Katie Kitamura – Intimitäten

Jedes Jahr am 30. September feiert die Übersetzungswelt den Hieronymustag als Internationalen Übersetzertag, der die Kunst der Übertragung von Texten und Reden in andere Sprachen in den Mittelpunkt stellt. Katie Kitamura liefert mit Intimitäten den passenden Roman zu diesem Tag ab. Darin preist sie die Kunst des Übersetzens und schafft ein Bewusstsein für die schwierige Arbeit, die die Übersetzer*innen in Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof im Verborgenen erbringen.


Kitamuras Heldin und namenlose Ich-Erzählerin kommt nach dem Tod ihres Vaters nach Den Haag. Dort hat sie sich für eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof beworben – verfügt allerdings über kein soziales Netz vor Ort, weshalb sie anfangs mit ihrem neuen Wohnort fremdelt.

Ich kam mit nicht viel mehr als einem Ein-Jahres-Vertrag vom Gerichtshof nach Den Haag. In jener ersten Zeit, als die Stadt mir noch fremd war, fuhr ich oft ziellos mit der Straßenbahn herum und lief stundenlang durch die Straßen, sodass ich gelegentlich nicht mehr wusste, wo ich war, und den Stadtplan auf meinem Handy zu Rate ziehen musste. Den Haag wies eine Familienähnlichkeit mit jenen anderen europäischen Städten auf, in denen ich lange Abschnitte meines Lebens verbracht hatte, vielleicht überraschte es mich deshalb, dass ich so oft die Orientierung verlor. In diesen Momenten, wenn Verwirrung an die Stelle meines Gefühls von Vertrautheit trat, fragte ich mich, ob ich hier je mehr als eine Besucherin sein könnte.

Katie Kitamura – Intimitäten, S. 8

Doch ihr Gefühl der Fremdheit an ihrem neuen Wohnort sich rasch durch die Arbeit, die sie umfänglich in Beschlag nimmt. Sie macht Bekanntschaft mit Jana, einer extrovertierten Frau, die in einem schlecht beleumundeten Viertel von Den Haag lebt. Aus der Bekanntschaft wird eine Freundschaft – und auch einen Mann namens Adriaan lernt Katie im Zuge ihres Neuanfangs in Den Haag kennen.

Dieser befindet sich gerade in einem Trennungsprozess von seiner Frau und stürzt sich mit der Erzählerin in eine Affäre. Während er nach Lissabon fliegt, um ein Komment mit seiner Ex-Frau auszuhandeln, soll die Erzählerin derweil in seiner Wohnung bleiben. Doch mit fortschreitender Dauer des Agreements wachsen in ihr die Zweifel. Und dann ist da auch noch ihre fordernde Arbeit am Strafgerichtshof, bei der sie im Prozess um einen angeklagten afrikanischen Präsidenten dolmetschen muss.

Die Kunst des Übersetzens

Die Suche nach dem richtigen Wort, der angemessenen Haltung beim Übersetzen und die Frage, inwieweit das eigene Dolmetschen Auswirkungen auf Prozesse wie die hat, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verhandelt werden, das sind Themen, die Katie Kitamura eindrucksvoll beschreibt und verhandelt.

Katie Kitamura - Intimitäten (Cover)

Sie nimmt die Leser*innen mit in die Dolmetscherkabinenen, in denen die meist gesichtslosen Übersetzer*innen ihr Werk verrichten, den Angeklagten die Vorwürfe ins Ohr flüstern und versuchen, bei aller notwendigen Geschwindigkeit auch noch Empathie Ton, Haltung und Subtilitäten der gesprochenen Fragen und Antworten zu vermitteln und in eine ganz andere Sprache hinüberzuretten.

Kitamura schafft ein Bewusstsein für die Notwendigkeit dieses Tuns und die Kunst, die Dolmetschen stets bedeutet. Doch ist Intimitäten darüber hinaus auch das Porträt einer Frau, deren Profillosigkeit eigentlich zur Jobbeschreibung gehört und der von der Autorin nicht einmal ein eigener Name zugestanden wird.

