Monthly Archives: März 2023

John Steinbeck – Von Mäusen und Menschen

Ein großer Klassiker des amerikanischen Realismus, jetzt neu zu entdecken in einer illustrierten Ausgabe von Philip Waechter bei der Büchergilde Gutenberg: John Steinbeck über ein ungleiches Duo und ihre Sehnsucht nach etwas Glück – Von Mäusen und Menschen.


Der amerikanische Traum, er hat Generationen von Menschen das Leben in einer besseren Welt verheißen, die möglich ist, wenn man sich nur genug anstrengt. Auch das ungleiche Duo George und Lennie treibt diese Hoffnung um. Als Hilfsarbeiter verdingen sich die beiden, wobei George die meiste Zeit mit der Betreuung von Lennie beschäftigt ist. Dieser ist ein rechter Simpel mit dem Verstand eines Kleinkindes, aber den Körperkräften eines Riesen.

Slim hatte sich nicht gerührt. Seine ruhigen Augen folgten Lennie zur Tür hinaus. „Du lieber Himmel“, sagte er, „der ist wie ein Kind, was?“

„Natürlich ist er wie ein Kind. Auch so harmlos wie ein Kind, bloß mit dem Unterschied, dass er so stark ist. Ich wette, er kommt heute Nacht nicht zum Schlafen her. Er wird draußen im Stall schlafen, direkt neben der Kiste. Na, soll er doch. Da kann er nichts Schlimmes anstellen.“

John Steinbeck – Von Mäusen und Menschen, S. 104

Lennie und George unterwegs

Auf ihrer Wanderschaft sind die beiden Arbeiter vom Städtchen Weed nun zu einer neuen Farm gelangt. Dort wollen sie sich verdingen, um Geld zu sammeln. Denn der amerikanische Traum, er treibt auch George und Lennie um. So ist es insbesondere zweiterer, den die Idee eines gemeinsamen Zuhauses gar nicht mehr wirklich zur Ruhe kommen lässt.

John Steinbeck - Von Mäusen und Menschen (Cover)

Ein eigenes Dach über dem Kopf und im Garten Hasen, um deren Zucht er sich kümmern kann, dieser Gedanke beglückt Lennie ungemein. Alle Arten von Tieren sagen dem Mann mit den naiven Gemüt zu. So trägt er auf der Wanderschaft mit Lennie Mäuse in der Tasche, die aufgrund seiner nur schwer zu kontrollierenden Kraft zumeist schon tot sind, nachdem Lennie sie gestreichelt hat.

Auch ein Wurf Welpen auf der Farm begeistert ihn, und so verbringt er seine Zeit meist im Umgang mit den Tieren. Wenn seine Begeisterung auf Mitmenschen überspringt, dann hat dies allerdings meist keine guten Folgen. Denn Hals über Kopf mussten George und Lennie Weed verlassen, als Lennie das rote Kleid einer jungen Frau dergestalt begeisterte, dass er es gar nicht mehr loslassen wollte.

Immer wieder muss George in der Not einspringen, und seinem Freund aus der Patsche helfen und für beide mitdenken. Doch nun könnte alles anders werden dort auf der Farm, denn für das Verladen der Gerste sind die beiden genau die richtigen Männer. Ein paar Monate harte Arbeit, und der Grundstock für den Erwerb eines Hauses wäre gelegt und Lennie und George ihre eigenen Herren.

Der amerikanische Traum gilt nicht für alle

Doch mit dem Glück ist es nicht weit her, wie Steinbeck in seiner 1937 erstmals erschienen Novelle zeigt. Denn der amerikanische Traum gilt bei weitem nicht für alle, wie er in Von Mäusen und Menschen eindrucksvoll illustriert.

„Du bist übergeschnappt.“ Crooks sagte es verächtlich.

„Ich habe Hunderte von Männern gesehn, die von der Landstraße auf die Farmen gekommen sind, mit ihrem Bündel auf dem Rücken und denselben verdammten Ideen im Kopf. Hunderte, sag ich dir. Sie kommen und sie gehen und ziehen weiter und jeder verdammte Kerl von ihnen hat ein Stück Land im Kopf. Und verdammt keiner erreicht es je. Es ist wie mit dem Himmel. Jeder wünscht sich ein kleines Stückchen Land. Hab hier draußen einen ganzen Haufen Bücher gelesen. Es kommt keiner in den Himmel und keiner kriegt sein Stück Land. Es steckt ihnen bloß im Kopf. Sie reden die ganze Zeit davon, aber es ist bloß in ihrem Kopf drin.“

John Steinbeck – Von Mäusen und Menschen, S. 178

So schwingt in Steinbecks Text auch viel Desillusion mit, denn ein Happy End sucht man in dieser Erzählung vergeblich, ohne an dieser Stelle zu viel vom Text vorwegnehmen zu wollen.

