Monthly Archives: Juli 2023

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht

Die Bobos und der Pool. Ein eigentlich idyllischer Familienurlaub in der Toskana entwickelt in Daniel Glattauers neuem Roman Die spürst du nicht weitreichende Konsequenzen. Daraus entsteht ein Roman, der ein bisschen zu moralinsauer und zu harmlos ist, um wirklich zu überzeugen.


Die spürst du nicht – mit diesem Argument nehmen die befreundeten Familien Binder und Strobl-Marinek das Flüchtlingsmädchen Aayana mit in ihren Sommerurlaub in einer Villa in der Toskana. Besonders Sophie Luise, die große Tochter der Familie Strobl-Marinek hat sich die Begleitung des Urlaubs durch das Flüchtlingsmädchen ausbedungen.

Da kommt ihr das zarte dunkelhäutige Mädchen, das neben ihr kauert und ihr schüchtern über die Schulter schaut, wie gerufen. Aayana ist ein Flüchtlingskind aus Mogadischu. Vor vier Jahren, als Aayana zehn war, floh die somalische Familie aus einem Lager in Äthiopien durch die Wüste nach Libyen, wurde ein halbes Jahr später auf die italienische Insel Lampedusa geschleppt und gelangte schließlich nach Österreich, wo alle vier nach vergleichsweise kurzer Zeit Asyl bekamen, ihre Eltern, ihr zwei Jahre älterer Bruder Abdulaziz und Aayana selbst.

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht, S. 8 f.

Nach viel hartnäckiger Überzeugungsarbeit erhält die Grünen-Nationalrätin und überzeugter „Gutmensch“ Elisa Strobl-Marinek schließlich äußerst widerstrebend die Erlaubnis von Aayanas Eltern, das Kind mit in das schicke Feriendomizil zu nehmen. Doch vor Ort kommt es zur Katastrophe, wovon Glattauer schon im ersten Kapitel seines Romans erzählt. In einem unbeobachteten Moment begibt sich Aayana abends an den Pool der italienischen Villa, wo das junge Mädchen ertrinkt.

Eine folgenreiche Tragödie im Sommerurlaub

Daniel Glattauer - Die spürst du nicht (Cover)

Es ist eine Tragödie, deren Auswirkungen Glattauer im Lauf der folgenden Kapitel ausführlich schildert und die Dynamiken, die aus dem Unglück erwachsen, in den Blick nimmt. Während man zunächst wie betäubt den Urlaub abbricht und sich wieder nach Österreich begibt, dringt die Kunde von dem Unglück besonders bedingt durch die Prominenz des aufstrebenden Polittalents Elisa Strobl-Marinek schnell an die Öffentlichkeit.

Die Presse berichtet, die Internetforen glühen, schnell schießen die Spekulationen ins Kraut. Zwar kann man dank der richtigen Kontakte der Hautevolee (oder eben „Bobos“, wie es der im Buch verwendete schöne Austriazismus ausdrückt) die Untersuchungen der italienischen Behörden schnell abhaken, doch ganz so einfach lässt sich die Affäre nicht abbinden. Denn plötzlich zieht Aayanas Familie vor Gericht und klagt auf eine Summe von 200.000 Euro für den Verlust ihrer Tochter und den dadurch erlittenen Schockschaden. Das befeuert die Berichterstattung rund um die private Tragödie der Nationalrätin noch einmal zusätzlich, die darüber die rätselhafte Verwandlung ihrer Tochter zu lange Zeit ignoriert – mit verhängnisvollen Folgen.

Ein gesellschaftskritischer Roman, der scheitert

Die spürst du nicht will ein großer gesellschaftskritischer Roman sein, der sowohl private Tragödie als auch gesellschaftliche Debatten in den Blick nehmen möchte. Dafür fehlen Glattauer aber die Mittel, obwohl er sich bemüht, die rund um den Fall entspinnenden Dynamiken und Bewegungen mithilfe verschiedener literarischer Gestaltungsmittel einzubinden.

So weist der Text Interviews, Frage- und Antwortspiele, Chats und eine begleitende Kommentierung eines fiktiven Forums auf. Aber hier wie im ganzen übrigen Text macht sich eine Überdeutlichkeit und Künstlichkeit breit, die Glattauers Text einiges von seiner Wirkung nimmt. Die Chats ähneln eher einem gekünstelten Gespräch am Marktstand denn einem wirklichen Internetforum.

Jeder, der in letzter Zeit zu einem beliebigen Aufregerthema (Heizdebatten, Asylrecht, Rammstein, etc) einen Blick in ein Forum oder eine Social Media-Plattformgeworfen hat, der wird wissen, dass man gerade im digitalen Raum längst nicht mehr auf eine derart gesittete, dialogische und dann auch noch orthografisch korrekten Variante miteinander kommuniziert, wie es der Österreicher in seinem Roman simuliert:

P37: Wieso werden die Namen im Bericht nicht geschrieben, wenn sie ohnehin schon bekannt sind?

A1: Weil es bei uns das Recht auf Schutz der Privatsphäre gibt.

A1a: Das gilt aber nicht für „Personen des öffentlichen Interesses“, also für Promis.

A1b: Blödsinn. Natürlich gilt das auch für die! Wenn das Ereignis nichts mit dem Job zu tun hat, ist und bleibt es Privatsache und muss geschützt werden.

A2: Manche Medien halten sich daran, manche nicht. Die sich daran halten sind die Depperten. Wenn ein Name einmal im Netz steht, dann ist es eh schon wurscht, dann wissen’s eh alle.

P133 Die Strobl-Marinek tut mir leid. Ich mag die. Sie ist eine der wenigen Echten bei den Grünen, mit Ecken und Kanten! Wäre interessant, was da genau passiert ist mit dem Flüchtlingskind.

A1: Machen überall Scherereien, die Flüchtlinge!! (Vorsicht: Ironie.)

A2: Die kann sich ihre politische Karriere jetzt abschminken.

A2a: Wieso? Das ist ein persönliches Unglück und hat nichts mit Politik zu tun.

A3: Von einer als zukünftige Umweltministerin gehandelten Person erwarte ich mir schon, dass sie ihre unmittelbare Umwelt so weit überblicken kann, dass nicht ein Kind quasi neben ihr im Swimmingpool ertrinkt.

A3a: Reden S’nicht so g’scheit daher. Wir wissen ja noch gar nicht, wie es dazu gekommen ist.

Daniel Glattauer – Die spürst du nicht, S. 45

Tell, don’t show

Alles in diesem Roman ist überdeutlich und weist klar auf die moralische Auslegung, zu der uns der Autor lenken will. Möchte man es auf einen griffigen Slogan bringen, dann liegt Die spürst du nicht das Motto Tell, don’t show zugrunde. Seine Charaktere werden weniger durch Handlung als durch eine klare Attribuierung gezeichnet und auch die Kapitel tragen in ihren Inhalt mit faden Überschriften wie Pierre versteckt sich, Mama kann weinen, Oskar kocht Curry oder Verfahren eingestellt demonstrativ zur Schau.

Auch die Pointe des zweiten Erzählstrangs um die durch eine Art von Cyber-Grooming immer weiter abstürzende Sophie Luise ist abgesehen vom künstlichen Chat-Ton zwischen zwei Jugendlichen in seiner ganzen Anlage zu deutlich überzeichnet, als dass die schlussendliche Aufklärung der Identität des mit der Politikertochter chattenden Pierre wirklich überrascht. Alles folgt einer klaren Erzählidee, die wenig Raum für Zwischentöne und authentische Dialoge der recht einfach gezeichneten Figuren lässt.

Wären die literarischen Mittel Glattauers raffinierter, hätte aus Die spürst du nicht ein gesellschaftskritischer, unbequemer und gut beobachteter Roman werden können. So ist dem Ganzen ein Gefühl der Überdeutlichkeit und offen zutage tretenden Moral zueigen, der spätestens im rechtschaffenen Schlussplädoyer vor Gericht meine Sympathien verspielt, wenn er allzu moralinsauer und mitleidheischend dem Leser oder der Leserin alles vorbuchstabiert, ohne auf die Mündigkeit der Leser*innen zu setzen. So wird für mich daraus leider eine enttäuschende Angelegenheit.


  • Daniel Glattauer – Die spürst du nicht
  • ISBN 978-3-552-07333-3 (Zsolnay)
  • 304 Seiten. 25,00 €
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Ulrich Woelk – Mittsommertage

Beim aktivistischen Protest von Gruppen wie der Letzten Generation oder Extinction Rebellion ist häufig von den Kipppunkten die Rede, die wir als Gesellschaft nicht überschreiten dürfen, um die schlimmsten Auswirkungen der sich abzeichnenden Klimakatastrophe abzumildern. In Ulrich Woelks neuem Roman Mittsommertage steht eine Frau vor einer ganzen Menge solcher Kipppunkte. Kipppunkte, die sie auch mit ihrer eigenen aktivistischen Vergangenheit in Berührung und an den längsten Tagen des Jahres gehörig ins Schwitzen bringen.


Ruth Leber, 54 Jahre, Philosophieprofessorin, wohnhaft in Berlin, steht kurz vor dem größten Triumph ihrer akademischen Karriere. Sie hat den Ruf in die Ethikkommission der Bundesregierung erhalten, jenem Gremium, das die Bundesregierung in komplexen Sachverhalten berät und Stellungnahmen zu ethischen Grundsatzfragen abgibt. Ruth Leber ist hierfür die perfekte Kandidatin. Zwar nicht parteipolitisch eingebunden, dafür aber der Partei der Grünen in ihren Positionen zugeneigt steht sie für eine profunde Auseinandersetzung in Fragen des Miteinanders, die sie in ihren Vorlesungen lehrt und die auch Student*innen zu ihr locken, die sie gerne für die Betreuung ihrer Promotionen gewinnen möchten.

Liiert ist sie mit Ben, einem aufstrebenden Architekten, dessen unkonventionelle Entwürfe irgendwo zwischen Bauhaus und Luigi Colani für Interesse sorgen. So blickt er zusammen mit seinem Architekturbüro in jenen Tagen des Juni 2022, in denen Mittsommertage spielt, ebenfalls ganz genau auf eine Kommission. In seinem Fallen handelt es sich bei der Kommission aber um ein Gremium, das über die Neuplanung der Siemensstadt in Berlin entscheidet, für die auch Ben einen Entwurf eingereicht hat.

