Category Archives: Sachbuch

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien

Thomas Mann-Festwochen allerorten. Gefühlt im Wochentakt bringen die Verlage derzeit Publikationen auf den Markt, um den Jubilar, der in diesem Jahr seinen 150. Ehrentag hätte feiern können, zu würdigen. Kerstin Holzers Sachbuch Thomas Mann macht Ferien fügt sich nun in diese Reihe ein und erkundet die Lebenswelt des 1918 am Tegernsee urlaubenden Großschriftstellers. Dabei macht das Buch nichts falsch, überzeugt aber dennoch auch nicht wirklich.


Per Boot über den Tegernsee, dann weiter zum Bauerndorf Abwinkl und von dort noch einmal ein ganzes Stück entfernt auf einen einsam gelegenen Bauernhof, so sah der Reiseweg aus, den Thomas Manns Familie im Jahr 1918 zurücklegte, um dort in der Natur Oberbayerns die Sommerfrische zu verbringen. Während der Große Krieg zwar vorüber war, waren die Folgen des Kriegs auch auf dem Land noch zu spüren, wo sich die Familie im Anwesen der sogenannten Defregger Villa einmietete. Man litt Mangel – und dennoch wollte man sich die Ferien nicht vermiesen lassen, wie Kerstin Holzer in ihrem Buch schreibt.

Holzer, die schon mit Büchern über die Mann-Töchter Elisabeth Mann Borghese und jüngst über Monika Mann und ihr Leben auf Capri hervortrat (Monascella), nimmt sich nun eine kleine biographische Vignette aus dem Leben der Familie vor, um anhand dieser vom Schreiben und Leben Thomas Manns und dem Leben der Münchner Intellektuellen dort am Tegernsee zu schreiben.

Am Wasser sein, da ist das Glück. Hier am Tegernsee führen die Wege am Ufer entlang, entweder nach rechts um die Buch des Ringsees bis nach Rottach-Egern oder noch weiter zum Hauptort Tegernsee, das ist immerhin eine Stunde durch hohe Schilfwälder und an sandigen Buchten vorbei – dort gibt es tatsächlich Sand wie am geliebten Meer, wenn auch weniger fein.

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien, S. 39

Thomas Mann am Tegernsee

Kerstin Holzer - Thomas Mann macht Ferien (Cover)

Während Mann der Veröffentlichung seines kämpferischen Werks Betrachtungen eines Unpolitischen entgegenbangt, dessen Thesen sich durch die Niederlage Deutschlands im Kriegs schon wieder in Teilen revidiert haben, wandert er in langen Spaziergängen im Tegernseer Tal, an seiner Seite der Hund Bauschan, dem er mit Herr und Hund einen ganzen Text widmet, der während seines Aufenthalts dort im Sommer 1918 entsteht.

Die fünfköpfige Familie, die sich schon bald nach dem sommerlichen Aufenthalt noch einmal vergrößern wird, andere Intellektuelle, die es der Familie Mann gleichtun und ins Tegernseer Tal strömen, dazu noch Auszüge aus den Erinnerungen Manns oder Katja Manns Mutter Hedwig von Pringsheim, sie bilden die Themen dieses Romans, das sich in einigen kurzen Kapiteln der Mann’schen Familiengeschichte widmet und vom Urlauben erzählt, das damals noch Sommerfrische hieß.

Trotz der angenehmen Erzählweise und der lokalen Verbundenheit meinerseits zum Erzählobjekt und Ort blieb für mich nach der raschen Lektüre von Thomas Mann macht Ferien allerdings der Eindruck eines schönen Soufflés, welches ich gerade konsumiert hatte. Natürlich ist das Buch in lokalem bayerischen Bezug durchaus interessant und die Familie von Thomas Mann ebenso – neue Einsichten bietet das Buch mit seiner aus vielen Quellen gespeisten Erzählweise aber nicht unbedingt.

Mann als Erzählgegenstand schon gut auserzählt

Vielleicht ist für mich im allgemeinen Mann-Rausch, in dem fast im Wochentakt Biografien (von Volker Weidermann bis Hans Wißkirchen), neue Romane (von Matthias Lohre bis hin zu Krimis über (Drei ???) oder mit Thomas Mann) und feuilletonistische Betrachtungen erscheinen, auch einfach der Punkt gekommen, an dem ich für mich konstatieren muss, mit Thomas Mann als Erzählgegenstand vielleicht etwas übersättigt zu sein. Persönlich würde ich sagen, dass die Mann-Mania ihren Höhepunkt überschritten hat. Von solch subjektiven Widerständen abgesehen finde ich auch in Holzers Buch für sich genommen nicht viel, das sich mir nach der Lektüre tiefer ins literarische Gedächtnis eingeschrieben hätte.