Gelungene Bildwelten

Tief bewegt hat ihn dieser Text, wie der Illustrator Philip Waechter in seinem kurzen Nachwort zu dieser Neuausgabe des Klassikers schreibt. Geradezu erschüttert sei er gewesen ob der Konsequenzen, die die Suche nach Glück für Steinbecks Protagonisten hat. So wollte er die Welt aus Armut, Abhängigkeit und Unterdrückung passend zu Steinbecks klarem und nüchternen Stil illustrieren. Ein Vorhaben, das dem Frankfurter Illustrator wirklich gelungen ist, der hier nach Straße der Ölsardinen 2009 abermals tätig geworden ist in Sachen John Steinbeck.

George und Lennie auf Wanderschaft

Immer wieder unterbrechen ganzseitige, mit grobem Strich gezeichnete Szenen oder kurze Illustrationen von einzelner geschilderter Aspekte die Handlung, die sich wunderbar in die Geschichte einfügen und die Welt der armen Farmarbeiter gut illustrieren. Selbst wenn hier in einigen wenigen Szenen mal die Sonne scheint, so ist doch der schwarze Strich stets präsent und zeigt die Schwere der Existenzen.

Zudem sind es weitere kleine gestalterische Kniffe, die diese Ausgabe so besonders machen. So wandern etwa nicht nur Lennie und George durch die amerikanische Weite, auch die Seitenzahlen sind hier beständig unterwegs und wandern über die Seiten.

Kurze biografische Einordnungen zu John Steinbeck, Philip Waechter und der Übersetzerin Mirjam Pressler runden das Ganze ab. So entsteht ein bibliophil hochwertiger Band, der einen echten Klassiker des American Novel noch einmal neu entdecken lässt. Philip Waechter gelingt hier eine einfühlsame und stimmige Interpretation des Buchgeschehens.


  • John Steinbeck – Von Mäusen und Menschen
  • Aus dem Amerikanischen von Mirjam Pressler
  • Illustriert von Philip Waechter
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 174111
  • 272 Seiten. Preis: 28,00 €
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Honorée Fanonne Jeffers – Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois

Was für ein Ziegelstein von einem Buch. Honorée Fanonne Jeffers spannt in ihrem Debütroman Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois einen ganz weiten Bogen, um von Schwarzem Leben in Amerika zu erzählen. Von der Zeit der indigenen Bevölkerung bis hinein in die Gegenwart reicht ihr Erzählkosmos, der eine junge schwarze Studentin in den Mittelpunkt stellt, in deren familiären Wurzeln sich die ganze Geschichte des Schwarzen Amerika abbildet. Es ist ein Erzählbogen, der bei aller Ambition auch ein wenig überspannt ist.


Chicasetta, das liegt im tiefsten Georgia. Georgia, das wohl so stark wie kaum ein anderer amerikanischer Bundestaat für die blutige Geschichte der Sklaverei steht, kamen doch hier zumeist aus Afrika stammende Sklaven tausendfach durch die grausame Ausbeutung auf Baumwollplantagen und an anderen Stellen ums Leben.

Eben dort in den Südstaaten lebt die Verwandtschaft von Ailey Pearl Garfield, die ihre Mutter zusammen mit den drei Kindern jeden Sommer besucht. Im Juni oder Juli packen die Garfields das Auto, um aus Connecticut die Mason-Dixon-Linie zu überqueren und in den Süden zu fahren. Dort, bei ihrem Onkel Root, verleben die Kinder und Erwachsenen sorglose Tage.

Die Geschichte Chicasettas und die der Sklaverei

Honorée Fanonne Jeffers - Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois (Cover)

Doch je älter Ailey wird, umso differenzierter wird das Bild, das sie von Chicasetta und der wechselvollen Geschichte des Süden der USA erhält. Von der Highschool bis zum Studium verfolgt Honorée Fanonne Jeffers in diesem Bildungsroman den Weg von Ailey, der schlussendlich bis zum Promotion als Geschichtsstudierende führt – ein Weg, der für eine Schwarze alles andere als leicht ist.

Im Zuge dieser Bildungskarriere taucht Ailey immer tiefer in die Geschichte Chicasettas und ihrer eigenen schwarzen Familie ein. Stärkste Inspirationsquelle ist dabei ihr Onkel Root, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurde und der die wechselvolle amerikanische Geschichte und die Nachwirkungen des Systems der Sklaverei am eigenen Leib miterlebt hat. Er hat einst am Routledge College die Bekanntschaft mit dem Denker W.E.B. Du Bois gemacht – eine Begegnung, die ihn sein ganzes Leben beeinflusst hat und seine Weltsicht entscheidend prägte.

Das Denken W.E.B. Du Bois

Jener schwarze Denker und Theoretiker, der bei uns so gut wie unbekannt ist (wenngleich seine Studie Along the color line über seinen Besuch des nationalsozialistischen Deutschlands 1936 im vergangenen Jahr bei C. H. Beck wieder zugänglich gemacht wurde), ist mit seinem intellektuellen Ansatz für ein anderes Miteinander von Schwarz und Weiß eine der entscheidenden Figuren, deren Denkschule und Theoriewerk die Generationen prägt, vom Zeitzeugen Onkel Root bis hin zu der 1973 geborenen Ailey.

