Lydia Lewitsch – Der Fall Miriam Behrmann

Man könnte den in diesem Jahr allgegenwärtigen Franz Kafka paraphrasieren, um mit seinem berühmten Romananfang aus dem Prozess auch diese Besprechung von Lydia Lewitschs Der Fall Miriam Behrmann einzuleiten: Jemand musste Miriam B. verleumdet haben, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätte, wurde sie eines Morgens verhaftet.

Zwar kommt es im Roman zu keiner wirklich Verhaftung der Philosophieprofessorin, dennoch erinnert viel in Lewitschs Roman an die surrealen Umstände, denen sich auch Kafkas Protagonist Josef K. gegenübersieht. Denn der Professorin droht die Entfernung aus dem Staatsdienst – ein unerhörter Vorgang, der in den Annalen von Behrmanns Arbeitsstelle, der fiktiven Wiener Maximilians-Universität, noch nie vorgekommen ist. Und das alles nur, weil hier ein Disput über unterschiedliche Arbeitsmoral eskaliert ist?


Psychischer Missbrauch – es ist ein gravierender Vorwurf, der gegen die Professorin Miriam Behrmann im Raum steht. Vorgebracht hat ihn ihre Doktorandin Selina, deren Promotion Behrmann betreut. Nun tagt ein akademisches Entscheidungsgremium, das in zwei Stunden final über die Causa Behrmann befinden soll.

Diesen Zeitraum nutzt Lydia Lewitsch nun für eine ganze Menge Rückblenden, die das Leben Miriam Behrmanns, ihren akademischen Werdegang und die erhobenen Vorwürfe oder Anklagepunkte in einer in einer radikal subjektiven Erzählweise aufrollen. Dafür bedient sich die Autorin einer fast an einen Bewusstseinsstrom erinnernden Erzähltechnik, in der sich biografische Miniaturen, Academia, schriftliche Stellungnahmen und einige Handlungssplitter miteinander verbinden. So setzt sich langsam ein Bild der ganzen Lage und der Figur Miriam Behrmann zusammen, die nun vor der finalen Entscheidung ihr Gewissen erforscht.

Leistung und Druck

Übersteigerter Druck, der an psychisches Mobbing grenzt, so lautet der zentrale Vorwurf, den die promovierende Selina ihrer Chefin vorwirft. Weitere Stimmen aus dem akademischen Mittelbau nehmen Stellung zum Arbeitsethos und den Zuständen an Miriams Lehrstuhl – und mittendrin die Beklagte, die in Nachrichten an ihren Anwalt wiederum ihre Sicht der Dinge darstellt und sich keiner wirklichen Schuld bewusst ist.

Lydia Lewitsch - Der Fall Miriam Behrmann (Cover)

Denn Leistung und Verlässlichkeit sind Standards, die der Philosophieprofessorin seit ihrer eigenen Studienzeit in Princeton am Herzen liegen. So erwarten die Geldgeber und die Unileitung Exzellenz von der Arbeit, die auch international auf das Renommee der universitären Forschung und Lehre einzahlt – und Miriam gibt diese Erwartungshaltung auch an ihre Studierenden weiter.

Der folgliche Clash mit Selina, die neben der wissenschaftlichen Arbeit auch politisches Engagement als Teil ihrer Arbeit und ihres Lebens begreift, löst jenen Konflikt aus, den Lydia Lewitsch hier in atemloser, fast impressionistischer Manier nachzeichnet und dabei ganz unterschiedliche Themen wie migrantische Herkunft, Auswüchse des akademischen Wettbewerbs und das exemplarische Miteinander in ihrer Fachschaft berührt.

Universitäre und gesellschaftliche Debatten

Damit passt Der Fall Miriam Behrmann hervorragend in die Zeit. Nicht nur, weil die Dynamiken um die mögliche Entlassung der Professorin mit offenen Briefen, Untersuchungskommissionen und der Bedeutung von Befindlichkeiten an den Ablauf vieler Debatten erinnern. Ob die Ausladung einer Professorin als mögliche Cancel Culture, Gendern, die Positionen im Israel-Palästina-Konflikt mitsamt besetzter Hörsäle oder überhaupt das Richtige und Falsche in unserer komplexen Weltlage: vieles in Der Fall Miriam Behrmann lässt sich wie ein Strukturmuster auf nahezu alle anderen universitären Diskursen übertragen. Genauso wie diese Debatten von den universitären Echokammern auf die Gesellschaft ausstrahlen, ist es auch die große Frage des Arbeitsethos, die weit über Lewitschs Plot und Roman hinausweist.

Vor allem kommt der Roman zur rechten Zeit, als hierzulande immer mehr eben über die jene Zeit debattiert wird. Wie viel Zeit für Arbeit, wie viel Zeit für Freizeit ist angemessen und ist eine Vier-Tage-Woche die Lösung oder sollten wir mehr arbeiten und unser Arbeitsethos überdenken? Die Work-Life-Balance als großes Metathema unserer Gegenwart wird auch in Der Fall Miriam Behrmann verhandelt. Im Konflikt der unterschiedlichen Generationen mit der Universitätsprofessorin auf der einen Seite und der nachfolgenden Generation Z in Form von Selina auf der anderen Seite prallen die unterschiedlichen Vorstellungen, Lebensansätze und Ideale aufeinander.

Fazit

Das alles macht Lydia Lewitschs Roman zu einem sehr aktuellen Roman, der sowohl durch die Themensetzung als auch die stakkatohafte Erzählweise besticht.

Ob das erzählerische Konzept mit seiner Verschränkung biographischer Hintergründe, zeitgeistlicher Debatten und universitärem Innenblick in Verbindung mit dem flirrenden Gedankenstrom vollends aufgeht, da bin ich mir nach der Lektüre dieses Debüts nicht ganz sicher.

Was ich aber weiß ist, dass Der Fall Miriam Behrmann ein Campusroman, ein Zeitgeistroman und das Porträt einer ambitionierten Forscherin ist, deren Philosophie und Erleben die Leser*innen fordert, aber auch mit Einsichten in den universitären Lehrbetrieb und die Gedanken einer rastlosen Denkerin belohnt.


  • Lydia Lewitsch – Der Fall Miriam Behrmann
  • ISBN 978-3-627-00317-3 (Frankfurter Verlagsanstalt)
  • 256 Seiten- Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Ivan Gončarov – Die Schwere Not

Wenn die Wanderlust zur tödlichen Gefahr wird. Der russische Schriftsteller Ivan Gončarov zeichnet in seiner Novelle Die Schwere Not aus dem Jahr 1838 die Bedrohung nach, die der Drang zum Spazieren in einer russischen Familie entwickelt. Eine Wiederentdeckung aus dem Frühwerk Gončarovs, die uns die Friedenauer Presse nun in der Übersetzung Peter Urbans wieder zugänglich macht.


Fällt der Name Ivan Gončarov, dann denkt man wohl am ehesten an sein Großwerk Oblomow, das die Geschichte des russischen Adeligen Ilja Iljitsch Oblomow erzählt, zu dessen hervorstechenden Charaktereigenschaften Faulheit und Phlegmatismus zählen. Ein Roman von solch durchschlagenden Erfolg, das der Name seines Helden sogar in der Psychiatrie als Beschreibung eines Krankheits- oder Charakterbildes Eingang fand.

Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1838

Vor dieser überragenden Analyse seines Faulenzers stand das Frühwerk Ivan Gončarovs stets etwas zurück, wie der Übersetzer Peter Urban in seinem Nachwort zu Die Schwere Not schreibt. So finden sich in der Literaturgeschichte wenig Spuren dieses Werks, das Gončarov als 26-Jähriger verfasste.

Ivan Gončarov  - Die Schwere Not (Cover)

Erschienen war es einst in der Hauszeitschrift eines Petersburger Salons, löste aber keine große Reaktion der literarischen Öffentlichkeit aus. Zu Lebzeiten des Schriftstellers wurde die Novelle nie wieder veröffentlicht, erst 1936 finden sich wieder Spuren der Schweren Not, für die sich zum damaligen Zeitpunkt aber auch niemand so recht interessierte.

2001 gab es dann die erste deutsche Ausgabe, die in der Friedenauer Presse erschien. Nun, dreiundzwanzig Jahre später, gibt es diese vergessene Novelle erneut in einer bibliophilen Ausgabe der Friedenauer Presse zu lesen, diesmal ergänzt um ein (recht eigenwilliges) Nachwort des Autoren und Regisseurs Kior Janevs.

Es ist eine Entdeckung, die sich lohnt. Denn Die Schwere Not besticht durch Humor und Skurrilität – und zeigt in Ansätzen schon die Gončarov später mit seinem Oblomow perfektionieren sollte.

Ein besonderer medizinischer Fall

Die Ausgangslage ist der medizinische Fall, die uns der Erzähler Filipp Klimyč mit folgenden Worten ankündigt:

Doch dafür möchte ich der Welt meinerseits von einer nicht minder sonderbaren und unbegreiflichen, epidemischen Krankheit berichten, deren verheerende Wirkungen ich mit eigenen Augen gesehen habe und der ich beinahe selbst zum Opfer gefallen wäre. Wenn ich meine Beobachtungen mit größter Ausführlichkeit offenlege, erkühne ich mich, den Leser im Voraus darauf aufmerksam zu machen, dass diese keinem Zweifel unterliegen, auch wenn sie, leider, weder durch die Sicherheit des Blickes noch durch Wissenschaftlichkeit der Darstellung beglaubigt sind, wie sie dem Medikus eigen.

Ivan Gončarov – Die Schwere Not, S, 12

So begegnete er in jungen Jahren der Familie Zurov, einer „herzensguten, netten und gebildeten“ Familie. Man verbrachte gemeinsam Abende und Klimyč bewunderte das Idyll der Petersburger Familie Zurov, die aus drei Generationen besteht.

Die Schwere Not der Familie Zurov

Von einem Bekannten, dem an Gončarovs späteren Helden Oblomow erinnernden Nikon Ustinovič, wird der Erzähler wenig später aber dann über einen beunruhigenden Zustand informiert. Laut seinen Worten sei die ganze Familie Zurov krank, sie litte unter einer Krankheit, die im Sommer ausbricht und von der Klimyč bislang noch nicht Kenntnis erlangt hat, da er nur die Winter bei der Familie in Petersburg verbringt.

„Sag mir wenigstens Namen und Symptome dieser Krankheit“, bat ich.

„Einen Namen hat sie nicht, weil das, wahrscheinlich, der erste Fall ist; die Symptome erkläre ich dir gleich. Doch wie, wo soll ich anfangen? … Also, hör zu … Aber es ist verhext mit Dingen, deren Namen man nicht kennt … Also, sagen wir, ich nenne sie einstweilen „die Schwere Not“, später, wenn Ärzte dahinterkommen, werden sie ihr schon den richtigen Namen geben. Die Sache ist die, dass es die Zurovs den Sommer über nicht zu Hause hält! welch schreckliches, welch mörderisches Leiden.“

Ivan Gončarov – Die Schwere Not, S. 32 f.

Was den Erzähler erst zum Lachen bringt, glaubt er doch an eine Übertreibung seines stets zuhause verharrenden und der Völlerei huldigenden Freundes, wird wenig später tatsächlich zur realen Gefahr. Denn es scheint, als könne nichts und niemand die Familie Zurov aufhalten, die sich auf Wanderungen rund um Petersburg begeben. Aus der Wanderlust wird schnell ein Wahnsinn, der um sich greift…

Die Schwere Not ist eine kurze Novelle, die innerhalb ihrer gut hundert Seiten das skurrile Miteinander der Figuren zelebriert. Da ist die Bilderbuchfamilie Zurov, deren andere Seite erst im Sommer zum Vorschein kommt. Der phlegmatische und wohlbeleibte Nikon Ustinovič, der als Gegenentwurf zu den Zurovs sein Zuhause nie verlässt. Und mittendrin findet sich Gončarovs Erzähler, der diesen seltsamen Fall genau rekapituliert.

Eine lohnenswerte Wiederentdeckung

Freilich ist dieses kein literarischer Weitwurf wie Oblomow, aber als Ausgangspunkt für die Entwicklung seines legendären Helden und als Schilderung einer skurrilen Familie besitzt Die Schwere Not zweifelsohne durchaus ihren Werk, die das jahrzehntelange Verschwinden dieses Werks in den literarischen Bedeutungslosigkeit umso befremdlicher erscheinen lässt.

Durch das Nachwort Peter Urbans und die informative Begriffserklärung einiger russischer Besonderheiten wie etwa das Längenmaß Werst setzt die vorliegende Ausgabe der Friedenauer Presse inhaltlich und gestalterisch Maßstäbe.

Etwas unverständlich bleibt für mich nur das nun zugegebene Nachwort Kior Janevs, dessen Rätselhaftigkeit und sprachliche Chiffrierung mir Gončarovs Text leider mehr verschlossen denn erschlossen hätte, hätte es das zuvor gesetzte Nachwort Peter Urbans nicht gegeben. Denn mit verschwurbelten Passagen wie der folgenden kann ich leider recht wenig anfangen:

Ein weiteres Muster ist die Reise, wobei alle chtonischen Schönheiten und äußeren Naturkräfte dem Liebesamok dienlich sein müssen.

Kior Janev in seinem Nachwort zu Ivan Gončarov – Die Schwere Not, S. 136

Fazit

Mit Die Schwere Not gibt uns die Friedenauer Presse die Chance, ein bis dato recht unbekanntes Frühwerk Ivan Gončarovs wiederzuentdecken, das mit seiner skurrilen Geschichte, Humor und einer mustergültigen Edition überzeugen kann. Dieser besondere Fall von Wanderlust lohnt der Lektüre und sei nicht nur Fans der großen russischen Erzähler gerne ans Herz gelegt!


  • Ivan Gončarov – Die Schwere Not
  • Aus dem Russischen von Peter Urban
  • Mit einem Nachwort von Jior Janev
  • ISBN 978-3-7518-8011-4 (Friedenauer Presse)
  • 137 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Eleanor Catton – Der Wald

Die Schnittstelle von Umweltaktivismus, Idealen und wirtschaftlicher Eigeninteresse erkundet die Neuseeländerin Eleanor Catton in ihrem Roman Der Wald, der vom Aufeinandertreffen einer Gruppe Umweltaktivisten und eines undurchsichtigen Tech-Milliardärs im Korowai-Nationalpark in Neuseeland erzählt. Literatur, die sich dicht am Puls der Zeit bewegt – und der man etwas weniger Ideologie und mehr psychologische Ausdeutung ihrer Figuren gewünscht hätte.


Das kann nimmer werden!
Wer wirbt den Wald, heißt Bäume von der Erden
Die Wurzel lösen? Wie der Spruch entzückt!
Aufruhr ist tot, bis Birnams Waldung rückt
Bergan, und Macbeth lebt in seiner Hoheit
Bis an das Ziel der Tage, zahlt Tribut
Nur der Natur und Zeit.

William Shakespeare – Macbeth, 4. Akt, 1. Szene

Die Frage von Umweltschutz treibt auch in der Literatur treibt vermehrt auch die Schriftsteller und Schriftstellerinnen um. T. C. Boyle wagte in Blue Skies eine Vorausschau, wie es sein könnte, das Leben in der Klimakatastrophe (Spoiler: nicht viel recht anders als heute), C. Pam Zhang malte sich in Wo Milch und Honig fließen eine Gesellschaft aus, in der die Eliten nicht nur metaphorisch gesprochen abgehoben lebt. Bei ihr hat sich eine exklusive Gruppe rund um einen exzentrischen Milliardär auf die Spitze eines norditalienischen Berges zurückgezogen, um dort im kulinarischen Luxus zu schwelgen, während sich der Rest der Menschheit mit fadem Soja-Algenmehl begnügen muss und in einer Welt voller Smog und geschlossener Grenzen zurückbleibt.

Und auch bei Eleanor Catton ist es nun die Gestalt eines exzentrischen Milliardärs, der in ihrer Geschichte um Umweltschutz und Ausbeutung zu einem entscheidenden Faktor wird. Denn Robert Lemoine, so der Name des stark an Elon Musk und andere pubertäre Tech-Milliardäre erinnernde Mannes, ist im Begriff, ein großes Grundstück im Korowai-Nationalpark zu erwerben.

Begehrlichkeiten im Korowai-Nationalpark

Aber auch Mira Bunting, eine neunundzwanzigjährige Gärtnerin und Gründerin des Umwelt-Kollektivs Birnam Wood hat ein Auge auf das Grundstück geworfen, das infolge eines Erdrutsches im Nationalpark so gut wie nicht mehr zugänglich ist. Sie möchte zusammen mit ihrem Kollektiv die 153 Hektar des Farmlandes bewirtschaften – und so Birnam Wood endlich von kleinen Guerilla-Gärtneraktionen hin zu einer soliden Gruppe formen, die nach der erfolgreichen Bepflanzung des Landes auf ihr Anliegen des Umweltschutzes und lokaler Produktzyklen hinweisen kann.

Eleanor Catton - Der Wald (Cover)

Denn bislang konzentrierte man sich auf öffentliche Brachen, kleine Grünflächen, die man überall dort bepflanzte und begrünte, wo es sich gerade ergab. Im Selbstverständnis der Gruppe war man mit seiner Arbeit bislang so etwas wie der wandernde Wald, der in Shakespeares Drama Macbeth einst die Truppen um Macduff tarnte, ehe dieser aus dem Schutz des Waldes heraus den schottischen König tötete.

Als Mira nun das abgeschnittene Gelände rund um die Farm untersuchen möchte, stößt sie auf Robert Lemoine, der Miras wahres Anliegen schnell enttarnt. Er schlägt ihr einen außergewöhnlichen Deal vor. Denn der Milliardär, der mit Drohnen sein Vermögen gemacht hat und damit die Farm von seinem Vorbesitzer übernehmen will, der wiederum sein Vermögen mit Schädlingsbekämpfung gemacht hat, hat genau das, was Birnam Wood fehlt – nämlich Geld. Er schlägt vor, in das Vorhaben der Gruppe zu investieren und zu einem Finanzier der Guerilla-Gärtner zu werden. Was für den Milliardär durchaus mit Eigennutz initiiert wird, stürzt die Gruppe in schwere Dilemmata.

Darf man das Geld eines solchen Mannes annehmen, der mit seinem Privatflugzeug um die Welt jettet und weder Skrupel noch Moral zu kennen scheint? Wie weit tragen die Ideale der Gruppe und welche Kompromisse darf und sollte man für Umweltschutz eingehen?

Umweltaktivismus und linke Debatten

Das, worüber die Gesellschaft hierzulande gerade zu Hochzeiten des Protests der Letzten Generation zum Teil erbittert und teilweise völlig entgleist (Stichwort „Klima-RAF“) debattierte, schlägt sich auch in Eleanor Cattons Roman nieder. Ähnliche Bruchlinien und viele theoretische Diskussionen, wie man sie aus gegenwärtigen Diskussionen und vorwiegend linken Diskursen kennt, sind auch hier zu erleben, was von Schlagwörtern wie Identitätspolitik bis hin zur kultureller Aneignung reicht.

Dabei schildert Eleanor Catton diese Zusammenkünfte und ideologischen Grabenkämpfe durchaus auch mit Humor und Sinn für ironische Überzeichnung.

Zusammenkünfte bei Birnam Wood liefen weitgehend basisdemokratisch ab. Die Rolle des Moderators oder der Moderatorin wurde turnusmäßig zugeteilt – diesmal einer gutmütigen Kinderpflegerin namens Katie Vander -, und Diskussionen hatten fünf vorgegebene Stufen zu durchlaufen: Aktionen vorschlagen; Detailfragen stellen; Einwände und Bedenken vorbringen; Abänderungen vornehmen und schließlich eine Probeabstimmung, wobei nach oben wackelnde Finger Zustimmung signalisierten, nach unten wackelnde Ablehnung und seitlich wackelnde Enthaltung. Katie begann wie immer damit, alle an das übliche Prozedere zu erinnern und dann Birnam Woods „Drei Prinzipien der Einheit“ vorzulesen. „Entwickeln und schützen einer klassenlosen, nachhaltigen , basisdemokratischen Wirtschaft, die sowohl regenerativ als auch responsiv auf die menschlichen Bedürfnisse eingeht: Agieren soweit wie möglich jenseits der kapitalistischen Bezugssystems: Praktizieren von Solidarität und gegenseitiger Hilfe.“

Eleanor Catton – Der Wald, S. 138

Wenn die Gruppe dann diese gerne mit sperrigen, theorielastigen Sprachmustern ausgefochten Diskussionen ob des unmoralischen Angebots hinter sich gelassen hat, gewinnt Der Wald merklich an Fahrt und Qualität.

Denn nun ist die Aufstellung des Romans klar. Da ist Birnam Wood mit ihren Mitgliedern Shelley und Mira, die die neuen Chancen des Geldes und des Grundstücks nutzen wollen. Da ist der abtrünnig gewordene Tony, der aufgrund des Deals mit dem Drohnen-Milliardärs die Grundsätze der Gruppe verraten sieht – und eigene Forschungen vorantreibt. Und da ist Robert Lemoine, der dort oben im Korowai-Nationalpark seine ganz eigene Agenda verfolgt und stets ganz genau im Blick hat, was bei den Guerillagärtner*innen so vor sich geht.

Der Crash von Interessen

Der Crash dieser gegensätzlichen Interessen und Figuren dort im Hinterland Neuseelands entwickelt eine Dynamik, die Der Wald voranträgt und die großen Fragen im Spannungsfeld zwischen Integrität und moralischer Flexibilität bearbeitet.

Noch deutlich mehr an Wucht und psychologischer Tiefe hätte das Ganze gewonnen, wenn sich Eleanor Catton nicht nur auf das Erzählen des Plots und der sich entspinnenden Handlungsfäden verlegt hätte, sondern auch ihre Figuren mit etwas mehr Tiefe versehen hätte. Tiefe, die dann die Zweifel und Glaubenskämpfe im Inneren der Figuren besser ausgeleuchtet und damit auch tiefer ins Geschehen gezogen hätte, als es nun der Fall ist.

So verharren die Figuren leider zumeist in ihrer Schablonenhaftigkeit. Der Tech-Milliardär ist eben der hinterlistige Überwachungs- und Manipulationsexperte, die Mitglieder von Birnam Wood bleiben abseits von Mira, Shelley und Tony vollkommen schemenhaft und auch die drei Umweltschützer geraten in ihrer Zeichnung oftmals nahe ans Klischee. Sie dürfen zwar viel diskutieren und streiten – recht viel mehr an Charakter und Eindrücklichkeit gewinnen sie dadurch leider auch nicht.

Alles hier ist erkennbar mehr auf die Story denn auf die Figuren hin geschrieben. Das ist schade, denn eigentlich kann Eleanor Catton ja beides, wie sie auch schon in ihrem 2013 mit dem Booker-Prize ausgezeichneten Roman Die Gestirne bewies, der sich dem Goldenen Schnitt des Erzählens und dem personellen Gefüge von 12 Menschen zur Zeit des Goldrauschs in Neuseeland widmete.

Fazit

Nachdem es Eleanor Catton gelingt, den Zeitgeist rund um die Frage von Umweltschutz und dem notwendigen Preis dafür einzufangen, ist Der Wald durchaus reizvoll und lohnt der Lektüre, obschon der Roman in manchen Passagen hart am Klischee und an der Ideologie-Parodie linker Diskurse vorbeischrammt.

Wäre es ihr gelungen, diese Zweifel und Glaubenskämpfe der Guerillagärtner*innen von Birnam Wood auch im Inneren ihrer zu schematischen Figuren abzubilden, wäre Der Wald noch zu einem stärkeren Roman geworden, als er es nun ist.


  • Eleanor Catton – Der Wald
  • Aus dem Englischen von Meredith Barth und Melanie Walz
  • ISBN 978-3-442-75764-0 (btb)
  • 512 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Terhi Kokkonen – Arctic Mirage

Alles so seltsam hier. Terhi Kokkonen lässt in ihrem Roman Arctic Mirage ein Pärchen im gleichnamigen Hotel in der finnischen Einöde stranden. Dabei merkt man schnell, das alles ein bisschen verschoben und unnatürlich ist. Aber was hat es damit nur auf sich?


Was für eine eindrückliche Eröffnungsszene, die Terhi Kokkonen an den Anfang ihres Debütromans gesetzt hat, für den sie den Helsingin-Sanomat-Literaturpreis erhalten hat:

Nachdem Karo Risto umgebracht hat, steht sie auf. Der Schnee ist blutbeschmutzt. Ristos Hand ist zur Faust erstarrt, die Augen starren ins Leere. Karos Atem beruhigt sich, Schmerz fühlt sie nicht, nur eine seltsame Losgelöstheit. Der Himmel brennt, drei girlandenartige Nordlichter durchdringen grün das Universum. Dafür sind sie hergekommen. „Ich wollte schon immer Nordlichter sehen“, hatte Risto gesagt. Bis eben zeigten sie sich kein einziges Mal.

Terhi Kokkonen – Arctic Mirage, S. 7

Nordlichter sehen und sterben

Handelt es sich um einen weiteren Thriller der immer noch boomenden skandinavischen Noir-Schule, der hier zu lesen ist? Mitnichten. Denn obwohl Terhi Kokkonen mit diesem grell aufblitzenden Mord in ihren Roman einsteigt, ist es vielmehr das leicht surreal-verschoben-Schwebendes, das Arctic Mirage kennzeichnet. Schon der Beginn ihres Romans setzt hier den Ton.

Terhi Kokkonen - Arctic Mirage (Cover)

Denn eigentlich sind Risto und seine Frau Karo nach Lappland aufgebrochen, um dort Nordlichter zu sehen und ihre Beziehung wieder in ruhigere Bahnen zu lenken. Damit ist es aber nicht weit her, denn statt ruhigere Bahnen lenkt Risto das Auto in einem Ausweichmanöver ins Abseits der Straße. Das Paar erleidet bei dem Umfall ein Schleudertrauma und Karos Nase wird in Mitleidenschaft gezogen.

An einen Heimflug ist nicht zu denken und so beziehen die beiden ein Quartier im luxuriösen Hotel Arctic Mirage, in dem eine Übernachtung 700 Euro kostet. Die Unfallaufnahme mit der Polizei, eine ärztliche Untersuchung, all das will noch erledigt sein, bevor es wieder mit dem Rückflug wieder nach Hause geht.

Doch schon über den Tathergang des Unfalls gibt es Unstimmigkeiten. Während Karo ein entgegenkommendes blaues Auto ausgemacht haben will, dem Risto ausgewichen ist, widerspricht ihr Risto entschieden und will kein Auto gesehen haben. Ähnliche Widersprüchlichkeiten und fast ans Surreale grenzende Erlebnisse setzen sich fort.

Mal wandern die beiden auf der Suche nach dem Empfangsgebäude durch die Hotellandschaft, um erst auf den dritten Versuch die Rezeption an der Stelle auszumachen, wo sie zuvor vergeblich suchten. Dann sind Dinge aus der gemeinsamen Hütte verschwunden. Es mehren sich die Zeichen, das etwas faul ist im Staate Lapplands.

Widerstreitende Perspektiven und Brüche

Gekonnt spielt Terhi Kokkonen mit den Brüchen und den widerstreitenden Perspektiven, erzählt neben dem sich etwas erratisch verhaltenden Paar auch von der Empfangsdame Sinikka oder dem behelfsmäßigen Arzt, der den wohlbetuchten Hotelgästen im Arctic Mirage zur Verfügung steht.

Ähnlich wie in der unendlichen arktischen Landschaft Lapplands droht man auch hier im Text schneeblind zu werden und muss stets auf der Hut sein, um den Blick auf das Erzählte zu hinterfragen. Was spielt sich dort wirklich ab zwischen dem Paar, wessen Blick stimmt und warum gibt es in der Logik der Geschichte wieder sanfte Brüche, Leerstellen und Aussetzer?

Terhi Kokkonen hat einen Text geschrieben, der in viele Richtungen zeigt und den man ganz unterschiedlich lesen kann. Spuren weisen zu einem Domestic Noir, der um die Frage von Gewalt und unzuverlässigem Erzählen kreist. Ebenso gut könnte man Fargo-Anleihen in Kokkonens Text ausmachen oder Arctic Mirage auch in der Tradition von Stephen Kings Shining sehen. Auch die fachliche Beurteilung durch die Presse zeigt in ganz unterschiedliche Richtungen. Von Gaslighting bis hin zu einem eskalierenden Paarpsychogramm legen die Rezensent*innen in ihren Bewertungen den Fokus.

Klare Einordnungen gibt es hier nur wenig, auch verweigert sich der Text eindeutigen Antworten und Auflösungen. Vielmehr sind die Fragilität der Beziehung, des eigenen Verhaltens und die dunklen Stellen im Charakter des Gegenüber Themen, die zumindest in meiner Lesart Arctic Mirage bestimmen. Das macht aus dem Text ein einladend rätselhaftes Vergnügen, in dem man sich verirren kann wie Kokkonens Protagonisten auf dem Weg zur Rezeption oder ins nächste Dorf.

Ein hervorragendes Buch, um in größerer Runde über das Gelesene zu sprechen und die eigene Lesart mit der anderer Menschen abzugleichen. Es wird sich auf alle Fälle lohnen und spannende Aspekte an der Geschichte und der eigenen Wahrnehmung zutage fördern!

Erschienen ist der Roman bei Hanser Berlin und wurde von Elina Kritzokat aus dem Finnischen übertragen.


  • Terhi Kokkonen – Arctic Mirage
  • Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
  • ISBN 978-3-446-27959-9 (Hanser Berlin)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Suzie Miller – Prima Facie

Vom Ein-Personen-Theaterstück zum Roman. Suzie Miller legt mit Prima Facie die Umformung ihres erfolgreichen Schauspiels in Prosa vor und erzählt engagiert von sexuellem Missbrauch und den Fehlern im Rechtssystem, die die Beweis- und Prozessführung erschweren. Prosa, die ihre Herkunft als Bühnenstück nicht ganz verleugnen kann – und die aber dennoch eine eigene erzählerische Form findet.


Prima Facie hat eine spannende Entstehungsgeschichte hinter sich. So war die Australierin Suzie Miller lange Zeit als Strafverteidigerin tätig, ehe sie mit Prima Facie ein Bühnenstück schrieb, das gleich fünfmal für den prestigeträchtigen englischen Theaterpreis der Olivier Awards nominiert wurde und schließlich eine Auszeichnung als bestes neues Stück erhielt. Dazu noch ein Olivier Award für die Schauspielerin Jodie Comer, die in dem furiosen Solo Anklägerin, Gericht, Opfer und Verteidigung zugleich spielt und die für die Broadway-Adaption gleich auch noch einen Tony-Award erhielt.

Viel Vorschusslorbeeren also für das Stück, das von Australien über das Londoner Westend bis nach Amerika seinen Siegeszug antrat – und das auch hierzulande auf den Spielplänen der Theater zu finden ist, etwa im Münchner Residenztheater.

Nun also eine Buchversion, für die Autorin Suzie Miller nun ein langer Entstehungsprozess ihres Stoffs zu einem Ende kommt, wie sie im Nachwort ihres Romans schreibt. Denn dem Theaterstück ging ein langer Schreibprozess voraus, ehe Miller die theatrale Version dann in einen Roman zurückverwandelte, den es jetzt dank der Übersetzerin Katharina Martl und des Kjona-Verlags auch auf Deutsch zu lesen gibt.

Vom Theaterstück zum Buch

Statt dem intensiven 90-Minuten Stück arbeitet Suzie Miller in ihrem Stück mit vielen Rückblenden, die die erste Hälfte des Buchs bestimmen. In Damals und Vorher betitelten Rückblenden lernen wir die Strafverteidigerin Tessa Ensler kennen.

Suzie Miller - Prima Facie (Cover)

Selbst aus der englischen Arbeiterklasse stammend, hat sie sich mit viel Willen und Talent emporgearbeitet zu einer der besten jungen Strafverteidigerinnen, die am Old Bailey genannten Strafgerichtshof in London ihren Dienst tun. Ihre Mutter und ihren Bruder hat sie ebenso wie ihre Kindheit in einer tristen Wohnanlage im Norden von London längst hinter sich gelassen.

Nach einem Jura-Studium in Cambridge ist sie nun Teil einer Kanzlei, in der talentierte junge Rechtsanwält*innen ihrem Tagesgeschäft nachgehen und sich gegenseitig pushen. Zum Unverständnis ihrer Mutter ist die Freilassung von Beklagten nun das Tageswerk von Tessa. Genaue Vorbereitungen auf Prozesse mit messerscharfen Zeugenvernehmungen vor Gericht bestimmen Tessas Alltag. Oftmals gelingt es der jungen Anwältin mit ihrer ausgefeilten Vernehmungstechnik, eine Freilassung oder eine Einstellung der Prozesse zugunsten ihrer Mandanten zu erwirken.

Die Frage der Schuld

Ob jemand schuldig ist, das interessiert Tessa nicht, besser gesagt will sie es gar nicht wissen, um ihren Job gut zu machen

Selbst wenn ich zu wissen glaube, was mein Mandant getan oder nicht getan hat, hat er noch immer das Recht, seine Geschichte vor Gericht zu bringen, das Recht, angehört zu werden. Sobald du anfängst, deinen Mandanten zu verurteilen, bist du am Arsch. Du verlierst dein Fundament. Das Rechtssystem ist verloren. Du bist verloren.

Suzie Miller – Prima Facie, S. 75

In Prozessen um sexuellen Missbrauch nimmt sie die Zeuginnen gnadenlos ins Verhör. Mit spitzfindigen Fragen sät sie bei den Jurys höchst erfolgreich Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Wenn es der Sache dient, hat Tessa keine großen Skrupel, ihre Geschlechtsgenossinen in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, wenn es der Sache und ihren Mandaten dient.

Dann kommt das Buch nach seiner sehr langen Exposition in der zweiten Hälfte des Romans aber doch noch zum Wendepunkt einer bitteren Pointe, die zuvor sorgsam vorbereitet wurde. Denn Tessa widerfährt das, was sie bei anderen jungen Frauen stets anzuzweifeln wusste – sie wird von einem Kollegen vergewaltigt, nachdem alles zuvor nach einem aufregenden Flirt ausgesehen hatte. Und plötzlich findet sich Tessa auf der anderen Seite im Gerichtssaal wieder und wird von der Strafverteidigerin zur Zeugin der Anklage, die nun selbst unter juristischen Beschuss genommen wird.

Dass Prima Facie ein Theaterstück war, das vermittelt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs. Minutiös beschreibt Suzie Miller die Mechaniken des Prozesses, den sie ähnlich wie ihr schreibender Kollege Ferdinand von Schirach qua beruflichem Vorleben inwendig kennt.

Schuld und Bühne

Die Vorbereitungen des Prozesses gegen Tessas Vergewaltiger, die Vernehmung Tessas als Zeugin, die Anwesenheit von Familie und Beklagtem im Gerichtssaal, all das schildert Suzie Miller nahezu in Echtzeit. Der Gerichtssaal wird hier zur Bühne, auf der noch so viel mehr als alleine Tessas Fall verhandelt wird.

Denn Prima Facie findet im Rechtsmittel des Voire Dire, einer Spezialität des englischen Prozessrechts, zum Höhepunkt. Nachdem sich Tessa nun einmal selbst der erniedrigenden Vernehmung und den unverschämten Suggestionen eines Kronanwalts unterziehen musste, kann sie nicht mehr an sich halten und nutzt das Rechtsmittel, um so über die Vernehmungsfragen hinaus selbst Stellung zu ihrem Fall zu nehmen. Sie hält einen eigentlich zwar spontanen, und doch bühnenreifen, flammenden, höchst emotionalen und zugleich intellektuell durchdrungen Monolog, für den die Jury aus dem Saal geschickt wird, um nicht beeinflusst zu werden.

All die Erfahrungen auf beiden Seiten der Missbrauchsprozesse, das gerade Erlebte, das schreiende Unrecht, dass jede dritte Frau in England sexuellen Missbrauch erlebt hat, aber nur jede zehnte einen solchen Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt, all das fließt in diese zentrale Szene ein, die dem Roman schon fast auch etwas Aktivistisches gibt.

Hier meint man selbst im Publikum zu sitzen, wenn Tessa aus dem Zeugenstand heraus das patriarchal geprägte Rechtssystem, die Unmöglichkeit einer klaren Beweisführung und den falschen Umgang mit den Opfern solcher Übergriffe anprangert. Hätte es Suzie Miller geschafft, der ersten Hälfte auch ein wenig der Dringlichkeit dieses Appells zu verleihen, hätte Prima Facie noch ein Stück mehr gewonnen.

Fazit

So tritt in Prima Facie stilistisch und gestalterisch alles hinter den klaren Höhepunkt des Romans im Gerichtssaal zurück. Etwas weniger subtil als beispielsweise Ian McEwan in Kindeswohl wird auch in Prima Facie der Gerichtssaal zur Bühne für die ganz großen gesellschaftlichen Fragen, unseres Miteinanders und der Lücken im Rechtssystem. Trotz der vielen Rückblenden sticht das Buch auf der Ebene der Sprache nicht wirklich hervor, da es Suzie Miller nicht ganz gelingt, einen eigenen Sound zu kreieren, sondern in einer stilistisch recht uniformer Schilderung der Vorgänge und der Figurenzeichnung zu verharren.

Davon abgesehen ist das Buch wirklich engagiert und legt seinen Finger in eine Wunde unseres Rechtssystems. So schärft die schreibende Anwältin Suzie Miller zusammen mit einigen anderen Werken in letzter Zeit das Bewusstsein für das, was sexueller Missbrauch und seine Aufarbeitung für Betroffene bedeuten kann – nicht nur vor dem Hintergrund des skandalösen Freispruch Harry Weinsteins in den USA vor wenigen Tagen.


  • Suzie Miller – Prima Facie
  • Aus dem Englischen von Katharina Martl
  • ISBN 978-3-910372-21-4 (Kjona)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen