Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord

35 Jahre ist eigentlich noch kein Alter für eine Midlifecrisis. Und doch fühlt Henry Preston Standish in sich den Drang, aus seinem geregelten Leben mit Job, Frau und Kind auszubrechen. Und so findet sich der distinguierte Gentleman an Bord der S. S. Arabella wieder, wo es in Herbert Clyde Lewis‚ Roman Gentleman über Bord zu einem verhängnisvollen Zwischenfall kommt.


Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf. Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhinkam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen. In diesem Teil des Pazifiks vollzog sich der Sonnenaufgang ohne großes Tamtam: Die Sonne setzte lediglich ihre orangefarbene Kuppel auf den fernen Saum des großen Kreises und schob sich langsam, aber beständig nach oben, bis die matten Sterne mehr als genug Zeit hatten, mit der Nacht zu verblassen.

Tatsächlich dachte Standish gerade über den gewaltigen Unterschied zwischen dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang nach, als er den unglücklich Schritt machte, der ihn in die See beförderte.

Was für ein Auftakt für diesen Roman, der nach seinem Erscheinen 1937 nun erstmals auf Deutsch zu entdecken ist. Von Honolulu auf Hawai bis nach Panama soll die Reise führen, zu der sich Henry Preston Standish berufen fühlt.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 13

Ein Mann in der Midlifecrises – und im Pazifik

Herbert Clyde Lewis - Gentleman über Bord (Cover)

Eigentlich führt er eine Bilderbuchexistenz, wie sie sich viele andere Menschen nicht nur in den Dreißiger Jahren in Amerika erträumten. Als Eigner einer Börsenmaklerfirma muss er sich um sein Auskommen keinerlei Gedanken machen. Seine Frau Olivia hat er drei Monate nach dem Kennenlernen geheiratet und zusammen mit ihr zwei Kinder. Man lebt in einer Vierzimmerwohnung am Central Park und hat sich sehr komfortabel eingerichtet im begüterten Leben dort in New York.

Und doch ist da diese Leere in ihm, die er nun nach sieben Jahren Ehe mit der Schiffsreise von Hawai bis zum Panamakanal füllen möchte.

Viele Tage an Bord der Arabella, in Gesellschaft einer kleinen Reisegruppe und einer ebenso handverlesenen Besatzung, so sieht es der Plan eigentlich vor. Doch dann ist dann ist es ausgerechnet ein Ölfleck, der das Unglück auslöst, das Standish mitten hinein in den Pazifik befördert. In einer schon fast slapstickhaften Nummer rutscht Standish in dieser Öllache aus, als wäre es eine Bananenschale. Er fasst nicht mehr Tritt und so heißt es schon auf den ersten Seiten des Buchs Gentleman über Bord.

Gentleman über Bord

Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindische, ungezogene Tat, und wenn Standish jemanden hätte um Verzeihung bitten können, dann hätte er es getan. Die Leute daheim in New York wussten, dass Standish ein ausgeglichener Typ war. Seine Erziehung und Ausbildung hatten die Ausgeglichenheit hervorgehoben. Selbst als Heranwachsender hatte Standish immer das Richtige getan. Weit entfernt davon, blasiert zu sein oder einen Kult mit Umgangsformen zu treiben, war Standish wahrhaft ein Gentleman von der guten, unaufdringlichen Sorte.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 29

Eigentlich ist er geneigt, sich für die Umstände entschuldigen zu wollen und wagt es zunächst beschämt gar nicht, laut nach Hilfe zu rufen, allzu unschicklich ist dieser Vorfall für ihn. Doch als sich das Schiff unaufhaltsam vom wassertretenden Standish entfernt, muss er doch nach Hilfe rufen.