Während sie sich verliebt, Mitglied in einer Verbindung auf dem Campus werden möchte, sich in Affären stürzt und am eigenen Leib den immer noch grassierenden Rassismus sowohl im Süden als auch im Norden erfährt, bleibt sie doch auch unbeirrt auf ihrem Weg, das Schwarze Erbe und die Verstrickungen von Sklaverei und Rassismus auf lokaler und familiärer Ebene aufzuarbeiten. Während sie sich in diese Geschichte einarbeitet, sind es von Beginn des Romans an immer wieder als Song betitelte Zwischenspiele, die die elf Kapitel der Familiengeschichte Ailey Pearl Garfields unterbrechen.

Songs mit Schwarzer Geschichte

In diesen Songs geht Honorée Fanonne Jeffers ganz weit zurück in der Geschichte der USA, um die Geschichte von Schwarzem Leben in den USA zu erzählen. So setzt das Buch zur Zeit der indigenen Ureinwohner ein, als Stämme wie die Cherokee oder die Creek noch unbehelligt auf ihrem Land leben konnten. Sie zeichnet in den bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert zurückreichenden Episoden nach, wie Siedler und mit ihnen auch das System der Sklaverei langsam die indigene Bevölkerung verdrängten und wie sich die aus Afrika verschleppten Menschen im grausamen Sklavensystem der Südstaaten wiederfanden.

Die lose miteinander verknüpften Songs bilden Stück für Stück Stammbäume und Ahnenlinien ab, wobei der Erzählton von Honorée Fanonne Jeffers an manchen Stellen schon einen fast biblischen Klang bekommt, wenn sie über die Abstammung der Familien und Geschlechter erzählt.

Die Hauptrolle in diesen Episoden mit den erzählten Stammbäumen spielt dabei Samuel Pinchard, dessen Tun als Sklavenhalter und vor allem Sklavenschänder vom herrschenden System der Herrschaft der Weißen gedeckt war. Gewalt, Missbrauch und anderes Unrecht schildert Jeffers in diesen Songs anschaulich – und verknüpft diese Geschichten mit der erzählten Gegenwart rund um Aileys Familie.

Viel Ambitionen und viel Leid

Doch damit begnügt sie sich nicht – denn Honorée Fanonne Jeffers will in ihrem Debüt gleich alles (was leider auch etwas zu viel ist, um dieses Urteil vorwegzunehmen). So porträtiert sie die Familie Aileys, deren Weg als schwarze Familie im weißen Norden, erzählt ausführlich vom Abrutschen der ältesten Schwester Lydia in die Sucht, entwickelt im Hauptteil einen echten Campusroman, der von Kämpfen und Niedertracht vor und hinter der Kulissen der honorigen Universitäten erzählt. Zudem spielt das geschichtsträchtige Leben ihres Onkel Roots eine große Rolle – und auch von innerfamiliären Missbrauch, den Ailey und ihre Schwestern erfahren mussten, erzählt Die Liebeslieder von W.E.B. Du Bois.

So gut sich die Aufsteiger-Geschichte von Ailey inklusive diverser Niederschläge und Verlusterfahrungen auch liest – in Verbindung mit dem knappen Dutzend an historischen Episoden mit einem schon fast ausufernden Personaltableau entsteht im letzten Drittel dieses fast tausendseitigen Romans auch zunehmend ein Gefühl der Überforderung und der verlorenen Übersicht, wenn von Honorée Fanonne Jeffers der nächste historische Strang eingeführt wird.

Blickt man in den umfassenden Anmerkungsapparat zum Buch, so sind es vier Hauptfamilien, die die Stammbäume aufführen. Diese weisen insgesamt über 36 Nachfahren nebst der Elternpaare auf, die allesamt mal in den Songs und mal in der Haupterzählung eine Rolle spielen. Das war für mich, der die Lektüre ein paar Mal für wenige Tage unterbrechen musste, in seiner Komplexität und Fakten- und Personenfülle leider so manches Mal zu viel, auch wenn der Anmerkungsapparat natürlich bei der Lektüre hilft.

Hochinteressante Anmerkungen zur Übersetzungsproblematik

Ein Glossar zu schwarzen Begriffen ergänzt Die Liebeslieder von W. E. B. Du Bois genauso wie ein erklärendes Nachwort der Übersetzerinnen Maria Hummitzsch und Gesine Schröder, die ihre Übersetzungsüberlegungen zu Slang und der Übertragung des African American Vernacular English, einer mündlichen Abart des Schriftenglisch, das von Schwarzen gesprochen wurde und wird, darlegen.

So haben sie sich bemüht, die zwei Sprachebenen des englischen Originals zumindest in Ansätzen sichtbar zu machen, ohne dass es dazu führt, dass die Schwarzen im Roman wie Einfaltspinsel und tumbe Gestalten klingen (was bei anderen Büchern leider immer wieder passiert).

Dieses Nachwort und die darin dargestellten Probleme bei der Übersetzung zählen für mich zu den interessantesten Aspekten des Buchs, berühren diese Anmerkungen doch einige Probleme, auf die ich bei der Lektüre Schwarzer Autor*innen im Deutschen immer wieder stoße. Wie stellt man das weite Begriffsfeld von Race im Deutschen dar, wie bildet man das variantenreiche Vokabular von Negro bis Black wenigstens einigermaßen angemessen im Deutschen ab und warum schreibt man im Kontext von afroamerikanischer Literatur Schwarz auch groß?

All diese Anmerkungen und Erklärungen von übersetzerischer Theorie und Praxis und den Grenzen unserer Sprache zählen für mich zu dem Interessantesten, was ich auf diesem Feld in letzter Zeit gelesen habe (und stellen unter Beweis, welch fordernde Aufgabe die Übersetzerinnen hier mit Bravour gemeistert haben).

Fazit

Man muss Zeit und Muse mitbringen, will man sich in diese fast tausend Seiten Schwarzer Geschichte in den USA verbunden mit viel Familiengeschichte und einem Bildungsroman stürzen. Mit Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois legt Honorée Fanonne Jeffers, ihres Zeichens Professorin für Kreatives Schreiben an der Universität von Oklahoma, eine ambitionierte Erzählung über die gesamte Spanne Schwarzen Lebens in der USA vor. Aufgrund der episodalen Fülle an geschichtlichen Rückblenden mit einem schon fast ausufernden Personalensemble empfiehlt sich das Buch nicht für längere Unterbrechungen und braucht viel Aufmerksamkeit und Übersicht, bei der auch der umfangreiche Anmerkungsapparat nur ein Stück weit helfen kann.

Für mich persönlich will Honorée Fanonne Jeffers in ihrem Debüt ein bisschen zu viel, aber nichtsdestotrotz ist das Buch doch ein wirklich großer Wurf, der den Schwarzen Wurzeln in Amerika nicht nur im Privaten umfassend nachspürt.


  • Honorée Fanonne Jeffers – Die Liebeslieder des W.E.B. Du Bois
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Maria Hummitzsch und Gesine Schröder
  • ISBN 978-3-492-07012-6 (Piper)
  • 992 Seiten. Preis: 28,00 €
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Annika Büsing – Koller

Erzählte Annika Büsing in ihrem Debüt Nordstadt eine widerborstige Romanze am Beckenrand eines Hallenbads, so schickt sie in ihrem zweiten Roman Koller zwei junge Männer auf einen Roadtrip von Leipzig bis ins Ahrtal.


„Ich bin Koller“, hattest du gesagt, als hinter den Bäumen die Sonne unterging.

Auf dem Bild an der Wand sahst du aus wie der, der du gewesen warst, bevor dir jemand deinen Spitznamen gabe. Während ich dich betrachtete, standst du plötzlich hinter mir.

„Das war an der Ostsee“, sagtest du.

Dein Atem streifte meinen Nacken. Wir sahen beide auf das Bild an der Wand. Ein glücklicher, junger Mann, lachend auf einem Gartenstuhl in einer Pose zwischen Zurücklehnen und Aufstehen. Ich drehte mich zu dir um. Du küsstest mich. Ich kann das nur hart und klar, doch dein Kuss war weich und trüb. Er ließ keine klaren Absichten erkennen, er floss über vor Gefühl. Mit dem Daumen strichst du über die Falte zwischen meinen Augen. Dann zimmerten wir ein Frühstück hin: Eier, Brot, eine Kanne Kaffee. Du sahst verschlafen aus, trugst noch immer das T-Shirt vom Abend zuvor.

„Ich muss dich mal was Ernsthaftes fragen“, sagtest du kauend. „Wie dringend willst du ans Meer?“.

„Sehr dringend“, sagte ich.

„Dann sollten wir das angehen“, sagtest du. „Meiner Oma, die, von der ich dir erzählt habe, gehört ein Haus in Klütz. Wir können dahin, wenn du willst.“

Annika Büsing – Koller, S. 14 f.

Gesagt, getan. so schnell kann es gehen. Am Nachmittag zuvor haben sich Chris und Kolja alias Koller noch in einem Park in Leipzig kennengelernt, am nächsten Tag soll es schon auf eine Fahrt an die Ostsee gehen. Doch so leicht, wie der Plan auf den ersten Seiten von Annika Büsings neuem Roman erscheint, so leicht ist es dann doch nicht.

Von Leipzig nach Klütz (eigentlich)

Annika Büsing - Koller (Cover)

Das beginnt schon mit dem Reisevehikel, einem nahezu prähistorischen Polo II mit vier Gängen, vierzig PS und einer losen Beifahrertür. Mit diesem Gefährt soll es nach Klütz gehen, doch schon am ersten Tag des Roadtrips geht es für Chris und Koller statt in den Norden erst einmal in den Südwesten der Bundesrepublik. Denn Koller steckt voller Überraschungen. So hat er nicht nur eine Partnerin namens Ella, auch eine Schwester namens Birte gibt es. Diese lebt in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung in Ludwigsburg, wohin sich die beiden Männer nun als erstes aufmachen.

Doch nicht nur mit der Enthüllung der Existenz einer Schwester überrascht Koller Chris vollkommen. Auch ist Koller Vater eines vierjährigen Kindes, das bei seinen Großeltern wohnt, und das ausgerechnet im Ahrtal, das zum Zeitpunkt der Handlung im Sommer 2021 überschwemmt wurde und nun kaum betretbar ist.

