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Lydia Lewitsch – Der Fall Miriam Behrmann

Man könnte den in diesem Jahr allgegenwärtigen Franz Kafka paraphrasieren, um mit seinem berühmten Romananfang aus dem Prozess auch diese Besprechung von Lydia Lewitschs Der Fall Miriam Behrmann einzuleiten: Jemand musste Miriam B. verleumdet haben, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätte, wurde sie eines Morgens verhaftet.

Zwar kommt es im Roman zu keiner wirklich Verhaftung der Philosophieprofessorin, dennoch erinnert viel in Lewitschs Roman an die surrealen Umstände, denen sich auch Kafkas Protagonist Josef K. gegenübersieht. Denn der Professorin droht die Entfernung aus dem Staatsdienst – ein unerhörter Vorgang, der in den Annalen von Behrmanns Arbeitsstelle, der fiktiven Wiener Maximilians-Universität, noch nie vorgekommen ist. Und das alles nur, weil hier ein Disput über unterschiedliche Arbeitsmoral eskaliert ist?


Psychischer Missbrauch – es ist ein gravierender Vorwurf, der gegen die Professorin Miriam Behrmann im Raum steht. Vorgebracht hat ihn ihre Doktorandin Selina, deren Promotion Behrmann betreut. Nun tagt ein akademisches Entscheidungsgremium, das in zwei Stunden final über die Causa Behrmann befinden soll.

Diesen Zeitraum nutzt Lydia Lewitsch nun für eine ganze Menge Rückblenden, die das Leben Miriam Behrmanns, ihren akademischen Werdegang und die erhobenen Vorwürfe oder Anklagepunkte in einer in einer radikal subjektiven Erzählweise aufrollen. Dafür bedient sich die Autorin einer fast an einen Bewusstseinsstrom erinnernden Erzähltechnik, in der sich biografische Miniaturen, Academia, schriftliche Stellungnahmen und einige Handlungssplitter miteinander verbinden. So setzt sich langsam ein Bild der ganzen Lage und der Figur Miriam Behrmann zusammen, die nun vor der finalen Entscheidung ihr Gewissen erforscht.

Leistung und Druck

Übersteigerter Druck, der an psychisches Mobbing grenzt, so lautet der zentrale Vorwurf, den die promovierende Selina ihrer Chefin vorwirft. Weitere Stimmen aus dem akademischen Mittelbau nehmen Stellung zum Arbeitsethos und den Zuständen an Miriams Lehrstuhl – und mittendrin die Beklagte, die in Nachrichten an ihren Anwalt wiederum ihre Sicht der Dinge darstellt und sich keiner wirklichen Schuld bewusst ist.

Lydia Lewitsch - Der Fall Miriam Behrmann (Cover)

Denn Leistung und Verlässlichkeit sind Standards, die der Philosophieprofessorin seit ihrer eigenen Studienzeit in Princeton am Herzen liegen. So erwarten die Geldgeber und die Unileitung Exzellenz von der Arbeit, die auch international auf das Renommee der universitären Forschung und Lehre einzahlt – und Miriam gibt diese Erwartungshaltung auch an ihre Studierenden weiter.

Der folgliche Clash mit Selina, die neben der wissenschaftlichen Arbeit auch politisches Engagement als Teil ihrer Arbeit und ihres Lebens begreift, löst jenen Konflikt aus, den Lydia Lewitsch hier in atemloser, fast impressionistischer Manier nachzeichnet und dabei ganz unterschiedliche Themen wie migrantische Herkunft, Auswüchse des akademischen Wettbewerbs und das exemplarische Miteinander in ihrer Fachschaft berührt.

Universitäre und gesellschaftliche Debatten

Damit passt Der Fall Miriam Behrmann hervorragend in die Zeit. Nicht nur, weil die Dynamiken um die mögliche Entlassung der Professorin mit offenen Briefen, Untersuchungskommissionen und der Bedeutung von Befindlichkeiten an den Ablauf vieler Debatten erinnern. Ob die Ausladung einer Professorin als mögliche Cancel Culture, Gendern, die Positionen im Israel-Palästina-Konflikt mitsamt besetzter Hörsäle oder überhaupt das Richtige und Falsche in unserer komplexen Weltlage: vieles in Der Fall Miriam Behrmann lässt sich wie ein Strukturmuster auf nahezu alle anderen universitären Diskursen übertragen. Genauso wie diese Debatten von den universitären Echokammern auf die Gesellschaft ausstrahlen, ist es auch die große Frage des Arbeitsethos, die weit über Lewitschs Plot und Roman hinausweist.

Vor allem kommt der Roman zur rechten Zeit, als hierzulande immer mehr eben über die jene Zeit debattiert wird. Wie viel Zeit für Arbeit, wie viel Zeit für Freizeit ist angemessen und ist eine Vier-Tage-Woche die Lösung oder sollten wir mehr arbeiten und unser Arbeitsethos überdenken? Die Work-Life-Balance als großes Metathema unserer Gegenwart wird auch in Der Fall Miriam Behrmann verhandelt. Im Konflikt der unterschiedlichen Generationen mit der Universitätsprofessorin auf der einen Seite und der nachfolgenden Generation Z in Form von Selina auf der anderen Seite prallen die unterschiedlichen Vorstellungen, Lebensansätze und Ideale aufeinander.