Diese bleibt allerdings aus, denn außer Standish befand sich zum Zeitpunkt des Unglücks niemand an Deck. Und auch in der Folge wird der Gang über Bord nicht bemerkt werden, wie Herbert Clyde Lewis ausführlich zu schildern weiß. Es kommt zu einer unglücklichen Verkettung von Umständen, durch die weder beim Frühstück noch im Laufe des Tages das Fernbleiben des Gentleman auffällt. Verwechslungen, unglückliches Timing und schlichtes Pech sorgt dafür, dass die Arabella weiterhin Kurs auf Panama hält, während Standish im Wasser des Ozeans tritt.

Dies entwickelt sich für den Börsenmakler erst langsam zum Problem. Denn eigentlich ist das Wasser von einer angenehmen Temperatur, Haie gibt es in diesen Breiten nicht – und so schaukelt Standish auf den Wellen und sinnt über sein Leben und das Unglück an Bord der Arabella nach. Doch je weiter der Roman voranschreitet, umso prekärer wird die Lage. Ob man auf dem Schiff die Abwesenheit des Mannes noch rechtzeitig bemerkt?

Viele Gefühle auf kleinstem Raum

Herbert Clyde Lewis hat mit Gentleman über Bord einen Roman geschrieben, der auf allerkleinstem Raum spielt. Es sind gerade einmal zehn Kapitel, die die etwas mehr als hundertfünfzig Seiten gliedern, die außer dem Schiff Arabella und dem im Meer treibendenden Standish keinen Schauplatz bieten. Den minimalen Raum weiß Lewis aber zu nutzen, indem er seinen Protagonisten und mit ihm auch uns alle Gefühlsregungen durchlaufen lässt. Melancholie, Trauer, Komik, Verlustängste – all das steckt in den Seiten von Gentleman über Bord.

Jochen Schimmang zeichnet in seinem Nachwort das Leben von Herbert Clyde Lewis nach, der 1909 als Sohn russisch-jüdischer Migranten in Brooklyn zur Welt kam und dem zeitlebens ein ähnliches Pech als Schriftsteller wie seinem Gentleman im Pazifik beschieden war. Er musste sich abstrampeln und von Job zu Job hangeln, Drehbücher verfassen – und geblieben ist ihm ebenso wenig, wie von Standish dort in den Weiten des Ozeans. Mit gerade einmal 41 Jahren starb Herbert Clyde Lewis. Umso schöner, dass ihm nun 73 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1950 postum die Ehre einer Wiederentdeckung zuteil wird.

Fazit

Ein großartiges Büchlein, in dem man gerne versinkt wie Standish in den Weiten des Pazifiks. Das ist Literatur, mit der man keinesfalls Schiffbruch erleidet!


  • Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord
  • Aus dem Englischen von Klaus Bonn
  • Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang
  • ISBN 978-3-86648-696-6 (Mare)
  • 176 Seiten. Preis: 28,00 €
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Peter Papathanasiou – Steinigung

Gefährliche Kängurus, gesteinigte Lehrerinnen, Abschiebegefängnisse und mittendrin der griechischstämmige Ermittler Giorgios „George“ Manolis, der im Outback nach den Gründen für den grausamen Tod der Lehrerin sucht. In seinem Reihenstart macht Peter Papathanasiou gleich viel richtig und legt mit Steinigung einen Einstand nach Maß vor.


Australien ist reich an kriminalliterarischen Stimmen. Candice Fox, Chris Hammer, Loraine Peck, Jock Serong, Garry Disher, Jane Harper, Alan Carter, und und und. Nun präsentiert der Polar-Verlag eine weitere Stimme aus Down Under. Peter Papathanasiou wurde 1974 in Nordgriechenland geboren und als Baby von einer Familie in Australien adoptiert. Schon seine Großeltern mussten die Erfahrung von Flucht und Entwurzelung machen, als sie 1923 von der Türkei nach Griechenland übersiedeln mussten. Papathanasious Eltern selbst wanderten dann von Griechenland nach Australien aus und adoptierten ihn dort kurze Zeit später. Wenig überraschend schlagen sich viele dieser biografischen Facetten in Plot und Charakterzeichnung von Steinigung nieder.

