Category Archives: Sachbuch

Roger Deakin – Wilde Wälder

Holz sieht sehr schön aus, Holz ist vielseitig

Du kannst es verbrennen, du kannst es sägen

Ja, wenn du es verbrennst, dann spendet es Wärme

Ich und mein, ich und mein Holz

Songtext „Holz“ der 257ers

Die einen widmen dem Holz ein Lied, die anderen schreiben Bücher über den Wunderstoff. Fällt die deutsche Band 257ers in die erste Kategorie, so ist der Brite Roger Deakin der zweiten Kategorie zuzuschlagen.

Im Jahr 2018 erschien nach dem Logbuch eines Schwimmers seine zweite Publikation in der Reihe Naturkunden des Berliner Verlags Matthes und Seitz. Tragischerweise konnte Roger Deakin diese Veröffentlichung selbst gar nicht mehr miterleben. Der Brite starb kurz nach der Vollendung des Manuskripts im Jahr 2006.

Das Buch versammelt Erinnerungen, Erlebnisse und Asssoziationen rund um das Thema Holz, das auf Deakin einen ganz eigenen Reiz ausübte. So stellt er im Vorwort seines Werks im Bezug auf sich selbst fest:

Ich bin ein Woodlander; in meinen Adern fließt Baumsaft.

Deakins, Roger: Wilde Wälder, S. 8

Diese Faszination für das Element Holz, sie trieb Deakin zeitlebens um. Eindrucksvoll legt er davon in seinem Buch Zeugnis ab. Ausgehend von seinem Zuhause in Suffolk nimmt Deakin die Leser*innen mit in die Welt der Bäume und Hölzer. Er gliedert sein Buch dabei in vier Teile. Deakin hat sie Wurzeln, Splintholz, Treibholz und Kernholz getauft.

Holz und Vorurteil

Ähnlich wie bei einem Baum beginnt auch bei Deakin alles mit den Wurzeln. Bei ihm ist jene Wurzel seine Heimat im englischen Landstrich Suffolk. Von dort treibt ihn seine Faszination immer wieder und immer weiter aus. Zunächst spürt er dem Holz und den Menschen in seiner englischen Umgebung nach, neugierig, ohne ideologische Scheuklappen. Holz und Vorurteil quasi, könnte man unter Verballhornung eines anderen englischen Klassikers sagen.

Holzskulptur von David Nash

Er besucht eine Furnier-Werkstatt in Coventry, in der die Furniere für die Innenausstattung von Jaguaren zurechtgeschnitten werden. Er betätigt sich als Kulturhistoriker und beschreibt die Tradition des Gallapfeltages, eines Tags, an dem seit dem Mittelalter der Bevölkerung eines Dorfs erlaubt wurde, in den Wäldern Feuerholz zu sammeln. Er besucht den Künstler David Nash, der Holz als Werkstoff für seine Skulpturen und Installationen ganz neu definiert. Über all diese Ausflüge und Beschreibungen bekommt man hier schon einen Eindruck, welche Bedeutung Holz nicht nur für die englische Bevölkerung stets hatte und hat.

Zudem zitiert Deakin in seinen Reportagen und Texten auch immer wieder berühmte Dichter und Denker und zeigt, wie auch in deren Schaffen das Holz Einzug hielt. So finden sich Zitate von Shakespeare, Jonathan Swift bis hin zu Thomas Hardys Roman Die Woodlanders, der einen großen Einfluss auf Roger Deakin ausübte.

Immer weiter treiben ihn seine Erkundungen zum Thema Holz hinaus. Im Kapitel Treibholz ist es schließlich sogar Kirgistan, wohin es den Abenteurer verschlägt. Dort begibt er sich auf die Spur alter Walnussbäumen. In anderen Texten informiert er über die Ursprünge der Äpfel, reist mit Freunden in die Karpaten und Pyrenäen. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den facettenreichen Erkundungen, an denen er die Leser*innen teilhaben lässt.