So machen sich Chris und Koller nach der Stippvisite bei seiner Schwester auf, Kollers Kind dort im Ahrtal zu besuchen und sich zu versichern, dass es Hannah gutgeht. Es wird nicht das letzte überraschende Moment dieses Roadtrips sein, dessen Ziel und Umfang zu Beginn des Romans noch ganz überschaubar erschien.

Ein Roadtrip in sieben Tagen

Doch so verschlungen wie die Wege des Lebens der Protagonisten in Annika Büsings Geschichte sind eben auch die Wege, auf denen die beiden Männer wandeln beziehungsweise mit dem schrottreifen Auto zuckeln. Da führt der Weg zum Ziel dann eben auch einmal über einen Forstweg oder endet in einer Verfolgungsjagd.

All das inszeniert Annika Büsing im biblischen Schöpfungszeitraum der sieben Tagen. Neben der manchmal etwas springenden Chronologie der Tage fügt sie noch kursiv gesetzte Kurzbiografien von drei indirekt an der Handlung beteiligten Frauen ein, die durch ihre kurz angerissenen Lebensgeschichten einen etwas klareren Blick auf Chris und Koller erlauben. So werden die biografischen Hintergründe und Beziehungen der beiden jungen Männer klarer und zeigen die Erfahrungen und Brüche im Leben, die sie erfahren haben.

Annika Büsing gelingt wieder ein komprimierter und schneller Roman mit ebenso schnellen Dialogen und kurzen, aber in markantem Sound gesetzten Sätzen, die die Handlung vorwärtstreiben. Kennenlernen im Park, erstaunliche Enthüllungen aus dem Leben Kollers, Abstecher von Leipzig nach Ludwigsburg, ins Ahrtal und nach Klütz – und das alles in gerade einmal gut 170 Seiten. Annika Büsing verliert hier keine Zeit und drückt aufs erzählerische Gaspedal

Lebenswelten junger Erwachsener

Mit Koller erweist sie sich nach Nordstadt wieder einmal als genaue Beobachterin der Lebenswelten junger Erwachsener, in der nicht mehr alleine binäres Geschlechterdenken die Wahl des Partners beeinflusst und in der noch vieles möglich erscheint.

Ihr gelingt eine queere Lovestory und ein Roadtrip, der natürlich in der Tradition von Tschick steht, und das nicht nur, weil beide Titel auf der onomatopoeischen Vereinfachung der Vornamen der jeweiligen Protagonisten gründen. Der Aufbruch im Sommer mit einem schrottreifen Auto, das schrittweise Eintauchen in die Tiefe ihrer Charaktere, prägende Liebesgeschichten und der Geist von Aufbruch und Abenteuern, der beiden Werken zueigen ist. All das lässt eine gewisse thematische und stilistische Nähe der beiden Roadtrip-Romane erkennen.

Wo man in niedrigeren Klassenstufen Wolfgang Herrndorfs zeitgenössischen Klassiker liest, da kann in höheren Klassenstufen der Lektüreabgleich mit Koller sicherlich reizvolle Unterrichtsstunden und Diskussionen ergeben. Am spannendsten wäre es sicherlich, würde Annika Büsing selbst gleich eine solche Stunde gestalten, ist sie doch als Autorin und gleichzeit Deutsch- und Religionslehrerin an einem Gymnasium in Bochum eigentlich die perfekte Wahl für einen solchen Abgleich beider Werke und der Erfahrungswelt der Schüler*innen.

Fazit

Hier in Koller erweist sie sich abermals als ebenso gute Beobachterin wie Beschreibende der Leben junger Menschen. War es in Nordstadt die Enge des Schwimmbads, das sie für eine konzentrierte Liebesgeschichte als Kammerspiel nutzte, so setzt sie nun in ihrem zweiten Roman auf das genaue Gegenteil und erzählt von Entgrenzung, Weite und den nahezu unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten eines Roadtrips in der Tradition von Wolfgang Herrndorfs Tschick.

Ihr gelingt ein überraschender, schneller Roman zur Zeit der Ahrtalflut und des Coronasommers 2021, der zwei junge Männer immerhin sieben Tage ihres Lebens begleitet und das in einer ebenso prägnanten wie treffenden Sprache. Rau, aber ehrlich. So fühlt sich dieser Roadnovel mit Chris und Koller an.


Eine weitere Meinung zu Koller gibt es im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur mit Rainer Moritz, er schlug Annika Büsings Debüt Nordstadt im vergangenen Jahr für den Bayerischen Buchpreis vor. Zwar erhielt das Buch diese Auszeichnung nicht, dafür wurde Annika Büsing mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Mara Cassens-Preis ausgezeichnet.


  • Annika Büsing – Koller
  • ISBN 978-3-96999-196-1 (Steidl)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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Christine Dwyer Hickey – Schmales Land

Nachkiegszeit auf Cape Cod. Sommerliche Strände, zwei Jungs ohne Vater und nebenan der berühmte Maler Mister Aitch alias Edward Hopper und dessen Frau, die sich selber auf einigen Schlachtfeldern gegenüberstehen. Schmales Land von Christine Dwyer Hickey.