Und dann ist da auch noch Jenny, die Tochter ihres Lebensgefährten, derentwegen sie sich Ruth fast selbst als Mutter fühlt, obschon keine biologische Verwandtschaft zwischen den beiden Frauen besteht. Als Studentin der Kommunikationswissenschaft wohnt Jenny mittlerweile fern von Ruth und Ben in Leipzig – und doch ist da eine Verbindung zwischen der Philosophieprofessorin und ihrer Ziehtochter.

Ein Hundebiss mit Folgen

Kurz vor dem entscheidenden Karriereschritt will Ruth nun mit einer Joggingrunde zu morgendlicher Stunde den Kopf freibekommen für die anstehenden Ereignisse. Dabei wird Ruth von einem freilaufenden Hund angefallen, der die Professorin beißt. Die Wunde scheint nicht allzu gravierend, sodass sich Ruth entschließt, angesichts der vor ihr liegenden ereignisreichen Woche auf eine Anzeige und eine ärztliche Untersuchung zu verzichten. Ein Fehler, wie sich noch herausstellen wird.

Ulrich Woelk - Mittsommertage (Cover)

Wie ein Vorgriff auf die kommenden Ereignisse wirkt dieser unerwartete Zwischenfall. Die Wunde beginnt im Lauf der nächsten Stunden zu schmerzen und kostet Ruth einiges ihrer Energie. Dabei wäre diese Energie an anderer Stelle deutlich dringender nötig. Denn nach einer Begegnung im Hörsaal und in der S-Bahn macht Ruth die Bekanntschaft mit einem alten Freund, den sie schon fast vergessen hatte. Dieser erinnert sie im Gespräch an ihre eigene aktivistische Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die mit Bildern und Erinnerungen verbunden ist, die Ruth jetzt eigentlich überhaupt nicht brauchen kann.

Gerade richtet sich das öffentliche Interesse angesichts der Berufung in die Ethikkommission sowieso schon auf Ruth, deren makellose Reputation entscheidenden Anteil an ihrer Berufung hatte. Nun fordert ihr alter Bekannter eine Entscheidung von Ruth ein, wie sie zu ihrer eigenen, nicht ganz so makellosen Vergangenheit steht.

So findet sich die Professorin gleich vor einem doppelten Kipppunkt wieder. Zum einen ist da die Entscheidung, wie sie mit ihrer eigenen Vergangenheit umgehen soll. Zum anderen ist da auch plötzlich wieder die Erinnerung an die Vergangenheit, in der es schon einmal einen Kipppunkt gab, der Ruths weiteren Lebensweg entscheidend beeinflusste. Eigentlich möchte sie in diesem Fall die gleiche Lösungsstrategie wie nach dem Hundebiss anwenden. Aber weder die Wunde noch die eigene Biografie mit all ihren Volten lassen sich so einfach ignorieren.

Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten

Mittsommertage ist ein Buch, das den Aktivismus in verschiedenen Formen und Facetten spiegelt. So legt Ulrich Woelk in den Figuren von Ruth und ihrer Ziehtochter Jenny die zwei unterschiedlichen Protestgenerationen ein, die doch mehr eint, als es zunächst den Anschein hatte. Während Ruth einst mit waghalsigen Aktionen in Frankfurt-Hoechst oder auf dem Land gegen das Ozonloch und die drohende Klimakatastrophe aufmerksam machen wollte, ist es nun der Protest auf Fahrbahnen, der Jenny angesichts der auch jetzt im Sommer 2022 unverändert dringlichen ökologischen Gesamtlage geboten erscheint, um die entscheidenden klimatischen Kipppunkte nicht zu überschreiten.

Während Ruth den Marsch durch die Institutionen angetreten hat und nun als theoretische Denkerin auf dem Gipfel ihres Erfolgs angekommen scheint, sind es doch auch die alten Bekannten und die eigene Familie, die sie an ihre Graswurzel-Vergangenheit und damit auch die eigene aktive Vergangenheit und ihren Wandel erinnern. Die heile und makellose Welt Ruths bekommt zunehmend Risse und erscheint immer unsicherer, während Ruth und Jenny beide für sich um einen eigenen Umgang mit dem aktivistischen Dasein ringen.

Protest, Corona-Nachwehen und steigende Temperaturen

Das führt zu vielen Dialogen und Abwägungen, die manchmal vom professoralen Dozieren auch zu sehr statischen Gesprächswechseln führen. Das gerät besonders in jenen Passagen zu trocken, die quasi-dokumentarisch die Zustände des Abflauens der Corona-Pandemie im vergangenen Sommer noch einmal aufgreifen. Könnte man Woelk zugutehalten, dass die sachliche und faktuale Erzählweise ganz dem rationalen Charakter Ruths nachspürt, rückt das Ganze in einigen Passagen wie der folgende für meinen Geschmack doch etwas zu nah an eine Dokumentation denn wirklich lebendiges Erzählen heran:

Die Stimmung im Büro ist entspannt, aber nicht mehr ausgelassen. Die Phase des Korkenknallens ist vorüber. Eine Maske trägt niemand, was bei einem Umtrunk verständlich ist. Es ist auch nicht mehr vorgeschrieben. Ben hat sich in den vergangenen zwei Jahren an alle Vorschriften gehalten, hat ein Hygienekonzept erstellt und seine Angestellten so weit wie möglich von zu Hause aus arbeiten lassen. Er hat Luftreinigungsgeräte angeschafft und ein neues Abluftsystem einbauen lassen. Jetzt ist es jedem freigestellt, eine Maske zu tragen oder nicht.