Eine Hymne auf das Holz

Wilde Wälder (übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers) ist eine vielstimmige Hymne auf den Stoff Holz, den Edward Thomas einst das fünfte Element nannte. Durch sein Buch ruft Roger Deakin wieder eindrücklich ins Bewusstsein, was Holz eigentlich bedeutet. Aus ihm entstehen Behausungen, es spendet Kraft und Ruhe, Bäume bedeuten Nahrungen, Arbeit und Leben – und nicht zuletzt sind sie Grundlage unseres ganzen Ökosystems. Dafür sensibilisiert Wilde Wälder, wobei man Deakin dabei auch die ein odere andere Abschweifung zu viel gerne nachsieht.

Neben dem Farbschnitt und dem passenden Umschlag wird das Buch auch nicht zuletzt durch einen tollen gestalterischen Kniff aufgewertet: vor jedem neuen Kapitel ist der gerade passende dendrochronologische Baumschnitt gesetzt. So sieht man die Kambiumsschichten von Ulme, Berg-Ahorn, Buche oder einer echten Feige. Eine stimmige Gestaltungsidee, die das Buch abrundet und eine sinnige Fortführung von Text und Bild darstellt. Typisch Naturkunden eben.

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Herbert Kapfer – 1919 | Fiktion

Zeitgeschichte im Remix

Wie soll und kann man von Geschichte erzählen? Herbert Kapfer versucht sich in seinem Buch 1919 – Fiktion als eine Art literarischer DJ. Er sampelt verschiedenste Quellen und Augenzeugenberichte, um den Leser*innen die ganze Fülle an Ereignissen aus jenen Revolutionsjahren 1918/19 zugänglich zu machen. Eine sinnvolle Herangehensweise, denn anders ist diesem epochalen Wendepunkt in der deutschen Geschichte kaum beizukommen.

Zwar kennt man durch den Schulunterricht so manche Gedenktage und historische Personen. Auch das im letzten Jahr verstärkt einsetzende mediale Erinnern an die Ereignisse vor hundert Jahren hat einige historische Landmarken wachgerufen. Doch wie geballt Revolutionen, Räterepubliken, Kriegsnachwehen, Morde und politische Grabenkämpfe in dieser so kurzen Zeitspanne auftraten, das wird bei der Lektüre von 1919 eindrücklich erfahrbar.

Revolution, Anarchie, Räterepublik, Freikorps

Plakat zur Räterepublik in Bayern von Siegmund von Suchodolski: Raus mit euch! Bei ons gibt’s koa Anarchie!

Kapfer erzählt in fünf Teile aufgesplittet von den Ereignissen, die ausgehend vom Kriegsende 1918 zu jenen Revolutionsereignissen 1919 führten. Der Matrosenaufstand 1918 in Kiel steht am Anfang jener Ereigniskette, dem schon bald die Herrschaft von Arbeiter- und Soldatenräten im Deutschen Reich folgten. So ist die Räterepublik in Bayern und die Ermordung Kurt Eisners ein Thema im Buch, das einen großen Platz einnimmt. Auch andere spektakuläre Morde finden in Augenzeugenberichten Niederschlag – so etwa die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch eine militärische Truppe . Von Weimar bis Berlin, von München bis ins Baltikum reichen die Schauplätze, die Kapfer durch die Augenzeugenberichte und Tagebücher einfängt..

Dabei ist jedoch der Begriff der Autorenschaft im Fall von 1919 ein kniffliger Fall. Denn Kapfer selbst stellt im Nachwort seines Buchs klar

1919 setzt sich aus Texten zusammen, die zwischen 1918 und 1938 veröffentlich worden sind – ausgenommen die Zeilen von Heiner Müller. Alles ist Zitat, bis auf etwa fünfzig Wörter, die in der Titelei von mir eingefügt wurden. Orthographie, Interpunktion und Grammatik wurden unverändert beibehalten. Auslassungen, Umstellungen, auch innerhalb einzelner Sätze, nicht gekennzeichnet.