Kann jemand, der sich stets hinter den Worten anderer verbirgt und für eine gute Ausübung seines Jobs die eigene Persönlichkeit verschwinden lassen muss, um als möglichst neutrale Stimme im Ohr zwischen Menschen über alle Sprachbarrieren hinweg zu fungieren, im Privaten ein klares Profil entwickeln? Zumindest in meinen Augen mag das im Falle von Kitamuras Erzählerin nicht wirklich klappen. Sie bleibt unscheinbar, auch wenn man ihr durch die gewählte Ich-Erzählperspektive ja eigentlich besonders nahe kommen sollte. Aber auch hier herrscht dieselbe Distanz, die die Erzählerin in ihrer abgeschlossenen Übersetzerkabine am Strafgerichtshof zum eigentlichen Geschehen hat.

Fazit

Intimititäten ist vielleicht keine große Literatur im Sinne von Handlungsopulenz oder einem tiefenscharfen Figurenensemble. Hier ist es vielmehr ein recht unsichtbares berufliches Leben und ein ebenso wenig spektakuläreres privates Leben, das in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt wird. Aber das, was Katie Kitamura da macht, macht sie sehr gut.

Ihr Buch wäre als Kunstgemälde eher die kleine Form mit wenig Strichen und gedeckten Farben – in sich ist das absolut stimmig und schafft ein Problembewusstsein für die Kunst des Übersetzens und die Wahl der richtigen Sprache (übersetzt von Kathrin Razum). In diesem Sinne ist Intimitäten auch ein passender Beitrag zum Hieronymustag!


  • Katie Kitamura – Intimitäten
  • Aus dem Englischen von Kathrin Razum
  • ISBN 978-3-446-27404-4 (Hanser)
  • 219 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit

Solch ein grandioser Titel – und der Inhalt stimmt auch. Maggie Shipstead in Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit über drei Tage Ausnahmezustand im Vorfeld einer Hochzeit – und den unbedingten Wunsch, in den feinen Kreisen dazugehören zu wollen. Eine feine Sezierung der amerikanischen Oberschichtswelt – und das Porträt eines Mannes mit Fehl und Tadel.


Alles ist bereit auf Waskeke Island, einer Insel vor der Küste Maines. In drei Tagen soll die Hochzeit von Daphne Van Meter stattfinden, der Tochter von Winn Van Meter. Deshalb setzt der Familienpatriach auf die Insel über, um seinen Frauen das benötigte Brautkleid und Unterstützung zu liefern.

Vor Ort gleicht das Treiben im Anwesen der Familie auf der Insel einem Bienenstock. Die Brautjungfern müssen zu Kostüm- und Figurproben, die Hochzeitsplanerin will letzte Details durchgehen, die Familie des Bräutigams hat sich angekündigt und dann sind dann da auch noch die Erinnerungen an eine Begegnung mit einer der Brautjungfern, die so gar nicht schicklich und gesittet ablief, wie es sonst die Art von Winn ist.

Ein Leben wie aus dem Upperclass-Bilderbuch

Maggie Shipstead - Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (Cover)

Denn eigentlich lebt Winn ja ein Upperclass-Leben wie im Bilderbuch. Der Nachlass seiner Väter hat ihm finanzielle Unabhängigkeit beschert, mit seiner Frau hat er zwei Töchter (wenngleich ihm Jungen erheblich mehr bedeutet hätten) und Mitglied in den richtigen Clubs und Verbindungen ist er auch noch. Wenn da nur nicht die erstrebte Mitgliedschaft im Golfclub Pequod wäre, die ihm bislang verwehrt blieb und für ihn die Erfüllung seiner Träume bedeuten würde.

Ob diese ausbleibende Einladung in den Golfclub mit alten Rivalitäten zu tun haben könnte, darüber wird er das ganze Buch über nachgrübeln, besonders da seine jüngere Tochter eine Liasion an die Familie eines alten Intimus und Intimfeind band.

Das alles dröselt Maggie Shipstead Stück für Stück auf und verquickt die turbulente Gegenwart der drei Hochzeitstage gekonnt mit der Vergangenheit Winns und dessen Lebensweg, der ihn bis nach Waskeke führte.

Ein Familienpatriach mit Fehl und Tadel

Dabei zeichnet sie das Bild eines Mannes, der sich in der Rolle des Familienpatriarchen gefällt, dessen Leben aber doch mehr Fehl und Tadel bereithält, als die Fassade den Anschein macht. Denn neben seinem Traumhaus, der materiellen Sorglosigkeit und seinem Dasein als Hobbykoch, der für ein Dinner mit der Schwiegerfamilie schon einmal zwanzig respektive 19 Hummer in den Topf wirft, gibt es noch andere, deutlich weniger hell glänzende Punkte in seiner Vergangenheit.