Eine Steinigung im australischen Outback

So ist sein Detective Sergeant Giorgios „George“ Manolis ebenfalls griechischstämmig und bekommt es in seinem Fall gleich mit vielen Entwurzelten und Geflüchteten zu tun. Doch zunächst beginnt alles mit einem brutalen Mord im kleinen Städtchen Cobb im Outback von Australien.

Peter Papathanasiou - Steinigung (Cover)

Gefühlt mehr Kängurus als Menschen besiedeln diesen Ort, der langsam vor sich hin stirbt. Es gibt zwei Pubs im Ort, säuberlich getrennt nach Hautfarbe, aber verbunden im hemmungslosen Alkoholkonsum der Kundschaft. Auch Teile der Polizei sind dem Alkohol nicht abgeneigt, weshalb die Hinzuziehung von Manolis in einem besonders brutalen Mordfall Sinn ergibt.

So wurde die beliebte Lehrerin Molly Abbott tot aufgefunden. An einen Baum gebunden wurde sie gesteinigt. Eine ebenso brutale wie archaische Mordmethode, die die lokale Polizei vor Rätsel stellt. Schlecht ausgestattet und mit wenig fähigem Personal besetzt, ist die Hinzuziehung von DS Manolis ein mehr als logischer Schritt. Er soll vor Ort die Ermittlungen vor Ort betreuen und koordinieren. Dabei trifft er auf mal betrunken, mal abwesende Polizeimitarbeiter, alkoholisierte Zeuginnen und feindselige Stimmung.

Hoffnungslosigkeit vor und hinter den Gittern des Auffanglagers

Einziger Lichtblick ist der Constable Andrew Smith, den Manolis unter seine Fittiche nimmt. Als Aborigine und Homosexueller ist er in Cobb gleich zweifach stigmatisiert, kennt aber Land und Leute und hilft Manolis so bei seinen Ermittlungen. Dieser stößt auf Spuren, die ihn zum von der Bevölkerung despektierlich „Braunenhaus“ geheißenen Auffanglager für Geflüchtete in der Hitze des australischen Outbacks führen.

Hier gab Molly Abbott Unterricht und hier sitzen verzweifelte Menschen ein, die vielleicht etwas mit der archaischen Steinigung zu tun haben könnten. Manolis beginnt mit den Ermittlungen, die für ihn auch eine persönliche Note haben, schließlich stammt er selbst auch aus Cobb. Er erfährt die Hoffnungslosigkeit der Menschen vor und hinter den Gittern des Auffanglagers und ermittelt gegen viele Widerstände unbeirrt, um den Mörder Molly Abbotts zu überführen. Doch je tiefer er zum Geheimnis hinter dem Tod der Lehrerin vordringt, umso größer werden für ihn auch die Gefahren, die hier nicht nur von boxenden Kängurus ausgehen.

Ein gelungener Krimi mit dem Auge für soziale Probleme

Steinigung ist ein Roman, der sehr viel richtig macht. Gelungen schafft es Peter Papathanasiou , die von Alkoholismus und Hoffnungslosigkeit geprägte Stimmung dort im australischen Outback einzufangen. Der recht offen zutage tretende Rassismus gegenüber den Geflüchteten oder den Aborigines thematisiert er en passant, ohne dass das Buch zu moralinsauer würde.

Ebenso gelungen ist auch seine Perspektive auf das Einwanderungsdilemma und menschenunwürdigen Umgang mit Geflüchteten dort im Outback. Exemplarisch erzählt er über die Verdächtigen dort im Internierungslager von Gewalt, Hoffnungslosigkeit und den menschlichen Dramen, die sich dort hinter den Gittern abspielen. Damit beweist Peter Papathanasiou sein Auge für soziale Probleme, über die er aber auch den Krimi nicht vergisst.