Fazit

Das alles macht Lydia Lewitschs Roman zu einem sehr aktuellen Roman, der sowohl durch die Themensetzung als auch die stakkatohafte Erzählweise besticht.

Ob das erzählerische Konzept mit seiner Verschränkung biographischer Hintergründe, zeitgeistlicher Debatten und universitärem Innenblick in Verbindung mit dem flirrenden Gedankenstrom vollends aufgeht, da bin ich mir nach der Lektüre dieses Debüts nicht ganz sicher.

Was ich aber weiß ist, dass Der Fall Miriam Behrmann ein Campusroman, ein Zeitgeistroman und das Porträt einer ambitionierten Forscherin ist, deren Philosophie und Erleben die Leser*innen fordert, aber auch mit Einsichten in den universitären Lehrbetrieb und die Gedanken einer rastlosen Denkerin belohnt.


  • Lydia Lewitsch – Der Fall Miriam Behrmann
  • ISBN 978-3-627-00317-3 (Frankfurter Verlagsanstalt)
  • 256 Seiten- Preis: 24,00 €
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R. F. Kuang – Babel

Es klingt zugegebenermaßen nach einer wilden Mischung: Babel ist ein Fantasyroman, angesiedelt in einem alternativen Oxford der 1830er Jahre, der sich hauptsächlich mit Sprache, Kolonialismus und Übersetzen beschäftigt. Was in der reinen thematischen Zusammenfassung noch recht disparat klingen mag, entfaltet im Falle von R. F. Kuangs Buch eine große Faszination, die auf mich den gleichen Reiz ausübte wie im Roman das Silber auf das gesamte britische Empire .


Sprache und Übersetzen als zugrundeliegende Themen eines Fantasyromans einer Amerikanerin, der in Oxford, also dem Herzen britischer Gelehrsamkeit spielt? Dass das funktioniert, stellt die Rebecca F. Kuang in ihrem Roman Babel eindrücklich unter Beweis. Denn sie weiß, wovon sie schreibt, was auch ein Blick in ihre eigene Biografie zeigt. Denn die Autorin arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Übersetzerin, hat an der Universität von Oxford einen Soziologie-Master im Fach zeitgenössischer Chinastudien erworben, besitzt noch dazu einen Philologie-Master in Chinastudien, den sie an er Universität von Cambridge erlangt hat.

Viele dieser beruflichen und studierten Themenfelder finden sich in ihrem Roman, der im seuchengeplagten Kanton in den 1830er Jahren seinen Ausgang nimmt. Hier wird ein Junge kurz vor dessen Tod vom englischen Professor Lovell gerettet, der ihn mithilfe eines mysteriösen Silberbarrens anders als die restliche Familie vor dem Tod bewahren kann. Er nimmt den Jungen als sein Mündel an und reist gemeinsam mit seiner Haushälterin Mrs Piper zurück nach in sein Herrenhaus in Hampstead nahe London. Dort soll der Junge, der sich auf der Überfahrt in seine künftige Heimat das Alias Robin Swift zu seinem neuen Namen erwählt hat, eine grundlegende Ausbildung erhalten.

Gewissenhaft bereitet ihn der britische Professor auf eine besondere Karriere vor – denn für ihn ist ein ganz besonderer Ausbildungsplatz vorgesehen. Er soll in Oxford Sprachen und Übersetzungskunst studieren, um später der Gilde der Übersetzer im legendären Bauwerk Babel beizutreten. Dort übersetzen und übertragen viele studierte Arbeitskräfte und Professoren Texte aus der ganzen Welt, korrespondieren und leisten damit wichtige Arbeit für das Fundament des britischen Empires, das auf der Kraft des Silbers beruht.

Silber, die Kraft des britischen Empires

Denn durch die Kraft der unterschiedlichen Sprache werden Silberbarren mit Energie aufgeladen, die wiederum das koloniale Weltreich Großbritanniens am Laufen hält. Übersetzungen und Herleitungen von Begriffen sind es, die ins Silber hineingraviert diesem seine unnachahmliche Kraft verleihen. Eine Kraft, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen der Städte Anwendung findet. Laternen leuchten heller, Gärten blühen ausgiebiger und der Unrat in den Abwasserrohren wird durch die Einwebung von Silberadern schneller abtransportiert.

Sie standen gemeinsam am Fenster. Während er den Blick über Oxford streifen ließ, hatte Robin den Eindruck, dass die ganze Stadt einer exakt konstruierten Spieluhr ähnelte, die sich ausschließlich auf Zahnräder aus Silber verließ, um so zu funktionieren; wenn das Silber jemals versiegen sollte, wenn die Resonanzstäbe zerfallen sollten, dann würde ganz Oxford kreischend zum Stillstand kommen. Die Glockentürme würden verstummen, die Droschken würden mitten auf der Straße stehenbleiben, und die Bürgerinnen und Bürger würden erstarren, ihre Gliedmaßen mitten in der Bewegung eingefroren, ihre Münder offen, das nächste Wort unausgesprochen.

