Franzobel – Die Eroberung Amerikas

Diese Nominierung hat mich wirklich überrascht. Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 findet sich Franzobel mit seinem Roman Die Eroberung Amerikas. Eigentlich keine so wirkliche Überraschung, schließlich war der Österreicher bereits 2005 mit seinem Roman Das Fest der Steine für den Preis nominiert. 2017 schaffte er es mit Das Floß der Medusa eine Runde weiter auf die Shortlist. Der Sieg damals ging zwar an Robert Menasses Roman Die Hauptstadt – ganz leer ging aber auch Franzobel nicht aus. Er erhielt einen Monat später den Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Belletristik. Eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, denn Franzobel gelingt es in diesem Roman fabelhaft, die Geschehnisse rund um den Schiffbruch der Fregatte Medusa zu erzählen, garniert mit postmodernen Brechungen und Ironie.

Eine überraschende Nominierung

Franzobel - Die Eroberung Amerikas (Cover)

Dieses Erzählkonzept recycelt er nun auch für seinen neuen Roman – erleidet diesmal aber wirklich erzählerischen Schiffbruch. Nach dem Erscheinen von Die Eroberung Amerikas im Januar nahm ich mir den Roman gespannt zur Hand, schließlich war sein letztes Werk einer der überzeugendsten historischen Romane, der mir seit langem untergekommen war. Die Spannung wich aber schnell einer Enttäuschung. Denn der Auftakt geriet zu arabesk und unkonzentriert, als dass mich das Buch hätte überzeugen können. Ausschweifende Plaudereien, Sprünge durch die Zeit und maue Gags vermiesten mir den Lesegenuss.

Alles Islamische hatte man unsichtbar gemacht ,aber es gab noch türkischen Honig, ein Dampfbad, Zisternen und hunderte Wörter, deren Ursprung arabisch war: Alkohol, Alchemie, Algebra, Almanach, Algorithmus, Alraune, Allianz Versicherung, Alka Seltzer, Alleluja…

Franzobel – Die Eroberung Amerikas, S. 36

Ich stellte das Buch erst einmal zurück, um jetzt dann im August bei der Verkündung der Longlist überrascht zu werden. Dieses Buch, das zum Erscheinen nur durchwachsenes Kritikerlob erhielt, hatte es tatsächlich auf die Longlist geschafft? Unmittelbar nach der Bekanntgabe griff ich also erneut zu dem Buch. Würde es sich auf den zweiten Blick bewähren können?

Leider nein, wie ich nun nach vielen durchgehaltenen Seiten später feststellen muss. Denn mein Eindruck der ersten hundert Seiten setzt sich im Inneren dieses immerhin 544 Seiten umfassenden Buchs fort. Alles beginnt mit einer Sammelklage, die das Zeug hat, die Grundfesten Amerikas zu erschüttern. Die indigenen Stämme klagen vereint auf die Herausgabe des besetzten Landes, das doch eigentlich ihnen gehört. Der zweite Erzählstrang führt zu einem Mann, der die heutigen Zustände begründet hat. Ferdinand Desoto war ein Eroberer, der 1538 eine Expedition gen Florida unternahm, keifendes Weib, Missionare und tumbe Soldaten inklusive. Der dritte Erzählstrang ist dann der von Elias Plim, der auf einer Tür treibend von einem Piratenboot aus dem Meer aufgelesen wird. Dann gibt es noch die Erzählung eines widerstandsfähigen Anwalts mit Ben Kingsley-Gesicht, der auf der Suche nach einem Erbe halb Spanien durchquert und diesen Erben dann im Gefolge der Desoto-Expedition aufspürt. Und so weiter, und so fort.

Das Erzählkonzept geht nicht auf

Das könnte alles ein funkelndes Erzählwerk sein, doch das ist es leider nicht. Zwar ist Franzobels Erzählkonzept der postmodernen Brechungen, das immer wieder Bezüge in die Gegenwart herstellt, innovativ und tut dem historischen Stoff gut. Doch hier vermag er aus seinem Erzählkonzept einfach keine Funken zu schlagen. Die Erzähltricks kennt man, etwa wenn Franzobel im Floß der Medusa seine Figur des Schiffsarztes Savigny mit dem gleichnamigen Platz in Verbindung brachte. Hier ist es nun eben Desoto, der zum Namensgeber der Automarke von Chrysler wird oder dessen Frau, deren Antlitz sich heute noch auf den Rumflaschen der Marke Havana Club findet. So etwas ist amüsant, bleibt aber das ganze Buch über aber sehr an der Oberfläche. Viel Neues über die Konquistadoren und das Leid, das sie über Amerika brachten, erfährt man hier nicht.