Künstlerromane, in denen sich unbedarfte Kinder oder Jugendliche legendären Künstlern nähern, gibt es wie Sand am Meer. Robert Seethaler ließ in Der letzte Satz einen jungen Schiffssteward auf Gustav Mahler treffen, Jonathan Coe brachte in Mr. Wilder & ich eine junge Athenerin in die Nähe von Billy Wilder. Meist ist den jungen Figuren dabei eine gewisse Farblosigkeit zueigen, sollen sie doch nur als unbedarfte Stichwortgeber für die biographischen Bögen fungieren, die den Autor*innen bei ihren Künstlerromanen eigentlich im Sinne steht.

Bei den Figuren von Christine Dwyer Hickey liegt die Sache etwas anders, denn der irischen Autorin ist nicht daran gelegen, die Romanbiographie von Edward Hopper, neben Norman Rockwell wohl der prägendste amerikanische Maler des Realismus, vorzulegen. Im Gegenteil. In Schmales Land erfährt man so gut wie nichts über den Werdegang jenes Mannes, der von seinen Nachbar*innen ehrfurchtsvoll raunend nach der Initiale seines Nachnamens nur Mister Aitch gerufen wird. Er ist neben seiner Frau und dem jungen Michael Novak ein gleichwertiges Mitglied des Erzähltrios, das Christine Dwyer Hickey in ihrem herben Roman in den Mittelpunkt stellt.

Michael, Mr. und Mrs. Aitch

Dabei beginnt alles mit dem zehnjährigen Michael, der als Waise vor den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs von Deutschland nach Amerika verschickt wurde und sich jetzt in der Betreuung von Frau Aunt befindet, wie Michael seine neue Aufsichtsperson nennt. Schon einmal sollte er an die Küste von Massachusetts geschickt werden, damals weigerte sich der Junge rundheraus. Nun, zwei Jahre später, geht es mit dem Zug für ihn in Richtung Cape Cod ins Haus der Kaplans, wo drei Generationen unter einem Dach wohnen.

Christine Dwyer-Hickey - Schmales Land (Cover)

Neben der Großmutter Mrs. Kaplan wohnt auch ihre Tochter mit ihrem Sohn Richie dort vor Ort. Der Vater des Jungen ist ebenfalls im Krieg geblieben und so engagiert sich jetzt vor allem die Älteste der Kaplans für die Waisenfonds. Dort im Haus soll Michael einen Sommer verbringen und auch im Kontakt mit Richie auf andere Gedanken kommen. Doch so ganz mag das mit dem Anschluss zunächst nicht klappen. Michael ist mehr als scheu und zieht sich immer wieder zurück.

Der erste wirkliche Kontakt gelingt ihm ausgerechnet zu Mrs. Aitch, die er in deren Buick im nahegelegenen Städtchen Orleans beobachtet. Ihr Mann, der berühmte Maler, ist wieder einmal ohne sie losgezogen, um Skizzen anzufertigen. Seine Frau hat er im Auto zurückgelassen, wo Michael zufällig die Bekanntschaft mit ihr macht.

Eine komplizierte Künstlerehe

In der Folge fasst Michael zaghaft Vertrauen insbesondere zu Mrs. Aitch, wohingegen ihr Mann ihm immer noch Respekt einflößt. Häufig besucht er das Künstlerpaar und sorgt insbesondere für Mrs. Aitch für Abwechslung.

Denn die Ehe, die sie und ihr Mann, der berühmte Edward Hopper, führen, ist alles andere als glücklich. So zeichnet Mister Aitch als Beigabe zum Scheck für seine Schwester schon einmal eine Skizze mit seiner Frau und ihm im Boxring. Sie legt Streifen mit der Botschaft „Ich hasse ihn“ auf dem Küchentisch aus. Dauernd schwankt die kinderlose Beziehung zwischen der Suche nach Nähe und Abstoßung, Misstrauen und den Kampf um künstlerische Eigenständigkeit.

Vor allem Hoppers Frau leidet unter der Tatsache, dass sie ihre eigene künstlerische Karriere für ihren Mann auf Eis gelegt hat. Will sie auf eigene künstlerische Ambitionen hinweisen, wird ihr das von ihrem Umfeld schnell krummgenommen, etwa auf einer sommerlichen Party, die im Hause der Kaplans zum bevorstehenden Ende des Sommers am Labor Day gegeben wird. In dieser unbefriedigenden Situation ist Michael ein gutes Ventil für allen Zwist der Künstlerehe – und auch der Junge profitiert von der Bekanntschaft mit den Maler*innen.

Kein klassischer Künstlerroman

Das Schöne an Schmales Land ist die Tatsache, dass Christine Dwyer Hickey eben keinen klassischen Künstlerroman über die Hoppers geschrieben hat. Der Werdegang, die Werke, all das spielt hier so gut wie keine Rolle. Vielmehr interessiert sich die irische Autorin für die Kämpfe um künstlerische Souveränität und nimmt das widersprüchliche Eheleben der Hoppers genauso in den Blick, wie sie auch von der Traumatisierung des jungen Michael erzählt.