R. F. Kuang – Babel, S. 282

Es ist wahrlich ein komplexes Räderwerk der Technik und vor allem der Macht, dem auch Robin später einmal dienen soll. Als chinesischstämmiger Brite kommt ihm im Zusammenwirken von Sprache und Silber nämlich eine ganz besondere Bedeutung zu. Denn als er in Oxford sein Studium antritt, findet er sich in der Gesellschaft anderer Studierender, die ebenso wie Robin aus Kolonien oder weit entfernten Gegenden stammen. Vor allem deren Muttersprachen sind es, die sie für die Babbler (so eine nimmermüde Verballhornung der Spracharbeiter im Übersetzungsturm) so interessant machen, schließlich sind diese bislang noch kaum erschlossen. Viel Potential für neue Übersetzungen auf den Silberbarren also, mit denen auch Robin und Co das Fortbestehen des britischen Empires sichern sollen.

Doch wie der junge Student im Lauf dieser Mischung aus Fantasy, Campusroman und Kolonialismuskritik namens Babel feststellen muss: die Mehrsprachigkeit und sein Studium hat nicht nur Vorteile. Denn es ist keineswegs gesichert, dass die Arbeit an den Übersetzungswerken dem hehren Ziel der Völkerverständigung dient. Wie er nach einem zufälligen Treffen mit Mitgliedern des geheimen Hermes-Bundes feststellen muss, kann Übersetzung kann auch ein Akt der Ausbeutung sein. Doch für welche Seite wird sich Robin entscheiden?

Das Räderwerk der Macht

Babel beleuchtet ausgiebig die Macht der Sprache und der kulturellen Hegemonie, die im Falle von Rebecca F. Kuangs Roman durch die Kraft des Silbers symbolisiert wird. So beruht die Macht des Empires auf den mit Übersetzungen gravierten Silberbarren, die das Reich durch Ausbeutung anderer Länder gewinnt. Konzentriert ist die Macht und Wirkung des Silbers ganz auf die Kapitale London, in der sich wiederum alle Macht in den Kreisen der Eliten und Mächtigen verdichtet. Ein großes System der Ungerechtigkeit, das durch die Arbeit in Babel weiter gefestigt und am Laufen gehalten wird.

R. F. Kuang - Babel (Cover)

Und auch wenn die Welt von Babel auf den ersten Blick eine fantastische sein mag, so sind die Parallelen zu historischen Wegmarken in der Geschichte des British Empire groß. Die Opiumkriege, die industrielle Revolution, die zur Verarmung der Weber führt, Ludditen und Maschinenstürmer – und die davon unbeirrte Ordnung der reichen Eliten oben und armer Bevölkerung unten, einem nach Macht und Größe strebendem Weltreich und die damit einhergehende Ausbeutung des restlichen Teils der Welt. All das führt Babel eindrücklich vor Augen.

Zu den größten Verdienste Rebecca F. Kuangs zählt dabei, dass ihr die Verbindung aus kritischem Denken und Unterhaltung so mühelos gelingt. Sozial-, Kapitalismus- und Kolonialismuskritik, Elementen aus Bildungsroman, Dark Academia, Coming of Age, Frantz Fanon und Bibelzitate und ein ganzes Proseminar an Übersetzungstheorie: es steckt alles drin, was diesen Roman zudem in vielen aktuellen Diskursen und Trends verankert (was auch ein Stück weit den immensen Erfolg des Buchs weltweit erklärt).

Auf keiner Seite bricht Babel an seiner Last zusammen, im Gegenteil. Ebenso luftig und filigran wie die Bauwerke in den Gassen Oxfords, die Robin und die anderen durchstreifen, so ist auch dieser Roman. Ein unterhaltsamer Roman mit Mehrwert, der die Vergleiche zu Joanne K. Rowlings Harry Potter aufgrund der ähnlich liebevoll beschriebenen Schul- beziehungsweise Universitätswelt evoziert.

Eine Hymne auf das Übersetzen

Und nicht zuletzt, sondern vor allem ist Babel auch eine Hymne auf das Übersetzen, die Mehrsprachigkeit und die Kraft des Worts (weshalb auch die beiden formidablen Übersetzerinnen Heide Franck und Alexandra Jordan an dieser Stelle unbedingt Erwähnung finden müssen, die Babel im Deutschen neugeschöpft haben).

Kuang schafft ein Grundverständnis für die Komplexität und Schwierigkeiten von Übersetzungen, die ja immer Neuschöpfungen und Nachbildungen anderer Sprachen und Texte sind – bis hin zur Frage, ob es so etwas wie eine „reine“ Übersetzung überhaupt geben kann.

Immer ist die Übertragung und das Übersetzen Thema – was sich nicht nur in der Theorie oder der Namenswahl Robin Swifts äußert, der ähnlich wie Jonathan Swifts Schöpfung Gulliver bei dessen Reisen permanent zwischen Sprachen und Heimaten hin und herwechselt, sondern auch die Handlung vorantreibt.