Wo Das Floß der Medusa zur packenden Parabel auf Hybris und Untertanengeist wurde und eine spannende Variante des alten Themas des Narrenschiffs darstellte, fehlte mir in Die Eroberung Amerikas diese zweite Ebene weitestgehend. Das Buch begnügt sich mit der Schilderung von Brutalität und expliziten Schilderungen von Leid, Gräuel und Genozid, ohne dabei das Buch wirklich voranzubringen oder erhellende Funken aus dem Aufeinanderprall von Historie und Gegenwart zu erzeugen. Auch die Figuren sind nicht wirklich interessant gestaltet. Widersprüche oder Ambivalenzen, gar nuancierte Ausdeutungen der Figuren vermisste ich. Der widerstandsfähige Anwalt lässt sich nicht beirren und bereist die halbe Welt auf der Suche nach dem Erben, Desoto will seiner keifenden Frau entkommen, die er nicht liebt, das spanische Volk liebt Hinrichtungen und Gewalt. Ja mei – Entwicklungen bei Figuren sehen anders aus.

Fazit

Trotz vieler erzählerischer Spielereien und auktorialer Erzählkniffe bleibt das Buch doch erstaunlich zäh und langweilig und fällt gegen den Vorgängerroman deutlich ab. Insofern überraschte mich diese Nominierung dieses Buchs wirklich – und ich würde nach wie vor klar zum Floß der Medusa raten, möchten man einen ungewöhnlich erzählten und packenden historischen Stoff erleben. Hier ist alles doch recht mau – und auch die Gags waren schon einmal besser und die Seiten ziehen sich.

Eine echte Überraschung auf der Nominierungsliste, wenngleich für mich keine positive. Auf der Shortlist sehe ich diesen Roman ganz klar nicht. Detaillierter auf die stilistischen Eigenwilligkeiten (die mich so manches Mal zum Verzweifeln brachten), geht Matthias Fischli in seiner Besprechung auf Aufklappen ein. Eine weitere Stimme zum Roman gibt es bei Sounds&Books.


  • Franzobel – Die Eroberung Amerikas
  • ISBN 978-3-552-07227-5 (Hanser)
  • 544 Seiten. Preis: 26,00 €
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María José Ferrada – Kramp

Kramp – das steht für Verlässlichkeit. Die Produkte dieses Eisenwarenherstellers sorgen für Stabilität und halten alles zusammen. Damit liefert Kramp Verlässlichkeit in einer Welt, in der ganz eigene Regeln herrschen. Denn schon eine einzige Schraube, die nicht ordentlich festsitzt, kann das Ende der Welt herbeiführen. Und wer kann das schon wollen?

De Vater der Erzählerin auf keinen Fall, denn obige Aussage ist sein oberstes Credo. Als Handelsvertreter für Produkte der Marke Kramp ist für ihn Solidität und ein guter Absatz seiner Produkte das Wichtigste. Bei seinen Handelsreisen durch Chile ist er Teil der verschworenen Gemeinschaft der Handelsvertreter, die nach ganz eigenen Regeln funktioniert. Regeln, die sich der Erzählerin von Kramp erst langsam erschließen. Denn obschon sie schulpflichtig ist und eigentlich zu Hause sein sollte, ist die väterliche Vertreterwelt doch um so vieles reizvoller. Und so ersinnen ihr Vater und sie schnell ein ausgeklügeltes System, damit die Tochter den Vater auf seinen Handelsreisen begleiten kann.

Vom Leben der Handlungsreisenden

Immer mehr wird ihr die Welt der Handlungsreisenden offenbar und sie sorgt durch ihre Präsenz für eine erkleckliche Umsatzsteigerung bei den gemeinsamen Reisen. Während der Vater mit seinem Vertreterkoffer durchs chilenische Hinterland tourt ist es ein Arztkoffer en miniature, den die Tochter mit sich führt. Das außergewöhnliche Gespann erlebt Abenteuer und eine völlig atypische Kindheit.