Das seziert Magie Shipstead gekonnt und zeichnet leichtfüßig und mit viel Humor das Treiben auf Waskeke, das mich persönlich an zwei filmische Referenzen erinnerte. Da wäre das chaotische und familiäre Treiben rund um die Hochzeit auf einer Insel, das an das Abba-Musical Mamma Mia erinnert. Ebenso trägt das Geschehen von Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit aber auch Züge des Weihnachtsfilm-Klassikers National Lampoon’s Christmas Vacation beziehungsweise Schöne Bescherung, wie der Film mit Chevy Chase in der deutschen Fassung hieß.

Auch hier gerät die Welt eines Familienvaters gehörig ins Wanken, als in dessen Haus neben der eigenen Familie auch noch die Schwiegerfamilie einfällt uns sich die Ereignisse überstürzen. Alles kommt anders als geplant und am Ende entpuppen sich im Strudel der Ereignisse grundfeste Gewissheiten als durchaus trügerisch, eben Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit.

Fazit

Die komischen Züge dieses filmischen Geschehens trägt auch die Geschichte von Maggie Shipstead ein Stück weit und schafft damit ein leichtes, aber keineswegs belangloses Buch, das gekonnt vom Treiben der Oberschicht an der amerikanischen Ostküste erzählt. Es ist auch das Bild eines Mannes, dessen Leben leicht in Turbulenzen gerät, als sich Gewissheiten verschieben und der Strömungsgeschwindkeit, die ihn bislang durchs Leben trug, nun doch mit Abriss droht. Das ist verngüglich, nah an den Figuren und von daher mehr als ein gelungener Sommerschmöker. Jetzt in der Neuauflage auch nicht zuletzt endlich mit einem annehmbareren Bild als jenem, das die Erstausgabe aus dem Jahr 2012 zierte.


  • Maggie Shipstead – Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit
  • Aus dem Englischen von Karen Nölle
  • ISBN 978-3-423-14837-5 (dtv)
  • 440 Seiten. Preis: 13,00 €
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José Ovejero – Aufstand

Wohl jeder, der schon einmal in einer WG gewohnt hat, kann bestätigen, dass eine gemeinsame Wohnung noch lange nicht für gemeinsame Weltanschauung oder Werte sorgt. Doch auch wenn man in völlig unterschiedlichen Verhältnissen lebt, kann es mit der gemeinsame Sicht auf die Dinge weit her sein, sogar wenn es sich um Vater und Tochter handelt. Das zeigt José Ovejero in Aufstand auf eindrückliche Weise und lässt gesetzten Radiomoderator auf Hausbesetzer-Tochter treffen. Mit explosiven Folgen.


Im Mittelpunkt von Aufstand steht der Radiomoderator Aitor, der getrennt von seiner Frau lebt und sich in Madrid mit seinen beiden Kindern eine Wohnung teilt. Ihn führt José Oevejero mit folgenden Worten ein:

Aitor konnte sich an kein Ereignis in seinem Leben erinnern, das ihm so nahegegangen wäre wie das Verschwinden seiner Tochter. Obwohl Ana nach mehrmaliger Ankündigung, vielmehr Drohung, das Haus freiwillig verlassen hatte, fühlte Aitor die gleiche Verzweiflung wie jemand, der bei einem Unfall oder einer Katatstrophe einen geliebten Menschen verloren hat. Dass er selbst sich niemals eigene Kinder gewünscht hatte, tröstete ihn nicht.

José Ovejero – Aufstand, S. 7

Schon früher hatte Ana immer wieder das gemeinsame Zuhause verlassen, war nach Tagen mit neuen Piercings oder Tätowierungen nachhause gekommen. Doch nun ist alles anders, denn es sind schon mehr Tage als bisher üblich vergangen – und von Ana fehlt weiterhin jede Spur.

Die Hausbesetzerin und ihr Vater

Was mit ihr in der Zwischenzeit passiert ist, das erzählt Ovejero in der zentralen zweiten Perspektive des Buchs. Denn Ana ist zur Hausbesetzerin geworden, hat mit anderen illegal ein Haus bezogen, das auf den Namen El Agujero hört. Dort lebt sie mit andere auf siffigen Matratzen, zieht durch die Straßen, bettelt und plant Unternehmungen in jenem Kampf, den sie gegen die Touristenhorden führen, die Madrid überfluten.