Anders als zum Beispiel Uwe Wittstocks Literaturgeschichte über die Flucht der Intellektuellen nach Marseille 1940 oder Martin Mittelmeiers Exilgeschichte Heimweh im Paradies über Thomas Mann in Kalifornien fehlen dem Buch über das Buch hinausweisende Aspekte, obschon Kerstin Holzer mit aktuellen Kampfbegriffen wie der Kulturellen Aneignung oder der Lügenpresse in ihrem Text hantiert.

Leider aber bietet die Autorin in ihrem Buch neben der Recherche-Fleißarbeit nicht viel mehr Punkte auf, die Dirk Heißerer nicht schon zwanzig Jahre zuvor in seinem Buch Im Zaubergarten – Thomas Mann in Bayern analysiert und vorgestellt hätte. Der komplizierte Thomas Mann, die Großfamilie mit ihren so unterschiedlichen Persönlichkeiten, Leben und Werk, die Bindung zu Bayern – es ist eben doch schon recht gut erforscht und noch ausführlicher erzählt worden.

Fazit

Gewiss, Thomas Mann macht Ferien ist ein gut lesbares Buch, kurzweilig, unterhaltsam, kurzum: ein kleines Bonbon in Sachen Mann-Mania. Mir aber geht es da in etwa so wie mit dem per KI-Kunst generiertem Cover: es sieht nett aus, bei näherer Betrachtung bleibt dann aber nicht mehr viel übrig vom Kunstgenuss und dem Gehalt dieses erzählendem Sachbuch.


  • Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien
  • ISBN 978-3-462-00671-1 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos

Die profilierte Literaturkennerin Michi Strausfeld betreibt in ihrem Sachbuch Die Kaiserin von Galapagos literarische Landeskunde in Sachen Südamerika. Sie stellt den so vielfältigen und spannenden Kontinent mit seinen vielen Facetten vor und geht dabei weit zurück in der Geschichte, um die deutsch-südamerikanischen Beziehungen zu beschreiben. Vor allem zeigt sie dabei, dass das aktuelle Desinteresse an der von dort stammenden Literatur ein großer Fehler ist und es so viel zu entdecken gäbe.


„Bitte seien Sie nachsichtig mit den Deutschen. Sie sind die letzten Entdecker Lateinamerikas“. So augenzwinkernd begrüßte Hans Magnus Enzensberger 1976 die Delegation Lateinamerikas, die im Rahmen des Gastlandauftritts der Frankfurter Buchmesse eingeladen worden war.

Knapp fünfzig Jahre später könnte man wieder auf diese Worte zurückgreifen. Denn viel ist (schon wieder) nicht mit Südamerika und dem deutschen Buchmarkt. So ist immer noch das prägende Label, das man hierzulande mit der südamerikanischen Literatur verbindet, das des Magischen Realismus, unter dem man die Werke von Autoren wie Gabriel Garcia Marquez oder Isabel Allendes zusammenfasste (obschon dieses Label in den seltensten Fällen wirklich zutraf, wie Strausfeld kritisch anmerkt).

Südamerika – mehr als Magischer Realismus

Noch heute fällt dieses Schlagwort, obschon die Generation des Magischen Realismus langsam, aber sicher ausstirbt. Mit Mario Vargas Llosa ist jüngst eine weitere markante Stimme Südamerikas für immer verstummt. Aber warum ist das Interesse an der südamerikanischen Literatur nach einem Boom dieser Erzählstimmen in den ausgehend von den 80er Jahren bis in die 90er Jahre hinein versiegt – und was verpassen wir durch dieses Desinteresse?

Um die Vielfalt und Bedeutung Südamerikas besonders für Deutschland herauszustellen, greift Michi Strausfeld weit aus. Zurückgehend bis ins 16. Jahrhundert erzählt sie vom Kaiser des Deutschen Reichs Römischer Nation, Karl V., der zugleich spanischer König war und als Reisekaiser viele Kriege führte, zu deren Finanzierung er Südamerika nutzte. Die Fugger bekamen von ihm im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung Ländereien in Chile, den Welsern wurde ein Lehen in Klein-Venedig, sprich Venezuela, zugesprochen.