María José Ferrada - Kramp (Cover)

Während sich ihr die Regeln und Codes der Vertreterzunft schnell erschließen, ist es die wirkliche Welt, deren Gefahren und Abgründe erst allmählich erfährt. Denn zum Zeitpunkt der Handlung von Kramp befinden wir uns im Chile der Pinochet-Diktatur. Menschen verschwinden spurlos, die Angst regiert – doch die kindliche Erzählerin besitzt diesen erwachsenen Blick auf die Welt noch nicht. Gelungen schafft es María José Ferrada, die Perspektive des Kinds einzunehmen, das aus einer Rückschau heraus berichtet. Dabei erliegt sie aber niemals der der Gefahr, die Erzählerin schlauer zu machen, als sie zum Handlungszeitraum gewesen sein konnte.

Dass María José Ferrada Erfahrung als Kinderbuchautorin hat, merkt man diesem Buch im besten Sinne an. Schließlich publizierte sie in ihrer chilenischen Heimat schon über dreißig Kinderbücher, ehe sie mit Kramp den Sprung ins Fach der Erwachsenenliteratur wagte. Die angeeignete Perspektive der Erzählerin stimmt und überzeugt.

Realisierung des Bösen

Erst allmählich, dafür umso eindrücklicher bemerkt sie, wie Menschen einfach verschwinden und auch die eigenen Eltern eine Fassade wahren. Eine Fassade, hinter der Angst und Unsicherheit herrschen. Diesen Wandel verstärkt Ferrada durch einen weiteren erzählerischen Kniff. Während alle Figuren im Roman durch einfache Buchstaben benannt werden, ist es ein Opfer der Pinochet-Diktatur, die dann erstmals einen vollständig ausgeschriebenen Namen erhält und damit konkret und erinnerbar wird. So zeigt Ferrada den subtilen Widerstand gegen das Regime auf, der zwar Menschen verschwinden lassen kann, ihre Namen aber in den Erinnerungen bestehen und dadurch wieder erinnerbar werden.

Das ergibt in Verbindung mit der besonderen Vater-Tochter-Beziehung, die frei von falscher Nostalgie oder Kindheitskitsch beschrieben wird, einen wirkliches literarisches Kleinod, das gerade auch durch seine Verdichtung besticht. Ein außergewöhnliches Buch und abermals eine echte Preziose, die der Berenberg-Verlag uns da präsentiert. Und ein großes Lob auch an Übersetzer Peter Kultzen, der diesen Roman aus dem Spanischen ins Deutsche übertrug.


  • María José Ferrada -Kramp
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-949203-08-4 (Berenberg)
  • 132 Seiten. Preis: 22,00 €
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Jonathan Coe – Mr. Wilder und ich

Eine junge Frau, ein alternder Regisseur, Dreharbeiten und viel Brie. Aus diesen Zutaten bastelt Jonathan Coe einen Roman, der die Spätphase des Wirken Billy Wilders beleuchtet. Einen Roman, der gut unterhält, aber leider auch etwas zu erwartbar und brav bleibt.


Die Erzählkonstellation kennt man von biographischen Romanen zur Genüge. Ein junger, unbedarfter Mensch gerät durch Zufall in den Dunstkreis eines Künstlergenies. Durch den Blick der jungen Person bekommt das Genie menschliche Tiefe abseits des Bekannten, man kann Wirken und Werk noch einmal frisch betrachten (schließlich kennt die junge Person zumeist Mensch und Mythos nicht). Ebenso kann man so Widersprüche und Fehler des Genies ausleuchten. Zuletzt praktizierte das etwa Robert Seethaler in seinem Roman Der letzte Satz, in dem ein Schiffsjunge dem österreichischen Komponisten Gustav Mahler begegnete. Auch Jonathan Coe wählt dieses Erzählmodell für seinen Roman Mr. Wilder und ich, der die erzählerische Grundkonstruktion schon im Titel verrät.

