

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 249

Der erzählerische Motor, der diesen Roman beständig antreibt, sind seine Dialoge. Sie sind es, die über allem stehen und auch die äußere Handlung in den Hintergrund treten lassen, obschon auch hier eine ganze Menge in Compton-Burnetts Roman passiert. Diese Gespräche und Dispute dominieren alle Szenen und stehen auch in ihrer Anmutung in der der Tradition des viktorianischen Romans einer Jane Austen. Man debattiert, verlobt sich, lästert, streitet, pflegt Gerüchte, hütet Geheimnisse und redet aneinander vorbei.

Ivy Compton-Burnett in der Tradition von Jane Austen

Ivy Compton-Burnett - Ein Haus und seine Hüter (Cover)

Doch wo es etwa in Jane Austens stilprägendem Roman Stolz und Vorurteil mit dem Tête-a-tête von Elizabeth Bennet und Mr. Darcy noch relativ gemächlich zugeht, geht Ivy Compton-Burnett in die Vollen. Die 1884 in Middlesex geborene Autorin schafft es, im Laufe des Romans ganze drei Ehen des Familienpatriarchen Duncan Edgeworth durchzuexerzieren. Dazu kommen diverse Todesfälle, ein Mordverdacht, ein potentiell uneheliches Kind und noch einiges mehr, was in den Dialogen der Figuren zutage tritt.

Verschmähte Liebe, enttäuschte Hoffnungen und nicht immer glaubwürdige erzählerische Volten stehen im Mittelpunkt von Ein Haus und seine Hüter, das den Zerbröckelungsprozess einer Familie zeigt, die auch einmal über drei Seiten hinweg debattieren kann, wo nun das Porträt der verstorbenen Hausherrin zu platzieren ist.

„Ich bezweifle, dass es hilfreich ist, sich der Familie gegenüber taub zu stellen.“

„Der Familie“, sagte Duncan tonlos. „Wir sind überhaupt keine richtige Familie mehr. Es fehlt die Kraft, die uns miteinander verbunden hat.“ Er seufzte schwer. „Du machst es mir nicht gerade leicht, diesen Tag zu beginnen.“

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 112

Die Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Zwar trifft der englische Titel A house and it’s head den Kern des Romans noch etwas genauer, da der herrische Hausvorstand Duncan Edgeworth mitsamt seiner immer neu ansetzenden Eheversuche das Gravitationszentrum dieses Romans bildet. Aber auch die deutlich offenere Variante der Haushüter im Deutschen hat seine Berechtigung, schließlich hat bewachen alle Mitglieder der Familie Edgeworth das Haus in unterschiedlichen Formen und hüten so ziemlich alles, außer ihre Zungen.

Das Haus wird hier zur Bühne des Misstrauens, des Verschweigens, der Geheimnisse und der Konflikte, was die drückende Enge dieses Romans immer wieder unterstreicht.

Mit Ein Haus und seine Hüter hat Ivy Compton-Burnett ein Werk geschrieben, das sich stark an die Tradition der viktorianischen Gesellschaftsromane anlehnt. Dieses Werk bildet den Auftakt zu einer erstaunlich produktiven Karriere, wie Hilary Mantel im Vorwort zu diesem Roman schreibt. Ganze achtzehn weitere Werke aus der Feder der 1969 verstorbenen Autorin sollten folgen, „die immer stimmiger und kraftvoller wurden, zugleich aber „den Gefahren einer allzu großen Leserschaft nicht ausgesetzt“ waren, wie ihr Freunde sagten. Ihr britischer Verleger schien ihre Arbeit nicht zu verstehen oder zu schätzen und unternahm nur wenig, um sie zu fördern“, so Mantel.

Fazit

Der herausgebenden Anderen Bibliothek unter Leitung von Nele Holdack und Rainer Wieland sowie Übersetzer Gregor Hens ist es nun zu verdanken, dass diese Gefahr der allzu großen Leserschaft jetzt deutlich zunimmt. Denn ihre deutsche Neuveröffentlichung macht es möglich, diese hierzulande reichlich unbekannte Autorin (noch einmal) neu zu entdecken und tief in diesen dialogstarken, nicht immer völlig plausiblen, aber doch in der Unterhaltungstradition von Jane Austen und Co. stehenden Roman einzutauchen. Die schlechte Laune und den Zwist an den Weihnachtstagen kann man dann einfach den Edgeworths überlassen, um nach der Lektüre selbst deutlich frohgemuter in die Feiertage zu gehen.


  • Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter
  • Aus dem Englischen von Gregor Hens
  • 978-3-8477-0469-0 (Die Andere Bibliothek, Band 479)
  • 372 Seiten. Preis: 48,00 €

Daniela Raimondi – Das erste Licht des Sommers

Mit ihrem zweiten Roman Das erste Licht des Sommers kehrt Daniela Raimondi zumindest in Teilen zurück in ihr fiktives Dorf Stellata, das schon in ihrem ersten Roman im Mittelpunkt stand. Diesmal variiert die italienische Schriftstellerin ihre erzählerischen Mittel allerdings etwas und erzählt vom Sterben und Erinnerungen.


Wenn es ums Sterben geht, dann macht der italienischen Literatur so schnell niemand etwas vor. So zählt die Szene des Todes des alten Don Fabrizio in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard zu den ergreifendsten Schilderungen der Weltliteratur. Di Lampedusas Landsfrau Daniela Raimondi widmet dem Sterben in ihrem Roman nun nicht nur ein Kapitel, sondern montiert ihren ganzen Roman um das den langsamen Tod einer Figur herum.

Es handelt sich um Elsa, die im Jahr 2015 das Ende ihres Lebenswegs erreicht hat. Umsorgt von ihrer Tochter Norma, erinnert sich diese immer wieder an ihr eigenes Leben und das ihrer Mutter. Am Krankenbett wachend geht sie den Erinnerungen nach, die die zweite Hälfte dieses Romans bilden.

Leben und Sterben in Stellata

Einsetzend nach dem Krieg schildert Daniela Raimondi das Leben von Elsa und ihrer Freundin Zena, die gemeinsam in Stellata aufwachsen, jenem Dorf, dessen Entstehung Raimondi bereits ihren ersten Roman widmete. Trotz dieser engenen Verbindung sind es unterschiedliche Richtungen, in denen sich ihre deren Lebenswege nach der gemeinsamen Zeit in diesem fiktiven italienischen Dörfchen entwickeln. Zwar heiraten beide Zwillingsbrüder und bekommen beide im Altern von 20 Jahren ihre Kinder, doch immer weiter entfernen sich die beiden Frauen voneinander, und das nicht nur geografisch.

Daniela Raimondi - Das erste Licht des Sommers (Cover)

Von 1947 bis in das Todesjahr 2015 hinein zeichnet Raimondi die voltenvollen Leben ihrer Figuren und die ihrer Kinder nach. Treue und außereheliches Begehren spielen dabei genauso eine Rolle wie die Verhältnisse von Kindern zu ihren Eltern. Raimondi garniert das mit Ausflügen in die Zeitgeschichte und lässt auch einige Figuren aus dem ersten Roman über den Stellata-Kosmos wieder auftreten.

So gibt es auch hier einen entscheidende Begegnung mit Nachkommen der ersten Stellata-Familien, die sich in Brasilien niedergelassen haben oder die wie im Fall von Neve, die nach einer Wunderheilung von Bienen umschwärmt wird. Aber auch ohne die Kenntnis des ersten Romans mit seiner Fülle an Figuren bleibt die Lektüre von Das erste Licht des Sommers verständlich.

Neu ist, dass Raimondi ihre Erzählen über mehrere Generationen hinweg im vorliegenden Roman etwas einhegt. Erinnerte ihr Ton und der Umfang von An den Ufern von Stellata an Gabriel García Marquez‚ Klassiker Hundert Jahre Einsamkeit und dessen Entwicklungsbogen des fiktiven Dörfchens Macondo, so ist hier nun alles etwas konzentriert.

Konzentration auf zwei Erzählstränge

Es sind nur zwei Generationen, zwei Erzählstränge und zwei Frauen, auf die sich Raimondi in ihrem Buch kapriziert. Zwar ist der erzählerische Rahmen somit enger als der des drei Jahrhunderte umspannenden Debüts, dennoch weiß Raimondi auch diesen Rahmen mit viel Dramen, Beziehungschaos und Zeitgeschichte zu füllen.

Der Kalte Krieg oder die islamische Revolution im Iran finden sich mal direkter, mal indirekter im Roman wieder. Die immensen Veränderungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Welt und auch für die Figuren des Romans brachte, schildert Raimondi nachvollziehbar und mit dem Blick für das Große im Kleinen.

Gewiss: es mag in der Konzentration auf Dramen und Gefühle, Liebeschaos und Herzschmerz Einiges fehlen zur Weltliteratur eines Gabriel García Marquez. Auch erreicht sie in ihrem Blick auf die unterschiedlichen Frauen und ihre Schicksale nicht die Intensität, wie sie beispielsweise ihre Landsfrau Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett entfaltete.

Aber dennoch gelingt es Daniela Raimondi mit Das erste Licht des Sommers, ihren Kosmos um das Dorf Stellata und das Leben ihrer Figuren, das dort seinen Ausgang nahm, unterhaltsam und nie langweilig zu schildern. Hier entsteht fast so etwas wie ein literarischer Ort, den Raimondi mit ihren bisher erschienen Romanen in der Landkarte der italienischen Literatur einschreibt und für dessen Beschreibung sie schon jetzt eine stimmige Mischung aus Historie, Gefühlen, familiärer Verbundenheit mitsamt einer Prise Mystik gefunden hat.

Es bleibt spannend zu sehen, ob sie wieder nach Stellata zurückkehren wird, um die hier aufgegriffenen Fäden fortzuführen und welche Form sie für dieser literarischen Orts- und Menschenchronik im nächsten Roman wählen wird.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20289-6 (Ullstein)
  • 432 Seiten. Preis: 24,99 €

Ron Rash – Der Friedhofswärter

Kollegen wie Richard Russo bezeichnen ihn schon als „einen der besten amerikanischen Autoren“. Nun ist der Amerikaner Ron Rash dank Übersetzerin Sigrun Arenz und dem herausgebenden Ars Vivendi-Verlags aus dem fränkischen Cadolzburg nun auch auf Deutsch zu entdecken. Sein Roman Der Friedhofswärter entführt ins ländliche North Carolina zu Beginn der 1950er Jahre und schildert eine Geschichte, die fast einem Shakespear’schen Drama entnommen sein könnte.


Die Grundidee, die Ron Rashs Roman zugrundliegt, sie könnte tatsächlich aus einem Shakespeare-Drama, einer großen Oper oder wenigstens einem bürgerlichen Trauerspiel stammen:

Nachdem sie bereits zwei Kinder auf dem Friedhof von Laurel Fork beerdigen mussten, ist Jacob das letzte lebende Kind von Cora und Daniel Hampton. Sein Leben ist allerdings auch in Gefahr, denn er wurde als Soldat eingezogen, um im Koreakrieg zu kämpfen.

Als er nun bei seinem Einsatz schwer verwundet wird, nutzen seine Eltern diesen Umstand für eine perfide Intrige. Denn eigentlich wollte Jacobs Vater seinen Sohn bereits verstoßen, da er sich mit einem für die Begriffe seiner Eltern völlig unstandesgemäßen Mädchen eingelassen hat.

Die doppelte Täuschung

Gerade einmal sechzehn war Naomi, als diese mit Jacob zusammenkam und dann den Bund der Ehe schloss. Ein Annullierungsversuch dieser Ehe durch Jacobs Eltern blieb erfolglos. Nicht einmal die schwere Arbeit im familieneigenen Sägewerk, mahnende Gespräche und Verstoßungsdrohungen konnten der Beziehung der beiden etwas anhaben. Im Gegenteil. Nun, während Jacob in Korea kämpft, harrt Naomi nun hochschwanger daheim aus. Für die Hamptons wie auch die ganze Kleinstadt Little Rock dort im ländlichen North Carolina ist dieser Umstand eine einzige Provokation.

Ron Rash - Der Friedhofswärter (cover)

Das „schamlose“ Mädchen und die Ehe ihres Sohnes, die der der puritanischen Einstellung der Eltern aus Anstand und harter Arbeit zuwiderläuft, das alles soll nun ein Ende haben. Und so täuschen sie Naomi den Tod Jacobs vor und sorgen mit viel Geld für einen Wegzug der Familie, die an anderer Stelle ein neues Leben beginnen soll, um so den vermeintlich toten Jacob zu vergessen.

Im Umkehrschluss täuschen die Hamptons Jacob nach dessen Rückkehr aus Korea den Tod von Naomi und ihrem gemeinsamen Kind vor. Sie scheuen für ihre Inszenierung weder Geld noch Mühe. Sogar eine Beerdigung samt Sarg organisieren die Hamptons, um die Illusion des Todes Naomis zu perfektionieren und um so das Band der beiden Liebenden zu zerstören.

Die Zweifel des Friedhofswärters

Während sich nun Jacob und Naomi ihrerseits in Trauer zurückziehen, gibt es ein verbindendes Element zwischen den beiden jungen Menschen, gewissermaßen der dritte Beziehungspunkt in ihrem besonderen Dreieck. Den während Jacob in Korea weilte, bat er den von einer Polio-Infektion entstellten Friedhofswärter Blackburn, sich um Naomi zu kümmern. Das tat er auf einfühlsame Weise, sodass der englische Originaltitel The caretaker hier eigentlich noch viel besser greift als die alleinige Funktionsbezeichnung, die der deutsche Titel bemüht.

Nun, da auf dem von ihm betreuten Friedhof von Laurel Fork der Sarg von Naomi bestattet wurde, mag er sich trotz allem tief in seinem Herzen nicht mit der vermeintlichen Wahrheit des Todes von Naomi abfinden. In seinem Beistand für Jacob wächst doch auch die Irritation und das Gefühl, das etwas nicht wirklich stimmt, je mehr Jacobs Eltern nicht nur auf ihren Sohn, sondern auch auf den Friedhofswärter Einfluss nehmen wollen.

Zart und gerade dadurch so wuchtig kommt Ron Rashs Roman daher. Ebenso wichtig wie die Landschaft der Kleinstadt und der Weite North Carolinas ist auch die Seelenlandschaft seiner Held*innen.

Der Friedhofswärter spürt Verletzungen und Verwundungen in vielfacher Form nach. Von den erlebten Kriegsgräuel am eigenen Körper und den Verheerungen in der Seele, vom psychologischen Druck der eigenen Eltern, die wiederum den Verlust ihrer anderen beiden Kinder auch durch die Manipulation und Lenkung Jacobs erzielen wollen. Von der Ausgrenzung des jungen Paares in der Kleinstadt Blowing Rock oder das Mobbing Blackburns, der als Friedhofswärter und Poliokranker gleich zweifach stigmatisiert ist, erzählt Ron Rash anschaulich und fühlt sich mühelos in die Figuren ein, denen er ihre Vielschichtigkeit und Widersprüche lässt.

So ist Ron Rash selbst auch gewissermaßen ein Caretaker, der sich um seine Figuren kümmert, ihre Bedrüfnisse ernst nimmt und gerade daraus die Qalität seiner Prosa schöpft, die aufbauend auf der starken Grundidee des Plots auch die psychologische Ebene seines Romans sauber grundiert und dadurch auf Effekthascherei oder große Volten in der Erzählung verzichten kann.

Fazit

Übersetzt von Sigrun Arenz ist so ein ruhiger, glaubwürdiger und erinnerungswürdiger Roman entstanden, der das Lob von Richard Russo und Konsorten für Ron Rashs Schreiben eindrücklich beweist und untermauert. Verwundungen, Intrigen und die allesüberdauernde Kraft der Liebe auch gegen Widerstände sind die Themen, die Der Friedhofswärter behandelt. Entstanden ist in Rashs Bearbeitung daraus ein unsentimentaler und unkitischiger Roman, der mit wenigen Strichen das Leben und die Moralvorstellung der 50er Jahre in einer amerikanischen Kleinstadt plastisch wiederauferstehen lässt.


  • Ron Rash – Der Friedhofswärter
  • Aus dem Englischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0607-2 (Ars Vivendi)
  • 240 Seiten- Preis: 24,00 €

Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht

Trauerarbeit an der Côte d’Argent. Franziska Gänsler schickt in ihrem zweiten Roman Wie Inseln im Licht eine junge Frau in ein Hotel an der Atlantikküste in Nordfrankreich, wo sie sich ihren Erinnerungen und der Verarbeitung des Todes ihrer Mutter stellt.


