Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast

Die Stufe biegt sich seufzend unter meinem Schritt, und mit einem leichten Ächzen, das ich Tausende von Malen gehört habe, springt sie zurück. Diesen Ort mit seinem Tuscheln und Wispern trage ich in meinen Knochen. Das sanfte Rascheln der Kiefernadeln unter meinen bloßen Füßen, die Schwimmbewegung der Karpfenfische, den würzigen Geruch von nassem Sand und Seewasser. Dieses Haus, aus Papier gebaut, aus geschredderter und gepresster Pappe, ist zu etwas Festem geworden, das der Zeit, den langen, einsamen Wintern standhält. Es droht zu verfallen und bleibt doch stehen, steht noch, Jahr um Jahr, wann immer wir zu ihm zurückkehren. Dieses Haus, dieser Ort, all meine Geheimnisse sind hier. Ich bin in seinem Gebälk.

Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast, S. 440

Gerne wird bei Büchern heutzutage ja der Vergleich mit Fernsehserien herangezogen, wenn die Soghaftigkeit des Geschriebenen unterstrichen werden soll. Die Kurzbiografie von Miranda Cowley Heller führt diese Engführung von Fernsehserie/Buch fort, wenn schon in den ersten Absätzen betont wird, wie viele Erfolgsformate Cowley Heller beim Fernsehsender HBO verantwortet hat. The Sopranos, Six Feet Under, The Wire sind preisgekrönte Serien, für die sich die Autorin kenntlich zeichnete.

Doch ist eine gute Serienmacherin auch eine gute Autorin? Im Fall von Miranda Cowley Heller ist diese Frage einigermaßen einfach und klar zu beantworten, nämlich ja! Denn mit Der Papierpalast gelingt der Autorin ein großartiger, intensiver, bisweilen erschütternder Roman über Liebe, Treue und die Frage, wie viel Geheimnisse man einer Beziehung zumuten kann.


Dabei beginnt alles an einem frühen Morgen im Papierpalast irgendwo an der Küste von Neu-England. Das so getaufte Feriendomizil ist Flucht- und Ankerpunkt der Familie von Eleanor. Ihre Mutter verbringt die Sommer dort, genauso wie ihre Tochter mitsamt deren Familie. Grillabende, Schwimmen und viel Lektüre geben dort in den Wäldern nahe der Atlantikküste den schläfrigen Sommertakt vor, dem sich alle gerne anpassen und ergeben.

Ein verhängnisvoller Fehltritt

Miranda Cowley Heller - Der Papierpalast (Cover)

Eleanor beschließt in der Früh eine Runde schwimmen zu gehen. Eine Feier am gestrigen Abend ist ausgeartet, die Kinder und ihr Mann liegen noch in ihren Betten, aber Eleanor findet keinen Schlaf mehr. Die Erinnerung an einen Fehltritt am gestrigen Abend treibt sie um. Ihr alter Jugendfreund Jonas und dessen Frau haben Eleanors Familie in deren Sommerdomizil besucht und gemeinsam hat man einen anregenden Abend mit Diskussionen, Alkohol und Erinnerungen verbracht. Im Laufe des Abends hat Eleanor heimlich mit Jonas geschlafen. Doch was eigentlich Schuldgefühle in ihr auslösen müsste, löst doch nur Verwirrung und Sehnsucht nach mehr aus.

Während nun Cowley Heller in kurzen Episoden in die Biographie Eleanors einsteigt, wird diese in der Gegenwart von Gewissensbissen und Fragen gequält. Wie wird sie Jonas und dessen Frau begegnen, umgeben von der eigenen Familie? Wie umgehen mit dem Fehltritt des gestrigen Abends – und war es überhaupt ein Fehltritt?

Interessant montiert und erzählt

Langsam ergründet Miranda Cowey Heller in den folgenden Abschnitten des Buchs die Geschichte Eleanors, ihre Beziehung zu Jonas (die von einem erschütternden Geheimnis geprägt ist) und die zu ihrem Mann Peter, den sie in England kennengelernt und anschließend geheiratet hat.

Das ist gut erzählt und überzeugt in der etwas verschachtelten Erzählweise des Buchs. Zudem vermag es Miranda Cowey Heller, ungemein bildstark und direkt zu erzählen, was schon auf der ersten Seite des Buchs mit einem Stilleben der gestrigen Festtafel beginnt und sich in die Schilderung der Natur Neuenglands mit ihren unergründlichen Toteisseen und den tiefenscharfen Figuren selbst fortsetzt (übersetzt durch Susanne Höbel)

Das plausible und vielgestaltige Bild einer Frau

Der Amerikanerin gelingt es, das plausible und vielgestaltige Bild einer Frau zu zeichnen, die zwischen der Vergangenheit und Gegenwart, zwei unterschiedlichen Männern und damit zwischen der Sicherheit und Vertrautheit ihrer Familie und der aufregenden Liebe ihres Lebens steht.

Dabei ist Der Papierpalast deutlich mehr als nur ein Sommerbuch oder die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Denn das Buch erzählt von verdrängten Lügen aus der Vergangenheit und der Frage, wie viel Wahrheit und Ehrlichkeit man seiner Ehe zumuten kann. Cowley Heller erkundet den Grenzbereich zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Wunsch nach Aufregung und Neuem. Was ist einem ein Aufbruch wert und was ist man bereit, dafür zurückzulassen? Für das Buch spricht auch, dass uns Cowley Heller diese Frage mit ihrem offenen Ende selbst überantwortet und sich so einer eindeutigen Antwort entzieht.

Fazit

Der Papierpalast ist ein Sommerbuch, das eine Frau vor einer richtungsweisenden Entscheidung ihres Lebens zeigt. Das Buch erzählt auch von sommerlichen Irrungen und Wirrungen, ist ein Familienroman – aber dabei ebenso überraschend wie das verborgene Leben in den Toteisseen an der Küste Neuenglands.

Denn das Buch ist eben auch brutal, erzählt von Übergriffen, tödlichen Entscheidungen und der Frage, wer der richtige Partner im Leben ist. Ein tiefgründiges Buch, interessant montiert und mitreißend erzählt.

Ist auch eine Vita im Serienumfeld nicht automatisch der Garant für gute Unterhaltung, gelingt es Miranda Cowley Heller, mit ihrem Buch ebenso gut und kurzweilig zu erzählen und dabei überzeugendes Kopfkino zu erschaffen. Eine große Überraschung, die ich so nicht auf dem Schirm hatte und deren Lektüre mich sehr überzeugt hat.


  • Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3550-20137-0 (Ullstein)
  • 444 Seiten. Preis: 23,00 €
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Delphine de Vigan – Die Kinder sind Könige

Furchtbare Melancholie überfiel Clara. Sie konnte kaum noch atmen und stellte wieder auf Pause. Mélanies Gesicht, durch einen dieser Instagram-Filter – verlängerte Wimpern, Pfirsichhaut und dunkelblaue Iris – zum Puppengesicht mutiert, erstarrte in einem Fernsemoderatorinnenlächeln.

Clara rollte auf ihrem Schreibtischstuhl zurück, um Abstand von dem Bild zu gewinnen.

„Wer ist diese Frau?“, fragte sie plötzlich laut.

Delphine de Vigan – Die Kinder sind Könige, S. 198

Ja, wer ist diese Frau? Das fragt sich nicht nur die Polizistin Clara in Delphine de Vigans neuem Roman. Auch ich fragte mich dies während der Lektüre von Die Kinder sind Könige mehrfach. Allzu fremd und unverständlich blieb mir das Handeln von Mélanie Claux, die ihre Kinder als Darstellende für ihr Influencer-Dasein missbraucht. Ein soghaftes Buch über ein Thema, das de Vigan mit viel Verve ins öffentliche Bewusstsein holt.


Dabei hat die Tatsache, dass ich de Vigans Buch hier bespreche, durchaus eine eigene Ironie. Schließlich pflege auch ich Präsenzen in den Sozialen Medien, produziere mich hier auf dem Blog, auf Facebook und auf Instagram, wenngleich ich mich bemühe, irrelevante persönliche Befindlichkeiten, platte Konsumaufrufe oder Bespiegelung der eigenen banalen Alltagsroutine in meinen digitalen Welten zu vermeiden und stattdessen die Vielfalt der Literatur in den Mittelpunkt meiner Social Media-Präsenz zu stellen. Aber letzten Endes mache ich mit Büchern das, was Mélanie Claux in Delphine de Vigans Roman mit ihren Kindern tut: Aufmerksamkeit, Klicks und auch Anerkennung für das zu generieren, was man als Schwerpunkt seines digitalen Schaffens auserkoren hat und das einem wichtig ist.

Hier bespricht also ein (nicht allzu erfolgreicher) Influencer (oder ein Werbekörper, wie es Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen in ihrer Analyse der Szene ausdrücken) einen Roman über eine sehr erfolgreiche Influencerin. Deren Name ist Mélanie Claux und schon als Kind ist sie fasziniert von Formaten wie der Sendung Loft, einer Art Big Brother, die den Teilnehmenden Ruhm und Aufmerksamkeit verheißt.

Ein Leben auf Youtube

Delphine de Vigan - Die Kinder sind Könige (Cover)

Ein eigener Auftritt in einem solchen Reality-Format einige Jahre später bleibt erfolglos, doch die Sucht nach Aufmerksamkeit und einem öffentlichen Dasein lässt Mélanie nicht los. Und so entdeckt sie, befeuert durch Facebook und Co, nach der Geburt ihrer Kinder diese als perfekte Möglichkeit, um ihren Drang nach der so sehnlich erhofften Aufmerksamkeit zu befriedigen. Sie erschafft den Youtube- und Instagramkanal Happy Récré, auf dem ihre beiden Kinder Kimmy und Sammy als Hauptprotagonisten fungieren. Sie filmt den Alltag mit ihren Kindern und erreicht mit diesen Videos tausende von Abonnent*innen und millionenfache Aufrufe.

Mal lässt sie die Zuseherinnen und Zuseher entscheiden, welche neuen Schuhe ihre Tochter bekommen soll. Dann wird wieder ein Video gezeigt, in dem ihre Kinder innerhalb einer bestimmten Zeitspanne so viel wie möglich in einem Supermarkt kaufen sollen, Hauptsache die erworbenen Produkte beginnen mit dem Buchstaben K oder andere fragwürdige Aktionen, wie etwa eine Blindbestellung von Produkten von Fastfoodrestaurants und deren anschließender Verzehr vor der Kamera. Kapitalismus, ungezügelter Konsum und die Gier nach immer mehr sind die Kennzeichen, für die Happy Récré steht. Einmal im Jahr trifft Mélanies Familie ihre Fans zu einem Meet&Greet, viele Firmen wollen mit Sammy, Kimmy und ihrer Mutter kooperieren – und eine Sendepause gibt es im Leben der Familie Diore sowieso nicht.

Das Leben von Familiy-Influencer*innen

Dieses dauerperformative und daueröffentliche Leben kommt aber plötzlich zum Erliegen, als Mélanies Tochter Kimmy nach einem Versteckspiel mit anderen Kindern verschwindet. Hier kommt die zweite Hauptfigur von Die Kinder sind Könige ins Spiel, die Delphine de Vigan in einer Art Doppelporträt nebeneinanderstellt. Es handelt sich um die Polizeioffizierin Clara Roussel, die bei der Kriminalpolizei in Paris ihren Dienst versieht. Denn als eine erste Forderung der Geiselnehmern eintrifft, wird allen Beteiligten schnell klar, dass die Entführung von Kimmy bitterer Ernst ist. De Polizei nimmt Ermittlungen auf.

Clara Roussel arbeitet sich (wohl stellvertretend für die meisten Leserinnen und Leser) in die Lebens- und Arbeitswelt der Familie Diore ein (die sowieso nahezu deckungsgleich sind). Bei ihren Recherchen taucht sie hinein in die bizarre und verstörende Welt der Family-Blogger hinein und lernt eine Welt voller Künstlichkeit und ungezügeltem Kapitalismus kennen. Denn ähnlich wie etwa Dave EggersDer Circle oder Berit GlanzAutomaton hat auch Delphine de Vigan in ihrem Buch ein Anliegen in Sachen Kritik der digitalen Lebenswelt.

Sie nimmt die Welt der Family-Influencer*innen in den Blick, in der die Kinder von ihren Eltern beständig vor die Kameralinsen gezwungen werden und denen jegliche Rückzugs- und Entwicklungsmöglichkeiten fernab der Öffentlichkeit genommen werden. Dieses missbräuchliche und alleine auf Publicity gerichtete Ausschlachten des Privaten ist es, das de Vigan sehr energisch (und für meinen Geschmack in einigen Passagen etwas zu platt und überdeutlich) in den Blick nimmt. Denn eines sind diese Kinder sicherlich nicht, auch wenn ihre Eltern etwas anderes behaupten mögen, nämlich: Könige.

Ein wenig mehr Differenzierung wäre schön

Über den Entführungsfall hinaus spannt Delphine de Vigan einen Bogen, in dem sie abschließend im Jahr 2031 landet, in dem sie zeigt, was das Leben als daueröffentliche Youtuber*innen aus Kimmy, Sammy und ihrer Mutter gemacht hat. Auch Clara Roussel hat hier noch einmal einen Auftritt, der sie mit den Entwicklungen der Beteiligten konfrontiert. Hier zeigt sich dann noch einmal deutlich, wie fein und ausdifferenziert Clara im Gegensatz zu ihrem Widerpart Mélanie gezeichnet ist.

Das Streben von Mélanie nach Likes und ihre Sucht nach Aufmerksamkeit hingegen kann de Vigan nicht wirklich verständlich vermitteln und begründen (und will es in meiner Lesart auch gar nicht). Hätte de Vigan hier noch auf etwas mehr Graustufen denn Schwarz/Weiß und eine ausgewogenere Gestaltung ihrer Figuren gesetzt, wäre dieses Buch noch etwas stärker geworden.

Fazit

So oder so besitzt Die Kinder sind Könige aber einen starken Sog, zieht schon ab den ersten Seiten ins Buch hinein und kritisiert Auswüchse der Sozialen Medien, den viele weniger youtube- und influenceraffine Menschen sicherlich kaum auf dem Schirm haben, besonders wenn man keine Kinder im fraglichen Alter hat. Delphine de Vigan hat ein Anliegen, das sie manchmal etwas platt und überdeutlich, dennoch aber wirklich lesenswert und unterhaltsam vorbringt. Engagierte Literatur mit einem genauen Blick auf die Schattenseiten der digitalen Welt. Literatur, die zu Diskussionen anregen kann und Literatur, für die ich auch gerne meine (natürlich nicht mit Mélanie Claux vergleichbare) Reichweite nutzen möchte, um Die Kinder sind Könige ins Gespräch zu bringen.


  • Delphine de Vigan – Die Kinder sind Könige
  • Aus dem Französischen von Doris Heinemann
  • ISBN 978-3-8321-8188-8 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €

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Brian Selfon – Nachtarbeiter

Goya? Diesen Namen kannte man bislang wohl nur von Hörbüchern, die unter dem Dach der JUMBO Neue Medien & Verlag GmbH erschienen. Doch nun hat man sich zur Expansion entschlossen und betritt nun im Frühling 2022 erstmals den Markt des gedruckten Wortes. Einer der ersten Titel aus dem Verlag ist der Titel Nachtarbeiter von Brian Selfon. Darin widmet er sich den dunklen Seiten Brooklyns und erzählt vom florierenden Geldwäscheunternehmen von Shecky Keenan, das plötzlich unter erheblichen Druck gerät.


Henry, Kerasha, Shecky. Sie sind die Nachtarbeiter. Shecky Keenan hat ein ausgeklügeltes System aus Boten, Konten und falschen Spuren geschaffen, mithilfe dessen er Schwarzgeld wäscht. Im Brooklyn zwischen Kunstgalerien, Bars, Armut und Szenekneipen hat er sich damit seine eigene berufliche Lücke geschaffen. Seine Ziehkinder Henry und Kerasha unterstützen Shecky bei seinem Tun und Treiben.

Henry hat ein Problem, seine Gewalttätigkeit zu kontrollieren. Kerasha ist heroinabhängig beziehungsweise gerade auf Entzug. Höchst widerwillig befindet sie sich in Therapie, um die Traumata ihrer Vergangenheit und Herkunft aufzuarbeiten. Und dann ist da noch Emil, ein aufstrebender Künstler, den Henry auf einer Vernissage kennenlernt und der etwas in Henry anrührt. Er will ihn als Boten in das Geldwäschesystem seines Ziehonkels einführen – doch schon nach kurzer Zeit ist Emil tot.

Nachtarbeiter unter Druck

Brian Selfon - Nachtarbeiter (Cover)

Von dieser Tat ausgehend beginnt Brian Selfon seinen Roman, der immer wieder in Zeitsprüngen vor oder zurück von den Hintergründen zum Tod Emils erzählt. Die Nachtarbeit von Shecky steht eh schon unter keinem guten Stern, da immer wieder Konten gesperrt sind und stets das gleiche Auto vor seinem Haus parkt. Es scheint, als hätte jemand das florierende System ins Visier genommen – und jetzt ist auch noch ein Bote tot. Da stellt sich die Frage, wer Shecky ans Leder möchte.

Brian Selfon hat einen Roman geschrieben, der sich auch aus dessen eigener beruflicher Vergangenheit speist. So ist er selbst in der Strafjustiz tätig und war als Ermittlungsanalytiker für das Büro des Bezirksstaatsanwalts in Brooklyn tätig. Dass er sich mit den dunklen Seiten des New Yorker Stadtteils auskennt, das zeigt Nachtarbeiter eindrücklich. Denn ihm gelingt ein Krimi Noir, der sowohl durch sein vielschichtiges Bild der Halbwelt als auch durch den Blick auf seine Figuren überzeugen kann.

Sprünge in der Zeit und der Perspektive

Immer wieder wechselt Selfon die Perspektive, erzählt aus Sicht von Shecky, Kerasha oder Henry, zeichnet ihre Abhängigkeiten und Abgründe nach. Er springt zeitlich hin- und her, zeigt die Verstrickungen der Figuren in ihre eigene Vergangenheit und schildert das alles in einer derben, direkten und schnörkellosen Sprache (Übersetzung durch Sabine Längsfeld).

Man muss genau am Ball bleiben, um die Hintergründe zum Mord an Emil und die mannigfaltigen Probleme der Nachtarbeiter*innen geordnet zu bekommen. Denn neben den drei flirrenden und ambivalenten Figuren gibt es auch noch eine Ermittlerin namens Zera Montenegro, die noch einmal ganz eigene Verbindungen zu dem Fall hat und die langsam in die Handlung eingebunden wird.

Fazit

Wer klassisch erzählte Krimis mit übersichtlichem Personaltableau, klarem Fall und Motiv sowie eine wohlstrukturierte Tätersuche schätzt, der sollte die Finger von Nachtarbeiter lassen. Vielmehr ist das Buch die komplexe Schilderung einer schwierigen Familie, in der das Misstrauen mindestens ebenso groß ist wie der Zusammenhalt. Das Buch ist in manchen Passagen geradezu ein Wimmelbild des nächtlichen Brooklyns, erzählt von halbseidenen Gestalten, Psychotherapiesitzungen und problembeladenen Hauptfiguren. Das ist manchmal unübersichtlich, dann wieder mitreißend und erinnert in seinen besten Momenten an die Erzählungen von Peter Temple oder James Ellroy.

Es ist ein spannender Debütant, den uns Goya hier im ersten Belletristikprogramm präsentiert. Neben dem Noir von Brian Selfon gibt es ansonsten hier noch Erzählungen aus Kanada, Irland oder der deutschen Provinz zu entdecken. Man darf gespannt sein, was hier noch so alles zu erwarten ist!


  • Brian Selfon – Nachtarbeiter
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-8337-4425-9 (Goya)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €

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Jackie Polzin – Brüten

Manchmal treibt der Buchmarkt schon kuriose Blüten. Da erscheinen innerhalb weniger Wochen zwei Bücher von Debütantinnen auf dem deutschen Buchmarkt, beide aus Nordamerika und beide mit dem gleichen, recht spezifischen Thema. Beide erzählen von der Hühnerzucht und dem Schicksal von weiblichen Figuren, die sich mit der Aufzucht und Hege von Hühnern beschäftigen müssen. Doch wo Deb Olin Unferth von den Abgründen der industriellen Hühnerzucht erzählt, konzentriert sich Jackie Polzin ganz auf das Private.

Sie erzählt von einer Frau in einem Vorort Minnesotas und ihrem Kampf um die vier Hühner im eigenen Garten. Dabei kombiniert sie die tierische mit menschlicher Nachwuchsplanung und betrachtet das Brüten, das Vögeln und Menschen verbindet. Kühn, aber in meinen Augen durchaus gelungen.


Sie heißen Hennepin County, Darkness oder Gam Gam und sind der ganze Stolz der namenlosen Ich-Erzählerin. Zusammen mit ihrem Mann Percy, einem Akademiker auf Jobsuche, lebt sie in einem Vorort von Minnesota und teilt sich ihr Zuhause mit vier Hennen. Die Hege und Pflege der vier Hühner widmet sich die Erzählerin mit viel Hingabe. Beginnend im Winter bei großen Minustemperaturen, denen nur mit einer Wärmelampe beizukommen ist bis hinein in den Sommer, in denen Habichte und Waschbären den Hühnern zusetzen, erleben wir chronologisch ein Menschen- und Hühnerjahr.

Zu den Schilderungen der Pflege der Hühner gesellen sich zunächst nur spärlich hingetupfte Informationen über die Erzählerin und ihren Mann. Die Nachbarn, ihre Mutter, Percys langwierige Berufungsverfahren als Lehrender – all das wird nur in kurzen, wohldosierten Informationen eingestreut. Erst langsam schält sich aus den Impressionen der Grund heraus, warum sich die Erzählerin so auf die Aufzucht der Hühner und ihr Brutverhalten fokussiert. Dabei ist der Titel Brüten angenehm vieldeutig und lässt sich auf das menschliche Verhalten übertragen, wenngleich das Huhn auf dem Cover eine Verengung des Themas signalisiert, die dem Buch selbst völlig fernliegt.

Menschliche Hühner und tierische Menschen

Jackie Polzin - Brüten (Cover)

Was verbindet uns in der Aufzucht von Nachwuchs? Wie bauen wir uns ein Nest und wie gehen wir mit Verlusten um? Indem die Erzählerin ganz genau auf die Hühner blickt, erzählt sie uns auch ganz viel von sich selbst. Zudem vermag es Jackie Polzin genau und eindringlich zu erzählen, sodass der Besuch eines Waschbären am Hühnerstall hier zu einer existenzerschütternden Erfahrung wird, die neben dem Huhn auch die Erzählerin und ihren Mann völlig aus der Bahn wirft.

Angesichts der Tatsache, dass es schon einen großartigen Roman über Hühner in diesem Frühjahr gibt, stellt sich natürlich aber auch die Frage, ob es dann einen zweiten Roman mit einer ähnlichen Thematik braucht. Diese Frage würde ich auf alle Fälle bejahen, eröffnen sich doch auch ganz reizvolle Perspektiven und Betrachtungen, wenn man die beiden Bücher in ihrer Themensetzung und Ausgestaltung miteinander vergleicht.

Hühner als literarisches Trendthema

So wählt Deb Olin Unferth den Ansatz, von der Mikroebene eines einzelnen freilaufenden Huhns auf die ganze Fülle von Legebatterien zu zoomen. Jackie Polzin geht den genau umgekehrten Weg. Während sie ihr Jahr mit vier Hühnern beginnt, werden es im Lauf des Jahres durch äußere Einflüsse immer weniger Hennen, was eine immer stärkere Bindung der Erzählerin an die Tiere hervorruft.

Während bei Deb Olin Unferth die industrielle Hühner- und Eierzucht und deren Kritik im Mittelpunkt steht, ist es bei Jackie Polzin das Privateste überhaupt, auf das sie sich fokussiert und von dem sie mithilfe der Hühner als Projektionsfläche erzählt. Sie benötigt keine Tierrettungsaktionen, große Figurenensembles oder Breitwandaction, um von Tier- und Menschenliebe zu erzählen. Stattdessen dominieren hier kurze Kapitel, eine minimale Personenanzahl und vier Hühner, mit deren Hilfe sie ihre Geschichte erzählt.

Eine Sprache zwischen Poesie und sprachlicher Genauigkeit

Die Sprache, mit der sie das tut, ist dabei doch manchmal erstaunlich hochspezifisch und dann doch wieder sehr poetisch (Übersetzung durch Nikolaus Stingl). So finden sich Adjetive wie intrikat oder Passagen wie die folgende:

Wenn Hühner Angst haben, suchen sie Deckung zwischen dem Haus und der Treppe, in den Spieren. Jedes Frühjahr bildet das Gesträuch eine weiße Wolke von Blüten, ansonsten jedoch ein Gewirr von Zweigen, teils Nest, teils Käfig. Die vorbeifahrenden Züge erschrecken die Hühner nicht, doch wenn auf dem Betriebshof anderthalb Kilometer entfernt gerade ein zweiter Zug anfährt, dann lässt dieser Anfahrvorgang – seine schiere chthonische Wucht – die Hühner wie angewurzelt stehen bleiben. Die Füße reglos, das Gefieder still, jeder fleischige Muskel erstarrt, ausgenommen ihre wild schlagenden Herzen und umherhuschenden Augen. Auf die gleiche Weise dringt der Zug nachts in meinen Schlaf ein, seine Geschwindigkeit vom Traum in eine hohe Wasserwand oder einen bodenlosen Abgrund verwandelt.

Jackie Polzin – Brüten, S. 144

Fazit

Man kann das Engführen von tierischem und menschlichem Verhalten und Bedürfnissen, von Eiausbrütung und Urtrieben natürlich für geschmacklos halten, möchten wir uns doch gerne über vermeintlich einfachere Tiere wie Hühner erheben. Dass wir diesen aber doch näher sind, als wir uns gemeinhin einreden, das zeigt Brüten auf literarisch anspruchsvolle wie gelungene Weise.

Jackie Polzin gelingt hier ein beachtliches Debüt, das auf verknappte Art und Weise von Tierischem und Menschlichen und dessen Überschneidungspunkten erzählt. Ihre genauen Betrachtungen eines Jahres voller Hühner, Träume und Verlust zeigt, dass auch ein vermeintlich einfaches Thema wie die Hühnerzucht viele Aspekte bereithält, die sich literarisch wunderbar aufbereiten lassen und damit auch wieder etwas über uns Menschen selbst erzählen.


  • Jackie Polzin – Brüten
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-423-29011-1 (dtv)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €
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Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Es gibt manche Lektüren, die gewinnen unter dem Eindruck der Außenwelt noch einmal ganz neue Bedeutung. So erging es mir, als ich vor wenigen Tagen zu Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein griff. Ursprünglich hatte ich das Buch schon seit meinem Gewinn bei einem Tippspiel in Sachen Deutscher Buchpreis im vergangenen Herbst im Regal stehen. Doch erst jetzt kam ich zur Lektüre – die durch den gerade ausgebrochenen Krieg in der Ukraine eine ganz eigene Brisanz und Wucht entfaltete.


Sie sprachen von der Arbeit, von Reisen und dem Fernsehprogramm. Gerade unterhielten sie sich über eine Serie, in der ein einfacher Lehrer aus Kiew wegen seiner Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Ab dem Moment, als der diese verantwortungsvolle Stelle bekleidet, wird es kompliziert für den jungen Mann, weil Politik Politik ist und Politik immer kompliziert zu sein scheint, aber der Held meistert auch diese Schwierigkeiten, alles meistert er, denn er ist reinen Herzens, und am Ende gewinnen die Guten, und die Bösen sind leicht an ihren schlechtsitzenden Anzügen und dem pöbelhaften Benehmen zu erkennen. Man konnte es kaum erwarten, wie die zweite Staffel ausgehen würde.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein, S. 364

Der Mann, der diesen Präsidenten in der Serie spielt, ist längst selbst zum wirklichen Präsidenten geworden. Sein Name ist Wolodymir Selenskyi – der nun als Präsident der Ukraine in einem Krieg kämpft, bei dem alles andere als sicher scheint, dass die Guten am Ende gewinnen.

Dieser Krieg und seine Fülle an Eindrücken, er hat meine Lektüre von Sasha Marianna Salzmann sehr stark überlagert, vergleicht man doch unweigerlich die im Buch geschilderte Welt mit der, die uns jeden Tag in den Nachrichten begegnet. Längst sind Begriffe wie die Donbass-Region oder Namen wie Mariupol zu Schlagzeilen geworden, die dieser Tage nur noch Erschütterung und Fassungslosigkeit auslösen.

Wechselvolle Geschichten aus der Ukraine

Zwar scheinen die gewalttätigen Konflikte auf der Krim und die Donbass-Region in Salzmanns im Jahr 2017 angesiedelten Buch auch immer wieder auf, aber man muss doch konstatieren, dass sich die Welt seit dem Erscheinen von Im Menschen muss alles herrlich sein doch auf ebenso schnelle wie radikale Weise weitergedreht hat, wenngleich nicht einmal ein halbes Jahr seit dem Erscheinen des Buchs im September des letzten Jahres vergangen ist.

Sasha Marianna Salzmann - Im Menschen muss alles herrlich sein (Cover)

Dass Frieden und Akzeptanz aller Volksgruppen und Ethnien im russisch-ukrainischen Grenzgebiet nie allumfassend waren, das beschreibt Salzmann in ihrem Buch anhand zweier Frauenschicksale, die sie in den Mittelpunkt rückt.

In der ersten Hälfte ist es die Lebensgeschichte von Lena, die Sasha Marianna Salzmann in Dekadensprüngen erzählt. Lena wächst in der Ostukraine im Städtchen Gorlowka auf. Die Sommer verbringt sie bei der Großmutter in Sotschi, den Rest des Jahres lebt sie in der Donbass-Region.

Nach einer Kindheit bei den Pionieren hat sie Medizin studiert und durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus nun ein sicheres Einkommen. Doch auch wenn Gorbatschow an die Macht gekommen ist und das Ende der alten Ordnung nahe scheint, so ist nicht alles gut. Der aufkeimende Antisemitismus bedeutet vor allem für Lenas jüdischen Mann Daniel große Probleme, sodass sie sich entschließen, nach Deutschland auszuwandern, um sich dort in Jena-Lobeda der ukrainisch-jüdischen Expatgemeinde anzuschließen.

Aus Mariupol nach Jena-Lobeda

Den zweiten Teil bildet neben der Geschichte von Lenas Tochter Edi dann die Erzählung von Tatjana, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland emmigriert ist. Ihr Schicksal, ihre Erfahrungen in der Mariupol und Deutschland bindet Salzmann mit der Fluchtgeschichte von Lena und Edis Geschichte zusammen, sodass ein vielstimmiges Bild von ukrainischem Leben in Deutschland entsteht. Sie erzählt von Hoffnungen und Enttäuschungen, die allen Frauen widerfahren sind. Die Frage der eigenen Existenz und Identität ist es, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

Es ist kein Zufall, dass schon auf den ersten Seiten des Buchs neben Leningrader Porzellan auch eine Faunfigurine zersplittert, die sich auch auf dem Cover wiederfindet. Von Biographien bis hin zum Miteinander: hier ist alles zersprungen, gebrochen und nicht mehr wirklich zu kitten, mag auch der Chefarzt in Lenas Krankenhaus seine Untergebenen mit dem titelgebenden Tschechow-Zitat aus Onkel Wanja anherrschen, dass im Menschen alles herrlich sein müsse.

Muss es eben nicht, wie das Buch und vor allem die Gegenwart der Ukraine zeigt. Salzmanns Buch liest sich besonders vor dem Hintergrund des Leids und der gegenwärtigen Zerstörung in der Ukraine bitter. Anhand der Migrationserfahrung und der Brüche in der Biographie wird erahnbar, wie es den hunderttausenden Frauen und Kindern gerade gehen muss, die die Flucht ins Ungewisse antreten, um dem Krieg in der Heimat zu entkommen.

Fazit

Losgelöst von diesen Überlegungen und Bilder der vergangenen Wochen ließ sich Im Menschen muss alles herrlich sein für mich unmöglich lesen. Wie schon bei ihrem Erstling Außer sich zeigt Salzmann auch hier ihr Faible für Zersplittertes, sowohl im Erzählen als auch in den Figuren selbst. Gewiss, es ist kein leichtes Buch, man muss auch überlegen, ob man sich die Lektüre in diesen Tagen wirklich zumuten möchte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Autorin hier ein geradezu prophetisches Gespür für die Themen dieser Tage und darüber hinaus die Problematiken seit dem Umbruch in der Sowjetunion bewiesen hat.

Weitere Meinungen zu Sasha Marianna Salzmanns Buch gibt es unter anderem bei Literaturreich, Rezensöhnchen und Wild Lines.


  • Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
  • ISBN 978-3-518-43010-1 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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