Ulrich Woelk – Mittsommertage, S. 67 f.

Obschon es erst ein Jahr her ist, liest sich das (gottseidank wie ich meine) schon wieder wie etwas Vergangenes – der eigenen selektiven Erinnerung sei Dank. Aber dennoch ist Mittsommertage auch höchst aktuell, indem Woelk den anschwellenden Protest der Klimabewegung in seinem Buch aufgreift, während nicht nur die Außentemperaturen in jenen Junitagen stark steigen.

Fazit

Hier schreibt ein Autor mit einem vitalen Interesse für persönliche und gesellschaftliche Verwerfungen, die die Debatten um die Klimakatastrophe und die Kipppunkte aufgreift und die Debatten unserer Tage um Moral, Ethik und gebotenes Handeln interessant verhandelt. Er rafft das ganze Leben Ruths mitsamt der entscheidenden Wendungen in die Form weniger Tage, in denen sich alles wandelt. Das ist in der Form und den erzählerischen Mitteln zwar nicht besonders neu oder innovativ – im Großen und Ganzen aber wirklich gut gemacht und ruft Erinnerungen wach an den Post-Corona-Sommer 2022.

Eine kleine Randnotiz zum Schluss: Besonders nett für Woelk-Leser ist die der kleine interreferenzielle Gastauftritt, den der Autor im Text versteckt hat. So dürfte Leserinnen und Lesern die Ärztin, die Ruth nach einem Schwächeanfall in einem Krankenhaus im Wedding behandelt, aus Woelks letzten Roman Für ein Leben bekannt vorkommen.


  • Ulrich Woelk – Mittsommertage
  • ISBN 978-3-406-80652-0 (C. H. Beck)
  • 284 Seiten. Preis: 25,00 €
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Aurora Venturini – Die Cousinen

Den Weg von einer „Schule für Minderbemittelte“ bis zur ausstellenden Künstlerin, ihn zeichnet Aurora Venturini in ihrem außergewöhnlichen und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichneten Roman Die Cousinen nach, der nun postum in der Übertragung von Johanna Schwering und mit einem Nachwort von Mariana Enriquez zu entdecken ist.


Es war reichlich spät, genauer gesagt im Jahr 2007, als die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini im Alter von 85 entdeckt wurde und ihr der literarische Durchbruch in der Heimat gelang. Vorausgegangen war dem Ganzen eine Einsendung beim Literaturwettbewerb Premio Nueva Novela, den Aurora Venturini unter Pseudonym eingereicht hatte.

Venturinis Landsfrau Mariana Enriquez bemerkt in ihrem Nachwort, dass die Einsendung schon aufgrund der äußeren Form eines Typoskripts aus der Reihe fiel. Und auch der dargebotene Inhalt verweigerte sich jeder einfachen Kategorisierung oder Form. Mehr als außergewöhnlich war es, das die Autorin auf den maschinengetippten und korrigierten Seiten darbot. Exzentrik und Risikobereitschaft sprachen aus den Seiten des Textes, der von der Jury um Mariana Enriquez dann tatsächlich ausgezeichnet wurde und der das Interesse auf eine Dame lenkte, deren Leben selbst zum Roman taugen würde.

So zählte Aurora Venturini einst zum Unterstützerkreis der argentinischen Präsidenten Peron und war mit dessen Frau Eva befreundet. Sie ging ins Exil nach Frankreich, pflegte eine Freundschaft mit Jorge Luis Borges und arbeite fleißig am eigenen Mythos. Erst mit 85 Jahren sollte dann aber nach der Zuerkennung des Preises das literarische Interesse an Aurora Venturini geweckt werden. 2015 verstorbenen erschien nun im vergangenen Jahr eine erste Übersetzung dieser Autorin ins Deutsche, die Johanna Schwering besorgte. Zu entdecken ist ein origineller Text, der auf sprachlicher Ebene den alles andere als gefälligen Inhalt sinnreich umspielt und ergänzt und der eine Bildungsgeschichte erzählt.

Rettung durch die Kunst

Erzählerin ist Yuna López, die zusammen mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Betina eine „Schule für Minderbemittelte“ besucht.

Meine Schwester verließ die Schule in der dritten Klasse. Es hatte keinen Sinn mehr. Eigentlich hattes es bei uns beiden nicht viel Sinn und ich ging nach der sechsten Klasse ab. Aber ich lernte Lesen und Schreiben wenn auch letzteres mit vielen Rechtschreibfehlern, das stumme H schrieb ich zum Beispiel nie, wozu auch, wenn man es nicht hört?