Kapfer, Herbert: 1919, S. 411

So ist 1919 eigentlich eine Collage voller Fremdtexte, bei denen die Kunst darin besteht, diese so miteinander zu verfugen und zu verzahnen, wie es Kapfer in seinem Werk tut. Dass er hierbei einige Kunstfertigkeit erlangt hat, das erklärt auch ein Blick in seinen beruflichen Werdegang. So leitete Kapfer bis 2017 die Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Und auch als Buchautor sammelte er mit dieser Art von Erinnern und Erzählen schon Erfahrung. So verarbeitete er zusammen mit Lisbeth Exner bereits die Jahre 1914 und 1915-1918. Hierbei erzählten die Autor*innen, indem sie aus über 240 verschiedenen Tagebüchern zitierten und so durch Primärquellen einen unmittelbaren Eindruck des Ersten Weltkriegs und dessen Auswirkungen erschufen. 1919 ist da nur die konsequente Fortschreibung dieser Art von Erinnungsarbeit (wenngleich Lisbeth Exner hier nur als Mitarbeiterin im Nachwort Dank erfährt und nicht als Co-Autorin fungiert. Zudem erscheint das Werk nun bei Kunstmann statt bei Galiani).

Wie bei den anderen Büchern Kapfers drängt sich auch hier der Vergleich mit Walter Kemposwkis Echolot auf. Ganz ähnlich zu dem Mammutwerk Kempowskis fängt der Autor hier polyphon die Stimmen von ganz unterschiedlichen Zeitgenossen ein. Von Dada (Hugo Ball und Richard Huelsenbeck) über militärische Berichte (Ludwig von Reuter) bis hin zu den Romanen und Erinnerungen großer Literaten (Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Erich Mühsam) reicht die Bandbreite in Kapfers Collage. So fließen auch Zeitungsmeldungen, Militärmeldungen und zeitgenössische Fotografien in das Werk ein. Den Mittelteil des Buchs bildet dann ein Theaterstück Karl Polenskes, der darin seinen Mitrat Silvio Gesell porträtiert und karikiert. Jener wollte nämlich in seiner Funktion als Finanzminister in der Münchner Räterepublik die Freiwirtschaftslehre einführen – ein Vorhaben, das Gesell eine Amtszeit von ganzen sieben Tagen bescherte.

Viele Quellen – viele Stimmen

Das alles verschafft einen umfassenden Eindruck jenes Revolutionsjahrs – und ist doch so Manches auch mühsam zu lesen. Einige Texte wirken frisch und manchmal gar von großer Komik (großartig beispielsweise Tollers Schilderung eines geplanten Flug nach Leipzig), andere sind durchaus anstrengend, besitzen einen antiquierten Stil, wirken manchmal zu nüchtern, dann wieder zu überladen. Ein einheitliches Lesegefühl stellt sich kaum ein, zu heterogen sind die Quellen, sowohl in thematischer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Hier sprechen viele Quellen und somit auch viele Stimmen – die einen angenehmer, die anderen etwas gewöhnungsbedürtiger.

Kapfer verzichtet dabei auf eine Nennung seiner Quellen im Text. Erst im Anhang offenbart sich, von welchem Autor welche Zeilen stammen. Das ist manchmal ein reizvolles Rätselraten – mir wäre eine direkte Nennung der Quellen jedoch deutlich lieber gewesen. So ist man ständig am Zuordnen, muss schauen, von wem jetzt wieder die Rede ist, wer gerade erzählt, und wie das Ganze einzuordnen ist. 1919 fordert permanent und ließ mich oftmals pausenlos zwischen der Bibliographie im Anhang und dem eigentlichen Text springen.

Eine gefällige Präsentation von Zeitgeschichte im Stile eines Florian Illies oder Volker Weidermann ist 1919 somit weniger und will es auch nicht sein. Das Buch ist eine große Fundgrube für historisch Interessierte, ein Buch, das schon lange vergessene Gestalten wie einen Max Hoelz oder Eduard Stadtler wieder in Erinnerung ruft. Eine polyphone Collage, die versucht, das Revolutionsjahr 1919 mit all seiner Anarchie, seinen politischen Entwicklungen, seiner Bedeutung einzufangen- und das gelingt ihm auf alle Fälle!