Im Westen Frankreichs gelegen ist die Cóte d’Argent ist ein Strandabschnitt, der sich von Soulac-sur-mer bis nach Biarritz an der französisch-spanischen Grenze zieht. Reiseführer apostrophieren diese Küste gerne mit den Schlagworten von ausgedehnten Sandstrände, duftenden Pinienwälder und spannenden Ausflugszielen.

Was sich so reichlich malerisch und nach einem Sehnsuchtsort anhört, ist bei Franziska Gänsler alles andere als idyllisch und pittoresk. Vielmehr hat sich die junge Zoey hier in ein Hotel zurückgezogen, um sich zu erinnern und den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten.

Vier Tage ist der Tod her und nun wartet sie auf die Leiche der Mutter, die dorthin nach Südfrankreich überführt werden soll, um anschließen eingeäschert zu werden. Denn Zoey will die Asche ihrer Mutter dort verstreuen, wo sie zusammen mit ihrer Schwester Oda und der Mutter vor zwanzig Jahren einst Urlaub machten.

Zwischen Tod und Neubeginn

Franziska Gänsler - Wie Inseln im Licht (Cover)

Schwebend zwischen dem Wissen um den Tod ihrer Mutter, die Realisierung ihrer neuen Situation und der Ungewissheit alles Kommenden wartet sie nun dort an der Côte d’Argent auf das Eintreffen der Leiche. Passend zur Düsternis der inneren Verfasstheit Zoeys nimmt sich auch das ganze Setting dort in Südfrankreich außerhalb der Hochsaison aus.

Zwischen Möwenattacken, Regenschauern am Strand und der trostlosen Atmosphäre im Hotel beschäftigt sich Zoey viel mit den eigenen Gedanken und Erinnerungen. Eine enge Verknüpfung sind Dabei auch die Arbeiten und das Leben der US-amerikanischen Künstlerin Tracey Emin für die junge Frau.

Denn diese teilt nicht nur den Geburtstag mit ihrer Mutter, auch in ihrer Kunst und deren Schmerzen fand und findet sich Zoey immer wieder. Ursprünglich wollte sie sogar ihre Masterarbeit in Kunstgeschichte über die britische Künstlerin schreiben, dieses Projekt wich über die letzten drei Jahre der Pflege ihrer Mutter.

Trost mit Tracey Emin

Auch wenn sie sich in der Zwischenzeit von ihren akademischen Ambitionen verabschiedet hat, so lässt die Künstlerin und ihre Radikalität Zoey nicht los. Den Titel von Tracey Emins Arbeit aus dem Jahr 1994 Exploration of the Soul könnte man auch als programmatische Arbeit über diese Zwischenzeit stellen, in der sich Zoey nun befindet.

Ich war Teil eines bizarren Duos, jetzt bin ich eine bizarre Einzelheit. Allein, in diesem Zimmer am Atlantik, im bläulichen Licht, während draußen der Regen auf den Sand fällt. Ich warte auf den Transport der Mutter, und in mir liegen die Gedanken an sie wie ein Pool, in den ich eintauche, sobald es keine Ablenkung gibt.

Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht, S. 18

Während sie sich der Trauerarbeit dort im Hotel hingibt, drängen auch immer mehr verschüttete Erinnerungen ans Tageslicht. Das Zusammenleben mit ihrer Mutter, vor allem aber das Verschwinden ihrer kleinen Schwester Oda, die sie zuletzt dort an der Côte d’Argent auf dem Campingplatz vor zwanzig Jahren gesehen hat. Wohin ist ihre Schwester einst verschwunden und warum gibt es keine Spuren von ihr? Warum kann sie sich nicht mehr wirklich an das erinnern, was einst vor zwanzig Jahren an diesem Ort geschah, an den sie nun zurückkehrt

Während sie sich in schnellem Tempo durch die Trauerphasen arbeitet, beginnt Zoey auch vor Ort nachzuforschen. Recherchen im Zeitungsarchiv und Gespräche mit Menschen dort auf dem Campingplatz, wo auch Zoeys Mutter einst mit ihren Kindern den Urlaub verbrachte

Abschied von einem komplizierten Verhältnis

Wie Inseln im Licht beschreibt Trauerarbeit und den Abschied von einem komplizierten Verhältnis zweier Frauen. Parallel zum Verblassen der Mutter in Zoeys Leben schälen sich nun die Erinnerungen an die eigene Schwester und deren ungeklärtes Schicksal heraus. Diese Gegenläufigen Entwicklungen kombiniert Franziska Gänsler mit einer Liebesgeschichte, die sich dort im Hotel langsam entspinnt und die die Autorin gelungen einfängt.