So begannen Handelsbeziehungen zwischen den Kontinenten, die oftmals aber eher Ausbeutung denn Austausch auf Augenhöhe waren. Immer wieder zog es Deutsche nach Südamerika, um dort zu forschen, zu missionieren oder ihr Glück zu finden.

Deutsch-lateinamerikanische Beziehungen

Michi Strausfeld - Die Kaiserin von Galapagos (Cover)

Bis hinein in die Gegenwart reichen diese Beziehungen, etwa als deutsche Impfgegner den Coronamaßnahmen hierzulande entgehen wollte und in Südamerika von deutschen Auswanderern gegründete Städte aufsuchten, um ihren neuen Lebensmittelpunkt dorthin zu verlegen (was bei den alteingesessenen Auswanderern nicht immer auf Gegenliebe stieß).

Eines der vielen illustren Beispiele, mit dem Strausfeld zeigt, wie seit den Tagen Karls V. Deutschland von Südamerika profitierte oder profitieren wollte.

Besonders aufsehenerregend war dabei sicherlich der Fall, der Strausfelds Buch den Titel leiht. Denn die teilweise auch im Reichsbürgermilieu verhafteten Impfgegner unserer Tage, die in Südamerika eine neue Heimat suchten, sind keineswegs ein Phänomen der Jetztzeit. Schon neunzig Jahre zuvor versuchte die österreichische Hochstaplerin Eloise Wagner de Bousquet auf der Insel Floreana im Galapagos-Archipel ein eigenes Kaiserreich auszurufen, in dem sie herrschen konnte. So sorgte die schillernde Betrügerin mit ihren Plänen für ein Luxushotel dort auf Floreana für Aufsehen, Kopfschütteln und Neugier.

Die Kaiserin von Galapagos

Aus den Fantastereien der „Baron“ als Kaiserin von Galapagos wurde ein Phänomen, das auch heutzutage noch die Fantasie vieler Menschen anregt. Denn dort auf der Insel kam es zum rätselhaften Verschwinden und möglichen Todesfällen, die bis heute im Zeitalter des True Crime-Fiebers hochgradig faszinieren.

So kam jüngst die von Ron Howard verfilmte Deutung der Ereignisse damals auf Floreana ins Kino – und mit Postlagernd Floreana legte die Büchergilde das Buch der Zeitzeugin Margaret Wittmer neu auf, die damals selbst auf der Insel unter der Herrschaft der Kaiserin von Galapagos lebte.

Solche Anekdoten um mal bekanntere und mal in Vergessenheit geratene Figuren (etwa den aus Augsburg stammenden Maler Johann Moritz Rugendas, dessen Schicksal der Chilene Carlos Franz in seinem großartigen und ebenso unbekannten Roman Das Quartett der Liebenden ausdeutet) reichern dieses in chronologisch voranschreitenden Beschau der deutsch-südamerikanischen Beziehungen an.

Neben Platz für Geist und Esprit geht Michi Strausfeld in Die Kaiserin von Galapagos aber auch den dunklen Seiten der Beziehungen nach, insbesondere dem Untertauchen von NSDAP-Funktionären und Tätern durch die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika, wo Täter wie Klaus Barbie oder Josef Mengele weiter unbehelligt leben konnten und teilweise sogar jüdische Auswanderer, die dem deutschen Terror entfliehen wollten, in deren Exil noch bedrängen konnten.

Eine kurzweilige Beschau

Die südamerikanische Begeisterung für den Faschismus, aber auch Widerstand und das Engagement für jüdisches Leben, all das findet Platz in dieser kurzweiligen Beschau einer komplizierten und dieser Tage wieder sehr brachliegenden Beziehung, in der zwar der Handel noch eine Rolle spielen mag, die Kultur aber längst schon einmal mehr aufs Abstellgleis geraten ist, sodass Enzensbergers Worte von 1976 wieder Aktualität genießen.

Dass aber auch nach den Granden der Hochzeit der südamerikanischen Literatur noch so viel zu entdecken ist, auch das zeigt Strausfeld gelungen. So macht sich ja nicht nur, aber besonders auch der Suhrkamp-Verlag stetig daran, die internationale Literatur von dort zu stärken und neben Klassikern wie Isabel Allende auch die junge südamerikanische Literatur von Samanta Schweblin über Benjamin Labatut bis hin zu Geovani Martins zu präsentieren.

