Monthly Archives: August 2024

Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang

Vom möglichen Königsmord bis zum Aufstieg der Rechten. Donata Rigg und Claudia Klischat beschreiben in ihrem Roman Zeitlang die Geschichte einer bayerischen Familie, die zurückreicht bis in die Zeit König Ludwigs II. Dabei überraschen sie nebst einem ambitionierten Erzählplot mit stilistischer Vielfalt


Der Aufstieg der Neuen Rechten, er ist ein Thema, auf den die deutschsprachige Gegenwartsliteratur noch nicht wirklich geantwortet hat. Literarisch anspruchsvolle Romane abseits des Sachbuchs, die den Komplex der AfD, ihrer Genese und die Menschen im Hintergrund beleuchten, sie sind bislang noch nicht geschrieben worden. Donata Rigg und Claudia Klischat machen sich nun daran, dies zu ändern.

Dabei siedeln sie ihren Roman in einem Landstrich an, in dem die AfD im Gegensatz zu Ostdeutschland noch nicht wirklich dominant ist: die Rede ist vom bayerischen Voralpenland, genauer gesagt dem Ammersee. Zwar bleibt jener See in ihrem Buch aber ebenso ungenannt wie die erstarkende neurechte Partei, für die Benedikt Zwicker, jüngster Spross der im erzählerischen Mittelpunkt stehenden bayerischen Dynastie, tätig ist. Dennoch sind die Bezüge klar, liegt der See im Buch neben dem Fürstensee, der nichts anderes als der Starnberger See ist und sitzt oberhalb des Ortes die Finanzschule, der man nach dem Zweiten Weltkrieg erst noch den Reichsadler mitsamt Hakenkreuz in den Klauen aus der Fassade herausmeißeln musste. Man ist also zu Gast in Herrsching am Ammersee, das im Roman den Namen Herzach trägt und in dem Benedikts Familie lange Zeit ansässig war.

Eine entzweite Familie

Doch zu Beginn des Romans ist davon nichts mehr übrig. Die Familie ist im Streit entzweit, die Tante ist mittlerweile im Besitz des Hauskomplexes, zu dem auch der Fischladen zählt, den die Familie Bader/Maurer schon seit den Zeiten Ludwigs II. betrieben hat. Doch die Hälfte der Familie wohnt inzwischen in Freiburg, wo genügend Abstand zur verfeindeten Schwester herrscht. Und auch Benedikt selbst hat sich noch einmal ein ganzes Stück weiter von seiner Familie entfernt – und das nicht nur geografisch.

Donata Rigg, Claudia Klischat - Zeitlang (Cover)

So wohnt er in Wien, wo er lange Zeit für eine hippe Werbeagentur gearbeitet hat, ehe ihn ein besonderer Auftrag zum Spindoktor eines Politikers gemacht hat, der ebenso wie dessen neugegründete patriotische Partei an die Macht will. Von der Betreuung des Social-Media-Auftritts bis hin zu Coaching reichte Benedikts Arbeit für den Politiker, der stark am rechten Rand fischt und den er aufgrund seiner Herkunft auf den Namen „Hunsrück“ getauft hat.

Es ist ein Job, der ihn auch von seiner Partnerin Marianne entfernt hat. Weder sie, noch seine Schwester Agnes noch seine Familie können verstehen, was den freigeistig und liberal erzogenen Jungen zum Unterstützer dieser Partei hat werden lassen, die mit gezielten Provokationen und Tabubrüchen auf Stimmenfang geht.

Dabei ist das rechte Gedankengut quasi schon Teil der familiären DNA, wie Claudia Klischat und Donata Rigg in ihrem voluminösen Buch zeigen. War der Urgroßvater noch strammer Anhänger des bayerischen Königs und der Monarchie, so war es der Großvater, der in einer Absatzbewegung zum eigenen Vater mit der neugegründeten Nationalsozialistischen Partei sympathisierte und gegen Widerstände vor Ort in Herzach zum Parteimitglied wurde.

Zeitgeschichte in Zeitlang

Die generationalen Zeitläufe beschreiben Klischat und Rigg detailliert, schreiten von Geschehnissen der Jetztzeit wie etwa den pandemiebedingten Grundrechtseingriffen bis tief in die Vergangenheit. Ihr Roman ist voller Zeitgeschichte wie etwa den möglichen Mord an König Ludwig II. im Starnberger See, den der Großvater mit eigenen Augen beobachtete. Auch sind die Auswirkungen des politischen Münchens im 20. Jahrhundert stets in Herzach zu spüren, wo sie in gebrochenen zeitgeschichtlichen Wellen anlanden wie das Wasser, das an den Steg der familieneigenen Badeanstalt dort am See schlägt.