Er entwickelt seinen Plot mit dem richtigen Tempo und findet neben den Ermittlungen auch noch Platz, um die vielfältige Tierwelt Australiens mit in seinen Krimi einzubinden. Wer vor der Lektüre von Steinigung Kängurus für niedliche und possierliche Tierchen hielt, der sieht sich nach dem Ende des Buchs eines Besseren belehrt.

Fazit

In Steinigung schafft Peter Papathanasiou die richtige Balance aus Plot und Atmosphäre, Spannung und aufrüttelndem Blick auf unseren Umgang mit Geflüchteten. Mit George Manolis schickt er einen melancholischen Ermittler in den Busch Australiens, der sich auch von durchgeschnittener Bremsleitungen und Verbindungen aus der Vergangenheit in seinen Ermittlungen nicht beirren lässt. Ein gelungener Krimi, mit dem sich Peter Papathanasiou auf der kriminalliterarischen Landkarte Down Unders einschreibt und dem gerne noch weitere Bücher folgen dürfen!


  • Peter Papathanasiou – Steinigung
  • Aus dem Englischen von Sven Koch
  • ISBN 978-3-948392-70-3 (Polar-Verlag)
  • 368 Seiten. Preis: 17,00 €
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Vorschaufieber Herbst 2023

The same procedure as every Halbjahr: meine Sichtung der Verlagsprogramm hinsichtlich spannender Titel, abseits von Kehlmann und Co. Titel, auf die ich mich freue, sortiert in verschiedenen Kategorien. Voilá:

Belletristik national

Philipp OehmkeSchönwald (Piper). Jennifer BeckerZeit der Langeweile (Hanser Berlin). Thomas HettcheSinkende Sterne (KiWi). Johanna SebauerNincshof (Dumont). Ulrich WoelkMittsommertage (C. H. Beck).

Inger-Maria MahlkeUnsereins (Rowohlt). Friedemann KarigDie Lügnerin (Ullstein). Steffen KopetzkyDamenopfer (Rowohlt). Felix HeidenreichDer Diener des Philosophen (Wallstein). Tom HillenbrandDie Erfindung des Lächelns (KiWi).

Hans Pleschinski Der Flakon (C. H. Beck). Luca KieserWeil da war etwas im Wasser (Picus). Thomas WillmannDer eiserne Marquis (Liebeskind). Alida BremerTesla oder die Vollendung der Kreise (Jung und Jung). Fanny Lewald Jenny (Reclam).

Belletristik international

Maryse CondéDas Evangelium der neuen Welt (Übersetzt von Bettina Bach, btb). Rebecca MakkaiIch hätte da noch ein paar Fragen an Sie (Übersetzt von Bettina Abarbanell, Eisele). Jonathan CoeBournville (Übersetzt von Cathrine Hornung und Juliane Gräbener-Müller, Folio). Aisha Abdel GawadZwischen zwei Monden (Übersetzt von Henriette Zeltner-Shane, Blumenbar). Geovani MartinsVia Ápia (Übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner, Suhrkamp).

Suzette MayrDer Schlafwagendiener (Übersetzt von Anne Emmert, Wagenbach). Stephanie BishopDer Jahrestag (Übersetzt von Kathrin Razum, dtv). Lina NordquistMein Herz ist eine Krähe (Übersetzt von Stefan Pluschkat, Diogenes). Shehan KarunatilakaDie sieben Monde des Maali Almeida (Übersetzt von Hannes Meyer, Rowohlt). Arnon GrünbergGstaad (Übersetzt von Rainer Kersten, Die andere Bibliothek).

Benjamín LabatutMANIAC (Übersetzt von Thomas Brovot, Suhrkamp). José Falero – Supermarkt (Übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreine, Hoffmann und Campe). Anne SerreDie Gouvernanten (Übersetzt von Patricia Klobusiczky, Berenberg). Helga FlatlandDie Resonanzen (Übersetzt von Elke Ranzinger und Ina Kronenberger, Ecco). Tess GuntyDer Kaninchenstall (Übersetzt von Sophie Zeitz, KiWi).