Alle Figuren agieren hier auf Augenhöhe und bekommen den gleichen Platz und das gleiche ehrliche Interesse der Autorin, woraus ein Roman erwächst, der ein ebenbürtiges Trio dreier ganz unterschiedlicher Menschen in den Mittelpunkt stellt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein rauer und wenig gefälliger Roman über Menschen und ihre erlittenen Versehrungen, über einen langen Sommer, der aber nur wenig Idylle birgt und über eine Gesellschaft, der die Männer abhanden gekommen sind (sind doch wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier schon wieder Soldaten in Uniform unterwegs, die diesmal aber an die Front in Korea geschickt werden).

Fazit

Schmales Land ist ein fein nuanciertes Bild einer Künstlerehe, die eher Kampf denn Miteinander war, und das Bild eines Sommers, der zu keinem Zeitpunkt ganz unbeschwert ist und über dem die Ahnung eines Verlustes schwebt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein herber Roman, der die Stimmung dort auf Cape Cod Anfang der 50er Jahre treffend einfängt und der von Uda Strätling ins Deutsche übertragen wurde.


  • Christine Dwyer Hickey – Schmales Land
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-293-00594-5 (Unionsverlag)
  • 416 Seiten. Preis: 26,00 €
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Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

In einem eigenwilligen Hybrid aus Bekenntnisroman, Werkschau, Bildungsroman und Werkstattbericht erzählt der Vorarlberger Arno Geiger von seinem Glücklichen Geheimnis und davon, wie dieses Geheimnis sein eigenes literarisches Schaffen beeinflusste. Dabei wird der Medienwandel und Werteverfall von Gedrucktem ebenso eindrücklich vor Augen geführt, wie auch so manches hartnäckige Schriftstellerklischee dekonstruiert wird.


Ein oder zwei Bücher genügen, man debütiert auf dem Literaturmarkt, bekommt am besten etwas Aufmerksamkeit und fortan hat man sich aller materieller Sorgen entledigt. Die Tantiemen sprudeln und man kann gut vom Erreichten leben. Noch immer halten sich solche Klischees vom Schriftsteller*innendasein, obwohl es wohl kaum eine Zeit gab, in der diese Vorstellungen vom glamourösen Schriftstellerdasein so wirklich zutraf, heute noch weniger als früher.

Nicht einmal die oberste Liga der Autor*innen, deren Werke breit rezipiert und vor allem in breiter Masse gekauft werden, kann sich so wirklich auf reine Buchverkäufe stützen. Lesetouren und Co sind heute ein fast unerlässliches weiteres Einkommmensfeld, möchte man vom Schreiben leben können. Mit ein oder zwei Büchern alleine ist man noch längst kein gemachter Mann oder keine gemachte Frau.

Der Werdegang von Arno Geiger

Das ist auch die Erfahrung von Arno Geiger, den man wirklich zu schriftstellerischen Oberschicht zählen kann, hat er doch zuletzt mit seinen Romanen Unter der Drachenwand oder Der alte König in seinem Exil, dem Demenzbericht über seinen Vater, für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Arno Geiger war es auch, der als erster im Jahr 2005 den neu eingerichteten Deutschen Buchpreis mit seinem Roman Es geht uns gut gewann. Doch selbst ein Autor mit solchen Erfolgen war oder ist nicht vor materiellen Nöten und Existenzkrisen gefeit. Das zeigt Das glückliche Geheimnis eindrücklich.

Dabei zeichnet Arno Geiger in seinem Buch seinen Werdegang und die ökonomischen Realitäten ungeschönt nach. So lebt er Anfang der 90er Jahre in Wien in reichlich beengten Verhältnissen:

Es fehlt nicht viel, dann sind es drei Jahrzehnte, seit es angefangen hat. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, strebte keine Anstellung an, weil ich Schriftsteller werden wollte, und lebte in Wien in einem Haus, das dem Aussehen nach kurz vor dem Abriss stand. In diesem heruntergekommenen Haus bewohnte ich eine heruntergekommen Wohnung, dreißig Quadratmeter, bestehend aus einer engen Küche und einem an die Küche anschließenden Zimmer. Dieses Zimmer hatte die Aufgabe von Wohn-, Arbeits-, Ess- und Schlafraum zu erfüllen. Das Klo auf dem Gang teilte ich mit den Nachbarn.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 12

Das glückliche Geheimnis und das Altpapier

Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis (Cover)

Hier beginnt das, was Arno Geiger als „Glückliches Geheimnis“ bezeichnet und das sich fortan durch sein Leben ziehen wird. Denn inmitten seiner kärglichen Existenz stolpert er eines Tages über fünf vor dem Altpapiercontainer abgestellte Kartons, die Romane und Ausstellungsbände enthalten. Diese Entdeckung wird zum initialen Auslöser für seine Beschäftigung mit Altpapier. Fortan durchsucht er Container, schleppt Briefkonvolute, ausgesonderte Romane und Bildbände mit nachhause und veräußert diese teilweise gewinnbringend zusammen mit seiner Freundin bei Flohmärkten oder Antiquariaten.

Während er und sein Lektor für die Platzierung seiner ersten Romane im Programm des Hanser-Verlags kämpfen, bedeutet ihm die Suche nach neuen Geschichten und Entdeckungen Inspiration für sein eigenes Schreiben, in das er in diesem Buch an mehreren Stellen Einblick gibt.

Die vielen Metamorphosen im Arbeitsprozess sind schwer nachzuzeichnen. Die Lumpen, die ich nach Hause brachte, mussten zerrissen und in Fasern aufgelöst werden, damit daraus neuer Stoff entstehen konnte. Mein Schreibtisch war das Spinnrad, auf dem ich die Bruchstücke aus Fremdem und Eigenem zu neuen Fäden spann. Ich erfand zwei Dutzend Hasenfelle (Orte, Charaktere, Handlung), benutzte mein künstlerisches Talent als Nadel und nähte mit den gesponnenen Fäden und erfundenen Fellen einen Mantel: das Kunstwerk.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 128

Werkstattbericht, Literaturbetriebsprosa und Medienwandel

Neben diesem Einblick in die Schreibwerkstatt und die Ideenfundgrube für seine Romane ist Das glückliche Geheimnis auch ein Stück weit Literaturbetriebsprosa. So dürften Geiger und der ehemalige Hanser-Verleger Michael Krüger nicht unbedingt beste Freunde sein, seinen Schilderungen über die mühseligen Platzierungen seiner Romane im Programm nach. Die Hintergründe seines Gewinns des Deutschen Buchpreises, erschöpfende Lesetouren und Einblicke in den wenig glamourösen Schriftstelleralltag sind Bestandteil dieses Buchs. Vor allem aber ist das Buch eine eindrückliche Illustration über den Medienwandel und den Werteverfall des Gedruckten.

Erlöst Geiger zu Beginn seiner Karriere noch Geld mit dem Verkauf der Altpapierfunde, so wirkt dies heute nur ebenso anachronistisch wie das Bild einer sorgenfreien Schriftstellerexistenz.

Wohl jeder, der schon einmal ein nur wenige Monate altes Buch auf Momox oder einer anderen Plattform wie Ebay und oder modernen Antiquariate monetarisieren wollte, wird erfahren haben, dass sich die Ankaufspreise selbst für neu erschienene Gebrauchsliteratur nur noch im Centbereich bewegen. Längst einen florierenden Markt für die Wegwerfware Buch entstanden, was Geiger beim Rückblick auf seine Touren selbst anekdotisch beobachtet, als er festhält, dass die Liebesromane weniger und die Kriminalromane mehr wurden, Noten im Altpapier verschwanden und dafür die Weinkartons zunahmen.

Wie rasch das Buch vom gutverkäuflichen Objekt zur Dutzendware geworden, die Öffentliche Bücherschränke und Wühlkisten verstopft, das führt Das glückliche Geheimnis eindringlich vor Augen.

Das Buch als Wegwerfware

Schon längst ist das Buch zu einer Wegwerfware geworden, deren Wiederverkauf zumindest finanziell schon lange nicht mehr lohnt. Das führt bei Geiger dann auch zu einer besonders pikanten Szene, als er, der Träger des Deutschen Buchpreises, bei einer seiner Altpapiersuchen schließlich seinen eigenen ausgezeichneten Roman Es geht uns gut aus dem Müll fischt.

Einzig und allein die Überhöhung seines Wühlens im Altpapier irritiert in diesem Buch etwas. So schreibt sich Geiger aufgrund seines Tuns zum gesellschaftlichen Bodensatz der Gesellschaft herab und sieht sich sozial markiert in der Gosse. Seine Touren zu den Altpapiercontainer schildert er als eine Art Wiedergänger von Doktor Jekyll & Mr Hyde. Ich bin mir bei solchen Bezeichnungen nicht wirklich sicher, ob hier nicht etwas Banales nur einfach dramatisch überhöht wurde. Heute würde man Arno Geiger doch wohl eher zu seinem nachhaltigen und ressourchenschonenden Umgang mit dem gedruckten Wort gratulieren und ihn als Paten eines Öffentlichen Bücherschranks verpflichten, denn ihn gleich festzunehmen, wie er es in diesem Buch für sich fast nahelegt.

Fazit

Von solchen Überdramatisierungen abgesehen ist Das glückliche Geheimnis ein Buch, das den Mythos des sorgenfreien und glamourösen Schriftstelleralltags dekonstruiert und das wie eine Dreingabe zum bisherigen literarischen Schaffen des Vorarlberger Autors. Das Buch beleuchtet die Entstehungshintergründe seiner Romane, erzählt von seinem Werden und seinen familiären Wurzeln und legt nun eben auch mit viel Geraune und Bombast die Inspirationsquellen seines Schreibens offen. Eine Mischung, die trotz der disparaten Elemente aufgeht und vor allem für Geiger-Fans doppelt interessant sein dürfte.


  • Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis
  • ISBN 978-3-446-27617-8 (Hanser Verlag)
  • 240 Seiten. 25,00 €
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