Mein Wunsch: Lateinamerikaner und Deutsche mögen sich wieder mehr füreinander interessieren und mehr miteinander reden. Und Politiker den Kontinent endlich gebührend wertschätzen.

Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos, S. 238

Fazit

Dass Politik eben auch Kulturpolitik ist und eine Belebung des ehemals florierenden und aktuell so sträflich vernachlässigten Kulturaustausches wieder reiche Frucht bringen könnte, das macht Strausfelds Buch deutlich. Die Kaiserin von Galapagos ist ein wichtiger Aufschlag und ein lesenswerter wie profunder erster Schritt, um die Beziehungen wieder zu belegen – Aquí vamos!


  • Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos. Deutsche Abenteuer in Lateinamerika
  • ISBN 978-3-911327-05-3 (Berenberg)
  • 264 Seiten. Preis: 26,00 €
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Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies

Fernab der Heimat – und doch die Sorgen um Deutschland stets präsent. In Heimweh im Paradies porträtiert Martin Mittelmeier Thomas Mann während seines Exils in Kaliforniern – und zeichnet nebenbei auch noch ein Bild des exilierten deutschen Geisteslebens, von Adorno bis Schönberg.


Liest man Martin Mittelmeiers erzählendes Sachbuch Heimweh im Paradies, so muss man doch auch unwillkürlich zurückdenken an die Zeiten Anfang des Jahres, als die Waldbrände rund um Los Angeles loderten. Lange sah es so aus, als würden auch die Mann-Villa in Pacific Palisades und die Villa Aurora, in der Lion Feuchtwanger Zuflucht vor den Nazis fand, ein Raub der Flammen. Ein Unglück, das gerade so noch einmal vermieden werden konnte.

Was es bedeutet hätte, wenn diese Häuser mitsamt ihrer bewegten Geschichte in Flammen aufgegangen wären, das führt Mittelmeiers Buch vor Augen. Denn ihm gelingt es, ein Bild der deutschsprachigen Exil-Gemeinde während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen, deren Schicksal eng mit den Häusern verbunden war, die sie in Kalifornien bewohnten.

Katia und Thomas Mann sind im Frühjahr 1941 endgültig von Princeton an die Westküste gezogen, zunächst in ein Mietshaus im Ranch Style am Amalfi Drive, ganz in der Nähe von Huxleys Haus.

Im Februar 1942 beziehen sie das Haus, das sie sich nach langem Hin und Her, nach ständigem Zweifel und mehreren Kostensteigerungen selbst bauen haben lassen, eine halbe Stunde zu Fuß von der Wohnung am Amalfi Drive entfernt, wenn man sich vom Meer wegbewegt. Wo man dann aber, weil man auf diesem Weg immer bergauf geht, einen guten Blick auf den Pazifik hat. Die Villa, von deren Arbeitszimmer der Dichter einen weiten Ausblick über den Pazifischen Ozean hat, wird nach einer Gruppe hoher Palmen den Namen „Seven Palms“ führen“, heißt es in der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“ in einem kurzen Artikel.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 56

Thomas Mann – angetan von der eigenen Bedeutung

Während sich die dank des literarischen Erfolgs seiner Werke auch im Ausland finanziell unabhängigen Manns eine Villa erbauen können, ist Theodor Wiesengrund, genannt Adorno, in keiner solchen luxuriösen Situation. Er muss zusammen mit seiner Frau in einem wesentlich bescheideneren Heim leben, wo ihn Mann besucht. Aber dessen ungeachtet kann man natürlich auch nach Höherem streben, so wie es Mann bei seiner Gönner Agnes E. Meyer tut.

Martin Mittelmeier - Heimweh im Paradies (Cover)

Diese hat ihm zwar eine Stelle als Berater bei der Library of Congress sowie eine Gastprofessur in verschafft, so ganz zufrieden ist Thomas Mann damit aber nicht. Gegenüber seiner Gönnerin merkt Mann an, dass Hermann Hesse im Gegensatz zu ihm seine Zuhause in Kalifornien von seinem Mäzen finanziert bekommen habe. Luxusprobleme in der luxuriösen Umgebung von Pacific Palisades – aber auch eine bezeichnende Anekdote für den Geistesarbeiter Mann, der sich in seiner Rolle als moralisches Gewissen der Deutschen durchaus gefiel.