Seine Überfahrt aus China nach London und später einmal retour, sein Schwanken zwischen der Welt des Turms von Babel und der Welt der revolutionären Anhänger des Hermes-Bundes, seine Ausgrenzung in der britischen Gesellschaft aufgrund des Äußeren, die alternative Freundschaft mit seinen ebenfalls ausgegrenzten Mitstudent*innen, die Bewertung anderer Figuren – stets ist dieser Roman in Bewegung, nimmt Robin unterschiedliche Positionen ein, entwickelt sich und schwankt in seinen Loyalitäten. Auch das ist es, was Babel trotz der immensen Lauflänge von über 700 Seiten so unterhaltsam und kurzweilig macht.

Fazit

So möchte ich eine große Empfehlung für diesen vielschichtigen, fantasievollen, unterhaltsamen wie kritischen Roman aussprechen, der in ein Oxford reisen lässt, das auf den ersten Blick zwar silberdurchwirkt und glänzend wirken mag, aber seine wahre Seiten erst spät zeigt. Rebecca F. Kuang gelingt es, die Leser*innen vollumfänglich in eine andere Welt abtauchen zu lassen, deren Bezüge zur Gegenwart aber unübersehbar sind. Babel hinterfragt unsere Ordnung, feiert das Übersetzen und die Widerstandskraft des Einzelnen. Besser noch als jeder Silberbarren!


  • R. F. Kuang – Babel
  • Aus dem Englischen von Heide Franck und Alexandra Jordan
  • ISBN 978-3-8479-0143-3 (Eichborn)
  • 736 Seiten. Preis: 26,00 €
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Honorée Fanonne Jeffers – Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois

Was für ein Ziegelstein von einem Buch. Honorée Fanonne Jeffers spannt in ihrem Debütroman Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois einen ganz weiten Bogen, um von Schwarzem Leben in Amerika zu erzählen. Von der Zeit der indigenen Bevölkerung bis hinein in die Gegenwart reicht ihr Erzählkosmos, der eine junge schwarze Studentin in den Mittelpunkt stellt, in deren familiären Wurzeln sich die ganze Geschichte des Schwarzen Amerika abbildet. Es ist ein Erzählbogen, der bei aller Ambition auch ein wenig überspannt ist.


Chicasetta, das liegt im tiefsten Georgia. Georgia, das wohl so stark wie kaum ein anderer amerikanischer Bundestaat für die blutige Geschichte der Sklaverei steht, kamen doch hier zumeist aus Afrika stammende Sklaven tausendfach durch die grausame Ausbeutung auf Baumwollplantagen und an anderen Stellen ums Leben.

Eben dort in den Südstaaten lebt die Verwandtschaft von Ailey Pearl Garfield, die ihre Mutter zusammen mit den drei Kindern jeden Sommer besucht. Im Juni oder Juli packen die Garfields das Auto, um aus Connecticut die Mason-Dixon-Linie zu überqueren und in den Süden zu fahren. Dort, bei ihrem Onkel Root, verleben die Kinder und Erwachsenen sorglose Tage.

Die Geschichte Chicasettas und die der Sklaverei

Honorée Fanonne Jeffers - Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois (Cover)

Doch je älter Ailey wird, umso differenzierter wird das Bild, das sie von Chicasetta und der wechselvollen Geschichte des Süden der USA erhält. Von der Highschool bis zum Studium verfolgt Honorée Fanonne Jeffers in diesem Bildungsroman den Weg von Ailey, der schlussendlich bis zum Promotion als Geschichtsstudierende führt – ein Weg, der für eine Schwarze alles andere als leicht ist.

Im Zuge dieser Bildungskarriere taucht Ailey immer tiefer in die Geschichte Chicasettas und ihrer eigenen schwarzen Familie ein. Stärkste Inspirationsquelle ist dabei ihr Onkel Root, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurde und der die wechselvolle amerikanische Geschichte und die Nachwirkungen des Systems der Sklaverei am eigenen Leib miterlebt hat. Er hat einst am Routledge College die Bekanntschaft mit dem Denker W.E.B. Du Bois gemacht – eine Begegnung, die ihn sein ganzes Leben beeinflusst hat und seine Weltsicht entscheidend prägte.

Das Denken W.E.B. Du Bois

Jener schwarze Denker und Theoretiker, der bei uns so gut wie unbekannt ist (wenngleich seine Studie Along the color line über seinen Besuch des nationalsozialistischen Deutschlands 1936 im vergangenen Jahr bei C. H. Beck wieder zugänglich gemacht wurde), ist mit seinem intellektuellen Ansatz für ein anderes Miteinander von Schwarz und Weiß eine der entscheidenden Figuren, deren Denkschule und Theoriewerk die Generationen prägt, vom Zeitzeugen Onkel Root bis hin zu der 1973 geborenen Ailey.

