Jedes Jahr am 30. September feiert die Übersetzungswelt den Hieronymustag als Internationalen Übersetzertag, der die Kunst der Übertragung von Texten und Reden in andere Sprachen in den Mittelpunkt stellt. Katie Kitamura liefert mit Intimitäten den passenden Roman zu diesem Tag ab. Darin preist sie die Kunst des Übersetzens und schafft ein Bewusstsein für die schwierige Arbeit, die die Übersetzer*innen in Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof im Verborgenen erbringen.
Kitamuras Heldin und namenlose Ich-Erzählerin kommt nach dem Tod ihres Vaters nach Den Haag. Dort hat sie sich für eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof beworben – verfügt allerdings über kein soziales Netz vor Ort, weshalb sie anfangs mit ihrem neuen Wohnort fremdelt.
Ich kam mit nicht viel mehr als einem Ein-Jahres-Vertrag vom Gerichtshof nach Den Haag. In jener ersten Zeit, als die Stadt mir noch fremd war, fuhr ich oft ziellos mit der Straßenbahn herum und lief stundenlang durch die Straßen, sodass ich gelegentlich nicht mehr wusste, wo ich war, und den Stadtplan auf meinem Handy zu Rate ziehen musste. Den Haag wies eine Familienähnlichkeit mit jenen anderen europäischen Städten auf, in denen ich lange Abschnitte meines Lebens verbracht hatte, vielleicht überraschte es mich deshalb, dass ich so oft die Orientierung verlor. In diesen Momenten, wenn Verwirrung an die Stelle meines Gefühls von Vertrautheit trat, fragte ich mich, ob ich hier je mehr als eine Besucherin sein könnte.
Katie Kitamura – Intimitäten, S. 8
Doch ihr Gefühl der Fremdheit an ihrem neuen Wohnort sich rasch durch die Arbeit, die sie umfänglich in Beschlag nimmt. Sie macht Bekanntschaft mit Jana, einer extrovertierten Frau, die in einem schlecht beleumundeten Viertel von Den Haag lebt. Aus der Bekanntschaft wird eine Freundschaft – und auch einen Mann namens Adriaan lernt Katie im Zuge ihres Neuanfangs in Den Haag kennen.
Dieser befindet sich gerade in einem Trennungsprozess von seiner Frau und stürzt sich mit der Erzählerin in eine Affäre. Während er nach Lissabon fliegt, um ein Komment mit seiner Ex-Frau auszuhandeln, soll die Erzählerin derweil in seiner Wohnung bleiben. Doch mit fortschreitender Dauer des Agreements wachsen in ihr die Zweifel. Und dann ist da auch noch ihre fordernde Arbeit am Strafgerichtshof, bei der sie im Prozess um einen angeklagten afrikanischen Präsidenten dolmetschen muss.
Die Kunst des Übersetzens
Die Suche nach dem richtigen Wort, der angemessenen Haltung beim Übersetzen und die Frage, inwieweit das eigene Dolmetschen Auswirkungen auf Prozesse wie die hat, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verhandelt werden, das sind Themen, die Katie Kitamura eindrucksvoll beschreibt und verhandelt.
Sie nimmt die Leser*innen mit in die Dolmetscherkabinenen, in denen die meist gesichtslosen Übersetzer*innen ihr Werk verrichten, den Angeklagten die Vorwürfe ins Ohr flüstern und versuchen, bei aller notwendigen Geschwindigkeit auch noch Empathie Ton, Haltung und Subtilitäten der gesprochenen Fragen und Antworten zu vermitteln und in eine ganz andere Sprache hinüberzuretten.
Kitamura schafft ein Bewusstsein für die Notwendigkeit dieses Tuns und die Kunst, die Dolmetschen stets bedeutet. Doch ist Intimitäten darüber hinaus auch das Porträt einer Frau, deren Profillosigkeit eigentlich zur Jobbeschreibung gehört und der von der Autorin nicht einmal ein eigener Name zugestanden wird.
Kann jemand, der sich stets hinter den Worten anderer verbirgt und für eine gute Ausübung seines Jobs die eigene Persönlichkeit verschwinden lassen muss, um als möglichst neutrale Stimme im Ohr zwischen Menschen über alle Sprachbarrieren hinweg zu fungieren, im Privaten ein klares Profil entwickeln? Zumindest in meinen Augen mag das im Falle von Kitamuras Erzählerin nicht wirklich klappen. Sie bleibt unscheinbar, auch wenn man ihr durch die gewählte Ich-Erzählperspektive ja eigentlich besonders nahe kommen sollte. Aber auch hier herrscht dieselbe Distanz, die die Erzählerin in ihrer abgeschlossenen Übersetzerkabine am Strafgerichtshof zum eigentlichen Geschehen hat.
Fazit
Intimititäten ist vielleicht keine große Literatur im Sinne von Handlungsopulenz oder einem tiefenscharfen Figurenensemble. Hier ist es vielmehr ein recht unsichtbares berufliches Leben und ein ebenso wenig spektakuläreres privates Leben, das in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt wird. Aber das, was Katie Kitamura da macht, macht sie sehr gut.
Ihr Buch wäre als Kunstgemälde eher die kleine Form mit wenig Strichen und gedeckten Farben – in sich ist das absolut stimmig und schafft ein Problembewusstsein für die Kunst des Übersetzens und die Wahl der richtigen Sprache (übersetzt von Kathrin Razum). In diesem Sinne ist Intimitäten auch ein passender Beitrag zum Hieronymustag!
- Katie Kitamura – Intimitäten
- Aus dem Englischen von Kathrin Razum
- ISBN 978-3-446-27404-4 (Hanser)
- 219 Seiten. Preis: 24,00 €