In Heimweh im Paradies bietet Mittelmeier viele solcher Vignetten auf, die das Bild von Thomas Mann als von der eigenen Bedeutung angetanen Mann zeigen. Als fleißiger Redenschreiber will er mit seinen Schriften von Kalifornien aus demokratiefördernd und fordernd auf die Deutschen einwirken, die derweil den Zweiten Weltkrieg führen.

Neben seiner Arbeit für die Demokratie schielt Mann auch stets mit seinem Schreiben auf die Wirkung seines Werks. Die Auszeichnung als Book of the month wird gerne entgegengenommen, nach der Vollendung seiner Josephs-Tetralogie ist es nun der Doktor Faustus, an dem er arbeitet und bei dem er Unterstützung vom schon erwähnten Theodor Wiesengrund erhält. Der in Musiktheorie wie philosophischem Denkwerk firme Adorno „inspiriert“ Mann zu seiner Arbeit am Roman über Adrian Leverkühn und dessen Pakt mit dem Teufel.

Geistesblüten im kalifornischen Exil

Nicht die einzige Geistesblüte, die die in Kalifornien zusammengewürfelte Notgemeinschaft treibt. Wie schon in seinem 2021 erschienenen Werk Freiheit und Finsternis nimmt Martin Mittelmeier auch hier die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Denker im kalifornischen Exil in den Blick.

Zusammen mit Manns direktem Nachbar Max Horkheimer arbeitet Theodor W. Adorno nicht nur im Institut für Sozialforschung zusammen und entwickelt zentrale philosophische Ideen weiter. Adornos Name Wiesengrund floss ebenso wie dessen Analyse von Beethovens Klaviersonate op. 111 wiederum in Manns Doktor Faustus ein. Auch prägen die Begegnungen mit exilierten Komponisten wie Hanns Eisler oder Arnold Schönberg und deren musiktheoretischen Ansätzen wiederum Manns Werk.

Um das Gravitationszentrum Thomas Mann herum entsteht ein Panorama von Geistesgeschichte dort in den Hügeln von Beverly Hills und Kalifornien, das Martin Mittelmeier in eine Sprache kleidet, die auch von ihrem Gegenstand gelernt hat.

Adorno ist von allen dreien am wenigsten an der politischen Sphäre interessiert. Er ist einerseits von allen der größte Revolutionär: Die Welt, so, wie sie ist, muss zersprengt werden. Aber mithilfe der Gedankenfiguren seines Freundes und Lehrers Walter Benjamin arbeitet er am stärksten von allen daran, diese Sprengung rein ins Gedankliche und Ästhetische zu verflüchtigen. Deswegen freut er sich, als Thomas Mann wieder zum Roman zurückkommt und den musiktheoretischen Vortrag des stotternden Organisten Wendell Kretzschmar vorliest mit der neu hinzukommenden Note, die das Tröstlichste der Welt ist.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 115

Das ist nicht immer ganz einfach zu lesen, schließlich steigt Martin Mittelmeier auch tief in das Denken seiner Geistesarbeiter ein und konzentriert sich nicht nur auf die Literatur, sondern eben auch in großem Maße auf die Philosophie, deren zentralen in Kalifornien entstandenen Gedanken und Ideen das Buch nachspürt.

Das macht Heimweh im Paradies nicht nur für literaturgeschichtlich interessierte Leser der Werke von Volker Weidermann oder Uwe Wittstocks interessant, sondern ist auch für Anhänger von biographisch grundierter Philosophiegeschichte ein Gewinn, wie sie gegenwärtig etwa Wolfram Eilenberger verfasst.

Fazit

Auch wenn der Untertitel von Heimweh im Paradies allein Thomas Mann in den Mittelpunkt stellt, so ist Martin Mittelmeiers Buch doch mehr. Dokumentation der Wechselwirkungen, die die Denkerinnen und Denker in ihrem Exil in Kalifornien erzeugten, Einstieg die Werkgeschichte Manns ebenso wie in die Entstehung der Frankfurter Schule, theoriegesättigter Sprachprunk, der dabei doch auch leichtfüßig und erkenntnisreich ist. Das alles vermag Martin Mittelmeiers Buch zu leisten.


  • Martin Mittelmeier – Heimweh in Paradies
  • ISBN 978-3-7558-0033-0 (Dumont)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maike Albath – Bitteres Blau

Von Ermanno Rea bis Elena Ferrante, vom Overtourism bis zu Roberto Savianos Anklage gegen die Gomorrha: in ihrem Buch Bitteres Blau schließt uns die italophile Literaturexpertin Maike Albath die vielgestaltige Stadt nicht nur literarisch auf. Ihr gelingt eine wunderbare Einführung in das Wesen Neapels, die zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse gerade recht kommt. Schließlich ist Italien in diesem Jahr das Gastland der Messe und Albaths Buch die beste Vorbereitung auf Land und Leute am Golf von Neapel.


