Per aspera ad astra

Daniel Mellem – Die Erfindung des Countdowns

Ein Leben als Countdown. Von Zehn auf Null erzählt Daniel Mellem in Die Erfindung des Countdowns vom Leben des Raketenpioniers Hermann Oberth. Eine widersprüchliche Figur, die Mellem manchmal nicht widersprüchlich genug schildert – aber dennoch gute Unterhaltung bietet.


Daniel Mellem - Die Erfindung des Countdowns (Cover)

Dabei ist das Thema der Physik eines, das Mellem schon vor seinem Roman umtrieb. Der 1987 geborene Autor studierte in London und Hamburg Physik und promovierte. Anschließend wechselte er von der Physik zum Fach der Literatur und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Schon im Vorfeld konnte er einige Preise für sein Debüt einsammeln. So durfte er 2018 an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teilnehmen. Unter der Anleitung von Angelica Ammar und Saša Stanišić trieben 10 Nachwuchsautor*innen die Arbeit an ihren Romanmanuskripten voran. Dass nun ein Blurb von Stanišić auf dem Cover des Buchs prangt, das überrascht kaum.

Aber auch den Retzhof-Preis für junge Literatur und den Hamburger Literaturförderpreis konnte Daniel Mellem erringen. Viel Vorschusslorbeeren also, die bei mir unweigerlich die Frage evozierten: was kann das Buch wirklich?

Das Leben des Herrmann Oberth

Für seinen Roman hat sich Daniel Mellem eine spannende historische Figur ausgesucht. Herrmann Oberth gilt als einer DER Väter der Raketentechnik. In Schäßburg im heutigen Rumänien geboren fand er sich nach dem Ersten Weltkrieg in Rumänien plötzlich als Ausgestoßener wieder. Als deutsche Minderheit, ein sogenannter Volksdeutscher, wandelte er verloren zwischen Heimat in Siebenbürgen und Deutschland. Ebenso verloren fühlte sich Oberth auch mit seinem Dissertationsthema. Gegen den Wunsch seines Vaters verspürte er schon als Kind eine Faszination für Physik und forschte mit Feuereifer. Schon bald hatte er ein klares Ziel, auf das er hinarbeitete: eine funktionsfähige Rakete. Doch der Weg zu Sternen ist eben doch mehr als steinig.

Filmplakat zu Langs Film

Das muss Oberth auch in Mellems Buch feststellen. Daheim in Siebenbürgen wartet die Frau. Doch verbissen und unerbittlich treibt Oberth seinen Wunsch nach der Rakete voran. Er macht die Bekanntschaft mit Max Valier, dem Schrifsteller und sogenannten „Raketenmann“. Auch die Wege von Fritz Lang kreuzt Oberth, als er an der Entwicklung von dessen legendärem Film Frau im Mond mitwirkt (bei dem dann auch nebenbei auch der titelgebende Countdown erfunden wird, wie man aus Mellems Buch erfährt).

Eine prägende Gestalt, die für die weitere Karriere von Oberth entscheidend wird, ist Wernher von Braun. Oberth wird zu dessen Lehrmeister und gelangt dadurch bis nach Peenemünde, wo er sich inmitten der Raketenversuche der Nationalsozialisten wiederfindet.

Eine widersprüchliche Gestalt – nicht ganz widersprüchlich erzählt

Viel Material also und eine Figur, die durch ihre Widersprüche lebt. Ein Raketenwissenschaftler, der verloren zwischen Rumänien und Deutschland mäandert. Der die Schrecken des Ersten Weltkriegs am eigenen Leib miterlebt, der aber trotzdem an die Raketentechnik auch als Waffe glaubt. Der sich den Nazis andient, ihre Positionen mindestens in Teilen gutheißt. Der dann nach Amerika auswandert, sich aber nie vom Glauben an die Rakete losreißt, später sogar NPD-Mitglied wird.

Bei solch einer interessanten Figur überrascht es dann doch, wie glattpoliert und bruchlos Mellem vor allem den ersten Teil seines Buchs gestaltet. Dieser liest sich eher wie ein unterhaltendes Buch aus dem Diogenes-Programm (Kategorie Flutschbuch) denn ein wirklich tiefgehender und damit interessanter Roman.