Im Gespräch über ihr Schreiben und die erzählerische Idee hinter dem Roman gab Franziska Gänsler zu Protokoll, dass es ihr ein Anliegen war, dass dieser Roman aus dem Dunkel der Trauer ins Helle führt. Es ist ein Konzept, das aufgeht und das der Autorin in der Ausführung gelungen ist.

Beeinflusst auch von Kunstarbeiten wie Anne Imhof und ihrer Arbeit Untitled (Wave) oder der schon erwähnten Tracey Emin gelingt es diesem Roman, stimmige Bilder für die Trauer und deren Verarbeitung zu finden. Neben aller Schwere der erlebten und erinnerten Verluste findet auch Humor ins Buch, etwa von der eigenen Mme. Future, die als Wahrsagerin aus dem Campingwagen heraus auf Social Media reüssiert und trotzdem vom Wunsch nach mehr Reichweite getrieben ist

Die Sprache ist zurückgenommen und präzise gesetzt. Mit diesem gekonnten Einsatz ihrer erzählerischen Mittel benötigt Franziska Gänsler dann tatsächlich auch nur 200 Seiten, um ihre Geschichte eindrucksvoll zu gestalten und zu präsentieren.

Fazit

So ist Wie Inseln im Licht ein Trauerbuch, das neben aller Schwere aber auch Platz für Neues im Leben von Zoey findet. Eine stimmungsvolle Schilderung einer tristen Côte d’Argent, ein tiefes Eintauchen in die Psyche ihrer Figur und nicht zuletzt einfach ein gut gemachtes Stück deutsche Gegenwartsliteratur.

Mit ihrem Roman schafft Franziska Gänsler die Anschlussfähigkeit an eine jugendliche Leserschaft bis hin zu einem erwachsenen Publikum. Sie erschafft, wenn man so will, vom Ton und Thema her eine Brücke von adoleszenter zu erwachsener Literatur. Es ist eine Brücke, die von Trauer zu Trost, von Ernst zu einem versöhnlichen Blick, von Sterben zu Neubeginn führt. Was kann einem Buch mehr gelingen?


  • Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht
  • ISBN 978-3-0369-5034-1 (Kein & Aber)
  • 208 Seitne. Preis: 23,00 €

Adriano Sack – Noto

Sizilien als Sehnsuchts- und Trauerort. Adriano Sack erkundet in seinem Roman Noto die Landschaften der italienischen Insel und zugleich die Seelenlandschaften seines Helden, der einen Todesfall verwinden muss. Es entsteht so ein durchaus stimmiger Roman, dem man die oftmals exaltierten und prätentiösen Figuren am Ende gerne nachsieht.


Italien, altes Sehnsuchtsland. Seit jeher zieht es die Menschen in das Land, in dem die Zitronen blühen und in dem la dolce vita alle anderen Aspekte von organisierter Gewalt bis hin zum politischen Rechtsruck locker in den Schatten stellt. Adriano Sack fügt dieser Facette an Italiensehnsucht einen weiteren Roman hinzu und erzählt zugleich von zwei Figuren, die dieser Italiensehnsucht ebenfalls erlegen sind. Sie haben sich Sizilien als Hort ihrer Träume auserkoren.

Doch mit dem Traum von Italien ist es nicht weit her. Denn Adriano, der sich zusammen mit seinem Mann, dem Ich-Erzähler Konrad, ein Haus dort im Süden des Landes gekauft hat, ist verstorben. Und so bricht der Konrad trauerüberwältigt von seiner Wohnung nahe des Tiber in Rom nach Noto auf, um noch einmal zu jenem Haus zurückzukehren, das für seinen Mann und ihn Fluchtpunkt, Zuhause und Verwirklichung all ihrer Sehnsüchte war. Mit im Gepäck hat er einen Teil der Asche seines verstorbenen Partners, irgendwo auf der italienischen Insel will er diese noch verstreuen, um so Abschied zu nehmen.