Wer eintauchen möchte in die vielfältige literarische Landschaft Italiens, für den sind die Werke von Maike Albath ein wunderbarer Führer und Wegbegleiter. Schließlich beschäftigte sie sich in ihren allesamt im Berenberg-Verlag erschienenen Büchern eingehend mit der Literaturszene des Landes, und das vom Süden in Sizilien bis hin in den Norden nach Turin.

Nachdem sie uns schon die Hauptstadt Rom aufschloss, ist es nur konsequent, sich nun endlich Neapel zu widmen. Schließlich prägend die Autorinnen und Autoren, die dieser Stadt entstammen, bis heute das Bild der italienischen Literatur.

Neapel und seine Gesichter

Fast am Ende widmet sich Maike Albath DER Autorin, die zuletzt Neapel wieder auf die literarische Landkarte hob, und das sogar weltweit. Die Rede ist von Elena Ferrante, um die sich – durch geschicktes Marketing und enthusiastische Leserstimmen bestärkt – das sogenannte Ferrante-Fieber entspann. Wer war die Autorin, die über Neapel und die Frauen in dieser Stadt schrieb? Die Kulturberichterstattung rätselte, die Bücher florierten und wurden vielfach gelesen, besprochen und empfohlen.

Maike Albath - Bitteres Blau (Cover)

Die Entstehung dieses Ferrante-Fiebers zeichnet Albath in einem ihrer zahlreichen im Buch versammelten Feuilletons nach, ebenso wie sie auch auf das Werk, dessen Bezüge und das Rätselraten um das Pseudonym Elena Ferrante eingeht. Gelungen schafft sie es, die Faszination dieser Autorin zu schildern und die wiederkehrende Motive und Fragen im Schaffen Ferrantes nachzuzeichnen, von Meine geniale Freundin bis hin zu Das lügenhafte Leben der Erwachsenen.

Aber nicht nur mit großen Namen der Gegenwart beschäftigt sich Maike Albath in ihren Texten. Auch die hierzulande so gut wie unbekannten Autorinnen und Autoren stellt sie auf den vorhergehenden Seiten ihres Buchs in den Mittelpunkt.

Matilde Serao, Curzio Malaparte und Elena Ferrante

Es sind Texte, die als Einführung in die Geschichte Neapels ebenso gut funktionieren, wie sie Türöffner in die Welt der Literat*innen in dieser Stadt sind. Hierzulande unbekannte Namen wie der von Ermanno Rea, der zunächst als Fotograf, dann als Autor zum Chronisten der Stadt Neapel wurde oder die produktive Kolumnistin und Autorin von über 70 Romanen, Matilde Serao, der Albath in der Kapitelüberschrift die Zuschreibung eines Vesuvs in Menschengestalt verpasst. Sie lassen sich in Bitteres Blau entdecken, ebenso wie ihr Buch zur Entdeckung von hierzulande nur semibekannten Namen wie Curzio Malaparte oder Domenico di Starnone einlädt.

In der ärmsten Stadt Italiens sind die Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit stets ebenso fließend wie die zwischen Jenseits und Diesseits. Und auch die Texte von Albath selbst sind es.

Was die bekannte Nusscreme der Firma Ferrero mit dem Overtourism in Neapel zu tun hat, lässt sich aus ihrem Buch ebenso erfahren wie der morbide erscheinende Brauch der „Heiligen Seelen im Fegefeuer“. Bei diesem adoptieren Bewohner des Viertels Sanita einzelne Totenschädel aus den unter dem Viertel gelegenen Katakomben, reinigten sie und pflegten sie als Symbol einzelner Seelen, die noch im Limbus des Fegefeuers verharren mussten. Ein paganer Ritus, der die in Neapel besonders ausgeprägte Faszination für das Jenseits untermauert, wie Albath in ihrem Buch zeigt.

Verwischte Grenzen

Bitteres Blau verwischt die Grenzen zwischen Soziologie, Literaturgeschichte, Porträts, urbanen Erkundungen und Gesellschaftsanalyse. Bestes Beispiel ist Albaths Feuilleton über Roberto Saviano. In diesem schildert sie seine schriftstellerische Karriere, die mit Enthüllungen über die Camorra begann und die ihm seine Freiheit kostete und ständigen Polizeischutz bescherte. Darüber hinausgehen widmet sie sich aber auch den von Saviano adressierten Problemen des Organisierten Verbrechens, das nicht nur Neapel die Stadtviertel durchdrungen hat.

Immer wieder gelingen ihr in ihren Texten Querbezüge, etwa wenn sie im letzten Kapitel des Buchs die Buchhandlung Dante & Descartes und ihren Besitzer Raimondo di Maio porträtiert. Diesem gelang nicht nur das Kunststück, als einziger in Italien einen Gedichtband von Louise Glück im Portfolio zu haben, als diese den Literaturnobelpreis errang. Auch war und ist die Buchhandlung unter di Maio ein literarischer Taktgeber und Kommunikationsort, den unter anderem auch Roberto Saviano nutzte, um von dort Fahnen zu verschicken und der dort auch Kenntnis von der Bedrohung seines Lebens erhielt, den die zuvor abgesendeten Fahnen und das schlussendlich gedruckte Buch über die Camorra fortan für ihn bedeuten sollte.

Fazit

So webt Maike Albaths einen kenntnisreichen und neugierig machenden Teppich voller Geschichte, Geschichten und Verweisen, der in seiner Vielgestaltigkeit der mindestens ebenso vielgestaltigen Stadt Neapel Rechnung trägt. Bitteres Blau macht Lust, die Gassen Neapels zu erkunden und tiefer in das literarische Gewirr und Durcheinander dieser Stadt einzutauchen, durch das Maike Albath hier so kundig zu führen weiß!


  • Maike Albath – Bitteres Blau: Neapel und seine Gesichter
  • ISBN 978-3-949203-90-9 (Berenberg)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €
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Anne Weber – Bannmeilen

Erkundung in der Peripherie. Anne Weber begibt sich auf Spaziergänge an den Außenrändern von Paris – und entdeckt eine Welt, die im krassen Gegensatz zum Chic der französischen Hauptstadt steht. Zusammen mit ihrem Reisegefährten Thierry durchstreift sie die Banlieues, jene Außenbezirke von Paris, in die es Touristen eher weniger verschlägt. Auf ihren verschriftlichten Erkundungen namens Bannmeilen entdeckt sie dabei Kosmen, die das heutige Frankreich in seiner ganzen Zerrissenheit wenigstens ein bisschen besser verstehen lassen.


Das „Neun-Drei“ hat es Anne Weber angetan. So wird jenes im Nordosten von Paris gelegene Département nach seiner Nummerierung geheißen, das eigentlich auf den Namen Département Saint-Denis hört. Es ist eine Welt für sich, die sich Anne Weber dort auftut. Fast sechshundert Kilometer wird am Ende die Strecke messen, die sie bei ihren Streifzügen durch die Welt von „le neuf-trois“ zwischen Bobigny, Saint-Denis und Noisy-le-Grand zurückgelegt haben wird.

Diese Spaziergänge oder Streifzüge, wie sie der Untertitel dieses Romans nennt, unternimmt Anne Weber allerdings nicht alleine. Gefährte der Übersetzerin und Autorin ist Thierry, gewissermaßen ein Ureinwohner von Neun-Drei. „Viel gereist und zugleich aus dem Neun-Drei nie herausgekommen“ sei er, wie es in der dem Buch vorangestellten Vorstellung von Thierry heißt. Der Vater von algerischer Abstimmung, er selbst von seiner Geburt an bis in die Gegenwart hinein immer seinem Département verbunden, ist er der perfekte Gefährte für die Erkundungen, die Anne Weber zusehends faszinierter anstrebt.

Auf Erkundung in Neun-Drei

Thierry treibt ein Filmprojekt um, das die massiven Umgestaltungen und Eingriffe in das Erscheinungsbild von Neun-Drei dokumentieren soll, die die Olympischen Spiele im Sommer 2024 mit sich bringen werden. Und Anne Weber beschäftigt die Frage , warum sie sich bislang immer nur gewissermaßen im geschützten Inneren von Paris aufgehalten hat und den Gang über diese von der Stadtautobahn Périphérique so klar umrissenen Welt hinaus nie gewagt hat.