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 14 f.
Aurora Venturini - Die Cousinen (Cover)

Ihre Schwester Betina ist schwer behindert und sitzt im Rollstuhl. Der Vater hat die Familie verlassen und die Mutter behilft sich in Erziehungsfragen mit dem Einsatz eines Rohrstocks, mit dem sie die Kinder ausgiebig züchtigt. Es ist ein armes und deprimierendes Umfeld, in dem Yuna aufwächst.

Doch es gibt einen Weg, mit dem Yuna diesem prekären Milieu in Adrogué, eine Vorort Buenos Aires, entfliehen kann. Dieser Weg ist die Kunst. Denn Yuna erweist sich als originelle Malerin mit einem ganz eigenen Ausdruck, die auch die Aufmerksamkeit ihres Professors weckt. Dieser ermutigt Yuna zum Malen und organisiert bald eine erste Ausstellung ihrer Werke, der bald weitere Schauen folgen werden. Allmählich emanzipiert sich Yuna und schafft es sowohl zu künstlerischer als auch finanzieller Eigenständigkeit, der später eine gemeinsame Wohnung mit ihrer Cousine, der kleinwüchsigen Petra, folgen wird.

Ein Bericht einer Bildung

Von ihrem Werdegang berichtet sie in Form eines Berichts, das den Charakter und den Bildungsweg seiner Verfasserin abbildet.

Mein Bild wurde fertig, diesmal Öl auf Leinwand und es war so schön geworden, dass es mir leidtat es zu verkaufen aber ich lebte voller Stolz von meinem Werk und zahlte Miete im Haus meiner Familie das mir Tag für Tag und ich weiß gar nicht warum immer fremder erschien, mehr ihrs als meins denn ich war eine blasse Ombrage (ebd.) die von Zeit zu Zeit Flure und Gefilde durchstrolchte (ebd.); ebd. bedeutet übrigens Wörterbuch aber es kommt mir zupass weil es eine Abbreviatur ist und weil ich mich niemals mit fremden Federn schmücke, erläutere ich, dass auch der Begriff Abbreviatur meinen Wörterbuchkulturforschungen entstammt die mir helfen meiner geerbten Minderbemittelung zu entkommen.

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 105

Immer wieder wendet sich Yuna an die Lesenden, erklärt ihre Gefühle, Erlebnisse und fasst wie in einem mündlichen Bericht noch einmal Erlebtes oder Verwandtschaftsverhältnisse zusammen, um danach mit ihrem Bericht fortzufahren. Dabei bildet der Text den Bildungsweg der jungen Frau nach, die sich ihre Bildung selbst aneignet. Immer wieder flicht sie in Wörterbüchern gefundene Wörter ein und erklärt diese Funde. Das Bemühen um eine verständliche Schilderung trotz aller Schwierigkeiten mit der schriftlichen Darstellung spricht aus allen Zeilen.

Eine preisgekrönte Übersetzung

Orthographische Feinheiten wie Kommasetzung oder ähnliche Finessen kennt Yuna dabei nicht. Stattdessen orientiert sie sich stark an der Mündlichkeit und erfindet Wortspielereien wie den Rollstuhl ihrer Schwester, der immer wieder rummrumst. Gelungen schafft es Johanna Schwering, diese Charakterisierung durch Sprache und Schreiben aus dem argentinischen Spanisch ins Deutsche hinüberzuretten. Sie erzeugt auch in der deutschen Variante dieses Textes neben der eigentlichen Schilderung auch indirekt über die Sprache einen bleibenden Eindruck seiner Erzählerin. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse lobte das Ganze wie folgt:

Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz. Ihr ist es mitzuverdanken, dass mit diesem fabelhaften Künstlerinnenroman erstmalig ein Buch der Argentinierin Aurora Venturini auf Deutsch vorliegt. Es mögen hoffentlich viele weitere, natürlich in der Übersetzung von Johanna Schwering, folgen.

(Aus der Begründung der Jury zur Preisvergabe an Johanna Schwering)

Die Welt, von der Yuna so erzählt, ist eine düstere und wenig Hoffnungsvolle, in der besonders Männer schlecht wegkommen. Der Vater ist verschwunden, der Kunstprofessor, der später zum Vormund Yunas wird, hegt auch nicht nur hehre Motive. Sexuelle Gewalt, Scham und Ausgrenzung sind Marker dieser Welt, von der Yuna berichtet. Frauen sterben hier nach Abtreibungen, werden missbraucht und müssen ganz eigene Strategien entwickeln, um in dieser Welt zu überleben, allen voran die findige Cousine Petra, die sich als Prostituierte durchschlägt, die sich um die Aufklärung von Yuna kümmert und die ihr auch die Spielregeln der Gesellschaft der 40er Jahre in Argentinien näherbringt.

Die Cousinen ist ein Familienroman aus einem dumpfen, gewaltgesättigten Milieu, der trotz aller Schwere und Hoffnungslosigkeit eben auch von der Kunst als Rettungsanker erzählt, mithilfe dessen sich Yuna von ihrem Umfeld emanzipieren kann. Auch in der Sprache und der Form des Berichts findet die junge Frau ein Ausdrucksmittel, das in seinem ganzen Facettenreichtum aufgrund der herausragenden Übersetzung durch Johanna Schwering auch im Deutschen erlebbar wird.

Fazit

Mit diesen Buch erweist sich Aurora Venturini als eine Wegbereiterin jüngerer argentinischer Autorinnen wie etwa Claudia Piñeiro, mit der sie das scharfe Auge für gesellschaftliche Missstände, Kritik an der Bigotterie und nicht zuletzt auch den Handlungsort Adrogué teilt, in dem auch Piñeiro ihren anklagenden Roman Kathedralen spielen lässt.

Schön, dass die so spät entdeckte Argentinierin Venturini nun auch hierzulande lesbar ist. Noch schöner, dass die Übersetzerin Johanna Schwering und der herausgebende dtv-Verlag den Wunsch der Leipziger Jury nach weiteren Übersetzungen schon so schnell erfüllen. In wenigen Monaten gibt es mit Wir, die Familie Caserta schon ein weiteres Werk aus dem Schaffen von Aurora Venturini zu entdecken!


  • Aurora Venturini – Die Cousinen
  • Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering
  • Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez
  • ISBN 978-3-423-29031-9 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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Emanuel Maeß – Alles in allem

Ganz und gar unzeitgemäß. Emanuel Maeß in seinem zweiten Roman Alles in allem über einen Bummelstudenten, der weder bei der Verfertigung seiner Dissertation noch auf amourösem Gebiet so recht an Land gewinnen mag. Doch obschon die Handlung eher ein einem lauen Lüftchen gleicht, so erzeugt die Sprache Maeßens doch einen starken Windstoß, der mitreißt, wenn man sich auf dieses auf alte Meister schielende Erzählhandwerk einlässt.


Passt so etwas noch in die Zeit? Da eröffnet Maeß seinen Roman mit einer seitenlangen Beschreibung eines auf dem Bett hingestreckten weiblichen Körpers, über den der Blick des Erzählers schwelgerisch gleitet und seiner Faszination mit Beschreibungsmitteln irgendwo zwischen Nature Writing und Architekturkritik Ausdruck verleiht:

Nicht jene allgegenwärtigen, sich ebenfalls raffiniert aus der Kugel ableitenden Runddesigns von Brust und Gesäß schienen dann das Hinreißendste an einer Frau (an dieser hier sowieso), sondern die Täler, Furchen, Mulden und Gruben, jene inkommensurable Dynamik nach innen gehender Biegen und Krümmungen, ihrer unterschwelligen Spiralformen, Schraubenlinien und Trichter. Ganz zur Geltung kamen sie vermutlich erst durch die Nachmitternachtswärme und flaumweise Textur ihrer Inhaberin, auch eine leichte Note von Osterlilien spielte ohne eigentlich klaren Ursprung hinein.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 8

Von Berlin-Friedenau bis zum Parnass

Emanuel Maeß - Alles in allem (Cover)

Schon vor diesen ersten Seiten, die nach der sprachmächtigen Lobpreisung des weiblichen Körpers irgendwo in Griechenland am Fuße des Parnass beginnen, ist ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes Element gesetzt. Es handelt sich um das Zitat von Eckart von Hochheim, der, besser bekannt unter seinem Namen Meister Eckart, als Mytiker und einer der Väter der Theologe den Seelengrund beschrieb und das Gottesbild des Mittelalters entscheidend prägte.

Ebenso antiquiert mag einigen auch der Beruf des Helden von Maeß‘ Roman erschienen. Der namenlose Ich-Erzähler, hat sich – durchaus mit heißem Bemühen – der Theologie zugewendet. Nimmt nicht nur die Zahl der Kirchenaustritte hierzulande immer mehr zu, ist auch die Zahl der Theologie-Studierenden über die Jahre stark rückläufig. Doch der Erzähler hat sich der nicht mehr recht gefragten Theologie mit großer Ernsthaftigkeit verschrieben. So will er über das Thema der Ikonen promovieren. Eine Reproduktion der berühmten ikonischen Darstellung Wladimirskaja leistet ihm sogar zuhause Gesellschaft. Zuträglich für das Vorankommen in Sachen akademischer Meriten ist aber auch die Anwesenheit der Ikone nicht.

Auch mit meinem Professor, Dietrich von Staden, einem kurz vor der Pension stehenden Luther- und Melanchthon-Experten, hatte ich Glück, ein angenehmer und verständnisvoller Mann, der überdies und freundlicherweise nach drei Jahren aufgehört hatte, mich nach dem Stand meiner Arbeit zu fragen. Dafür war er auch zu sehr mit den eigenen Sachen beschäftigt. Er musste hohe Erwartungen in mich gesetzt haben, nachdem er mich bei der Diplomprüfung, damals noch mit manchem Charme und Schneid, über Thomas Müntzers Apokalyptik hatte reden hören, aus der ihm eine unübliche spirituelle Empfänglichkeit, wenn nicht gar Ergriffenheit zu sprechen schien.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 35

Verharren im Phlegma

Das Voranschreiten in Sachen Fortschritt bei der Dissertation lässt auf sich warten – und auch ansonsten lässt der Bummelstudent nicht wirklich Ambitionen erkennen und verharrt ganz bequem im Phlegma. Ein anspruchsloser Job als Hiwi beim Lehrstuhl, die bequeme Beziehung mit seiner Freundin Clara, die er einst bei einer Studienreise an biblische Schauplätze kennenlernte, das kennzeichnet den Alltag des ebenso unsportliche wie nicht sonderlich attraktiven Denkers.

Und doch gerät das vergeistigte Leben des Theologen schon bald in Aufruhr, als er nämlich bei einer Tagung in Wittenberg die Bekanntschaft mit Katharina macht. Schon bald kommt es zu einer Affäre mit der Frau, die mit spirituellen Interventionen und Kunstinstallationen Kirchenräume verwandelt. Eine Trennung von Clara und ein „Ghosting“ mit Katharina wird folgen, weitere Frauenbekanntschaften und Umzüge von Berlin-Friedenau bis Lichterfelde werden das Leben des Denkers kennzeichnen.

Dabei ist die Handlung von Alles in allem nicht das, was das Buch ausmacht. Vielmehr sind es die mit Sprachmacht und Bildung manchmal schon fast prunkenden Gedanken- und Beschreibungsorgien, in denen sich der Denker verliert. Die Füße Katharinas erinnern ihn dabei gleich an frühantike Statuen Polyklets (S. 134) oder ein gemeinsamer Spaziergang durch den Apollensberg bei Wittenberge führt den Nature-Writing/Architektur-Blick fort, mit dem der Erzähler schon eingangs den weiblichen Körper beschrieb.

Wir gingen auf den Wallpfad hinauf und liefen eine Weile auf ihm entlang, zur einen Seite und Elbaue hin die fernen Waldungen und Äcker mit mächtigen Solitäreichen, die den Park nahezu übergangslos in die Landschaft auslaufen ließen, zur anderen das verhaltene Lächeln des Garten. So etwas stelle man also auf, wenn einen Winckelmann ein halbes Jahr lang durch Rom geführt hatte. Zur südlichen Aufschmückung der Landschaft hatte man sich Lombardische Pappeln, italienische Schwarzkiefern und Koniferen kommen lassen, die wie Pinien und Zypressen aussehen sollte. Als wollte jemand zeigen, welch irrsinniges Spektrum sich allein aus der Farbe Grün auffächern lasse, arrangierte man das alles in ausgeklügelter Raumseligkeit um Alleen, Hecken, verschwiegene Eckchen, Lauben und Sitze herum.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 112

Antiquiert und artifiziell und großartig

Das ist manchmal mitreißend, manchmal vielleicht sogar etwas zu viel des Guten, etwa wenn der Erzähler feststelle, dass „man (…) nicht um die Einsicht herum[kam], dass das jahrelang eingespielte Miteinander – ähnlich wie der freiheitlich-säkularisierte Staat im Böckenförde-Theorem – von Voraussetzungen lebte, die es nicht garantieren konnte“ (S. 85).

Zugegeben – es ist eine spezielle Prosa, die man mögen muss. Emanuel Maeß schielt mit seinem Erzählen klar auf alte Meister wie Thomas Mann oder Heimito von Doderer. Wie schon in Gelenke des Lichts gelingt es dem 1977 in Jena geborenen Autor, männliche Seelenerkundung, Humor und sprachliche Wucht zu einem Buch zu vereinen, bei dem sich das Antiquierte mit dem Artifiziellen großartig verbindet. Seine Landschaftsschilderungen von Griechenland bis Wittenberg stehen schon fast in romantischer Tradition und tragen zum rückwärtsgewandten Eindruck des Romans bei.

So entsteht ein Werk, das ganz und gar unzeitgemäß wirkt – mich dafür aber umso mehr einnahm, weil es keiner der aktuellen Moden folgt oder folgen will, obgleich es im letzten Drittel etwas an Spannkraft verliert, wenn die Lust und Triebe in ihrer ganzen Ausführlichkeit etwas zu sehr überdramatisiert werden. Angesichts dessen, was Maeß zuvor aber richtig macht, ist das mehr als verzeihlich.

„Ich kann ja nur für mich sprechen, aber ich verdanke deiner Gegenwart ganz erhebliche Zugewinne an Immanenz, Komplexität und Einsichtsvermögen. Leider auch meinen Niedergang, aber immerhin habe ich wenigstens einmal im Leben an den Kern der Dinge gerührt.“

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 334

Fazit

Alles in allem hat mich Alles in allem sehr eingenommen, auch wenn man den Retro-Faktor dieses Erzählhandwerks natürlich ebenso ablehnen kann, wie ich diese Spracharabesken genossen habe. Da schreibt jemand mit einer eigenen Agenda – und ich schätze es sehr!


  • Emanuel Maeß- Alles in allem
  • ISBN 978-3-7371-0155-4 (Rowohlt)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen

Australien, unerschöpfliche Quelle der Kriminalliteratur. Mit Hayley Scrivenor präsentiert der Eichborn-Verlag eine weitere Autorin aus Down Under, der mit ihrem Debüt Dinge, die wir brennen sahen ein ordentlicher, aber keinesfalls hitziger Krimi gelingt.