Politik, eine familiäre Chronik und politische Umschwünge bilden den Hintergrund von Zeitlang. Ebenso ist der Roman ein Buch über familiäre Konflikte und zerfallende Gewissheiten. Das wissen Claudia Klischat und Donata Rigg mit einer stilistischen und formalen Vielfalt zu verbinden, die sich im Lauf des Buchs steigert.

Zwar erinnert der Einstieg rund um Benedikt und dessen Tun an andere Generationenromane und die Episode um Urgroßvater Maurer und dessen königstreue Einstellung zunächst noch an einen konventionellen historischen Roman. Doch je weiter das Buch voranschreitet, umso vielfältiger werden die Töne und Gestaltungsmittel. Bayerische Einsprengsel, ein Diktat an den Sohn, Listen oder ein ganzes Kapitel über den Kontakt zwischen Eltern und ihrem Sohn im Zweiten Weltkrieg, der über Feldpostbriefe erzählt wird. Das alles sorgt in Verbindung mit den zwischen Vergangenheit und Gegenwart alternierenden Erzählsträngen für Abwechslung auf den über 600 Seiten des Romans.

Dass hier auf den letzten Metern des Romans Oskar Maria Graf seinen Auftritt hat, ist wahrlich kein Zufall. Ähnlich raumgreifend wie dieser in Das Leben meiner Mutter gestalten Donata Rigg und Claudia Klischat hier ihren Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die miteinander verbunden sind. Und auch in bajuwarische Gemütlichkeit und Heimattümmelei verfallen sie ähnlich wie Graf in seinem Werk nie.

Ob die Verzahnung der Familiengeschichte und ihrer vielgestaltigen Motivik mit dem in der Gegenwart spielenden Strang um den zum rechten Spindoktor mutierten Benedikt Zwicker restlos aufgeht, da bin ich mir nicht wirklich sicher. So ist für mich die historische Komponente etwas stärker als die Erzählung über Benedikt Zwicker und dessen Flirt mit dem rechten Rand durch seine Tätigkeit als Spindoktor.

Fazit

Davon unbesehen ist Zeitlang aber wirklich ein Roman von Großformat, was die beschriebene Zeit und die Fülle an Handlung an Form und Stil anbelangt. In Zeiten, in denen Bayern literarisch hauptsächlich für Heimatkrimis von Rita Falk, Jörg Maurer oder Klüpfel und Kobr wahrgenommen wird, zeigen Donata Rigg und Claudia Klischat, dass es auch anders geht. Ihnen gelingt ein ambitionierter Roman in Sachen Anspruch und Inhalt, der literarisch zum interessantesten zählt, was über (Ober)Bayern in den letzten Jahren geschrieben wurde!


  • Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang
  • ISBN 978-3-550-20255-1 (Ullstein)
  • 624 Seiten. Preis: 26,99 €
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Sven Recker – Der Afrik

Afrika liegt in Baden. Zumindest ein kleiner Teil. Diese geografisch neue Erkenntnis verdankt sich dem dritten Roman von Sven Recker. Dieser zeichnet in Der Afrik das Schicksal deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert nach und lässt einen Außenseiter im Badischen einen verhängnisvollen Plan vorantreiben.


Pfaffenweiler ist ein kleines Dorf, das südlich von Freiburg im Breisgau gelegen ist. Weinhänge prägen die Umgebung des Städtchens, das etwa 2500 Einwohner*innen zählt. Einer dieser Weinhänge hat eine ganz besondere Geschichte, die auch den erzählerischen Rahmen von Seven Reckers Roman Der Afrik bildet.

Denn dieser trägt den Namen Afrika. Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Namensgebung, die in Zusammenhang mit dem Denkmal steht, das sich im Wald oberhalb der Gemeinde verbirgt. Denn dieses setzt den Auswanderern ein Denkmal, die sich im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Afrika machten.