Auch das Kulturjournal Titel, Thesen, Temperamente hat sich mit dem Buch und seinem Verfasser beschäftigt. Den Beitrag dazu findet man hier

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Jürgen Goldstein – Die Entdeckung der Natur

Etappen einer Erfahrungsgeschichte

Die Reihe Naturkunden zählt in Hinsicht Form und Funktion zum Schönsten, was man momentan auf dem deutschen Buchmarkt so findet. Als Herausgeberin und zugleich Gestalterin ist Judith Schalansky für die Reihe verantwortlich. Den Inhalt liefern verschiedene namhafte Autoren wie etwa Eva Meijer, Robert MacFarlane oder Jean-Henri Fabre. Die Themen dieser bei Matthes & Seitz verlegten Reihe sind so vielfältig wie die Natur selbst, die in diesen Büchern abgebildet wird. Egal ob Nashörner, Symbiosen, Algen oder verlorene Wörter aus dem Bereich Flora und Fauna – zu fast allen Themen der zoologischen und botanischen Welten gibt es hier erkenntnisreiche Bücher.

Wie man diesen einleitenden Worten vielleicht entnommen hat: auch ich bin ein großer Freund dieser außergewöhnlichen Reihe. Daher habe ich mich ad fontes aufgemacht und mich einem der ersten Bände dieser Reihe gewidmet. Genauer gesagt ist es der Band 3 der Naturkunden, der hier im Mittelpunkt stehen soll. Es handelt sich um das Werk Die Entdeckung der Natur – Etappen einer Erfahrungsgeschichte von Jürgen Goldstein. Goldstein lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau und begegnete mir zum ersten Mal vor zwei Jahren. Damals stand sein Buch Blau – Eine Erfahrungsgeschichte auf der Nominierungsliste für den Bayerischen Buchpreis. Zwar bekam das Buch damals nicht den Preis verliehen – persönlich hätte ich ihm den Preis allerdings zugesprochen.

Das damalige Leseerlebnis weckte in mir den Wunsch nach mehr Literatur von Goldstein, da er sich in seinem Werk als kenntnisreicher, fein beobachtender und auch literarisch sehr versierter Autor zeigte, der in seinem Buch einen vielgestaltigen Zugang zu seinem Thema schuf. Auch in die Entdeckung der Natur gelingt ihm das einmal mehr.

Der Mensch macht sich die Natur untertan

Die Grundidee hinter seinem Buch ist die Frage, wie der Mensch die Natur im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Wie hat sich die Wahrnehmung geändert – und welche Faktoren haben das beeinflusst? Goldstein geht dieser Frage nach, indem er ausgehend vom 14. Jahrhundert mit der Besteigung des Mont Ventoux durch den Dichter Petrarca den Bogen bis in die Neuzeit schlägt, hin zu Personen wie Reinhold Messner und Chris McCandless.

Diesen Bogen schafft er, indem er sich 17 Episoden aus der Geschichte herausgreift, an denen sich beispielhaft ein wandelnder Blick auf die Natur ablesen lässt. Er nimmt berühmte und weniger berühmte Menschen in den Blick, die besondere Naturerfahrungen erlebten, und die diese dann in Berichten festhielten, darunter etwa Georg Forster oder Peter Handke. Goldstein gelingt in seinen Episoden eine stimmige Mischung aus Nacherzählung und Originalberichten, die uns als Leser die damaligen Erfahrungen und Erlebnisse nacherleben lässt.


Humboldt und Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo, Gemälde von Friedrich Weitsch (1810)

Zu den von ihm geschilderten Episoden zählt die Besteigung des Brockens durch den Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1777. Aber auch die Besteigung des Matterhorns durch Edward Whymper, die Reise Maria Sybilla Merians nach Surinam oder die fast geglückte Besteigung des Chimborazo durch Alexander von Humboldt 1802 sind Thema. Generell lässt sich festhalten, dass Goldstein eine maximale Bandbreite an Reise- und Erlebniserfahrungen einfängt. Von Bergbesteigungen bis zu Reisen in exotische Länder wie Amazonien, von Eiswüsten bis hin nach Tahiti. Würden Bücher Bonusmeilen sammeln, der Entdeckung der Natur wäre ein Platz in der Senatourlounge gewiss.

Erkenntnisreiche Episoden mit Kreisschluss

Diese oben schon angesprochene Mischung aus Originalberichten und Nacherzählung ist eine gute Idee, da sie eben ad fontes zu den Eindrücken der Menschen vordringen lässt. So zeigt Goldstein, wie die ersten Wahrnehmungen der großen Entdecker noch stark vorbelastet waren vom eigenen Wissensstand der damaligen Zeit. So konnte Kolumbus seine Entdeckungen rational und sprachlich nur unzureichend verarbeiten – zu verstellt war der eigene Blick. Doch das Sensorium der Menschen wandelte sich im Lauf der Zeit – bis man wieder bei sich selbst ankam.

Eindrucksvoll illustriert Goldstein den Kreis, den die Wahrnehmung der Natur schloss. Galt eins das Streben nach Erfahrung und Eroberung der Natur als verrufen (der Kirchenvater Augustinus drängte darauf, dass die wahren Wunder in uns Menschen lägen), so setzte ab dem 14. Jahrhundert eine gegenläufige Entwicklung ein. Berge wurden bezwungen, Meere überquerte, neue Länder entdeckt. Doch spätestens mit der Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff durch Reinhold Messner waren alle möglichen unerkannten und unmöglichen Entdeckungen hinfällig geworden. Alles ist zur Variation und Wiederholung geraten. Goldstein konstatiert:

Der Kreis schließt sich. Der Mensch ist bei seinem Vordringen in die Natur wieder bei sich selbst angekommen. Hatter er vor der allmählichen Entdeckung und Erschließung der Natur, wie sie mit Petrarca eingesetzt haben mag, zu wenig von ihr gekannt, scheint er nun zu viel von ihr gesehen zu haben. Hatten die ersten Entdecker noch vor lauter Büchern im Kopf kaum etwas anderes aufnehmen können als das, was sie bereits wussten, sind es nun die imaginierten Bilder, die wir von den entlegensten Erdteilen besitzen, die sich vor die Wahrnehmung schieben und die Frische von tatsächlichen Eindrücken verderben. Die Südsee? Zum Klischee verkommen. Die schneebedeckten Berge? Ein Panorama für Skifahrer.

Goldstein, Jürgen: Die Entdeckung der Natur, S. 273

Geschickt montiert, nachgerade brillant

Die Entdeckung der Natur steckt voller Erkenntnis. Welche Gedanken befielen die Entdecker*innen damals? Was ließ sie zweifeln, war zu immer neuen Ufern aufbrechen? Die Episoden sind klug gewählt. Goldstein gelingt es, diese Schlaglichter auch in einen übergreifenden Kontext gut einzubetten. Seine Nacherzählungen sind hochspannend, im Zusammenwirken mit den Originalberichten entwickeln sie oftmals eine hypnotische Wirkung, nachgerade brillant. Besonderes Highlight für mich waren die Schilderungen der Chimborazo-Besteigung durch Alexander von Humboldt und Fridtjof Nansens Arktisexpedition. Meisterhaft, wie Goldstein uns auf die Berge und in die Extremgebiete dieses Planeten mitnimmt.

Die Entdeckung der Natur ist daneben auch ein Buch, das meinen eigenen ästhetischen Horizont wirklich geweitet hat. Das Buch weckte neue Lust auf die Reiseberichte der behandelten EntdeckerInnen, auf ihre Schriften und ausführlichere Biographien. Vor allem Alexander von Humboldts Schriften werden vielleicht auch auf diesem Blog noch ein Thema sein, nicht zuletzt, da dieser große Entdecker in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag feiern würde. Goldsteins Buch bietet hierfür eine wunderbare Einführung. Dass es ebenso toll gestaltet ist, muss bei dieser Reihe nicht eigens erwähnt werden.

Oder um es kurz zu machen: auch dieses Buch selbst ist eine Entdeckung!