Dirt Town. So wird das kleine australische Städtchen Durton von seinen Bewohnern, besonders der Jugend geheißen. Wenig ist hier los auf dem australischen Land. Doch dann verschwindet die Schülerin Esther Bianchi auf dem Nachhauseweg von der Schule – und die Sorge ist groß.

Für die Suche nach der Schülerin werden auch die Detective Sergeant Sarah Michaels und ihr Kollege, Detective Constable Wayne Smith hinzugezogen. Eigentlich befinden sie sich nach der Bearbeitung eines anderen Falles auf dem Rückweg nach Sidney. Doch nun kommt alles anders. Am 30. November 2021 kommen sie nach Durton, vier Tage später wird ein im Boden vergrabener Fund entdeckt werden. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen schildert Hayley Scrivenor dabei aus verschiedenen Perspektiven.

Eine Krimi mit vielen Perspektiven

Hayley Scrivenor - Dinge, die wir brennen sahen (Cover)

Das macht diesen nach bekannten Strickmuster erzählten Krimi etwas variabel und ist wohl die größte Besonderheit des ansonsten konventionellen Stücks Kriminalliteratur. So wird die Polizeiarbeit aus der personalen Perspektive Sarahs erzählt, die neben der Ermittlung noch an der Trennung von ihrer Partnerin laboriert. Involvierte Kinder treten in Form der Schulfreundin Veronica „Ronnie“ Thompson und Lewis Campbell im Roman auf.

Während Ronnie aus der Ich-Perspektive auf ihr Verhältnis zur verschwundenen Esther blicken darf, kommt Lewis ebenso wie Sarah in der personalen Erzählform zu Wort. Daneben gibt es noch ein „Wir“, das chorisch erzählt auf die Geschehnisse im Ort blickt und sich immer wieder in die Erzählung einmischt.

Das ist klug gewählt, wäre der Krimi bei Verwendung einer einzigen Erzählperspektive doch reichlich fad, denn in Bezug auf die Motive bietet Dinge, die wir brennen sahen nicht viel Neues.

Die beiden Schüler*innen wissen mehr, als sie auf den ersten Blick zugeben. Sarah und ihr Kollege müssen sich in der Schule und den Familien umhören. Spuren gibt es wenig, dafür steht bald die Presse vor der Tür. Das sind alles Motive, die man aus anderen Krimis oder Fernsehfilmen schon dutzendfach kennt und die in ihrer Erzählweise außer des multiperspektivischen Erzählansatzes nicht wirklich überraschen. Dass hier zwei queere Beziehungen gestreift werden, ist zwar angesichts des Pridemonth und dessen Eintreten für queere Repräsentation eine nette Erzählidee und verdient Lob. Viel erwächst daraus nicht, außer dass zwei Personen durch ihr queeres Begehren in Gewissenskonflikte gestürzt werden.

Ein Debütroman mit Luft nach oben

Viele der Figuren, die Dinge, die wir brennen sahen bevölkern, bekommen nicht einmal solche inneren Konflikte zugestanden, sondern bleiben Staffage. Es gebricht Hayley Scrivenors Debüt stellenweise an der Nuancierung ihress Personals. Der Detective Constable bleibt dabei genauso blass wie etwa der Familientyrann der einfach böse ist, indem er seine Familie tyrannisiert und mit Drogen dealt. Auch andere Figuren können hier aus der Kulisse der australischen Kleinstadt nicht wirklich hervortreten und die schlussendliche Überführung des Täters wird auch eher pflichtschuldig abgehandelt. Ein bisschen Drogenschmuggel, ein bisschen Geheimnisse, ein bisschen klassische Ermittlungsarbeit, ein bisschen Spannung – aber auch nicht viel mehr.

Und obschon es so klingen könnte: Dinge, die wir brennen sahen ist beileibe kein schlechter Krimi. Aber von der australischen Gluthitze und den brennenden Dingen, die die deutsche Version des im Original schlicht Dirt Town lautenden Titels verspricht, von all dem findet sich im Krimi leider wenig. Das lässt dieses Buch zwar zu einem soliden, aber keinesfalls rundum überzeugenden Werk geraten.

Das fällt besonders auf, weil es in Down Under ja ein gutes Dutzend anderer Autor*innen gibt, die vormachen, wie so etwas aussehen kann, heißen sie Garry Disher, Candice Fox, Peter Papanathasiou oder Jane Harper In diese Riege schaffte es Hayley Scrivenor mit Dinge, die wir brennen sahen leider noch nicht. Ihr wäre es zu wünschen, dass sie in ihren kommenden Büchern den Mut beweist, sich von herkömmlichen Motiven und Plotanlagen wegzubewegen, um ihre Stimme im Konzert der anderen Krimiautor*innen etwas unverkennbarer werden zu lassen. Mit dem multiperspektivischen Erzählstil ist ein Ansatz ja schon vorhanden, diese könnte Scivenor noch gut ausbauen, um dann einen wirklich hitzigen Roman vorzulegen, in dem es dann auch mal wirklich brennen darf.


  • Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8479-0115-0 (Eichborn)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €
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