Hunger, Armut und fehlende Perspektiven verbunden mit einer großen Werbeoffensive des Bürgermeisters und der Politiker aus dem nahegelegenen elsässischen Colmar hatten für einen großen Aufbruch des armen Bevölkerungsteils von Pfaffenweiler gesorgt. 23 Familien mit insgesamt 132 Menschen sollten nach Afrika geschickt werden. Dort in Algerien würden die Auswanderwilligen nahezu paradiesische Zustände erwarten. Genug zu essen, Felder, die zu bestellen wären, wirtschaftlicher Aufstieg und Sorgenlosigkeit. So suggerierte es zumindest die Werbekampagne der Verantwortlichen.

Um die Reise der Menschen zu finanzieren, verfiel die Stadt unter Leitung des Bürgermeisters auf eine besondere Idee: so sollte ein naher Wald abgeholzt werden, um aus dem Erlös dieser Aktion die Reisekosten für die Ausreise zu bestreiten. Der Auswanderern zu Ehren taufte man den Weinhang auf den Namen Afrika.

Alles andere als paradiesische Zustände

Doch dieses Afrika, es war alles andere als paradiesisch, wie Sven Recker in seinem Roman zeigt. Entbehrung, krasser Mangel an allem, Hunger und Tod waren es, die die Auswanderer in Nordafrika erwarteten, wenn sie nicht schon auf der Reise dorthin gestorben waren.

Sven Recker - Der Afrik (Cover)

Niemand sollte diese Auswanderung überleben – bis auf einen Mann. Franz Xaver Luhr, genannt der Afrik, war es, der es aus Paffenweiler nach Afrika und wieder zurück geschafft hatte. Dieser historischen Figur setzt Sven Recker nun ein Denkmal, das von der Auswandererbewegung und den fatalen Folgen des Erlebten auf Körper und Geist erzählt. Ebenso bietet Der Afrik Parallelen zur heutigen Zeit an, in der wieder Schleuser mit Lügen und Propaganda über das bessere Leben auf anderen Kontinenten Menschen ins Verderben locken.

Um seine Geschichte zu erzählen, wählt Sven Recker ein außergewöhnliches literarisches Gestaltungsmittel. So greift er auf die unmittelbare Du-Anrede zurück, mithilfe derer er ganz tief in die Gedankenwelt des Afrik eindringen kann. Denn dieser hat nicht nur an seinem Körper schwere Schäden erlitten – auch sein Geist ist vom Erlebten zerrüttet. Überall sieht er einen Nachtkrapp, imaginiert sich wieder zurück zu seinem Freund Djiali, den er in der Wüste kennengelernt haben will und spricht mit sich selbst.

Seelische und körperliche Zerrüttungen

Du!

Depp!

Du!

Du weißt, was die Leute sagen. Sie glauben, die Sonne Afrikas hätte dein Hirn vollkommen verbrannt. Wenn du ins Dorf gehst, kommen die Kinder und rufen dir nach:

Du!

Du!

Depp!

Du!

Wenn sie sie dich verhöhnen, beißt du dir in die Hand, aber der Drang, das zu antworten, was du auf keinen Fall sagen willst, geht nicht weg und du brüllst:

Depp!

Du!

Depp!

Die Kinder lachen, dann rennen sie weg. Du würdest gerne eines von ihnen schnappen und am Ohrläppchen ziehen. Du traust dich nicht, stattdessen denkst du an deinen Stollen und den Sprengstoff, den du ihren Vätern seit Jahren schon bei deiner Lohnarbeit in ihren Steinbrüchen stiehlst. Bei dem Gedanken lachst du laut auf. Es klingt, als würdest du bellen und sie denken erst recht, du wärst verrückt.

Sven Recker – Der Afrik, S. 12

Eindringlich schildert Recker die Traumata des Erlebten, den heuchlerischen Umgang der Stadtspitze mit den Ausgewanderten und erzählt vom Wunsch nach Rache, der den Afrik umtreibt. Denn seit seiner Rückkehr arbeitet er an einem großen Plan, den er mit Beharrlichkeit vorantreibt: Afrika soll verschwinden. Mithilfe eines über die Jahre in den Berg gegrabenen Stollen und Dynamit soll es schon bald soweit sein. Der ganze Hang soll in die Luft gesprengt werden.

Der Plan des Afrik

Doch so einfach ist das mit dem Plan nicht. Denn schon auf den ersten Seiten des Romans findet der Afrik in seiner ärmlichen Kate einen Jungen, der eine Botschaft bei sich trägt. Dieser verkündet den Namen des Jungen, nämlich Jacob. Zudem heißt es da, dass er zur Familie des Afrik gehört.