Lauren GroffDie weite Wildnis (Übersetzt von Stefanie Jacobs, Ullstein). Mia CoutoDer Kartograf des Vergessens (Übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner, Unionsverlag). Louise MeriwetherEine Tochter Harlems (Übersetzt von Andrea O’Brien, Rowohlt). Lawrence OsborneJava Road Hongkong (Übersetzt von Gottfried Röckelein, Ars Vivendi). Carlos FranzDas verschwundene Meer (Übersetzt von Lutz Kliche, Mitteldeutscher Verlag).

Sarah Hall Sommerwasser (Übersetzt von Nicole Seifert, Unionsverlag). Edward P. JonesDie bekannte Welt (Übersetzt von Hans-Christian Oeser, Ullstein). Louise Kennedy Übertretung (Übersetzt von Hans-Christian Oeser und Claudia Glenewinkel, Steidl). Alice ZeniterMachtspiele (Übersetzt von Yvonne Eglinger, Piper). Laurent MauvignierGeschichten der Nacht (Übersetzt von Claudia Kalscheuer, Matthes & Seitz).

Spannung

Jordan HarperAlles schweigt (Übersetzt von Conny Lösch, Ullstein). Yves RaveyTaormina (Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, Liebeskind). Dennis LehaneSekunden der Gnade (Übersetzt von Malte Krutzsch, Diogenes). Doug JohnstoneEingefroren (Übersetzt von Jürgen Bürger, Polar-Verlag). Andreas PflügerWie Sterben geht (Suhrkamp).

Sachbuch

Jakuta AlikavazovicWie ein Himmel in uns (Hanser). Stefan BollmannZeit der Verwandlung (Klett-Cotta). Michael MaarLeoparden im Tempel (Rowohlt). Aldoux HuxleyAlong the road (Übersetzt von Willi Winkler, Rowohlt). Alexander PechmannDie Bibliothek der verlorenen Bücher (Schöffling).

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Adam Andrusier – Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn

In Zeiten der Selfies mit den Stars auf dem roten Teppich sind sie etwas ins Hintertreffen geraten – die guten alten Autogramme. Adam Andrusier ruft in seinem Roman Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn diese Erinnerung wach und erzählt von seinem Leben als Autogrammsammler in Form eines autobiographisch grundierten Entwicklungsroman.


Immer wieder unterbrechen die Namen von Stars nebst Autogramm und zugeschriebenem Zitat den Roman von Adam Andrusier. Sie dienen im Debüt des 1981 geborenen Engländers als Kapiteleinteilung. Eine sinnige Entscheidung, dreht sich das Leben des Erzählers doch schon seit Kindertagen um Autogramme.

Von Ronnie Barker bis zu Ray Charles

Alles beginnt dabei mit einer Unterschrift von Ronnie Barker, der in der Nachbarschaft von Adams Familie in Pinner wohnt. Dort im Nordwesten Londons lebt der Komödiant, der Adam im persönlichen Kontakt zunächst noch die Unterschrift verwehrt, dann aber aufgrund eines Briefs, den Adam an die Berühmtheit aus der Nachbarschaft schreibt, das ersehnte Autogramm im Nachgang doch noch erhält. Dieses Autogramm ist der Grundstein, auf dem Adams Sammeln aufbaut. Fortan schreibt er an bekannte und berühmte Menschen mit der Bitte nach Autogrammen, die ihm meistens auch gewährt werden.

Adam Andrusier - Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn

Täglich treffen Schreiben mit Unterschriften von Persönlichkeiten ein. Bekanntere Stars, kleinere Namen, in seinem Sammelrausch macht Adam da keinen Unterschied und baut sein Geschäft mit den Korrespondenzen immer weiter aus. Während seine ältere Schwester in der Literatur versinkt und sich den großen englischen Klassikern hingibt, ist Adam immer mehr auf dem Sprung zum gewerbsmäßigen Autogrammsammler und lauert auch Stars auch nach Konzerten oder Autogrammstunden auf, um die heißgeliebten Unterschriften für seine Sammlung zu ergattern.

Mit seiner Sammelleidenschaft ist er im Übrigen auch nicht alleine, sein Vater, der Adam zum Sammeln ermuntert, pflegt die Erinnerung an sein jüdisches Erbe, indem er Bilder von zerstörten Synagogen in ganz Europa sammelt. Zudem retuschiert er die Gesichter seiner Familie regelmäßig in andere Abbildungen hinein und findet so einen Ausgleich zu seinem Dasein als Versicherungsmakler.

Aus dem Leben eines Autogrammjägers

Erst der Besuch einer Fachmesse und der Kontakt mit anderen Sammlern bringt Adam dann die ernüchternde Erkenntnis, dass viele seiner Autogramm wertlose „Sekretariatsautogramme“ sind. Bei ihnen handelt es sich um Autogramme, die viele signierunwillige Stars einfach von ihrem Personal oder ihren Familien anfertigen ließen, um sich Arbeit zu ersparen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf verdoppelt Adam seine Anstrengung noch einmal und wird mit seiner Sammelleidenschaft sukzessive zu einem respektierten Mitglied in der englischen Sammlergemeinde.

Diese Entwicklung zeichnet Adam Andrusiers von der Kindheit und den Sammelanfängen bis hin zu seinem Dasein als Autographenhändler chronologisch nach. Daneben erzählt er von seinem Studium, seiner pianistischen Vervollkommnung und den innerfamiliären Konflikten, die den Alltag der Familie Andrusier häufig dominieren. Denn die starke Bindung seines Vaters zu seiner ebenso anspruchsvollen wie schwierigen Mutter und die unbändige Liebe zum israelischen Volkstanz sowie dem Komödiantentum auf offener Bühne bringen viel Spannung in die Beziehung der Eltern, die Andrusiers in diesem autobiographischen Roman recht ungeschönt nachzeichnet.

Vom Reiz des Sammelns

Das alles ist schön erzählt, folgt einer sinnigen Struktur – und doch fehlt mir für eine restlose Begeisterung doch der letzte Funke. Jüdische Identität, das komplexe und sich wandelnde Vater-Sohn-Verhältnis, das Geschäft mit der Unterschrift von Stars und die findigen Wege Adams, an diese zu gelangen. All die Themen sind für sich genommen interessant – aber irgendwie plätschert die Erzählung doch ohne rechten Höhepunkt vor sich hin.

Ähnlich wie zuletzt etwa Shaun Bythell in seinem Berufsbild Tagebuch eines Buchhändlers muss man schon ein gesteigertes Interesse an den im Buch verhandelten Autogrammepisoden mitbringen, um sich tief in den heute schon etwas anachronistischen Trends des Sammelns, Tauschens und Beurteilens der Star-Unterschriften zu versenken. Zwar gibt es immer wieder nette Anekdoten, etwa über eine falsche Unterschrift von Marilyn Monroe oder den Versuch Adams, dem blinden Ray Charles ein Autogramm abzuluchsen, über die ganze Länge des Buchs tragen solche Einzelepisoden allerdings nicht wirklich.

Fazit

Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn ist ein Feelgood-Roman über eine kuriose jüdische Familie, den Reiz des Sammelns und die Anstrengung, die ein Autogramm manchmal auch bedeuten kann. Dennoch fehlt dem Buch in meinen Augen etwas ein Spannungsbogen oder eine besondere literarische Gestaltung, um über das Adjektiv „nettes“ Buch hinauszukommen. So legt Adam Andrusier ein anekdotenreiches Erinnerungsbuch vor, das sich prima verschenken lässt, gut unterhält und Fans von Shaun Bythell oder auch Joachim Meyerhoff glücklich machen dürfte.


  • Adam Andrusier – Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-293-00593-8 (Unionsverlag)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens

Ein rekonvaleszenter Mann, der eine Wohnung hütet. Im Geäst der Platane vor dem Haus: jede Menge Krähe, die sich als resilienter erweisen, als angenommen. Und über allem die große Frage, was das über unsere Gesellschaft aussagt. Christina Walker mit ihrem zweiten Roman Kleine Schule des Fliegens.


Schon in ihrem ersten Roman Auto erwies sich die in Bregenz geborene und in Augsburg lebende Autorin als Spezialistin für den kleinen Raum. Damals setzte sie einen Vertreter namens Busch ins Auto, das allerdings nirgendwo hinfuhr, sondern stattdessen im Hof parkte und zum Lebensmittelpunkt des Mannes wurde, der beschlossen hatte, aus dem Hamsterrad des täglichen Dauerlaufs aus- und ins parkende Auto einzusteigen.

Und auch in Walkers zweitem Roman taucht jetzt wieder ein Mann auf, der in einem Auto zu wohnen scheint und als Hobbyornithologe die Krähen im Geäst einer Platane beobachtet. Er ist allerdings diesmal nur eine Nebenfigur in einer Geschichte, die um einen anderen Mann kreist, der sich ebenfalls auf kleinen Raum beschränken muss. Alexander Höch ist der Name des Mannes, der sich in Isolation befindet und der die vier Wände eigentlich nicht verlassen soll.

Das bodentiefe Fenster zum Hof

Christina Walker - Kleine Schule des Fliegens (Cover)

Nach einer anstrengenden Krebsbehandlung und einer im eigentlichen Haus anstehenden Renovierung hat er die Wohnung seines Bruders als Quartier bezogen. Seine Frau Eva beaufsichtigt die Handwerker daheim, die Tochter Lilly ist in Frankreich auf Reisen und so kann sich Höch dort abgeschieden von seiner Familie auf die Gesundung nach der Chemotherapie besinnen.

Den Schutzraum der Wohnung sollte er in seinem rekonvaleszenten Zustand am besten nicht verlassen – und wenn dann am besten mit Maske und minimalem Fremdkontakt. Unterstützung erhält er im Alltag von einer Bekannten seines Bruders namens Melitta Miller, die nach ihm sieht, Besorgungen für den Alltag abnimmt und ihm auch einmal ein Essen in die Mikrowelle stellt.

So notwendige die Isolation für den Gesundungsprozess auch ist – besonders inspirierend ist sie doch nicht. Und so vertreibt sich Höch die Tage neben dem Notat flüchtiger Einfälle und Wortspielereien vor allem mit dem Beobachten des Wohnungsumfeldes. Durch das bodentiefe Fenster seiner temporären Wohnstatt beobachtet er den Hof und die Straße. Es ist neben dem angrenzenden Altenheim besonders die Platane, die vor dem Haus wächst, die ihm viel Unterhaltung bietet. Denn darin brüten Krähen. Ist es zunächst nur ein einzelnes Paar, so werden es schnell immer mehr Saatkrähen, die sich dort im Geäst niederlassen.

Kräh-Silienz

Während Altenheimbewohner*innen die Vögel anfüttern, erwächst auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen die Rabenvögel. Lärm, Dreck und die Aussicht auf eine lange Koexistenz befeuern den Widerstand gegen die Tiere, der vor allem von Melitta Miller angeführt wird. So findet Höch eines Morgens einen Revolver auf dem Tisch der von ihm gehüteten Wohnung vor. Nur eine der zahlreichen Maßnahmen, mit denen die Anwohner*innen versuchen, die Krähen zu vergrämen.

Doch dass Ultraschall, Blinker und Ballons keine große Wirkung in Sachen Vergrämung zeigen, das liegt neben der Resilienz der Krähen auch an Höch, der die Maßnahmen immer wieder sabotiert und die Ergebnisse seiner Sabotagen in der unbenutzten Hälfte des Bettes sammelt.

Es sind aber nicht nur Dinge und Fundstücke, die Höch sammelt. Auch Erinnerungen sind mit den Funden verknüpft. So bringt etwa die Pfeilspitze, die für das Ende des Krähenschreckballons im Baum sorgte, Erinnerungen an die eigene Kindheit und das damit verbundene Indianer-Spielen zurück. Flashbacks an die Zeit im Krankenhaus, die Krankenschwester und seinen Mitbewohner, all das durchdringt immer wieder Höchs Gedanken und auch seinen Alltag.

Ein Text mit mehreren Ebenen

Christina Walker hat einen Roman geschrieben, der auf den ersten Blick recht einfach wirkt. Ein Mann hütet nach überstandenen Krebserkrankung ein fremdes Zuhause und ergreift Partei für die Krähen, die von anderen vertrieben werden wollen. Doch wie schon in Walkers Debüt zeigt sich auch, dass hinter der der vordergründigen Erzählebene eine zweite Erzählebene wartet, die eine hermeneutische Ausdeutung erlaubt, die Walker den Lesenden deutlich nahelegt.

Man kann Sätze wie diesen gar nicht ohne Bezug auf die Gegenwart lesen, etwa wenn debattierende Passanten auf der Straße angesichts der Krähenkolonie bemerken:

„Das ist eine der schönsten Straßen der Stadt“, sagte die Frau mit den kurzen blonden Haaren, „eine Krähenkolonie hat hier einfach keinen Platz“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 30

Melitta Miller kippt in der Wahrnehmung von der umsorgenden Alltagsstütze zur schäumenden Wutbürgerin, wenn sie auf Höch eindringt:

(…) Und denken sie dran. Wir tun das für die gesamte Straße. Für unser aller Ruhe und Sauberkeit. Die Krähenabwehr ist ein sozialer Akt.“

„Die Vögel erscheinen mir auch sozial“ äußerte ich unbedacht.

Melitta Miller zog hörbar Luft ein. „Das ist Sabotage, zischte sie leise. Sie wisse sehr wohl, dass jemand die Krähen füttere. Natürlich funktioniere so keine Vergrämung, wenn zugleich angefüttert werde. Das spreche sich darüber hinaus noch herum, sogar bei standortfernen Vögeln. „Bald haben wir sie alle hier“, sagte Melitta Miller leise und eindringlich. Die ganze Population aus dieser Gegend, eine große, schwarze Kolonie. Wollen Sie das? Wir wollten es doch vermeiden, scharf zu schießen.“

Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens, S. 89

Nein, die große schwarze Kolonie, sie soll bleiben, wo sie bislang war. Dass dieses Verhalten Erinnerungen der nebenan wohnenden Altenheimbewohner*innen an ähnliche Ausgrenzungen erinnert, das macht Christina Walker recht deutlich, indem eine Seniorin im Gespräch mit Höch Erinnerungen an ihr eigenes Ankommen damals in der Stadt und die Abschiebung in ärmliche Baracken außerhalb der etablierten Wohnordnung wachruft.

Fazit

Kleine Schule des Fliegens ist ein Text, der Verdrängungsmechanismen, Angst und Vorbehalte schildert, die sich nahezu deckungsgleich von der Tierwelt auf unsere heutigen Diskurse rund um den Umgang mit Zuwanderung, Geflüchteten etc. übertragen lassen. Die Angst vor Überfremdung, Abwehrreflexe, einfache Parolen und das Schwinden des Mitgefühls für das Schicksal anderer. All das sind Themen, die diesem Text tief eingeschrieben sind und die die zweite Ebene des Romans ausmachen.

Christina Walker gelingt hier ein doppeldeutiger Text, der einen Gesundungsprozess beschreibt und der einen Menschen zeigt, dessen Empathie und Gefühle noch nicht verschwunden sind. Tod, Verlust, aber auch Hoffnung und das Gefühl, nicht alleine zu sein – all das steckt in Kleine Schule des Fliegens!


  • Christina Walker – Kleine Schule des Fliegens
  • ISBN 978-3-99200-342-6 (Braumüller)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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