Bezeichnend jener Dialog, den Oberth führt, um in Deutschland einreisen zu dürfen, obwohl er neuerdings als Rumäne nicht mehr einreisen dürfte.

Nach zwei Wochen kam er bei Salzburg endlich an der deutschen Grenze an. Erschöpft reichte er dem Grenzbeamten seinen Pass. Der warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf. „Sie können wider umkehren. Ausländer dürfen nicht einreisen.“

„Ich komme aus Siebenbürgen“.

„Eben“, sagte der Beamte. „Sie sind Rumäne“. (…)

„Und wenn Siebenbürgen überflutet worden wäre?“, fragte er. „Was wäre ich dann? Ein Fisch?“

Der Beamte mustere ihn stirnrunzelnd, schaute wieder in den Pass. Er zog seine Schublade auf, holte ein Dokument heraus, lächelte schließlich. Er drückte einen Stempel in Hermanns Pass.

„Na dann kommen Sie mal an Land“.

Mellem, Daniel: Die Erfindung des Countdowns, S. 76 f.

Auch ist die Figur des Hermann Oberth vor allem in jener ersten Hälfte wenig stimmig gezeichnet. So operiert sich der junge Mann in einer Schlacht des Ersten Weltkriegs kurzerhand selbst eine Kugel nach einem Steckschuss aus dem Bauch und ohrfeigt wenig später einen Arzt. Er füttert im Lazarett einen Soldaten, dem der Unterkiefer fehlt. Hingegen scheitert er zwecks Unkenntnis der Anatomie am Vollzug der ehelichen Pflichten. Auch seinen neugeborenen Sohn vermag er kaum im Arm zu halten. Alle das scheint mir im Kontext des Buchs als wenig stimmig.

Mit fortlaufender Dauer glätten sich diese Unstimmigkeiten allerdings und zeigen die Widersprüche im Denken und Handeln Oberths auf. Der Leitspruch Per aspera ad astra, also Durch Mühen zu den Sternen, in diesem Leben ist er plastisch zu bestaunen.

Im Countdown durch ein Leben

Schön auch die Idee, sich per Countdown in zehn Kapiteln durch das Leben Oberths zu erzählen. Von diesem strukturellen Kniff abgesehen bleiben Inszenierung und Sprache recht konventionell. Unterhaltsam ist es aber alle mal.

Und auch wenn ich selbst nicht restlos überzeugt von dem Buch bin: eine Empfehlung spreche ich für Die Erfindung des Countdowns trotzdem aus. Ebenso wie für das von mir schon besuchte Hermann-Oberth-Museum, das in Oberths früherem Wohnhaus im fränkischen Feucht beheimatet ist. In diesem kleinen Museum wird auf ehrenamtlicher Basis die Geschichte der Raumfahrt und Oberths Beitrag an dieser Geschichte vermittelt. Ein kleines Museum, das einen Besuch wert ist.

Diesen Beitrag teilen

Thomas Hettche – Herzfaden

Auf wohl keinen Roman habe ich mich als Augsburger mehr gefreut in diesem Herbst als auf diesen: Thomas Hettche erzählt in Herzfaden die Geschichte einer der wichtigsten, wenn nicht DER wichtigsten deutschsprachigen Kulturinstitution der Nachkriegszeit, nämlich die der Augsburger Puppenkiste.


Nachdem er in seinem letzten Roman Pfaueninsel die Erzählperspektive eines kleinwüchsigen Schlossfräuleins wählte, setzt Hettche in seinem neuen Roman das Erzählen aus kleingeratener Sicht fort. In Hettches Herzfaden ist da zunächst ein Mädchen, das nach der Vorstellung im Puppentheater vor dem eigenen Vater durch eine Tür flüchtet. Dadurch gerät es auf einen Speicher. Dort muss es feststellen, dass es auf Puppengröße geschrumpft ist. Das Mädchen findet sich in der Gegenwart ikonisch gewordener Figuren wie etwa dem Urmel oder dem König Kalle Wirsch wieder. Figuren, die das Mädchen trotz seines jungen Alters immer noch kennt.

Thomas Hettche - Herzfaden (Cover)

In die Mitte der geschnitzten Puppen auf dem Speicher tritt eine große Frau, die dem Mädchen in der Folge ihre Lebensgeschichte erzählt. Es handelt sich bei der Frau um Hannelore Marschall , genannt Hatü. Sie ist die Tochter Walter Oehmichens, der zusammen mit ihr das später so bekannte Oehmichens Marionettentheater gründen sollte und in dem sie zur Schöpferin all dieser Figuren wurde, die Hatü und das Mädchen nun umgeben.

Von der Entstehung des berühmten Puppentheaters, der Kindheit und dem Aufwachsen in einem weltkriegszerstörten Augsburg, davon erzählt Hatü dem Mädchen. Und wir als Leser*innen lauschen mindestens ebenso gebannt den Erzählungen der dauerrauchenden Frau. Von den Pogromen, der Armut und dem Leid, das der Krieg mit sich brachte. Davon, wie ihr Vater als Spielleiter des Augsburger Staatstheater zunächst nicht entnazifiert wurde, wie die GIs Augsburg besetzten und wie die Oehmichens alles daran setzten, Ablenkung und Normalität zurück zu den Menschen zu bringen. Von all dem erzählt Hatü dem Mädchen auf dem Speicher, das schon bald dem Charme der Puppen erliegt – aber auch ihre Gefährlichkeit erfährt.

Der Zauber der eigenen Kindheit

Im Kern steckt in Herzfaden eine Frage: haben uns Figuren an Fäden, handgeschnitzt aus Holz und mimisch starr, heute noch etwas zu sagen? Heute, da die Ausdrucksmöglichkeiten der perfekt animierte Charaktere in Film und Fernsehen unerschöpflich scheinen, in der es scheinbar keine Grenzen der Darstellungskunst mehr gibt?

Figuren an Fäden: Die Augsburger Puppenkiste (hier eine Leihgabe des Puppentheaters ‚Das Puppenschiff‘ in Mainaschaff)

Die Antwort darauf lautet eindeutig ja. Das zeigt nicht nur der anhaltende Erfolg der Augsburger Puppenkiste und mitsamt ihrer immer wieder ausgestrahlten Evergreens. Das zeigt auch Thomas Hettches gelungener Roman, der den Zauber der Kindheit wieder heraufbeschwört.

Herzfaden bringt das Gefühl zurück, als uns Erzählungen an den Lippen der Eltern hingen ließen. Als die Fantasie noch keine Grenzen kannte und als in der eigenen Vorstellung noch alles möglich war. All das macht der Roman wieder erfahrbar. Was kümmert es, dass da ein Mädchen auf der ersten Seite auf Marionettengröße schrumpft und die Rahmenhandlung einem Märchen gleicht? Die Wahl der erzählerischen Mittel entspricht genau dem behandelten Thema. Das macht den Zauber dieses Buchs aus. Wer Realitätsansprüche an das Buch stellt, der sieht sich auch durch Hettches Nachwort eines Besseren belehrt.

Dieser Roman erzählt die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und wie jeder Roman ist er selbst ein Marionettenspiel. Personen und Ereignisse, die darin vorkommen, hat es wirklich gegeben, und sind doch erfunden.

Hettche, Thomas: Herzfaden

In Herzfaden ist alles möglich

In Herzfaden ist alles möglich, eben ganz wie in der Fantasie. Und das macht das Buch so lesenswert. Denn der Berliner Romancier begreift sein Handwerk in diesem Buch auch als Marionettenspieler, der um die Bedeutung des Herzfadens weiß, jenes unsichtbaren Fadens, der die hölzerne Marionette mit dem Marionettenspieler verbindet. Seine Figuren und dieses gesamte Buch sind auf alle Fälle durch Herzfäden miteinander verbunden.

Oder wie es Michael Ende in Hettches Herzfaden am Ende des Romans ausdrückt:

„Ich wehre mich einfach dagegen, zu werden, was man einen richtigen Erwachsenen nennt. Eines jener entzauberten, banalen, aufgeklärten Krüppelwesen, das in der entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Wissen Sie: In jedem Menschen lebt ein Kind, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig. Und dieses Kind, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft, dieses Kind in uns bedeutet bis zu unsem letzten Lebenstag unsere Zukunft.

Hettche, Thomas: Herzfaden, S. 272

In diesem Sinne ist Herzfaden ein Buch mit einer großen Zukunft, das auch den Deutschen Buchpreis verdient hätte. Es ist eine Hymne auf die Fantasie. Endlich mal ein überzeugender Augsburg-Roman, der seine Kulisse ernstnimmt. Ein Buch, das die Kunst des Marionettenspiels ehrt. Und nicht zuletzt ist Herzfaden ein Roman, der den Zauber der eigenen Kindheit wiederbringt.

Hannelore und Walter Oehmichen (Bildquelle: Augsburger Puppenkiste)

  • Thomas Hettche – Herzfaden
  • ISBN: 978-3-462-05256-5
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Eine Oral History des 11. September

Garett M. Graff – Und auf einmal diese Stille

Es ist zweifelsohne eines der einschneidendsten Erlebnisse des 21. Jahrhunderts: der 11. September 2001. Wohl jeder Mensch weiß noch, was er an diesem Tag getan hat, als die Nachricht des Attentats auf das World Trade Center die Welt kurzzeitig aus dem Takt geraten ließ. Inzwischen ist die Erinnerung an diese wirkmächtigen Anschläge auf Amerika etwas verblasst. Die Bilder werden natürlich wiederholt und haben sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Das Gedenken, das Verlesen der Namen, das Läuten der Totenglocke, im Fernsehen meist überkleistert mit Musik von Enya. Das Gedenken ist inzwischen zu einem Ritual geworden, das aber nun dank der fast schon 20 vergangenen Jahre seit dem Anschlag in der von immer neuem Terror überlagert und überschrieben wird.

Garett M. Graff holt mit seinem Buch die Ereignisse rund um das World Trade Center, das Pentagon und Co. nun allerdings wieder prominent auf die Bühne und entstaubt die Erinnerung an jenes ikonische Datum maximal. Ihm gelingt in Und auf einmal diese Stille ein Erinnerungsbuch, das mit Wucht den 11. September in allen Facetten beleuchtet. Ein wichtiges Zeitdokument.

Augenzeugenberichte des 11. September

Garrett M. Graff - Und plötzlich diese Stille (Cover)

Dabei besteht die Leistung des Autors und seines Teams keinesfalls in eigenen Beschreibungen des 11. Septembers. Vielmehr versammelt das Buch Augenzeugenberichte und Schilderungen des gesamten Tages. Diese reichen von den Erinnerungen des einzigen Amerikaners, der sich am 11.09 nicht auf der Erde, sondern auf der ISS befand, bis hin zu hochrangigen Politiker*innen wie etwa die damalige Verteidigungsministerin Condoleeca Rice und dem Beraterstab rund um Präsident George W. Bush.

Graff gliedert seine Augenzeugenberichte weitgehend chronologisch und beginnt den 11. September morgens noch ganz ruhig. Er lässt etwa den Flughafenmitarbeiter zu Wort kommen, der die Attentäter eincheckte. Auch die Feuerwehren beobachtet er an diesem Morgen oder lässt vom eigentlich geplanten Tagesablauf des amerikanischen Präsidenten berichten.

Ausgehend vom ersten Einschlag eines Flugzeugs erzählt er mithilfe der niedergeschriebenen Erinnerungen von den entführten Flugzeugen, dem Anschlag aufs Pentagon, der Unsicherheit im Umfeld von Präsident Bush oder von den Rettungskräften, die zum brennenden World Trade Center eilten und diesen Einsatz häufig mit dem eigenen Leben bezahlten.

Das Gefühl von Unmittelbarkeit

Man ist fast selbst in den Treppenhäusern der Twin Towers dabei, als couragierte Büromitarbeiter einen Kollegen im Rollstuhl dutzende von Stockwerken nach unten tragen. Oder man kann sich einfühlen, wie Menschen reagieren, deren Angehörige sich aus entführten Flugzeugen melden und letzte Worte hinterlassen. Wie Rettungskräfte verschüttet und wieder ausgegraben werden. Wie unzählige Menschen vom Himmel stürzen und dabei noch andere mit in den Tod reißen (dieses Kapitel „Springen“ zählt sicherlich zu den schockierendsten und buchstäblich niederschmetterndsten). Von all diesen Momenten erzählt Und auf einmal diese Stille. Graff selbst bemerkt im Vorwort:

Und auf einmal diese Stille ist zwar umfassend, aber keineswegs vollständig. Die hier präsentierten Geschichten erfassen nur einen einzelnen historischen Moment. Der 11. September ist aber nicht zuletzt deshalb so ergreifend, weil wir etwas über die weiteren Schicksale der betroffenen Menschen erfahren, darüber, wie es ihnen in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren danach ergangen ist. Während das Land nach den Angriffen einerseits enger zusammenrückte und die Menschen sich solidarisch zeigten, zog es zugleich in zwei Kriege, die bis heute keinwirkliches Ende gefunden und viele Weltgegenden drastisch verändert haben. Auch deshalb ist der 11. September jeden Tag gegenwärtig. Dieser Tag hat unsere Art des Reisens, unser Alltagsleben und unser Miteinander grundlegend verändert.

Garret M. Graff: Und plötzlich diese Stille, S. 11

Diesen Tag wieder gegenwärtig zu machen, ihn in seiner Vielgestaltigkeit erneut begreif- und erlebbar zu machen, diese Aufgabe erfüllt Garrett M. Graffs Buch bravourös. Und auf einmal diese Stille ist eine minutengenaue Chronik, die uns Lesenden spüren lässt, warum dieser 11. September eine solche Zäsur der jüngeren Geschichte war und ist.


  • Garrett M. Graff – Und auf einmal diese Stille
  • Übersetzt von Philipp Albers und Hannes Meyer
  • ISBN: 978-3-518-47090-9 (Suhrkamp)
  • 537 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Steph Cha – Brandsätze

Ein erschossener schwarzer Jugendlicher. Polizeigewalt, Proteste, Black Lives Matter. Es ist kaum möglich, näher an die amerikanische Gegenwart heranzukommen als in diesem Roman. Steph Cha erzählt in Brandsätze von zwei Familien, deren Schicksal durch eine verhängnisvolle Tat miteinander verknüpft ist. Und von Rassismus und Gewalt, die eine ganze Nation nicht zur Ruhe kommen lassen (übersetzt von Karen Witthuhn).


Es herrscht eine feindselige und aufgeheizte Stimmung in Los Angeles dieser Tage. Ein schwarzer Junge wurde erschossen. Die Polizei behauptet, der Junge wollte in eine Wohnung einbrechen. Dabei hatte er die Schlüssel für seine Wohnung vergessen und wollte an der Rückseite des Gebäudes in seine Wohnung einsteigen. Nach dem gewaltsamen Tod kocht nun die Stimmung über. Polizeigewalt, struktureller Rassismus, Proteste vonseiten der Black Lives Matter-Bewegung. Was sich wie eine Blaupause der jüngsten Vorfälle in Kenosha oder Wisconsin liest, hat sich die amerikanische Autorin Steph Cha in Wahrheit schon 2019 ausgedacht und veröffentlicht. 2019 spielt auch der Hauptteil ihres Romans Brandsätze, der um zwei ganz unterschiedliche Familien kreist.

Steph Cha - Brandsätze (Cover)

Da ist die Familie von Grace Park. Koreanische Einwanderer, die sich mit einem kleinen Laden im koreanischen Bezirk der Stadt eine eigene Existenz aufgebaut haben. Und da ist die Familie von Shawn Matthews. Die beiden Familie verbindet eine Bluttat, die sich kurz vor den Rodney King-Unruhen 1991 in Los Angeles zutrug.

Shawn sollte zusammen mit seiner Schwester Ava Milch für die Familie besorgen. Seit Monaten herrschte in der Stadt eine angespannte Lage zwischen den verschiedenen Ethnien, insbesondere zwischen Koreaner und Schwarzen. Nach einem Handgemenge im Laden erschoss die Ladenbesitzerin Ava, die das benötigte Geld noch in der Hand hielt, mit einer Handfeuerwaffe. Bei der Ladenbesitzerin handelte es sich um Grace Parks Mutter, die nach dem Vorfall mit einer Bewährungsstrafe davonkam.

Zwei gegensätzliche Familien

Diese Geschichte erfährt Grace erst stückweise, nachdem ihre Mutter niedergeschossen wurde. Der oder die Täter sind flüchtig. Für die Polizei steht aber schnell fest, wo sie nachforschen muss. Die Matthews geraten in das Blickfeld der Polizei, insbesondere, da man in Shawns Familie schon öfter mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Derweil nehmen die Spannungen in Los Angeles immer weiter zu, nicht zuletzt auch aufgrund des eingangs geschilderten Todes eines weiteren schwarzen Jungen.

Abwechselnd blickt Steph Cha in ihrem Roman immer wieder auf die beiden gegensätzlichen Familien. Da die Familie Matthews, die mit Rassismus und einem schweren Erbe hadert. Und da die Familie Park, die sich anpassen und den amerikanischen Traum zu ihrem eigenen machen wollte, die aber auch trotz aller Assimilierungsversuche mit ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat.

Steph Cha selbst hat einen Migrationshintergrund, vermeidet in ihrem Roman allerdings geschickt, für eine der beiden Familien Partei zu ergreifen. Sie erzählt ihre Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit basiert, völlig ausgewogen und weckt für beide Seiten dieser Tragödie Verständnis. Das ist erzählerisch ungemein klug gemacht und besitzt eine Relevanz, die dieser Tage immer größer zu werden scheint. Ein literarisch gut ausbalancierter Sprung mitten hinein in die Gräben, die die amerikanische Gesellschaft durchziehen. Ein souveränes Buch, das auch Leser*innen von Celeste Ng, Alexi Zentner oder Leonard Pitts jr. begeistern dürfte. Diese Brandsätze haben es in sich!

Das sieht auch Marcus Müntefering bei Spiegel Online so. Und auch die Frankfurter Rundschau ist vom Roman begeistert. Jetzt dürften gerne noch ein paar Blogger*innen nachziehen. Das Buch hätte es verdient!


  • Steph Cha – Brandsätze
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-7472-0115-2 (Ars Vivendi)
  • 336 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Familienaufstellung mit Abgründen

Stephan Roiss – Triceratops

In our family portrait, we look pretty happy.
We look pretty normal, let’s go back to that

Pink: Family Portrait

Blickt man auf die Longlist des diesjährigen deutschen Buchpreises, so fällt auf, dass es ein großes, bestimmendes Thema gibt: Dysfunktionale Familien. Da ist Helena Adler, die in Die Infantin trägt den Scheitel links eine solche Familie heraufbeschwört. Hier die bigotte Mutter, da der dem Alkohol nicht abgeneigte Vater. Und mittendrin die Erzählerin, die mit kindlicher Präzision auf dieses familiäre Bildnis blickt. Auch die nächste Österreicherin auf der Longlist, nämliche Valerie Fritsch, hat sich dieses Themas angenommen. Auch bei ihr gibt es in Herzklappen von Johnson & Johnson Abgründiges aus dem Schoß der Familie zu entdecken. Sie erzählt über drei Generationen hinweg von gottesgläubigen Großmüttern, Großvätern mit Herzklappen und schmerzunempfindlichen Kindern. Und von dem, was Generationen verbindet und trennt.

Auch Bov Bjerg präsentiert in seinem nominierten Roman Serpentinen eine besondere Familienaufstellung. Er bringt seine Ahnenreihe auf folgenden Nenner:

„Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere“

Bjerg, Bov: Serpentinen, S. 5

Im Roman erzählt Bjerg von einem Vater und seinem Sohn, die einen Ausflug auf die schwäbische Alb unternehmen. Stets reist die Kenntnis um die suizidalen Tendenzen in der männlichen Ahnenreihe der Familie mit. Und dann ist da auch noch Stephan Roiss, der in seinem Debüt Triceratops einmal mehr von einer dysfunktionalen Familie erzählt.

Eine Familie mit Abgründen

Im Gegensatz zu den anderen Büchern ist die Erzählinstanz in Roiss‘ Fall allerdings ein Wir. Dieses Wir ist ein namenloser Junge. Seine ältere Schwester war ein Wunschkind, er ein Unfall. Die Mutter der beiden glänzt oftmals durch Abwesenheit. Der Grund: sie befindet sich in psychologischer Behandlung. Oder wie sie es später selbst formuliert:

„Keiner kann aus seiner Haut“, sagte Mutter. „Ich war doch krank. Das habe ich mir ja nicht ausgesucht.“

Sie massierte ihre schmalen Handgelenke.

„Mein Vater hat sich das auch nicht ausgesucht. Der Krieg hat ihn krankgemacht. Und dann hat mein Vater mir seine Krankheit vererbt und ich wiederum habe – „

Sie hielt einen Moment inne.

„Ich … Ich habe es von ihm gelernt und – „

Mutter presste die Augen zusammen. Die Nachbarin klopfte das Keschernetz auf den Terrassenfliesen aus.

„Ich habe euch so viel Liebe gegeben, wie ich konnte. Ich wollte nie irgendjemandem etwas Böses.“

Roiss, Stephan: Triceratops, S. 185

Der Großvater hat sich als Kriegsheimkehrer auf dem heimischen Hof erhängt. Die Tochter fand den Vater im Stall. Damals sei dann der Wahnsinn auf die Tochter übergesprungen, so erzählt man es sich. Und nun kämpfen Sohn und Tochter beide auf ihre eigene Art und Weise mit dem familiären Erbe. Dass dieser Kampf nicht für alle Beteiligten gut ausgehen wird, so viel sei an dieser Stelle verraten. Bei dem dunklen und düsteren Ton, der im Buch herrscht, überrascht das allerdings wenig.

Das Wir erzählt

Stephan Roiss hat ein Buch geschrieben, das tief hinabsteigt in die Abgründe einer Familie. Seine Figuren, allen voran der Ich-Erzähler, sind Figuren, die im Kopf bleiben. Diesen Effekt erzählt Roiss durch eine gewisse Beiläufigkeit, mit der manche krassen Begebenheiten geschildert werden. Zudem bedient er sich auch einer verknappten und gerafften Darstellung (auch das so ein Merkmal einiger Bücher auf der Longlist). Viele Seiten sind nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Schlaglichtartig skizziert Roiss Dialoge und Szenen, die gerade durch diese Prägnanz im Kopf bleiben.

Stephan Roiss - Triceratops (Cover)

Ganz schlüssig erscheint mir die gewählte Erzählform eines Wir allerdings nicht. Eine dissoziative Persönlichkeitsspaltung seines namenlosen Erzählers oder einen anderen zwingenden Grund für diese außergewöhnliche Erzählperspektive erschloss sich mir nicht. Hätte sich Roiss auf ein handelsübliches (und für mich besser lesbares) Ich oder Er beschränkt, hätte dieser Roman keinerlei Qualitätseinbußen verzeichnet.

Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt, den ich für mich benennen kann. Ansonsten ist das Buch in seiner Stimmung und seinem Setting als Debüt mehr als beachtlich geraten. Tempo, Sound, Figuren – es stimmt alles. Zwar ist Triceratops alles andere als eine Feelgood-Lektüre. Aber als Schilderung einer österreichischen Familie mit schwerem Erbe weiß dieses außergewöhnlich erzählte Buch zu überzeugen. Und dass man sich gegen sein Schicksal nicht panzern kann wie ein Triceratops, das zeigt Roiss auch äußert eindrücklich. Zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wieder einmal eine echte Entdeckung des österreichischen Verlags Kremayr & Scheriau.


  • Stephan Roiss – Triceratops
  • ISBN 978-3-218-01229-4 (Kremayr & Scheriau)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €

Diesen Beitrag teilen