Dies sorgt für eine Unterbrechung des Plans, auf den der Afrik so lange hingearbeitet hat. Denn plötzlich gilt es, für diesen Jungen zu sorgen, der so unverhofft in sein Leben getreten ist. Dabei rührt das Auftauchen auch wieder an alten Traumata…

Es stecken viele Themen in Reckers Buch. Eindringlich erzählt er vom Schicksal des Afrik, das durch die Du-Perspektive eine ganz eigene Intensität bekommt. Dessen Selbstgespräche, Flashbacks und Psychosen zeigen das Bild eines Mannes, dem alles genommen wurde. Aber auch darüber hinaus ist die Geschichte der Auswanderer und deren erschütterndes Schicksal gut eingebunden in den Roman bis hin zur Aktualität, die diesem historischen Roman innewohnt. Der Afrik erzählt von staatlich organisiertem Aufbruch, von Schleusern und der universellen Hoffnung auf ein besseres Leben.

Fazit

Recker gelingt ein beeindruckendes Werk, das der baden-württembergischen Auswandererbewegung und deren Schicksal ebenso ein Denkmal setzt wie dem historisch verbürgten Franz Xaver Luhr. Historisch und aktuell zugleich, literarisch und spannungstechnisch wohldurchdacht – und das alles auf gerade einmal gut 150 Seiten. Ich bin beeindruckt!

Mehr Informationen zu Sven Reckers Roman gibt es unter anderem auch beim SWR, bei Birgit Böllinger und bei Hauke Harders Blog Leseschatz.


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Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt

Wenn Fluten steigen, dann stellt das nicht nur die Kraft der Natur eindrücklich unter Beweis. Oftmals bringt ein Hochwasser auch zahlreiche Dinge ans Tageslicht, und es seien es auch nur Versäumnisse, die beim Hochwasserschutz gemacht wurden. Im Falle von Thomas Knüwers Debüt Das Haus in dem Gudelia stirbt ist es sogar ein Geheimnis der Vergangenheit, das nun im Zuge einer Überschwemmung ans Tageslicht kommt.


Drei Zeitebenen hat sich Thomas Knüwer für seinen Roman als erzählerisches Grundfundament genommen. So schichtet er Schilderungen aus den Jahren 1984, 1998 und 2024 zu einem Roman zusammen, die über die 40 Jahre hinweg das Bild von Vertuschungen und Lügen zementieren.

Alles beginnt in Knüwers Roman mit Ereignissen im Jahr 2024, die auf fatale Weise an jene Ereignisses erinnern, die hier im Augsburger Umland Anfang Juni für bundesweite Schlagzeilen sorgten. Überraschend waren hier in einem Extremwetterereignisse binnen weniger Stunden Flüsse über die Ufer getreten und sorgten für überschwemmte Städte und Dörfer, unpassierbare Straßen und Brücken. Die Donau wurde zu einem reißenden Fluss, die Städte wie Günzburg oder Offingen in Teilen verwüstete. Auch bei Thomas Knüwer ist es dieser Fluss, der dem kleinen Städtchen Unterlingen Verwüstung und Chaos bringt.

Gudelia bleibt

Thomas Knüwer - Das Haus in dem Gudelia stirbt (Cover)

Während die Polizei die Bewohner*innen der Häuser evakuiert, versteckt sich die 81-jährige Gudelia in ihrem Haus. Die Mieter der unteren Wohnung haben sich längst in Sicherheit gebracht, Gudelia allerdings bleibt. Warum die Seniorin ihr Zuhause nicht aufgeben will, das klärt sich im Laufe des Romans genauso wie eine Beobachtung, die sie während ihrer Wache im Haus macht. Denn als sie nachts mit der Taschenlampe die steigenden Fluten kontrolliert, wird sie Zeugin, als zwei Leichen an ihrem Haus vorbeigeschwemmt werden. Deren Hände sind mit Kabelbinder auf die Rücken gefesselt. Als die Flut dann wieder verschwunden ist, will die Polizei Gudelia diese Beobachtung aber nicht glauben.

