Karine Tuil – Diese eine Entscheidung

Zwischen Wissen und Gewissen, Vernunft und Impuls pendelt in Karine Tuils neuem Roman die Antiterror-Staatsanwältin Alma Revel. Sie muss Diese eine Entscheidung treffen, die unmittelbare Konsequenzen für sie und ihr Umfeld haben wird. Darf man einen potentiellen Attentäter in vorbeugende Haft nehmen, auch wenn eigentlich alle Zeichen für eine De-Radikalisierung sprechen? Welchen Preis sind wir bereit, für unsere Freiheit zu zahlen?


Mit diesen Fragen bekommt es Alma Revel ganz unmittelbar zu tun. Denn im Namen des Staates soll sie im Fall von Abdeljalil Kacem entscheiden, der zusammen mit seiner Frau Sonja Dos Santos aus Syrien nach Frankreich heimgekehrt ist. Die Frage, vor der die Antiterror-Staatsanwältin nun steht, ist eine, die man auch aus der Serie Homeland kennt. Geht von dem Kacem und seiner Frau eine unmittelbare Gefahr aus – oder ist die Beteuerung des Heimkehrers glaubwürdig, dass ihm die Zeit dort im IS-Herrschaftsgebiet die Augen geöffnet hat? Hat er wirklich dem Fanatismus abgeschworen – oder sind das nur vordergründige Lippenbekenntnisse? Keine leichte Entscheidung, die Alma treffen muss, vor allem da sie auch privaterweise gerade gefordert ist.

Ich heiße Alma Revel. Ich bin am 7. Februar 1967 in Paris zur Welt gekommen.

Ich bin neunundvierzig Jahre alt.

Ich bin die einzige Tochter von Robert Revel und Marianne Darrois.

Ich bin französische Staatsangehörige.

Getrennt lebend, Mutter von drei Kindern.

Ich bin Ermittlungsrichterin in der Abteilung Terrorismusbekämpfung.

Karine Tuil – Diese eine Entscheidung, S. 15

Alma vermengt auf ungute Weise Privates und Dienstliches. Denn getrennt von ihrem Mann lebend stürzt sie sich in eine Affäre ausgerechnet mit dem Mann, der Abdeljalil Kacem vor Gericht verteidigt. Bald schon verschwimmen die Grenzen. Das Private beeinflusst die Anwältin, deren professionelles Urteilsvermögen schon bald empfindlich getrübt wird – mit katastrophalen Folgen, wie sich zeigen wird.

Probleme mit dem gewählten Erzählansatz

Karine Tuil - Diese eine Entscheidung (Cover)

Dabei erweist sich in Diese eine Entscheidung die von Karine Tuil gewählte Erzählkonstruktion leider als deutlicher Schwachpunkt. Denn der eigentlichen Handlung vorangestellt ist ein Prolog, in dem Alma die auf einem Bildschirm die Auswirkungen eines brutalen Attentats zu sehen bekommt. Die Frage, die im folgenden Text und den dazwischengeschalteten Verhörprotokollen über zwei Drittel des Buchs erörtert wird, ist damit eigentlich schon hinfällig. Inwieweit ist die Wandlung des IS-Sympathisanten Kacem glaubhaft? Diese Frage, auf der der Spannungsbogen beruht, sie ist schon vorab gelöst und verpufft damit recht wirkungslos. Zu keinem Zeitpunkt gibt es in den ersten Dritteln damit wirkliche Spannung oder Neugier.

Stattdessen läuft das Buch auf einen klaren Punkt hinaus, der schon initial bekannt ist, wenngleich Karine Tuil die Gewissensabwägungen und Entscheidungen im Prozess glaubhaft darstellt und gerade Alma Revel in ihrem undankbaren Job, als Mutter und Geliebte durchaus facettiert darstellt. Aber überraschend ist an der ganzen Erzählung nicht. Bis im letzten Drittel die Konsequenzen von Almas Entscheidung Thema sind.

Späte Wucht

Plötzlich hat Diese eine Entscheidung jene Wucht, die dem Buch in den beiden vorherigen Dritteln fehlte. Ohne zu viel verraten zu wollen, sind die Auswirkungen von Almas Entscheidung fatal und beeinflussen durch ihre professionelle Entscheidung einmal mehr ihr privates Leben. Die Ereignisse in Paris, die im November 2015 die Welt erschütterten, sie werden dann noch einmal ganz unmittelbar und präsent.

Hier zeigt sich Karine Tuil dann die Qualitäten, die ich an ihr als Autorin so schätze. Politik, Gesellschaftskritik an unseren blinden Flecken, Betrachtung unserer Lebensweise aus verschiedenen Blickwinkeln und eine schonungslose Analyse bestehender Zustände und der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit.

All das bietet sie in Diese eine Entscheidung auf – und doch hätte das Buch diese Wirkung in ganz anderer Weise entfaltet, hätte sie sich für eine andere Erzählweise entschieden und den verräterischen Prolog einfach weggelassen.

Fazit

Diese eine Entscheidung ist das Porträt eines eigentlich sehr professionellen Staatsanwältin, die durch ihr Privatleben in ihren Entscheidungen beeinflusst wird – mit katastrophalen Folgen. Karine Tuil gelingt ein nuanciertes Bild einer Frau zwischen Rationalität und Gefühlen, deren Dilemmata sich eindrucksvoll vermitteln. Hätte Tuil dafür allerdings eine bessere Erzählstrategie ohne die allzu verräterische Exposition gewählt, das Buch hätte deutlich gewonnen, davon bin ich überzeugt.


  • Karine Tuil – Diese eine Entscheidung
  • Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
  • ISBN 978-3-423-29036-4 (dtv)
  • 352 Seiten. Preis: 23,00 €
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Eckhart Nickel – Spitzweg

Nein, Spitzweg von Eckhart Nickel ist keine poppige Biographie des Malers, auch wenn es Aufmachung und Titel nahelegen. Das Leben des Künstlers, der ikonische Bilder wie Der Bücherwurm oder Der arme Poet schuf, es steht nicht im Mittelpunkt des Buchs.

Vielmehr erzählt der 1966 geborene Eckhart Nickel in seinem neuen Roman von drei Schüler*innen, die sich durch Kastaniengolf, Kunst-Deutungen und Spitzwegverehrung finden und gegenseitig bilden. Stilistisch ambitionierte Unterhaltung, die ganz auf Sprache und Ästhetik setzt.


Hagestolz, wie das klingt. Ein völlig aus der Zeit gefallener Begriff, heute kaum mehr en vogue, genauso wie die Bilder Carl Spitzwegs mit seiner zwischen Biedermeier und Romantik stehenden Bildsprache. Und dennoch übt der Hagestolz auf Carl und seinen namenlosen Freund, den Ich-Erzähler des Romans, einen großen Reiz aus:

„Kennst du das Bild? Allein der Name ist hinreißend: „Der Hagestolz“. Was für ein herrlicher Begriff! Das Wort an sich ist eine Wonne, weil es einen so zielsicher vom A über das E zum O führt, so schön, dass man es sich nicht oft genug laut vorsagen kann. Versuch es mal, schon mit dem langen H am Anfang, das einen so verheißungsvoll anatmet, dann geht es mit dem verschluckten kleinen G sofort in das mächtig gewaltige STOLZ über, und das Ausrufezeichen ist eigentlich schon mit dem finalen Buchstaben des Schlusswortes unsichtbar gesetzt. Einer meiner Lieblingsschriftsteller hat in seinem ersten Roman den entscheidenden Satz gesagt: Mein Glück, dass es das Wort HAGESTOLZ nicht mehr gibt. So kann ich in aller Ruhe einer werden, und trotzdem kann mich keiner einen schimpfen.

Eckhart Nickel, Spitzweg, S. 162

Schon in diesem kleinen Ausschnitt eines Gesprächs über Spitzwegs Bild des Hagestolzes wird klar, welchen Geist Eckart Nickels Roman atmet. Da unterhalten sich zwei Schüler, kunstsinnig und hochgebildet, Carl dabei gerne in erlesene Stoffe und Kombinationen gewandet, zusammengeschweißt durch eine Begegnung am Getränkeautomaten der Schule, die Carl wie folgt kommentierte:

„Ich frequentiere Milch. Und daran fehlt es hier offensichtlich, wie an vielem anderen mehr“.

Eckhart Nickel – Spitzweg, S. 11

Der Bund der zwei Jungen in der anonymen Schule in der anonymen Stadt wird bald um eine Dritte erweitert. Es ist Kirsten, die nach einem traumatischen Erlebnis im Kunstunterricht zur Gesellschaft der beiden Freunde dazustößt. Zu dritt parlieren sie über Kunst und Kunstwerke, wie eben etwa über Spitzwegs Hagestolz, Readymades oder die Genese und Ausdeutung von John Everett Millais‘ Gemälde Ophelia. Doch dann beschließt Kirsten, zu verschwinden und löst damit viel Verwirrung aus.

L’art pour l’art und eine Feier des Dandytums

Spitzweg ist ein Roman, der das Motto der L’art pour l’art und das Dandytum feiert. Artifiziell ohne Ende ist die Sprache des Buchs und artifiziell ist die Sprache der Freunde untereinander, die eigens ein neues Buchstabieralphabet ersonnen haben. Bei diesem ist das N anstelle des Nordpols etwa durch Nabokov belegt.

Eckhart Nickel - Spitzweg (Cover)

Überhaupt – die Literatur. Sie spielt eine zentrale Rolle in diesem Roman, hat der Erzähler doch das Bildungsideal ausgiebig beherzigt und ist firm in der Literaturgeschichte, was von Ludwig Tieck über die Buddenbrooks bis Michael Ondaatje reicht. So parliert der Erzähler zitat- und kenntnisreich mit seinem Lehrer, der ihn in den dunklen Literaturbunker unterhalb seines Haus einlädt oder weiß auch ansonsten im Gespräch mit Carl immer wieder mit Bonmots zu brillieren, wohingegen sich dieser auch einmal in einem seitenlangen Referat über Anonymität und Kunst verliert.

Auch der Text selbst steckt voller ausgesuchter Wörter. So ist das Buch in einem gehobenen, bildungssprachlichen Duktus verfasst, bei dem sich Nickel nicht vor der Verwendung entlegener Begriffe wie Proömium, Gleiskörper oder epherm scheut sondern diese vielmehr zelebriert. Dinge in diesem Roman sind gerne einmal fein ziseliert oder ornamentiert. Nachgerade auffallend ist Nickels Begeisterung für ebenjenes Adverb, das der Autor häufig im Text verstreut.

Neben der artifiziellen Sprache sind es auch die Dialoge, bei denen durchaus bildungsgesättigte und benennungsstarke Sätze wie dieser fallen:

„Eigentlich kann man es auf den ersten Blick kaum erkennen, Siehst du den Architrav dort unter dem Balkon? (…). Der Mezzanin schließt sich in der Regel eher dem Erdgeschoss an, aber zu meinem Glück gehört er hier zum zweiten Stock, in dem wir wohnen“ (S. 27).

Da gerät die Frage, ob neben den ganzen wort- und dialogreichen Zurschaustellung der eigenen Bildung und des ganzen Wortgeklingels auch Raum für eine genuin entwickelte Handlung bleibt, fast ins Hintertreffen. Ich würde sie aber sowieso verneinen.

Zwar gibt es Handlungsmomente im Roman, im Großen und Ganzen zerfällt Spitzweg aber in viele Einzelepisoden und Begebenheiten, die allmählich ein Bild der Dreier-Freundschaft zwischen Park, Museum und Villen zeichnet. Zu einem wirklichen Handlungsbogen oder einer größeren Erzählabsicht reicht es nicht – die ist Nickel in meiner Lesart aber nicht wichtig. Eher ist es hier die L’art pour l’art, die hier im Mittelpunkt steht und mit der es Nickel auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Fazit

Bildbetrachtungen, Interpretationen, bildungsgesättigtes Parlando – all das hält Spitzweg bereit und ist damit in der deutschen Gegenwartsliteratur eine wirkliche Erscheinung, die das Dandytum feiert und wortreich und geradezu arabesk besingt. Dass die Buchgestaltung der Büchergilde sich da dem Inhalt anschließt und durch kunstvolle Außengestaltung überzeugt, das passt ins Bild.

Eine weitere, hervorragende Besprechung gibt es bei Aufklappen . Und auch im Deutschlandfunk wurde das Buch von Jan Drees bereits besprochen.


  • Eckhart Nickel – Spitzweg
  • Edition Büchergilde
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Lauren Groff – Matrix

Nein, mit den Spielfilmen der Wachowskis hat Lauren Groffs neuer Roman Matrix wirklich nichts zu tun, auch wenn das Cover mit seiner leicht psychedelischen Anmutung falsche Fährten setzt. Vielmehr hilft der Blick ins lateinische Wörterbuch, das für Matrix die Bedeutungen der Mutter, des Muttertiers und der Stammmutter ausweist. Alle diese Funktion nimmt in Groffs historischem Roman die Nonne Marie war, die zur Beginn des Hochmittelalters ein Kloster zur wirtschaftlicher Blüte führt und dem Patriachat den Kampf ansagt.


Mit diesem Roman ist Lauren Groff eine wirkliche Überraschung gelungen. Bislang waren ihre Romane im Bezugsrahmen der jüngeren amerikanischen Geschichte oder Gegenwart angesiedelt (etwa die Flower-Power- Ära in Arcadia oder die Gegenwart in Licht und Zorn) und spielten stets in Amerika (so zuletzt auch Groffs Kurzgeschichtensammlung Florida). Nun aber bricht sie mit diesen erzählerischen Gepflogenheiten vollständig.

Statt amerikanischer Gegenwart setzt Matrix nämlich im Jahr 1158 ein. Eleanore von Aquitanien verbannt Marie, eine uneheliche Schwester der Krone, und schickt sie in die Einöde nach England. Dort soll sie Priorin in einem darbenden Kloster werden und so möglichst vom Thron und ihrem bisherigen höchst annehmlichen Leben ferngehalten werden.

Sister, act!

Lauren Groff - Matrix (Cover)

Vor Ort stellt sich die Situation als katastrophal heraus. Zu Essen gibt es so gut wie nichts, Kälte und Entbehrung dominieren das Leben der wenigen Schwestern. Doch als Maries Sehnen nach der Heimat keinen Erfolg zeitigt, beschließt die junge Priorin in einem Akt der Selbstermächtigung, von nun an die Geschicke des Klosters in die eigenen Hände zu nehmen.

Beharrlich setzt sie auf neue Strategien, um das Leben der Schwestern annehmlicher zu gestalten. Vom benediktinischen Ideal des vita contemplativa hält Marie gar nichts, vielmehr strebt sie ein vita activa an.

Dabei schrickt sie auch vor Gewalt und Einschüchterung nicht zurück, um betrügerische Pachtbauern und unwillige Chorherren auf Linie zu bringen. Dank ihrer überragenden und wenig femininen Gestalt wird sie schon zu einem gefürchteten und bewunderten Mythos, der das Kloster zu neuer Blüte führt.

Sie verwandelt die Abtei in ein prosperierendes Refugium, in dem Männer keinen Zutritt haben. Visionen verheißen ihr neue Aufträge wie etwa ein riesiges Labyrinth oder ein Äbtisinnenhaus, das mit der Zeit entsteht. Doch wo Frauen Erfolge feiern und sich ihrer Privilegien zu gewiss sind, da wächst auch der Hass.

Sowohl Klerus als auch die Dorfbevölkerung blicken neidisch auf das Werk Maries, das diese mit ihren Nonnen immer wieder verteidigen muss, um ihr Kloster gegen missliebige Einflüsse und Gewalt von Außen zu schützen.

Eine moderne Geschichte in altem Gewand

Matrix ist eine moderne Geschichte im Gewand einer alten Erzählung. So sind die Themen, mit denen sich die Äbtissin Marie auseinandersetzen muss, heute genauso aktuell wie im Setting des Hochmittelalters, das Lauren Groff hier ausgewählt hat. Neid, Missgunst und die Gefahr von Männern, denen Frauen mit zu viel Einfluss und Erfolg ein Dorn im Auge sind, die von diesen lieber kleingehalten werden sollen, es sind die Themen, die in Maries Klosterwelt genauso wie in unserer Gegenwart präsent sind.

Schön, dass Groff in ihrer Selbstermächtigungsgeschichte aber nicht den Fehler einer Hagiographie Maries begeht. Ihre Äbtissin ist fehlerhaft, wenig heilig, kämpft mit Worten und Taten und biegt sich auch das Wort Gottes zurecht, um sich ihrer Widersacher oder Konkurrentinnen zu entledigen. Heilig ist an Marie häufig nichts – von ihrem Begehren bis hin zu ihrem Handeln. Das schafft das plastische Bild einer widerspenstigen und kreativen Frau, die als Denkerin und Managerin des Klosters geradezu einem BWL-Seminar über Produktivitätssteigerung entsprungen sein könnte oder die als Schutzheilige aller Betriebsprüfer eine gute Figur machen würde.

Mutter für die Priorinnen, Muttertiere als militante Beschützerin ihres Klosters und der Gemeinschaft von Frauen sowie Stammmutter, die für eine neue Form der Weiblichkeit steht und der das Fortleben ihres Klosters von höchster Bedeutung ist, all diese Facetten finden sich so im Wesen der Matrix Marie.

Auf den Spuren der Säulen der Erde

Mit diesem Buch rückt Lauren Groff dabei natürlich auch in die Nähe des Referenztitels, was historische Schmöker im mittelalterlichen Umfeld angeht, nämlich Ken Folletts Bestseller Die Säulen der Erde.

Was im Mittelalter-Roman des Briten der Bau einer Kathedrale auf englischem Boden war, ist bei Lauren Groffs Matrix der Ausbau des Klosters, der von einer zugigen Ruine mit einer verschreckten Schar Nonnen zu einem prosperierenden und einflussreichen Wirtschaftszentrum unter weiblicher Selbstverwaltung gerät.

Neben vielen erzählerischen Parallelen beider Bücher liegt natürlich aber auch eine entscheidende Frage auf der Hand: kann Lauren Groff dem Millionenseller von Follett literarisch die Stirn bieten?

Das ist zweifelsohne der Fall, denn wo bei Follett stereotype Figuren den Roman bevölkern, die sich ganz banal in Gut-Schlecht-Kategorien einsortieren und denen kaum Entwicklung zugestanden wird, so gerät die Sache bei Groff doch deutlich differenzierter und interessanter. Hier gibt es kein simples Schwarz und Weiß, sondern widersprüchliche Menschen, die das Leben im Kloster auch nicht vor Fehlern (oder meinetwegen Sünden) wie Hoffart, Lügen oder Mord schützt.

Das ist ausnehmend interessant erzählt und besticht trotz allem Drängen und Vorwärtsstreben Maries eben auch durch nuancierte Zeichnungen aller Figuren und Konflikte – was man bei Follett oftmals vergeblich sucht.

Fazit

Mit Matrix liefert Lauren Groff die feministische Antwort auf Ken Folletts Mittelalter-Schmöker Die Säulen der Erde – und überflügelt ihren Kollegen in meinen Augen deutlich. Ihre Beschreibung vom Kampf der Äbtissin Marie um Selbstständigkeit und den Erfolg des von ihr verwalteten Klosters besticht durch eine differenzierte Zeichnung ihrer Heldin, die sich mit einem Lob der feministischen Selbstermächtigung verbindet. Überraschend und überzeugend ist dieses Buch!


  • Lauren Groff – Matrix
  • Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
  • ISBN 978-3-546-10037-3 (Claassen)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit

Es gibt wirklich spektakulärere Leben als jenes, das Oscar Babel führt. Nachdem der Erfolg und die Inspiration als Maler ausblieben, fristet er nun als Kinovorführer sein Dasein. Da ihm dieses Leben zu trist ist, beschließt sein Bekannter Daniel Bloch zumindest auf dem Papier für etwas Schwung in Babels Leben zu sorgen. Doch die Fiktion wird schnell zur Realität – mit ungeahnten Folgen, wie Baret Magarian in Die Erfindung der Wirklichkeit zeigt.


Es sind zunächst äußerst subtile Änderungen, die Bloch seiner Version von Oscar Babel auf den Leib schneidert beziehungsweise schreibt. Er mag plötzlich die Kompositionen Wagners und sein Vermieter, in realiter ein echter Haustyrann, umschlingt diesen mit Liebe. Beängstigend wird es allerdings, als diese auf dem Papier erdachten Veränderung tatsächlich in Babels Leben Einzug halten. Sein Vermieter ist frisch verliebt, Tristan und Isolde üben plötzlich einen hohen Reiz auf Babel aus, er wird zum Aktmodell – und ein Kätzchen läuft ihm auch noch zu.

Bei diesen Veränderungen bleibt es nicht – denn Babel gerät in den Fokus des Medien-Impressarios Ryan Rees, der Babel zu einer Art modernem Propheten aufbauen will. Er steckt viel Geld in eine Kampagne, die Oscar Babel bekannt machen soll. Bei der Verleihung des Duchamp-Preises beleidigt er die anwesenden potentiellen Preisträger*innen, später werden einzelne Reden von Babel aufgenommen und entwickeln sich zum Hit. Und dann bucht Rees auch noch den Park Kensington Gardens, wo Babel erstmals vor großem Auditorium auftreten soll. Dieser Gig entwickelt sich dann aber völlig unerwartet und weckt an Erinnerungen an das Geschehen, das einst ein literarischer Antiheld namens Jean-Baptiste Grenouille mit seinem Parfum auf dem Marktplatz von Grasse auslöste.

Der Aufstieg des einen, der Abstieg des anderen

Während Oscar Babel zum Stadtgespräch avanciert, geht es mit dem Initiator von Babels Aufstieg immer weiter bergab. Bloch will nach den beängstigenden Ergebnissen seiner Fiktion von Babels Neuschreibung ablassen – und wird immer kränker, während den Menschen um ihn herum allzu Unwahrscheinliches geschieht.

Baret Magarian - Die Erfindung der Wirklichkeit (Cover)

Davon erzählt Baret Magarian, der mit Die Erfindung der Wirklichkeit nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen ist. Ähnlich wie seine Figur Oscar Babel hat auch Magarian schon als Aktmodell gearbeitet, zudem nennt der Verlag noch Tätigkeiten als Theaterregisseur, Übersetzer, Musiker oder Dozent, derer der Autor mit anglo-armenischen Wurzeln schon nachgegangen ist.

Seinem Buch stehe ich etwas zweigespalten gegenüber. So ist die Idee eines Aufstiegs eines Nobodys durch literarische Fiktion und skrupellose Medienmanager hin zu einem vieldiskutierten Mann mit hoher Reichweite durchaus interessant. Vor allem in Bezug auf das Spiel mit der Öffentlichkeit, die in Babel Dinge sehen möchte, die er gar nicht vorweisen kann, ist das Buch durchaus interessant und weist einige Parallelen zur Gegenwart auf.

Dennoch funktioniert das Buch für mich leider nicht wirklich. Mit Humor ist es ja eh so eine Sache, ist er doch höchst subjektiv und erreicht Menschen ganz unterschiedlich. Hier war ich für die Satire, die von vielen Seiten aus gepriesen wird, nicht wirklich empfänglich. Und auch in der „Gesellschaft der modernen europäischen Meister“ sehe ich dieses Buch im Gegensatz zum Klappentextlob von Jonathan Coe nicht wirklich, selbst wenn Magarian seinem Buch ein Zitat aus Bulgakows Der Meister und Magarita voranstellt.

Eine Nummernrevue und alberne Figurennamen

Das beginnt mit der Benennung von Figuren wie eben Oscar Babel, Vernon Lexicon, Tracy Fudge oder einer Journalistin namens Rebecca Murdeck, die man durchaus als satirisch bezeichnen kann, ich allerdings nur albern fand. Mag man über solche geschmacklichen Petitessen noch streiten, reichen meine Schwierigkeiten – und hier wird es deutlich gravierender – bis zur Struktur des Buchs selbst, das mir zu oft in eine klamaukige Nummernrevue zerfällt, anstatt eine stringente Geschichte zu erzählen.

So gibt es immer wieder eine komische Szenen wie die des Wahrsagers Alexi Sopso (auch hier wieder so ein überdrehter Name), der sich als völliger Dilettant seiner Zunft herausstellt. Das hält ihn dennoch nicht davon ab, seine Kundin zu überreden, bei einem Abendessen mit seinen strengen Eltern als Alibi-Freundin zu fungieren. Auch andere Szenen offenbaren Magarians Sinn für Komik, etwa wenn eine Figur ihr eigenes Haus anzündet oder Babel bei einem äußerst merkwürdigen Dreh für einen Dokumentarfilm zugegen ist.

Insgesamt fehlt der Geschichte in meinen Augen aber etwas der Zug und der klare Fokus auf die Erzählabsichten Baret Magarians. Sein Handling der Figuren ist nicht immer ganz souverän, denn während Bloch ziemlich schnell aus dem Fokus gerät, schieben sich andere Nebenfiguren in den Vordergrund, um erst viele Dutzend Seiten später wieder eine Rolle zu spielen, während sich immer wieder wirre Pamphlete Blochs oder Online-Artikel im Buch finden, die das Ganze etwas zerfahren wirken lassen. Darüber hinaus befremdeten mich Formulierungen wie die der Essenstafel beim Duchamp-Preis, die im Lauf des Abends langsam vergewaltigt wird.

Fazit

An solchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass Magarian selbst seine Fabrikation, wie der Titel im englischen Original heißt, etwas entglitten ist. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht sonderlich empfänglich für den im Buch gepflegten Humor dieser parabelhaften Satire und kurzum schlicht der falsche Leser. Aber mit etwas mehr erzählerischem Zug, klareren Fokus auf die Hauptfiguren und eine weniger ausufernde Erzählweise hätte es vielleicht geklappt mit mir und der Erfindung der Wirklichkeit. So bleibt bei mir leider der Eindruck einer lauwarmen und deutlich zu langen Satire, der einige Straffungen gutgetan hätten.


  • Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85256-861-4 (Folio Verlag)
  • 481 Seiten. Preis: 28,00 €
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Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf

Welcome to the Ostsee-Appartment Niendorf. You can check out any time you want – but you can never leave. So könnte der Slogan der Ferienanlage in der Nähe des Timmendorfer Strands lauten, die sich in Heinz Strunks neuem Roman Ein Sommer in Niendorf als veritables schwarzes Loch erweist. Man kann den Versuch einer Abreise aus Timmendorf unternehmen – der Anziehungskraft des Ortes wird man sich aber nicht entziehen können. So zumindest ergeht es Dr. Roth, der einen ganz besonderen Sommer an der Ostsee erlebt.


Der ganze lange und hoffentlich schöne Sommer liegt vor ihm. Ohne Arbeit, Verpflichtungen, Aufgaben; sage und schreibe keine einzige Eintragung im Terminkalender, das gab’s seit zwanzig Jahren nicht mehr. Oder fünfundzwanzig, oder dreißig. Bevor Roth im Oktober seinen neuen Posten antritt, kann er tun und lassen, was will. Auf eine Kreuzfahrt gehen, in die Berge fahren, einen Abenteuerurlaub machen, ein Apartment am Meer mieten. Er entscheidet sich für Letzteres.

Hein Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S. 9

So hebt Heinz Strunks neuer Roman an, mit dem er – wie schon im letzten Jahr mit Es ist immer so schön mit dir – auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Handlungsort ist das an der Ostsee gelegene Niendorf, wohin des den Juristen Dr. Roth verschlägt.

Dort, in der Ferienanlage Ostsee-Apartment quartiert er sich ein, um über drei Monate hinweg seine eigene Familiengeschichte mitsamt der Verstrickungen im Dritten Reich aufzuarbeiten und in Buchform zu bringen.

Niedergang in Niendorf

Heinz Strunk - Ein Sommer in Niendorf (Cover)

Doch was zunächst noch wohlgeordnet beginnt, nimmt schon bald die Züge eines Entwicklungsromans an – allerdings eines negativen. Denn Doktor Roth gerät in den Dunstkreis seines Vermieters Breda, der neben der Betreuung der heruntergekommenen Apartments auch als Strandkorb-Vermieter und Schnaps-Verkäufer fungiert. Sein strukturierter Tagesablauf mit Schreiben, Baden und Entspannung kippt schon bald in produktions- und inspirationslose Langeweile, bei der Alkohol zunehmend eine Rolle spielt.

Breda macht Dr. Roth mit der Kulinarik Niendorfs bekannt und aus dem Verdauungsschnaps werden schon bald literweise Wein und Schnäpse. Seine Besuche von Kaschemmen mit den sprechenden Namen Brimborium oder Spinner geraten allmählich zum Ritual, Bredas Alkoholismus greift auch auf Roth über. Immer weiter geht es mit ihm bergab. Und weiter. Und weiter.

Er weiß nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden. Auf seinem dörrfruchtartigen, papierhäutigen Gesicht hat sich eine seltsame Färbung ausgebreitet, eine kranke Blässe, die Bartstoppeln sind scharf und nagelbretthart. Seine Haare stehen in alle Richtung ab, wodurch sein Kopf aussieht wie eine Klobürste. So kann ich unmöglich vor die Tür.

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S. 216

Dieser Sommer in Niendorf ist einer voller Kontrollverlust und sozialem Abstieg, der von Gewalt gegen Roths Ex-Frau bis hin zu einem Mord reicht. Es ist ein einziger Exzess, den Strunk hier äußerst detailliert und geradezu genussvoll schildert.

Enthemmung, Ekel und Faszination

Dabei verhält es sich mit seinem neuem Roman ähnlich wie mit dem Ballermann-Song Layla, der ebenfalls im Sommer die Schlagzeilen beherrschte. Beide Mal ist das so eigentlich gar nicht das, was man mit Niveau verbindet – und doch haben es beide Werke an die Spitze der Charts geschafft. Dort der Rummelbuden-Takt, billigste Songproduktion, ein grenzdebilder und vor allem sexistischer Text – und dort ebenfalls ein einzig langer Peinlichkeitsexzess, der aus Alkoholorgien, Stalking der Kaschemmen-Kellnerin, desinteressiertem Sex und Enthemmung bis hin zur Entleibung besteht (und dabei auch alles andere als frei von Sexismus ist, wie Katharina Herrmann in ihrer Kritik völlig zu Recht anmerkt).

Und doch findet Strunk nicht nur viele Buchkäufer*innen und Lesende. Auch die Kritik ist dem Buch mehr als gewogen und stellt ihn sogar in eine Reihe mit Thomas Manns Tod in Venedig (was Strunk mit seinen Buchzitaten rund um die Gruppe 47, Ingeborg Bachmann, Thomas Mann und Co. ja selbst auch ein wenig insinuiert).

Schaut man auf die Zutaten, mit denen Heinz Strunk hier in seinem neuen Roman arbeitet (seit seinem Debüt mit Fleisch ist mein Gemüse im Jahr 2004 der inzwischen schon zwölfte), so fällt auf, dass eigentlich alles wie immer ist. Es sind die typischen und hier nur leicht variierten Strunk’schen Erzählzutaten des derben Humors, der Faszination des Ekels und Alkohols, angesiedelt in einem heruntergekommenen Milieu, hier eben in der Niendorfer Trinkergesellschaft.

Manchmal hat dieses Erzählkonzept Schlagseite und geht nicht wirklich auf. Hier aber schon und zwar in einem Maße, wie es zuletzt bei Strunks vielgepriesenem Trinkersoziogramm Der Goldene Handschuh der Fall war. Verbunden mit der hastenden Sprachmacht Strunks, die von Comic-artigen Handlungssequenzen über das genau erfasste Trinkergestammel reicht bis zu ganzen Suaden reicht, ist das Ganze sprachlich doch sehr beeindruckend.

Eingekerkert im selbst gewählten Exil, einem hässlichen Zementhaufen namens Niendorf. Niendorf, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Haffkrug, Sierksdorf, Siebzigerjahre-Schrottarchitektur, Bausünden ohne Charme und Schönheit. Er ist leer im Kopf. Er tappt im Dunkeln.

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S, 67

Fazit

Geschmackvoll und niveauvoll, das ist die Sache Strunks nicht. Aber die Konsequenz des Abstiegs Roths, der Mut zur Peinlichkeit, das vielfältige sprachliche Repertoire Strunks – all das hat mich an Ein Sommer in Niendorf dann wider Erwarten doch sehr für das Buch eingenommen und lässt die Nominierung für den Deutschen Buchpreis in meinen Augen folgerichtig erscheinen, auch wenn man diese alkoholgeschwängertete Prosa mit ihrer Welt eigentlich nur degoutant finden kann. Aber man kann sich ihr schwer entziehen, dieser Faszination des Ekels.


  • Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf
  • ISBN 978-3-498-00292-3 (Rowohlt)
  • 238 Seiten. Preis: 22,00 €
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