Trauer in Sizilien

Während er zurückreist, mit der Autofähre nach Palermo übersetzt und sich auch mit dem Gedanken trägt, das gemeinsame Zuhause zu veräußern, drängen immer wieder die Gedanken an das Leben mit Adriano in seine momentane Trauer. Patenkinder, Bekannte und andere Expats, die dem Traum von Sizilien ebenfalls erlegen sind, besuchen Adriano und langsam entfaltet sich ein Bild des Lebens dort auf jener Insel, die an guten Tagen wie dem berühmten Roman Giuseppe Tomasi di Lampedusas nachempfunden zu sein scheint, wie Konrad einmal bemerkt. Ebenso wird auch die tiefe Liebe zwischen den beiden Männern offenbar, die in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander gefunden haben.

So gelingt dem Journalisten und Autor Adriano Sack ein Doppelporträt einer großen, queeren Liebe, und einer Hommage an Sizilien, das bei aller Faszination auch seine Schattenseiten hat. Waldbrände und Müllverbrennung im eigenen Garten, Korruption und Einfluss der Mafia sind nur einige Faktoren, die das Leben dort am Fuße des Ätna trüben.

Zu den Verdiensten von Noto zählt, dass der Roman all das in den Blick nimmt und so ein vielschichtiges Bild der Italiensehnsucht und den Kosten dieser Sehnsucht zeichnet. Auch den Prozess der Trauer und die Verarbeitung des Todes seiner großen Liebe Adriano zeigt Adriano Sack nachvollziehbar und glaubwürdig, indem er auch immer wieder einzelne Erinnerungen oder gegenläufige Stimmen des verstorbenen Partners einflicht und sich Konrad in seinen Erinnerungen verlieren lässt.

Katikatureske Figuren und Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm

Diese Stärken wiegen die manchmal schon karikatureske Zeichnung vieler Figuren auf, die von skurrilen Auftritten wie Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm am Ätna bis zur queeren CDU-Politikerin Annabelle von Gumppenberg reichen, auf deren reichlich dekadenter Hochzeit nicht nur Pasta mit wildem Fenchel und gehobelter Seeschnecke gereicht werden, sondern sogar ein Double von Mick Jagger auftreten darf.

Der belgische Starkoch hat es sich scheinbar einfach gemacht. Laut dem dem handgeschriebenen Hochzeitsmenü, das an jedem Platz liegt, gibt es Crudo di frutti di mare, als rohe Meeresfrüchte. Diese hier sind allderdings so frisch, dass Donatella dramatisch die Hand vor den Mund hält und ruft: „Oh my god. This is pure sex. I want to eat the chef! Grab him, wash him an bring him in my tent!“

Adriano Sack – Noto, S. 310 f.

Derartig überspannte Ausbrüche, Exaltierheit und prätentiöse Figuren und Gehabe gibt es in Noto reichlich. Sie alle werden aber auch immer wieder gebrochen und treffen auf durchaus amüsante Karikaturen wie etwa den an sich berauschten Großfeuilletonisten, der in seiner Hochzeitsrede während der schon erwähnten sizilianischen Vermählung seine eigene Belesenheit und Weltgewandtheit trefflich ausstellt, dafür aber den Anlass seiner Rede ebenso wie den Namen der Braut völlig aus dem Blick verliert.

Fazit

Komik und Tragik, Präzision und Überschwang, Sehnsucht und Flucht liegen in diesem Roman eng beieinander. Dem Journalisten Adriano Sack gelingt das Bild einer großen queeren Liebe und eine Hommage an das vielschichtige Sizilien. Und diesem Bild verzeiht man da die eine oder andere Karikatur auch gerne, besonders, da der Roman von Lizzo über Beyoncé bis zu den Pure Shores zudem einen exzellenten Soundtrack wachruft.


  • Adriano Sack – Noto
  • ISBN 978-3-312-01314-2 (Nagel & Kimche)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €