Man könnte den in diesem Jahr allgegenwärtigen Franz Kafka paraphrasieren, um mit seinem berühmten Romananfang aus dem Prozess auch diese Besprechung von Lydia Lewitschs Der Fall Miriam Behrmann einzuleiten: Jemand musste Miriam B. verleumdet haben, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätte, wurde sie eines Morgens verhaftet.
Zwar kommt es im Roman zu keiner wirklich Verhaftung der Philosophieprofessorin, dennoch erinnert viel in Lewitschs Roman an die surrealen Umstände, denen sich auch Kafkas Protagonist Josef K. gegenübersieht. Denn der Professorin droht die Entfernung aus dem Staatsdienst – ein unerhörter Vorgang, der in den Annalen von Behrmanns Arbeitsstelle, der fiktiven Wiener Maximilians-Universität, noch nie vorgekommen ist. Und das alles nur, weil hier ein Disput über unterschiedliche Arbeitsmoral eskaliert ist?
Psychischer Missbrauch – es ist ein gravierender Vorwurf, der gegen die Professorin Miriam Behrmann im Raum steht. Vorgebracht hat ihn ihre Doktorandin Selina, deren Promotion Behrmann betreut. Nun tagt ein akademisches Entscheidungsgremium, das in zwei Stunden final über die Causa Behrmann befinden soll.
Diesen Zeitraum nutzt Lydia Lewitsch nun für eine ganze Menge Rückblenden, die das Leben Miriam Behrmanns, ihren akademischen Werdegang und die erhobenen Vorwürfe oder Anklagepunkte in einer in einer radikal subjektiven Erzählweise aufrollen. Dafür bedient sich die Autorin einer fast an einen Bewusstseinsstrom erinnernden Erzähltechnik, in der sich biografische Miniaturen, Academia, schriftliche Stellungnahmen und einige Handlungssplitter miteinander verbinden. So setzt sich langsam ein Bild der ganzen Lage und der Figur Miriam Behrmann zusammen, die nun vor der finalen Entscheidung ihr Gewissen erforscht.
Leistung und Druck
Übersteigerter Druck, der an psychisches Mobbing grenzt, so lautet der zentrale Vorwurf, den die promovierende Selina ihrer Chefin vorwirft. Weitere Stimmen aus dem akademischen Mittelbau nehmen Stellung zum Arbeitsethos und den Zuständen an Miriams Lehrstuhl – und mittendrin die Beklagte, die in Nachrichten an ihren Anwalt wiederum ihre Sicht der Dinge darstellt und sich keiner wirklichen Schuld bewusst ist.
Denn Leistung und Verlässlichkeit sind Standards, die der Philosophieprofessorin seit ihrer eigenen Studienzeit in Princeton am Herzen liegen. So erwarten die Geldgeber und die Unileitung Exzellenz von der Arbeit, die auch international auf das Renommee der universitären Forschung und Lehre einzahlt – und Miriam gibt diese Erwartungshaltung auch an ihre Studierenden weiter.
Der folgliche Clash mit Selina, die neben der wissenschaftlichen Arbeit auch politisches Engagement als Teil ihrer Arbeit und ihres Lebens begreift, löst jenen Konflikt aus, den Lydia Lewitsch hier in atemloser, fast impressionistischer Manier nachzeichnet und dabei ganz unterschiedliche Themen wie migrantische Herkunft, Auswüchse des akademischen Wettbewerbs und das exemplarische Miteinander in ihrer Fachschaft berührt.
Universitäre und gesellschaftliche Debatten
Damit passt Der Fall Miriam Behrmann hervorragend in die Zeit. Nicht nur, weil die Dynamiken um die mögliche Entlassung der Professorin mit offenen Briefen, Untersuchungskommissionen und der Bedeutung von Befindlichkeiten an den Ablauf vieler Debatten erinnern. Ob die Ausladung einer Professorin als mögliche Cancel Culture, Gendern, die Positionen im Israel-Palästina-Konflikt mitsamt besetzter Hörsäle oder überhaupt das Richtige und Falsche in unserer komplexen Weltlage: vieles in Der Fall Miriam Behrmann lässt sich wie ein Strukturmuster auf nahezu alle anderen universitären Diskursen übertragen. Genauso wie diese Debatten von den universitären Echokammern auf die Gesellschaft ausstrahlen, ist es auch die große Frage des Arbeitsethos, die weit über Lewitschs Plot und Roman hinausweist.
Vor allem kommt der Roman zur rechten Zeit, als hierzulande immer mehr eben über die jene Zeit debattiert wird. Wie viel Zeit für Arbeit, wie viel Zeit für Freizeit ist angemessen und ist eine Vier-Tage-Woche die Lösung oder sollten wir mehr arbeiten und unser Arbeitsethos überdenken? Die Work-Life-Balance als großes Metathema unserer Gegenwart wird auch in Der Fall Miriam Behrmann verhandelt. Im Konflikt der unterschiedlichen Generationen mit der Universitätsprofessorin auf der einen Seite und der nachfolgenden Generation Z in Form von Selina auf der anderen Seite prallen die unterschiedlichen Vorstellungen, Lebensansätze und Ideale aufeinander.
Fazit
Das alles macht Lydia Lewitschs Roman zu einem sehr aktuellen Roman, der sowohl durch die Themensetzung als auch die stakkatohafte Erzählweise besticht.
Ob das erzählerische Konzept mit seiner Verschränkung biographischer Hintergründe, zeitgeistlicher Debatten und universitärem Innenblick in Verbindung mit dem flirrenden Gedankenstrom vollends aufgeht, da bin ich mir nach der Lektüre dieses Debüts nicht ganz sicher.
Was ich aber weiß ist, dass Der Fall Miriam Behrmann ein Campusroman, ein Zeitgeistroman und das Porträt einer ambitionierten Forscherin ist, deren Philosophie und Erleben die Leser*innen fordert, aber auch mit Einsichten in den universitären Lehrbetrieb und die Gedanken einer rastlosen Denkerin belohnt.
- Lydia Lewitsch – Der Fall Miriam Behrmann
- ISBN 978-3-627-00317-3 (Frankfurter Verlagsanstalt)
- 256 Seiten- Preis: 24,00 €