Jose Ovejero - Aufstand (Cover)

Das bedeutet dann schon einmal, dass Ana und Gleichgesinnte ein durchsichtiges Seil spannen, um eine geführte Tourist*innengruppe auf Segways zu Fall zu bringen. Doch auch vor anderen Aktionen wie einer Bombe vor einem Polizeipräsidium schreckt Ana nicht zurück, wenngleich die Bombe den Worten ihres Bruders zufolge eher ein Knallkörper war.

Und so beobachet José Ovejero, wie Vater und Tochter auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der neuen Lebenssituation umgehen. Ana widmet sich ihrem Kampf – und Aitor beauftragt einen Privatdetektiv, der seiner Tochter nachspüren soll, während er beruflich unter Druck steht.

Denn die anonymen CEOs des Radiosenders, für den Aitor arbeitet, sparen den Sender immer weiter kaputt und rationalisieren alle bestehenden Strukturen völlig weg. Um weiterhin seinem Beruf nachgehen zu können, schließt Aitor einen folgenreichen Deal mit seinen Vorgesetzten. Und auch seine Wohnsituation ändert er – zwar nicht so entscheidend wie seine Tochter, aber dennoch wird auch das eine folgenreiche Entscheidung, die im Buch noch eine Rolle spielt.

Angespannter Wohnungsmarkt, angespannte Beziehungen

Aufstand ist ein Buch, das einen Blick auf den angespannten Wohnungsmarkt in Madrid wirft, in dem Ovejero Aitors bourgeoise Situation mit der der Wohnungsbesetzer vergleicht, die in der spanischen Hauptstadt und anderswo schon längst viele Dutzende Wohnungen als Gegenmodell zu Mietwucher und Co besetzt haben (die sogenannten Okupados).

Ovejeros Buch erzählt aber auch von Radikalsierung und Entfremdung in Beziehungen. So sind es bei Aitor und dessen Tochter Ana gerade einmal hastig an den Kühlschrank gepinnte Gedichte, über die die beiden noch kommunizieren, wenn die Lebensrealitäten schon so unterschiedlich geworden sind.

Was das Buch neben diesen sehr aktuellen und weit über Spanien hinausweisenden Themen so herausfordernd macht, ist die Erzählweise. Denn neben der hauptsächlichen Perspektiven von Aitor und Ana schleicht sich auch der Privatdetektiv Javier in den Fokus des Buchs – und Aitors Exfrau Isabel spielt ebenfalls eine Rolle.

Während diese Figuren eigentlich durch ihr Biografien sehr unterschiedlich angelegt sind, so verschwimmen diese Unterschiede auf sprachlicher Ebene stark. Denn Ovejero wählt einen ungewöhnlichen Erzählkniff, indem er die Erzählperspektiven konsequent durcheinanderwürfelt. Über alle Figuren wird mal in der Ich-Perspektive erzählt, dann werden sie wieder mit Du adressiert oder man schaut ihnen in der 3. Person über die Schulter (Übersetzung aus dem Spanischen von Patricia Hansel).

Gedichte und seitenweise Dialoge ergänzen das Geschriebene – und erfordern viel Konzentration beim Lesen, da es der vielperspektivische Erzählansatz nicht immer leicht macht, den Überblick über das Geschehen zu bewahren und der Handlung zu folgen.

Fazit

So ist Aufstand ein literarisch herausfordernder Kommentar auf Wohnungsnot und Entfremdung im Spanien dieser Tage geworden. José Ovejero gelingt ein Buch, das von Radikalisierung erzählt, und das durch einen ebenso genauen Blick auf die Hausbesetzerszene in Madrid wie auch auf eine komplexe Vater-Tochter-Beziehung besticht.


  • José Ovejero – Aufstand
  • Aus dem Spanischen von Patricia Hansel
  • ISBN 978-3-96054-296-4 (Nautilus)
  • 328 Seiten. Preis: 26,00 €
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Esther Kinsky – Rombo

Grollend, rumpelnd, bedrohlich, so klingt das Wort Rombo, das den Titel des neuen Romans von Esther Kinsky ziert.

Tatsächlich ist Rombo der kalabrische Name jenes Klangs, der einem Erdbeben vorausgeht, der „aus dem rollenden Tone einer aneinander hängenden Reihe von kleinen Explosionen [besteht]“, den man „mit dem Rollen des Donners [vergleicht], wo es in geringerer Stärke statt findet, mit dem Rasseln vieler Wagen, welche hastig über ein holpriges Steinpflaster fahren.“, so Friedrich Hoffmann in seiner „Geschichte der Geognosie und Schilderung der vulkanischen Erscheinungen“ von 1838.

In Kinskys neuem Roman wird dieser Rombo zur Ankündigung von Ereignissen, die Menschen und Region am Fuße des Monte Canin im wahrsten Sinne des Wortes erschüttern.


Wie war das damals, das Erdbeben, hier im Tal? Wie war es überhaupt hier, im Tal? Das fragt mich ja sonst niemand, dabei muss man das ja mal loswerden, diese Erinnerung. Auch wenn jetzt nicht so viele reden wollen, aber seine Erinnerungen, die hat ja jeder. An dieses Grollen. Und überhaupt alles.“

Esther Kinsky – Rombo, S. 251

Das lässt Esther Kinsky Olga sagen, eine von vielen Stimmen, die in ihrem Buch zu Wort kommen. Immer wieder berichten die Dorfbewohner, die im Tal am Fuße des Monte Canin wohnen, vom Erdbeben, das sie zutiefst erschüttert hat.

Ein Riss im Dorf, ein Riss im Leben

Esther Kinsky - Rombo (Cover)

Dort, im von Karstgebirge geprägten Tal an der Grenze zu Jugoslawien, dem heutigen Slowenien, erschreckte der Rombo und das damit einhergehende Erdbeben am Abend des 6. Mais die Dorfbewohner zutiefst. Spalten, Risse in Häusern, umgekippte Grabsteine auf dem lokalen Friedhof sind nur ein paar der sichtbaren Folgen, die in den vielen mündlichen Berichten der Dorfbewohner*innen offenbar werden. Ziegenhirte, junges Mädchen – alle erleben durch das Ereignis der sich verschiebenden tektonischen Platten einen Einschnitt, der Kinskys ganzes Buch durchzieht.

Der Bruch, er ist in Rombo stets präsent und tritt in ganz verschiedenen Formen auf. Mopeds zerbrechen, Katzenschädel werden gespalten, Häuserwände und Straßen werden rissig, Heimstätte unbewohnbar – und die Biografien der Menschen erleiden ebenfalls eine Zäsur, da sich dieser Verlust von Sicherheit und fest geglaubtem Stand tief in das Gedächtnis der Talbewohner*innen einschreibt, wie auf das Zitat von Olga zeigt.

Die Suche nach sprachlicher Verarbeitung

Neben der Beschreibung der vielgestaltigen Risse im Leben, die mit dem Beben einhergehen, ist Rombo auch das Dokument eines Suchens nach dem richtigen Ausdruck. Die Einhegung und Verarbeitung eines unfasslichen Phänomens durch eine Sprache, die das Erlebte in Worte zu packen vermag. Das wird an vielen Stellen offenbar. Es lässt sich dabei konstatieren, dass der Stoff mit Esther Kinsky die passende Autorin gefunden hat, der Sprachmacht, Naturfühligkeit und das notwendige ästhetische Sensorium zueigen sind, um den erfolgreichen Versuch einer sprachlichen Erfassung und Verarbeitung des Phänomens zu unternehmen.

Die Luft ist voller Geräusche, vom fernen Donnern aus den Bergwänden bis zum Ächzen von Bäumen in den Gärten, dem Bersten von Holz in den Dächern, dem Splittern von Glas und dem grollenden trockenen Poltern von Stein. Menschenstimmen in grellster Aufregung, um Obdach gebracht, nach Nächsten suchend, aus Verschütterungen schreiend, Trümmer packend, wälzend, rufend, heulend, ein Jammern in der Dunkelheit.

Esther Kinsky – Rombo, S. 42

Es sind starke Passagen wie diese, in denen Kinsky mit ihren tastenden Beschreibungen in die Vollen geht und das Unglück der Menschen anschaulich zu schildern weiß. Sie dekliniert das Unglück der Dorfbewohner durch, findet aber zwischen all dem Unglück und Leid auch Zeit für Nature Writing-Passagen, in denen sie die Grenzen zwischen der Betrachtung der Natur und Lyrik fast vollkommen zum Verschwinden bringt.

Das liest sich dann etwa wie hier bei der Beschreibung der Erdbebentrümmer:

Die Betonbrocken sind starr und nachgiebig und stellen sich quer gegen jede Strömung. Sie setzen sich ab von den handfein geschliffenen Steinen mit einschlossenen Zeichen und Linien und Adern aus Andersartigkeiten und suchen den Rand, das Ufer, die strömungsabgelegenen Ausbuchtungen, wo sie in ihrer Trümmerhaftigkeit zur Geltung kommen, ihre Buchstückigkeit aufrechterhalten und weiter Zeugnisse sind, Erdbebenbruch, Reste von Haus und Hof und Obhut, Abgekarrtes, das sich in nichts Neues mehr fügen ließ. Eine junge Zugabe zum alten Fluss: Die Erdbebentrümmer.

Esther Kinsky – Rombo, S. 34

Steinbruch-Literatur

Rombo ist eines jener Bücher auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, für die der Begriff der Steinbruch-Stilistik zutrifft, wie ihn Stephanie von Oppen in ihrer Einschätzung zum Deutschen Buchpreis verwendete. Und das gleich doppelt, steht der Bruch von Steinen ja im eigentlichen Mittelpunkt des Buchs. Aber auch die Erzählweise des Buchs selbst ist so ein Steinbruch, weist er doch keinen nennenswerten erzählerischen Bogen auf, sondern kreist um das Erdbeben, dessen Bild sich aus den verschiedenen Augenzeugenberichten langsam zusammensetzt.

Daneben gibt es immer wieder Naturbeschreibungen der Umgebung, Märchen und Fabeln, Beschreibungen von Fotos, Erinnerungssplitter, Tierschilderungen und vieles mehr, das sich in diesem wilden Buch versteckt. Man muss Geduld aufbringen und sich selbst Orientierung verschaffen in dieser Trümmerwüste, die der Rombo hinterlassen hat. Das literarische Vermögen Esther Kinskys wird aber auf jeder Seite und jeder der kurzen Skizzen offenbar.

Fazit

Alles ist hier zerrissen. Das Dorf am Fuße des Monte Canin nach den Geschehnissen am 6. Mai, die Handlung selbst, die Seelen der erzählenden Figuren. Rombo ist ein Buch, das von den Brüchen lebt und diese eindrucksvoll zu beschreiben weiß. Keine leichte Lektüre, aber in ihrer Mischung aus sprachmächtigem Nature Writing, tastender Beschreibung des Erlebten und vielstimmigen Chor von Erinnerungen ist das Buch doch ein sehr eindrückliches Leseerlebnis, das dem Leser und der Leserin die Arbeit größtenteils selbst überlässt.


  • Esther Kinsky – Rombo
  • ISBN 978-3-518-43057-6 (Suhrkamp)
  • 267 Seiten. Preis: 24,00 €
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Naomi Krupitsky – Die Familie

Wenn Elena Ferrante auf Dennis Lehane trifft. In ihrem Debüt Die Familie erzählt Naomi Krupitsky von zwei Frauen, die im Umfeld der Mafia von New York aufwachsen und vor schwierigen Entscheidungen stehen. Lektüre, die leider nicht so wirklich mitreißt und die das Gefühl zurücklässt, dass man aus dem Plot deutlich mehr hätte herausholen können.


Hat man das Typografie-Gewitter mit sage und schreibe fünf unterschiedlichen Schriftarten auf dem Cover überstanden, so findet man sich zu Beginn des Buchs wieder auf den Docks von New York im Jahr 1948. Dort wird ein Schuss abgefeuert. Wer geschossen hat, wer getroffen wurde und wie es zu der Tat kam, das wird sich erst spät im Buch auflösen.

Bis es soweit ist, startet Naomi Krupitsky ihre chronologisch sortierte Erzählung im Jahr 1928, in dem sie die Lebensgeschichte der Freundinnen Sofia und Antonia schildert, die im Red Hook Viertel von Brooklyn aufwachsen:

Sofia und Antonia

Sofia Colicchio ist ein wildes Wesen mit dunklen Augen. Sie läuft schnell und spricht laut und ist die beste Freundin von Antonia Russo, die nebenan wohnt.

Die beiden leben in Brooklyn, in einem Viertel, das Red Hook heißt und an das Viertel grenzt, aus dem Carroll Gardens und Cobble Hill werden wird. Red Hook ist neuer als Lower Manhattan, aber älter als Canarsie und Harlem, diesen gefährlichen Außenposten, wo fast alles erlaubt ist. Viele der Gebäude sind niedrige Holzschuppen nah am Fluss, aber weiter vom Wasser entfernt, in Richtung der immer noch niedrigen, aber beständigeren Stadthäuser, wachsen die Dächer höher. Und alles ist dunkelgrau vom Wind und Regen und vom Ruß in der Luft.

Naomi Krupitsky – Die Familie, S. 11

Noch in der Kindheit muss Antonia den Verlust ihres Vaters verkraften, da dieser seinen Arbeitgeber, den Mafiaboss Tommy Fianzo, um Einnahmen geprellt hat. Sofias Vater hingegen bewährt sich in der Mafiahierachie und sorgt mit kriminellen und gewalttätigen Geschäften für das Auskommen der Familie.

Diffus nehmen die beiden Mädchen schon in der Kindheit wahr, was um sie herum passiert. Je älter sie werden, umso klarer steht ihnen der Charakter der „Familie“ vor Augen, deren Teil auch sie sind.

Beide werden sich verlieben, heiraten und Kinder bekommen – ehe sie sich vor Entscheidungen gestellt sehen, die schon ihre Eltern treffen mussten und die schon einmal tödliche Konsequenzen hatten.

Dem Kreislauf der Familie entgeht man nicht

Naomi Krupitsky - Die Familie (Cover)

Die Familie ist ein Doppelporträt zweier Freundinnen, die in einem tödlichen Umfeld aufwachsen, das ihre Eltern trotzdem so gut es geht vor ihnen fernhalten, ehe man die Gewalt nicht mehr fernhalten kann und diese in den Familienalltag einsickert.

Über die Kindheit und die Jugendzeit bis hinein ins Erwachsenenalter zeigt Krupitsky das Aufwachsen der beiden Frauen – und wie schwer es ist, sie von der Familie zu lösen, in die sich beide auf unterschiedliche Art und Weise wieder einfügen.

So heiratet Sofia einen jüdischen Adlatus, Antonia hingegen ehelicht einen italienischstämmigen Mann. Beide finden auf unterschiedliche Art und Weise in ihre Rollen als Ehefrauen und Mütter hinein – und doch werden die intergenerationalen Traumata und Schrecken auch in der nächsten Generation wieder mal indirekt und mal auch ganz direkt auftreten. Dem Kreislauf der Familie entgeht man eben leider nicht ganz so. Das ist von der Erzählabsicht her ganz gut gemacht und handwerklich lässt sich Naomi Krupitsky nichts vorwefen.

Fast mustergültig beginnt das Buch mit der Spannung eines Schusses, ehe die Situation aufgelöst wird, der Fokus auf die beiden Freundinnen ist stets da – und doch bleibt der Eindruck, dass das Buch über die offensichtlichen Schau- und Erzählwerte hinaus nicht wirklich viel zu bieten hat.

Wo bleibt der USP?

Die Handlung kennt man aus dutzenden Mafiafilmen und Romanen, von Mario Puzo bis hin zu Dennis Lehane, die Beziehung zweier italienischstämmiger Freundinnen und das Aufwachsen inklusive aller Widerstände und Entwicklungen hat Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett deutlich nuancierter und tiefgreifender erfasst. Das Versprechen eines feministischen Blicks auf die amerikanische Mafiawelt in der ersten Hälfte 20. Jahrhundert, das ich mir nach Aufmachung und Klappentext erhoffte, es blieb leider uneingelöst.

Und so bleibt für mich die Frage, ob es die Lektüre des Buchs braucht, wenn doch andere Bücher in unterschiedlichen Belangen gezeigt haben, dass auch tieferschürfendes Erzählen und Ausleuchten möglich ist, verbunden mit mehr Spannung und Ausdeutung der Figuren. Einen USP, einen Unique Selling Point, also ein Alleinstellungsmerkmal konnte ich zumindest in Krupitskys Debüt nicht ausmachen.

Fazit

Gewiss, Die Familie ist gut gemacht und gut erzählt. Aber gerade im Vergleich zu anderen Titeln fällt es dann eben doch auf, dass Krupitsky etwas an der Oberfläche bleibt und nicht wirklich tiefer in die Strukturen der Familie und der Verfassung ihrer Heldinnen einsteigt. Da helfen nicht einmal die fünf unterschiedlichen Schriftarten auf dem Buchcover.


  • Naomi Krupitsky – Die Familie
  • Aus dem Englischen von Ursula Wulfenkamp
  • ISBN 978-3-423-29025-8 (dtv)
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
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