Während sie sich verliebt, Mitglied in einer Verbindung auf dem Campus werden möchte, sich in Affären stürzt und am eigenen Leib den immer noch grassierenden Rassismus sowohl im Süden als auch im Norden erfährt, bleibt sie doch auch unbeirrt auf ihrem Weg, das Schwarze Erbe und die Verstrickungen von Sklaverei und Rassismus auf lokaler und familiärer Ebene aufzuarbeiten. Während sie sich in diese Geschichte einarbeitet, sind es von Beginn des Romans an immer wieder als Song betitelte Zwischenspiele, die die elf Kapitel der Familiengeschichte Ailey Pearl Garfields unterbrechen.

Songs mit Schwarzer Geschichte

In diesen Songs geht Honorée Fanonne Jeffers ganz weit zurück in der Geschichte der USA, um die Geschichte von Schwarzem Leben in den USA zu erzählen. So setzt das Buch zur Zeit der indigenen Ureinwohner ein, als Stämme wie die Cherokee oder die Creek noch unbehelligt auf ihrem Land leben konnten. Sie zeichnet in den bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert zurückreichenden Episoden nach, wie Siedler und mit ihnen auch das System der Sklaverei langsam die indigene Bevölkerung verdrängten und wie sich die aus Afrika verschleppten Menschen im grausamen Sklavensystem der Südstaaten wiederfanden.

Die lose miteinander verknüpften Songs bilden Stück für Stück Stammbäume und Ahnenlinien ab, wobei der Erzählton von Honorée Fanonne Jeffers an manchen Stellen schon einen fast biblischen Klang bekommt, wenn sie über die Abstammung der Familien und Geschlechter erzählt.

Die Hauptrolle in diesen Episoden mit den erzählten Stammbäumen spielt dabei Samuel Pinchard, dessen Tun als Sklavenhalter und vor allem Sklavenschänder vom herrschenden System der Herrschaft der Weißen gedeckt war. Gewalt, Missbrauch und anderes Unrecht schildert Jeffers in diesen Songs anschaulich – und verknüpft diese Geschichten mit der erzählten Gegenwart rund um Aileys Familie.

Viel Ambitionen und viel Leid

Doch damit begnügt sie sich nicht – denn Honorée Fanonne Jeffers will in ihrem Debüt gleich alles (was leider auch etwas zu viel ist, um dieses Urteil vorwegzunehmen). So porträtiert sie die Familie Aileys, deren Weg als schwarze Familie im weißen Norden, erzählt ausführlich vom Abrutschen der ältesten Schwester Lydia in die Sucht, entwickelt im Hauptteil einen echten Campusroman, der von Kämpfen und Niedertracht vor und hinter der Kulissen der honorigen Universitäten erzählt. Zudem spielt das geschichtsträchtige Leben ihres Onkel Roots eine große Rolle – und auch von innerfamiliären Missbrauch, den Ailey und ihre Schwestern erfahren mussten, erzählt Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois.

So gut sich die Aufsteiger-Geschichte von Ailey inklusive diverser Niederschläge und Verlusterfahrungen auch liest – in Verbindung mit dem knappen Dutzend an historischen Episoden mit einem schon fast ausufernden Personaltableau entsteht im letzten Drittel dieses fast tausendseitigen Romans auch zunehmend ein Gefühl der Überforderung und der verlorenen Übersicht, wenn von Honorée Fanonne Jeffers der nächste historische Strang eingeführt wird.

Blickt man in den umfassenden Anmerkungsapparat zum Buch, so sind es vier Hauptfamilien, die die Stammbäume aufführen. Diese weisen insgesamt über 36 Nachfahren nebst der Elternpaare auf, die allesamt mal in den Songs und mal in der Haupterzählung eine Rolle spielen. Das war für mich, der die Lektüre ein paar Mal für wenige Tage unterbrechen musste, in seiner Komplexität und Fakten- und Personenfülle leider so manches Mal zu viel, auch wenn der Anmerkungsapparat natürlich bei der Lektüre hilft.

Hochinteressante Anmerkungen zur Übersetzungsproblematik

Ein Glossar zu schwarzen Begriffen ergänzt Die Liebeslieder von W. E. B. Du Bois genauso wie ein erklärendes Nachwort der Übersetzerinnen Maria Hummitzsch und Gesine Schröder, die ihre Übersetzungsüberlegungen zu Slang und der Übertragung des African American Vernacular English, einer mündlichen Abart des Schriftenglisch, das von Schwarzen gesprochen wurde und wird, darlegen.

So haben sie sich bemüht, die zwei Sprachebenen des englischen Originals zumindest in Ansätzen sichtbar zu machen, ohne dass es dazu führt, dass die Schwarzen im Roman wie Einfaltspinsel und tumbe Gestalten klingen (was bei anderen Büchern leider immer wieder passiert).