Anne Weber - Bannmeilen (Cover)

Zusammen beginnen die beiden also nun mit den Erkundungen der Banlieues, durchmessen mal trostlose Hochhaussiedlungen, mal steppenähnliche Flächen, die nur von der Stadtautobahn N2 durchschnitten werden. Mal thronen wie hingeworfene Hypermarchés in der Einöde, mal entdecken die beiden ein Geflüchtetenlager draußen in der Peripherie.

Bannmeilen dokumentiert mit viel Beschreibungskraft und dem Auge fürs Detail die Spaziergänge, die die Erzählerin und Thierry immer wieder an unterschiedliche Orte bringen. Stets gibt es dabei Konstanten und Muster, in die beide immer wieder verfallen und von denen sie begleitet werden. Neben der Neugier, der Ironie und dem Spott zwischen Thierry und Anne Weber als stetem Begleiter bei allen Erkundungen sind es auch Verhaltensweisen, die auf ihren Ausflügen bald zur Routine zwischen den beiden werden.

Erkundungen zwischen Brutalismus und Hähnchengrill

So liest Weber bei ihren Ausflügen immer wieder unterschiedliche Fundstücke auf, die ihr neben den Notizen als Erinnerungen an die Ausflüge zu dienen. Auch kehren die beiden Flaneure immer wieder in der Kneipe von Rachid ein, dessen Kosmos an eigenwilligen Gästen sich für die beiden ebenso öffnet wie die Welten, durch die sie spazieren und von denen Weber uns erzählt.

Es sind Welten zwischen Hoffnungslosigkeit und gesellschaftlicher Abgrenzung, Welten zwischen dem kalten Brutalismus einer Wohnanlage „Les Espaces d’Abraxas“ in Noisy-le-Grand und dem Viertel von Saint-Ouen, in dem man sich fast schon wieder in Paris wähnen könnte.

Dabei dokumentiert Bannmeilen vor allem einen Bild des Durcheinanders und Nebeneinanders auf kleinem Raum. Moscheen, Synagogen, tamilische Communitys, Schwarzafrikaner oder Menschen aus Maghreb-Staaten, dazu große Supermärkte und kleine Cafés, gigantische Wohnblöcke mitsamt winziger Balkone, Drogen, zu Hähnchengrills umfunktionierten Einkaufswagen, viel Schutt und immer wieder Autobahnen, die die Gebiete durchschneiden.

Es ist ein Bild der Uneinheitlichkeit, das auch eine soziologische Note besitzt, etwa wenn Weber die Koexistenz unterschiedlichen Einwanderergruppen beschreibt, die sich trotz der räumlichen Enge gegenseitig abgrenzen, oder vom Erbe des Kolonialismus in Algerien erzählt, der bis heute auf die französische Gesellschaft einwirkt. So lassen sich die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte in Frankreich, die Verachtung und Ignoranz für die Banlieues und die sich im Kreis drehenden gesellschaftlichen Debatten über diese Welten nach der Lektüre von Webers Erkundungen zumindest in Ansätzen etwas besser verstehen.

Ein Marathonläufer, chouffeurs – und ein wenig Monotonie

Verbunden wird all das mit Leitmotiven wie dem vergessenen algerische Marathonläufer Boughéra El Ouafi, dessen Spuren sie auf ihren Streifzügen durch die Viertel immer wieder begegnen oder den chouffeurs, jenen Alarmposten, die sich über akustische Meldeketten verständigen, um das Nahen von Polizei in den Banlieues anzukündigen. So entstehen in Bannmeilen ein dichtes Beschreibungsbild jener terra incognita außerhalb der périphérique, das sonst meist nur in Klischees und Zerrbildern existiert.

Dass das Ganze dabei abgesehen vom beschriebenen Inhalt in seiner Form nicht recht abwechselt, sich Spaziergang an Spaziergang mit immergleichen Ritualen und viel Frotzeleien reiht, macht das Buch neben aller blicklichen und beschreibenden Genauigkeit zugleich etwas gleichförmig, um nicht zu sagen monoton.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, der bekommt mit Anne Weber eine neugierige und genaue beobachtende Reiseleiterin in diese Welt im Nordosten Paris, die mit ihren Schilderungen nicht nur die so unterschiedlichen Lebenswelten dort beleuchtet, sondern zugleich auch eine Welt im Untergang dokumentiert, die spätestens nach den Olympischen Spielen in wenigen Monaten endgültig Geschichte sein wird.


  • Anne Weber – Bannmeilen
  • ISBN 978-3-7518-0955-9 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 301 Seiten. Preis: 25,00 €
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