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Gottlieb Mittelberger – Reise in ein neues Leben

Zunächst muss ich mich hier erst einmal in aller Öffentlichkeit leicht revidieren. Vor einigen Wochen schrieb ich eine hymnische Besprechung für Christian Torklers Der Platz an der Sonne. Diese großartige Umkehr der bekannten Flüchtlingsroute von Deutschland nach Afrika inklusive aller Unwägbarkeiten übte eine große Faszination auf mich aus. Diese Idee und das damit verknüpfte Schicksal des Flüchtlings Josua Brenner begeistert mich immer noch uneingeschränkt – allerdings muss ich heute feststellen, dass Torklers Geschichte so neu nicht ist.

Ein Deutscher, der sich entschließt auszuwandern und auf einem anderen Kontinent sein Glück zu suchen. Der seines Lebens in Deutschland überdrüssig ist und in einem anderen Land auf bessere Bedingungen und wirtschaftlichen Erfolg hofft – Wirtschaftsflüchtling möchten da einige brüllen. Der auf Schleußer setzt, um über den Großen Teich überzusetzen. Und der anschließend in der deutschen Ausgewanderergemeinde auf Aufnahme hofft.

Alles andere als neue Themen, wie der Bericht Reise in ein neues Leben von Gottlieb Mittelberger zeigt. Wie alt dieses Thema ist, das illustriert schon die Vorrede zu Mittelbergers Bericht:

Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, HERRN CARL, Herzogen zu Württemberg und Teck, Grafen zu Mömpelgard, Herrn zu Heidenheim und Justingen, etc., Ritter des goldenen Vließes: und des Löbliche Schwäbischen Krieges General-Feldmarschalln, etc. Meinem gnädigsten Fürsten und Herrn, übergibt in tiefster Submission nunmehro in einer verbesserten Gestalt gegenwärtige geringe Schrift, welche Euer Hochfürstliche Durchlaucht noch in Manuskript zum Teil anzuschauen gnädigst gewürdiget haben, und recommendieret sich zu fürwährender höchster Fürstlicher Gnade und Hulden.

Mittelberger, Gottfried: Reise in ein neues Leben, Zuwidmung

Nun, das nenne ich mal ein Vorwort. So etwas würde ich ja gerne heute auch mal in einem Roman lesen, aber wir schweifen ab.

Tatsächlich gibt der Ton, die beschriebenen Adelstitel und die Grammatik schon Hinweis, wann sich dieses Flüchtlingsschicksal abgespielt hat. Fast vor 300 Jahren nämlich, genauer gesagt im Jahr 1754. Dann machte sich Mittelberger auf, um von Amsterdam aus mit einem Schiff nach Amerika überzusiedeln.

Flucht nach Amerika

Er sollte eine Orgel nach Pennsylvania (oder wie es Mittelberger im damaligen Duktus nennt: Pennsylvanien) überführen – doch er entschloss sich, gleich dort in Amerika zu bleiben. In der von deutschen Auswanderern geprägten Gemeinde wollte sein Glück zu versuchen und einen Neuanfang wagen. In seiner Heimat in Enzweihingen drohte ihm nämlich wegen der Belästigung und Nötigung von Frauen der Prozess. Da bot sich der Neustart in Amerika natürlich an.

Ein Wunsch, der ihn mit vielen anderen Schwaben und Pfälzern verband, die in großen Mengen die im 18. Jahrhundert die Flucht nach Amerika antraten. Insgesamt kamen in diesem Jahrhundert fast 200.000 Deutsche nach Amerika. Die Motive waren vielfältig: politische Verfolgung, Hungersnot oder einfach der Wunsch nach wirtschaftlicher Verbesserung. Motive also, die uns auch heute noch sehr bekannt vorkommen, und die wohl immer die Menschen umtreiben werden. Und die man wohl auch nie in Gänze beseitigen kann.

Generell ist es verblüffend, wie bekannt einem viele Passagen aus diesem Bericht vorkommen. Ertrunkene Menschen während der Schiffsreise? Ablehnung der einheimischen Bevölkerung der Zuwanderer, die sich oftmals abschotten und eigene Sprache und Bräuche pflegen? Alles andere als neu, wie dieser Bericht eindrücklich zeigt.

Auf dem Weg nach Pennsylvanien

Originaltitelblatt von Mittelbergers Bericht

Mittelbergers Bericht gliedert sich in zwei Teile, beide eindringlich auf ihre Art und Weise. Zunächst erzählt Mittelberger von der Reise nach Amerika, die er zusammen mit etwa „400 Seelen, Württemberger, Durlacher, Pfälzer und Schweizer, etc.“ (S. 30) antrat und die ihn von Rotterdam über England nach Philadelphia brachte. Neben dem Preis für eine solche Reise und die Unwägbarkeiten, bis man sich an Bord wiederfand, ist vor allem die Beschreibung der Zustände an Bord erschütternd.

Die Enge an Bord, der ständige Hunger, die Unterversorgung und der stets präsente Tod. Man hätte wirklich nicht tauschen wollen, wenn man liest, was Mittelberger zu berichten weiß. Er erzählt von Müttern, die man wegen Komplikationen bei der Geburt ins Meer wirft. Genauso wie zahlreiche Kinder, die während der Reise umgekommen sind und die man dem Meer übergibt. Skorbut, Krätze, Mundfäule oder Geschwüre – der Transit fordert allen hohe Opfer ab.

Weiter geht es dann an Land. Familien werden auseinandergerissen. wer die Überfahrt nicht komplett entlohnen kann, wird versklavt. Mütter, Väter, Kinder – sie alle werden als Arbeitskräfte gerne gebraucht. Im Hafen herrscht ein wirklicher Menschenbasar, bei dem die Flüchtlinge geradezu verschachtert werden.

In Pennsylvanien

Der zweite Teil des Berichts beschreibt dann die Eigenheiten Pennsylvanias. Mittelberger erzählt von der Flora und Fauna, den Indianerstämmen oder auch den Tieren, die den Staat bevölkern. Er berichtet vom Rechtssystem und juristischen Präzendenzfällen, die ihm zugetragen wurden.

Vier Jahre verbringt er insgesamt in Pennsylvanien, ehe ihm auch dort aufgrund von Vergehen der Prozess droht. Oder wie es der Pfarrer der Gemeinde beschreibt, in der Mittelberger als Organist angestellt war:

[Er benahm sich] gegen eine ledige Frauenperson so … sündlich und höchst ärgerlich … dass Er künftig hin unwürdig ist, die Orgel in der Kirche zu berühren und die Jugend in der Schule zu unterrichten.

Mittelberger, Gottlieb: Reise in ein neues Leben, Vorwort

So tritt er wieder die Flucht nach Hause an, wo Frau und Kinder auf ihn warten. Er verfasst diesen Reisebericht für den Herzog von Württemberg, wovon auch das Vorwort zeugt. Schließlich hatte dieser auch ein Interesse daran, seine Untertanen von der gefahrvollen Reise und den Lebensumständen in Amerika zu warnen. Wollte er doch seine Mitmenschen von der Emigration abhalten.

Auch heute noch aktuell

Auch wenn sich manche Beschreibungen Pennsylvanias heute kurios ausnehmen: Besonders der Teil der Seeüberfahrt berührt und zeigt, wie Menschen schon immer Gefahren auf sich genommen haben, um ein besseres Leben zu suchen. Mag es nun das Jahr 1753 sein, oder das Jahr 2018. Die Gier nach Glück ist allen Menschen zueigen, das zeigt auch Mittelbergers Bericht einmal mehr sehr eindrücklich.

Dieses Streben einzuhegen und in Bahnen zu lenken. Fluchtursachen zu bekämpfen, gleiche Lebensumstände herzustellen. Dazu hätte man nun wirklich schon Jahrhunderte Zeit gehabt. Aber die Gefälle wird es immer geben – und Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, diese Gefälle irgendwie zu bezwingen. Das lehrt uns Reise in ein neues Leben.

Muss ich noch dazu erwähnen, dass das Buch wirklich herausragend gestaltet ist (farbiger Buchschnitt, eingeprägtes Verlagsemblem, toller Satz, Vorsatzpapier, ergänzendes Vorwort, Literaturapparat)? Wohl kaum. Denn wer den Verlag Das kulturelle Gedächtnis kennt, der weiß, dass sie und ihn hier ganz hohe Buchkunst erwartet.

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Thomas Meyer – Trennt euch!

Dieses Ende wird ein Anfang sein

Der Schweizer Thomas Meyer plädiert in seiner Streitschrift für mehr Trennungen. Denn entweder es passt, oder es passt nicht. Wenngleich seine provokante These Widerspruch hervorrufen sollte – ich kann ihm nur beipflichten.

Die Essenz seines knappen Büchleins steht dabei schon im Klappentext von Trennt Euch:

  1. Entweder es passt oder es passt nicht
  2. In den meisten Fällen passt es leider nicht
  3. Wenn es nicht passt, dann wird es nie passen
  4. Wenn es nicht passt, dann leiden Sie
  5. Wenn Sie leiden, müssen Sie gehen
  6. Das Leben ist sehr kurz.

Auf diesem Grundgerüst aufbauend untersucht Meyer in seinen Kapiteln, wann eine Beziehung zum Scheitern verurteilt ist. Die Überordnung ergibt sich dabei aus den Stadien einer Trennung. Von den Vorbedingungen, der Trennung selbst und der Zeit danach berichtet Meyer und nimmt dabei eine Gegenposition zu all den Ratgebern ein, die Durchhalten und Kämpfen propagieren.

Denn für Thomas Meyer ist klar – wenn es nicht passt, dann wird es auch nie passen. Zu verschieden sind die Menschen und ihre Anlagen, als dass sich unterschiedliche Charaktere auf ein jahrelanges Zusammenleben ohne Konflikte, Streit und Verletzungen einlassen können.

Das Problem liegt im Konjunktiv

Für ihn beginnt das Übel dabei sehr nachvollziehbar mit dem Konjunktiv. Und zwar, solange man sich einredet, dass doch alles wunderbar sein könnte, wenn man den Partner doch nur ändern könne oder dies oder jenes verbessern würde. Dieses Wunschdenken ist weder zielführend noch produktiv. Denn für Meyer steht fest – man kann versuchen, sich zu ändern oder zu bessern: die Anlagen jedes Menschen werden aber das ganze Leben hindurch gleich bleiben. Eine harte Sicht auf die Dinge, die aber bislang meiner eigenen Lebenserfahrung nicht zuwiderläuft.

Natürlich muss man auch unterscheiden, wie schwer die Konflikte und Differenzen sind. Platt gesprochen: wenn die Meinungen nur beim Spülmaschinen-Einräumen auseinandergehen, dann wird man wohl eine Lösung oder ein Arrangement finden, ohne sich gleich trennen zu müssen. Gehen aber die Lebensentwürfe und charakterlichen Anlagen beider Parteien weit auseinander und sorgen dementsprechend für Konflikte, dann muss man nach Thomas Meyer doch ernsthaft prüfen, wie vereinbar die Positionen sind, oder ob es nicht doch im Interesse beider Partner sein dürfte, einen Neustart zu wagen.

Appell statt Statistik

Natürlich kann man Meyer vorhalten, dass er seine These nicht mit statistischem Material untermauert und Beweise für seine Behauptung schuldig bleibt. Allerdings ist das Zufriedenheitsgefühlen von Paaren wohl immer subjektiv und schwerlich messbar. Zudem geht es an der Art des Buchs vorbei, hier genaue Zahlen und statistische Korrektheit einzufordern. Denn Meyer will provozieren, wachrütteln und die Leser zum Überdenken auffordern. Dies funktioniert auch ohne statistische Unterfütterung hervorragend, denn schließlich kennt (fast) jeder unglückliche Paare und dysfunktionale Beziehungen, die Meyers These stützen.

Manchmal verrutscht der Ton des Buchs leicht vom Appelativen ins Esoterische, vom Provozierenden ins Ratgeberhafte. Solche Registerwechsel bleiben gottseidank auf ein Minimum beschränkt. Ansonsten ist Trennt euch sprachlich schön gearbeitet, konzise und auf den Punkt.

Im Original im Salis-Verlag erschienen, gibt es die Taschenbuchvariante nun bei Diogenes. Womöglich nicht das beste Hochzeitsgeschenk, aber ungemein bereichernd macht dieses Buch wieder den Blick frei für die Beziehungen und ihre Abgründe.

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