Dieses Nachwort und die darin dargestellten Probleme bei der Übersetzung zählen für mich zu den interessantesten Aspekten des Buchs, berühren diese Anmerkungen doch einige Probleme, auf die ich bei der Lektüre Schwarzer Autor*innen im Deutschen immer wieder stoße. Wie stellt man das weite Begriffsfeld von Race im Deutschen dar, wie bildet man das variantenreiche Vokabular von Negro bis Black wenigstens einigermaßen angemessen im Deutschen ab und warum schreibt man im Kontext von afroamerikanischer Literatur Schwarz auch groß?

All diese Anmerkungen und Erklärungen von übersetzerischer Theorie und Praxis und den Grenzen unserer Sprache zählen für mich zu dem Interessantesten, was ich auf diesem Feld in letzter Zeit gelesen habe (und stellen unter Beweis, welch fordernde Aufgabe die Übersetzerinnen hier mit Bravour gemeistert haben).

Fazit

Man muss Zeit und Muse mitbringen, will man sich in diese fast tausend Seiten Schwarzer Geschichte in den USA verbunden mit viel Familiengeschichte und einem Bildungsroman stürzen. Mit Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois legt Honorée Fanonne Jeffers, ihres Zeichens Professorin für Kreatives Schreiben an der Universität von Oklahoma, eine ambitionierte Erzählung über die gesamte Spanne Schwarzen Lebens in der USA vor. Aufgrund der episodalen Fülle an geschichtlichen Rückblenden mit einem schon fast ausufernden Personalensemble empfiehlt sich das Buch nicht für längere Unterbrechungen und braucht viel Aufmerksamkeit und Übersicht, bei der auch der umfangreiche Anmerkungsapparat nur ein Stück weit helfen kann.

Für mich persönlich will Honorée Fanonne Jeffers in ihrem Debüt ein bisschen zu viel, aber nichtsdestotrotz ist das Buch doch ein wirklich großer Wurf, der den Schwarzen Wurzeln in Amerika nicht nur im Privaten umfassend nachspürt.


  • Honorée Fanonne Jeffers – Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder
  • ISBN 978-3-492-07012-6 (Piper)
  • 992 Seiten. Preis: 28,00 €
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Richard Russo – Mittelalte Männer

Gehts noch? Einen Roman an dieser Stelle empfehlen, der den mittelalten Mann schon im Titel trägt? Noch dazu, wenn es sich bei dem Mann um einen weißen, überdurchschnittlich privilegierten Mann namens William Henry Deveraux jr. handelt, dem hier fast 600 Seiten gewidmet werden? Wo bleibt die Vielfalt, die weibliche Perspektive, die Geschlechtergerechtigkeit oder der Blick auf marginalisierte Gruppen? Ich meine die Vorwürfe schon fast zu hören, die besonders der Buchtitel in diesen aufgeregten Zeiten provozieren könnte.

Ich finde aber, dass man diesen Roman und seinen Protagonisten unbedingt vorstellen sollte. Denn der Roman ist wunderbar gelungen und absolut auf Höhe der Zeit, trotz der 24 Jahre, die seit dem Erscheinen des Buchs in den USA verstrichen sind. Ein Buch, das mit viel Witz und Freude am Exzess einen Mann in den Mittelpunkt steht, der sich innerhalb weniger Tage zahlreichen veritablen Krisen gegenübersieht.

Chaos an der Uni

Dieser William Henry Deveraux jr., der uns in der Ich-Perspektive aus seinem Leben erzählt, hat eigentlich alles. Eine bezauberende Frau, zwei Kinder, ein abbezahltes Eigenheim und eine Festanstellung auf Lebenszeit als Anglistikprofessor an einer Uni einer Kleinstadt in Pennsylvania. Sorgen sehen anders aus. Und doch gerät innerhalb weniger Tage alles ins Rutschen.

Richard Russo - Mittelalte Männer (Cover)

Seine Frau bricht zu einem außerhäusigen Aufenthalt auf, hinter dem vielleicht mehr stecken könnte. Seine Tochter scheint mit ihrem Ehemann nicht wirklich glücklich zu sein, Geldsorgen drücken das junge Paar. Körperlich spürt Henry auch langsam den Verfall, der Toilettengang wird zum Martyrium. Und auch an seinem Arbeitsplatz, der Universität von Railton, scheinen alle langsam, aber sicher durchzudrehen.

So wird Henry gleich zu Beginn des Buchs bei einer Besprechung der Fachschaft Anglistik von einer Kollegin an der Nase verstümmelt, nachdem diese ihm in einer hitzigen Diskussion statt Argumenten ein Heft mit tückischer Spiralbindung an den Kopf geworfen hat. Doch bei diesem Ausbruch bleibt es nicht. Henry soll aufgrund seines passiven Führungsstil seines Amtes als Fachbereichsleiter enthoben werden. Die Kolleginnen und Kollegen verlangen nach Budgets und sicheren Posten, die Universitätsleitung kann und will keine Gelder freigeben. Henry steht zwischen allen Fronten und pflegt sich alle Probleme mit den Waffen der Ironie und mithilfe von Streichen vom Leib zu halten.

Doch der mittelalte Mann muss erkennen, dass diese Waffen des Humors im Laufe der Zeit doch ganz schön stumpf geworden sind. Da hilft nicht einmal die Drohung, solange jeden Tag eine Ente am universitätseigenen Teich umzubringen, bis sein Etat freigegeben ist. In der Uni brodelt es und Professor Deveraux steckt mittendrin.

Ein Erzähler mit Klasse

Mit Mittelalte Männer zeigt Richard Russo einmal mehr seine Klasse, die ihn zu einem meiner favorisierten amerikanischen Erzähler macht. Ihm gelingt es wie schon in Ein Mann der Tat, ein ganzes Leben auf wenige Tage zu verdichten, in denen alles eine entscheidende Wendung nimmt. Unglaublich plastisch zeichnet er diesen William Henry Deveraux jr. mit all seinen Macken, Fehlern und Scherzexzessen, wobei man in jeder Szene den warmherzigen Blick des Autors auf seinen speziellen Helden merkt.

Was mir an Richard Russo neben seiner Fähigkeit zur plastischen Modellierung seiner Figuren so gut gefällt ist die Tatsache, dass er sich auch vor Slapstick und gnadenloser Blödelei nicht scheut. So lässt er William, von seinem Umfeld auch „Lucky Hank“ genannt, zum Fernsehstar von „Good Morning America“ werden. Auch das gesamte Kollegium verprellt Hank systematisch mit seinen Scherzen und Streichen. Das Buch steckt voller Humor in allen Schattierungen – und ist darüber hinaus mitsamt seiner Bezüge auf Fehlerkultur, das universitäre Leben und gesellschaftliche Analysen höchst aktuell. Dabei wird dieses Buch niemals banal. Eine misslungene Szene oder hakelige Figureneinführungen sind bei Richard Russo Fehlanzeige.

Die Professorinnen und Professoren dort am Lehrstuhl sind allesamt Vertreter bestimmter Strömungen und durch die Bank weg Charakterköpfe. Großartig etwa der Kollege, der Sexismus anprangert und mit seinem Aktivismus für Gleichstellung die Nerven der Mitmenschen erheblich strapaziert, wodurch er sich von Henry den Rufnamen Odersie eingefangen hat. Affären und Eifersüchteleien – in Mittelalte Männer wird die Uni zum Intrigenstadel, gnadenlos ausgeleuchtet durch William Henry Deveraux jr.. In seiner Klarsichtigkeit der Schilderung der universitären Grabenkämpfe ist das bemerkenswert – und hat kein Gran seiner Aktualität eingebüst.

Fazit

Mittelalte Männer ist einmal mehr eine glänzend erzählte Charakterstudie eines Mannes, der ins Schwanken geraten ist. Das Buch hat höchst vielschichtigen Humor zu bieten, unterhält großartig und ist fabelhaft rund, ohne jemals zu belanglos oder seicht zu werden. Nicht zuletzt ist das Buch auch ein Blick durchs Schlüsselloch in den Intrigenstadel namens Universität.

Es war die richtige Entscheidung des Dumont-Verlags, dieses Buch nun 24 Jahre nach Erscheinen in der Übersetzung von Monika Köpfer zu veröffentlichen. Ich freue mich sehr darüber und kann wie stets nur zur Lektüre von Richard Russo raten!


  • Richard Russo – Mittelalte Männer
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8116-1 (Dumont)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam

Ein Jurist legt eine Beichte ab. Im Todestrakt, wartend auf seine Hinrichtung erzählt er uns sein Leben. Er schildert dabei Wie alles begann und wer dabei umkam. Und zeigt sich als ambitionierter Jurist, dem das Recht schon früh nicht mehr ausgereicht hat. Simon Urban hat einen Roman geschrieben, der Entwicklungsroman, juristische Einführung, psychologische Feldstudie und Schelmenroman miteinander kombiniert. Ein Roman, der unterhaltsam, aber nicht ganz rund und schlüssig ist.


Schon früh zeigt sich im Leben des Justus Hartmann: dieses Kind ist nicht wie andere. Zusammen mit den Eltern wohnt er in der Einliegerwohnung des Hauses der eigenen Großmutter. Diese tyrannisiert die ganze Familie, die Schwiegertochter muss zum Hungerlohn bei ihr putzen. Aber immerhin: den Lohn zieht sie der eigenen Familie dann vom Mietpreis der Wohnung ab. Mit ihren Tiraden und wohlgesetzten Spitzen knechtet sie die ganze Familie, sodass Justus schon im Kinderzimmer einen Prozess gegen die eigene Großmutter anstrengt. Als Beisitzer fungieren Kuscheltiere, das Ergebnis seines kindlichen Richterspruchs ist eindeutig: die Todesstrafe.

Ab nach Freiburg

Simon Urban - Wie alles begann und wer dabei umkam (Cover)

Doch bis dieses Todesurteil bei der eigenen Großmutter rechtsgültig in Kraft tritt, werden noch viele Jahre vergehen. Einstweilen absolviert er erst einmal die allgemeine Hochschulreife und tritt nach der Schulzeit den Weg aus Stuttgart nach Freiburg an. Er will der Enge der Wohnung und der großmütterlichen Tyrannei entfliehen und erwählt das heruntergekommene Freiburger Studentenwohnheim als sein neues Domizil. Immer noch mit den Auswüchsen der Pubertät geschlagen beschließt er, sich dem Studium des Rechts zu widmen.

Schnell wird er zu einem Überflieger, der Tutorien leitet, allerdings wenig soziale Kompetenz an den Tag liegt. Seine größte Erfüllung findet er in schonungslosen Gesprächen mit Kommilitoninnen oder jüngeren Studenten, in denen man gnadenlos Geheimnisse oder wahre Ansichten über das Gegenüber teilt. An diesen Gesprächen berauscht sich Justus und schreckt dabei auch vor Manipulation nicht zurück.

Alles ändert sich, als man der etwas biederen Strafrechtslehre in Freiburg mehr Glamour verleihen will. So erhält eine Berliner Starprofessorin einen Lehrauftrag an der Freiburger Uni. Sie krempelt gleich mit ihrer Antrittsrede den Laden auf links und verstört mit ihren Ansichten zur Rechtsprechung Justus nachhaltig. Er beginnt, sich als Gegenspieler der Professorin zu sehen und treibt in seiner Freizeit den Versuch der globalen Renovierung des Strafrechts voran. Doch seine Überlegungen haben für ihn und seine Mitmenschen Konsequenzen. Konsequenzen, die Justus um den halben Erdball führen werden.

Zwei unterschiedlich überzeugende Teile

Wie alles begann und wer dabei umkam teilt sich in zwei Hälften. Endet der erste Teil mit einem wahren Paukenschlag, setzt Urban die Geschichte seines Juristen mit psychopathischen Zügen dann auf der anderen Seite der Erdkugel fort.

Dabei fällt ein qualitativer Unterschied der beiden Hälften ins Auge. Während der erste Teil des Romans recht stringent und vorwärtstreibend erzählt ist, verliert sich diese Dynamik in der zweiten Hälfte fast gänzlich. Hier lässt Urban den Erzählungsfluss deutlich stärker mäandern und unterbricht die Handlung immer wieder durch kurze Erzählepisoden, die sich nicht wirklich homogen einfügen. Zwar sind Teile der Miniaturen großartig (ein humoristischer Höhepunkt sicherlich die Schilderung des Heino-Konzerts, das Justus zusammen mit der tyrannischen Großmutter besuchen muss), andere Geschichten bringen eher erzählerische Längen in den Roman ein (der mit über 500 Seiten eh recht umfänglich geraten ist).

Fehlender Drive im zweiten Teil

Auch schafft es Simon Urban nicht so recht, aus den beiden Hälften mitsamt der ganzen Erzählminiaturen ein literarisches Ganzes zu formen. Der Paukenschlag, der den ersten Teil beendet, läuft im zweiten Teil ins völlige Nichts, ehe der dann am Ende des Romans mithilfe einer Mail halbgar zu Ende gebracht wird. Auch weckt der Auftakt mit der Beichte aus dem Todestrakt heraus Erwartungen, die das Buch nicht erfüllen kann.

Statt einem skrupellosen Mr Ripley, dessen Taten nach und nach eine Lawine auslösen oder zu einem kriminellen Crescendo anschwellen, dümpelt die Handlung oft einfach vor sich hin. Justus scheint in seinen Schilderungen eher an sexuellen Erlebnissen, entblößenden Gesprächen und juristischen Fragestellungen oder Paradoxa Interesse zu haben, als sich als das zu präsentieren, was Klappentext und Geständnis am Anfang des Buchs insinuieren. So bleibt ein etwas unrunder Leseeindruck zurück.

Etwas nervig auch die Angewohnheit, sämtliche besonderen oder hervorgehobenen Wörter ständig kursiv zu setzen. Mit fortschreitender Dauer erweist sich diese Marotte als manieriert und erzählerisch nicht zweckdienlich. Ohne diese Kursivsetzung hätte das Buch kein Gran an Literarizität verloren. So zumindest mein Eindruck

Fazit

Wie alles begann und wer dabei umkam ist ein unterhaltsamer Roman, der besonders im ersten Teil vorandrängt und einen skrupellosen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt rückt. Wer viele juristische Fallbeispiele und Betrachtungen über Recht und Unrecht abkann, den dürfte das Buch gut unterhalten. Einige Straffungen und Überarbeitung hin zu einem homogenen erzählerischen Ganzen hätten dem Buch gutgetan. So bleibt für mich der Eindruck, dass hier etwas mehr drin gewesen wäre. Ich empfehle vorrangig Simon Urbans Debüt Plan D, in dem er ein alternatives Deutschland entwirft, in dem die DDR noch fortbesteht. Diesen Thriller würde ich persönlich nach wie vor Wie alles begann und wer dabei umkam vorziehen.

Ein gesonderter Hinweis sei an dieser Stelle noch auf den originellen Trailer des Verlags zum Buch:


  • Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam
  • ISBN 978-3-462-05500-9 (Kiepenheuer Witsch)
  • 544 Seiten. Preis: 24,00 €
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