Was hier passiert ist, enthüllt Thomas Knüwer im Lauf seines Buchs ebenso wie die Gründe für die enge Bindung Gudelias an ihr eigenes Zuhause. Denn diese übertrieben, scheinbar schon fast manische Verhaltensweise hat eine Vorgeschichte, die nun durch das Hochwasser zum Vorschein kommen. Durch die zeitlich früher gelagerten Erzählschichten wird allmähliche die Motivation klar – und enthüllt ein Bild Gudelias, das trotz aller Zitate von Gebeten und Kirchenliedern nicht unbedingt fromm ist, geschweige denn so hilflos, wie es zunächst den Anschein hat.

Stabilität und Solidität – und ihr Ende

Alkoholismus, ein Mord und verzweifelte Mutterschaft spielen in Das Haus in dem Gudelia stirbt eine große Rolle. Souverän trägt Thomas Knüwer seine Schichten ab, wenngleich die größte Pointe dieses Buchs vielleicht schon etwas früh preisgegeben wird, wenn Knüwer in der Mitte des Buchs zeigt, warum Gudelia so sehr um die Stabilität und Solidität ihres Hauses bemüht ist.

„In dem Haus ist mein ganzes Leben.“

Er schnaubt. „In dem Haus ist dein ganzes Leid.“

Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht. Ich bleibe zurück, sehe ihm hinterher. Der Himmel zieht zu.

Wir haben beide recht.

Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt, S. 214

Sein Roman ist voller starker Bilder. Das Haus mit seinen Rissen als Zeichen des Kontrollverlust Gudelias ist dabei vielleicht schon etwas arg überdeutlich, dafür aber sind die Schilderungen aus dem verdreckten Haus nach dem Rückgang der Flut oder Bilder des Friedhofs, der von Schweinekadavern übersät ist, umso gelungener. Alles hier löst sich langsam auf. Die Struktur des Ortes, die Grundfesten ihres Hauses und die von Gudelias Leben.

Fazit

Wird der eingestreute Kriminalfall der mit Kabelbinder gefesselten Leichen vielleicht auch etwas schnell abgehandelt (wenn er denn überhaupt notwendig ist), und auch das schlussendliche Schicksal von Gudelias Mann ist in der Gesamtanlage des Romans vielleicht etwas überhastet. Dennoch aber ist Thomas Knüwers Das Haus in dem Gudelia stirbt in Sachen Konzeption und origineller Idee wirklich gelungen. Sein Roman ist ebenso das Bild einer Seniorin mit Geschichte, eines großen Verlustes und einer zerrütteten Ehe, wie das Buch auch mit seiner nachvollziehbar komponierten Geschichte als Grenzgänger zwischen Krimi und Roman überzeugen kann.

Einzig und allein ein Komma für den Relativsatz im Titel hätte das Lektorat diesem Buch noch spendieren dürfen. Ansonsten gibt es bei diesem Debüt wenig zu meckern und umso mehr zu entdecken in diesem von der Flut gekennzeichneten Unterlingen. Hier wird so einiges wieder ans Tageslicht gespült!


  • Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt
  • ISBN 978-3-86532-882-3 (Pendragon)
  • 280 Seiten. Preis: 20,00 €
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Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer

Bekenntnisliteratur eines Nachwuchs-Killers. In ihrem Debüt Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer lässt die italienische Autorin Francesca Maria Benvenuto einen jugendlichen Gefängnisinsassen zu Beginn der 90er-Jahre einen langen Brief schreiben. Er zeichnet darin das Bild von Gewalt, die immer wieder Gewalt gebiert.


Nisida ist eine kleine im Golf von Neapel gelegene Insel. Auf dieser Insel befindet sich ein Gefängnis für Fälle wie den Jugendlichen Zeno, der einen Brief für seine Lehrerin schreibt – und damit uns Einblicke in ein gewaltgesättigtes Milieu liefert, das keinen Raum für Entkommen lässt.

Benvenuto siedelt ihr Debüt zu Beginn der 90er Jahre an. Damit spielt Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer in einer Phase, als wirtschaftlicher Aufschwung und Tourismus für Neapel noch in weiter Ferne lagen. Während der Norden bereits prosperierte und Anschluss an die EU fand, lag der Süden brach. Gewalt, Korruption und mafiöse Strukturen, allen voran die Camorra, dominierten die Stadt. Liest man Benvenutos Roman, dann steht dem Leser diese Zeit rasch sehr plastisch vor Augen.

Ein Brief aus dem Gefängnis

Denn um ihren Roman zu erzählen, wählt die Italienerin den Kniff eines schriftlichen Geständnisses, das der junge Zeno auch vor uns ablegt. Gerade einmal fünfzehn Jahre und vier Monate alt ist er, und doch sitzt er schon mit vielen anderen Jugendlichen im Gefängnis – die Strafe für einen Mord, den er begangen hat.

Francesca Maria Benvenuto - Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer (Cover)

Um an Weihnachten wenigstens für zwei Tage Ausgang zu bekommen, schreibt er einen Brief, in dem er sein ganzes Leben darlegt. Seine Lehrerin im Gefängnis hat ihm dies als Bedingung abgerungen, damit sie beim Gefängnisdirektor ein gutes Wort für den Jungen einlegt, der über sich selbst sagt, dass er „geklaut, gedealt und sogar gemordet, aber nie gelogen habe“.

Und so berichtet er von seinem Werdegang, seinem Aufwachsen im Stadtteil Forcella in Neapel, wo die Hoffnungslosigkeit zuhause ist. Der Vater ebenfalls in einem Gefängnis einsitzend, die Mutter Prostituierte, die Schwester auch mit einer kurzen Zeit als Prostituierte, ein kärgliches Zuhause im beengten Souterrain eines Hauses. So sieht das Milieu aus, das dann auch Zenos Lebensweg bestimmt.

Ein jugendlicher Mörder

Zum Mord ist es in der Konsequenz des Lebens dort nur ein kleiner Schritt – und so sitzt er nun ein und hat Zeit, das Leben vor seiner Zeit im Gefängnis ebenso wie das Leben hinter Gittern zu schildern. Dies tut er in einem durchaus fehlerbehafteten und mündlichen Stil, da er eigentlich nur Neapolitanisch spricht und das Hochitalienisch seine Sache nicht ist. Übersetzerin Christine Ammann hat diesen besonderen Tonfall gut auch ins Deutsche hinübergerettet.

Jedenfalls heiß ich Zeno, was ein komischer Name ist.

Erstens, weil er mit Z anfängt, dem letzten Buchstaben im Alfabet.

Ich hätt mir nen andern gegeben, der einem Angst einjagt, wie Rambo oder was Amerikanisches.

Oder einen, der mit A anfängt, dem ersten Buchstaben, der sich im Alfabet für den allertollsten hält.

Aber ihr habt gesgt, Professoressa, Zena ist ein schöner Name.

So heißt ein berühmter Typ in einem Buch, habt ihr gesagat. Der ununterbrochen raucht, genau wie ich, und einfach nicht aufhörn kann, obwohl er eigentlich will.

Der arme Typ ist ja noch schlimmer dran als ich.

Ich versuchs nicht mal, weil mit ner Zigarette ist man wer, sonst wüsst ich gar nicht, wo ich die Hände hintun soll. Ich rauch, seit ich elf bin.

Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer,. S. 11

Die Sprache

So entsteht durch dieses Geständnis das Bild eines verletzlichen Jungen zwischen großer Mackerpose, Gewaltneigung, Angst, Orientierungslosigkeit und der Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Ein Bild der Hoffnungslosigkeit

Nicht einmal Bildung oder religiöse Zuwendung können aber an den Umständen und der Hoffnungslosigkeit der Jugendlichen in Neapel und hinter Gitter etwas ändern. Weder der Unterricht, der ihnen auf Nisida erteilt wird, noch der öffentlichkeitswirksame Besuch des Papstes bringen Besserung, im Gegenteil.

Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ein fast hoffnungsloser Roman, der insbesondere mit seinen letzten Seiten noch einmal eine ganz eigene Wucht entfaltet und die Hoffnungslosigkeit des kompletten Systems, in dem Zeno aufgewachsen ist, zeigt.

Dass es mit Neapel nach den im Roman beschriebenen Ereignissen wieder aufwärts ging, ist der Trost der Geschichte. Für Zeno kommt dieses Trost allerdings zu spät, wie Benvenuto mit dieser bitteren Geschichte eindrucksvoll zeigt.


  • Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer
  • Aus dem Italienischen von Christine Ammann
  • ISBN 978-3-95614-601-5 (Kunstmann)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Madame Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch vor und belässt vieles im Ungefähren, statt sich mit eindeutigen Zuordnungen und Einordnungen aufzuhalten.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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