Calista und Billy Wilder

Jonathan Coe - Mr. Wilder und ich (Cover)

Bei Coe ist es die junge Athenerin Calista, die durch einen Zufall in den Nahbereich Billy Wilders gerät. Die Ich-Erzählerin trampt mit ihrer Freundin quer durch Kalifornien, als sie zu einer Abendgesellschaft in ein edles Restaurant in Beverly Hills eingeladen werden. Die Eltern ihrer Freundin scheinen gut bekannt mit dem Regisseur, den die jungen Frauen dort treffen sollen. Einen Film über Sherlock Holmes hat er gedreht, jetzt soll er aber schon jenseits der Siebzig sein. Mehr wissen die jungen Frauen nicht. Dementsprechend unbedarft stolpern die beiden Mädchen in das Dinner, in dem sich der Regisseur namens Billy Wilder, sein Drehbuchpartner Iz Diamond und die jeweiligen Partnerinnen versammelt haben. Calistas Freundin empfindet die Abendgesellschaft als wenig inspirierend, sodass sie Calista kurzerhand mit der Clique alleine lässt.

Ausgezehrt nach dem ausgiebigen Trampen erweist sich der Weingenuss in dem teuren Restaurant als fatal für Calista. Sie wacht nach dem Dinner im Haus von Billy Wilder auf, wo sie der Regisseur nach ihrem weininduzierten KO vorsorglich gebracht hat . Und so beginnt diese Geschichte, die Calista mitten hinein in die Dreharbeiten von Fedora, einem der letzten Filme Billy Wilders führen soll.

Jonathan Coe zeigt einen Billy Wilder in der Spätphase seines Schaffens. Es sind die von ihm Milchbärte geheißenen Jung-Regisseure, die den Exil-ÖSterreicher in Sachen Relevanz bereits hinter sich gelassen haben. Für Billy Wilders Filme interessiert sich das Publikum immer weniger, längst sind es Regisseure wie etwa Martin Scorsese mit Taxi Driver oder Steven Spielberg mit Der weiße Hai, zu neuen Taktgebern in Hollywood geworden, die die Menschen in Scharen ins Kino locken. Die Hochphase Billy Wilders ist vorbei, womit er und sein kongenialer Partner Iz Diamond hadern. Nichts scheint ihnen mehr wirklich zu gelingen. Ein zweites Manche mögen’s heiß oder Das Appartement, das wäre es. Und so ruhen die ganzen Hoffnungen auf Fedora, einem Film, über den der Filmdienst später schrieb:

Der Film ist ein Boulevard der Dämmerung als Satire, ein Abgesang auf Hollywood, auf das Kino alter Schule, auf Billy Wilders klassische Filme nicht zuletzt. […] Ein Alterswerk, das seinen Rang vornehmlich dadurch erreicht, dass es in Kauf nimmt, von allen missverstanden zu werden.

Filmdienst 14/1978

Konventionell erzählt, durchaus mit guten Einfällen

Calista wird in zu einer tragenden Säule der Filmarbeiten. Als Griechin kann sie bei den Dreharbeiten in Griechenland als Dolmetscherin und Koordinatorin helfen. Als persönliche Assistentin unterstützt sie Iz Diamond und verliebt sich darüber hinaus auch noch während der Arbeiten vor Ort. In Rückblenden blickt sie als Ich-Erzählerin auf das damalige Geschehen und erzählt vom Filmprozess und davon, wie Billy Wilder in ihr die Liebe zum Brie weckte.

Dankenswerterweise bricht Jonathan Coe in der Mitte mit der Konventionalität dieses schon oft gelesenen Erzählens etwas. So lässt er Billy Wilder seiner Erfahrungen im Dritten Reich und mit der Immigration in Form eines Drehbuchs erzählen. Ein Einfall, der dem Buch merklich gut tut, bringt er doch die innere Zerissenheite und seelischen Narben gelungen auf den Punkt. Von diesen Einfällen hätte das Buch durchaus noch etwas mehr vertragen, bleibt es sonst doch etwas arg konventionell in Sachen Struktur und Erzählen. Wirklich hinter die Fassaden seiner Figuren blickt Coe selten, auch dringt er mit diesem sommerleichten Buch wenig in die Tiefe des Erzählens vor.

Vielleicht war ich auch etwas enttäuscht von der Harmlosigkeit des Buchs, war doch Middle England mein erster Kontakt mit dem Autor, der mich im letzten Jahr begeisterte. Darin erzählte er breit angelegt von den Hintergründen des Brexit und dessen Auswirkung auf ein ganzes Ensemble von Figuren. Diesen gesellschaftlichen, weitgefassten Anspruch hat Mr. Wilder und ich nicht. Jonathan Coe besitzt Humor, auch hat er sich für sein Buch ausführlich mit dem Oeuvre Billy Wilders auseinandergesetzt (die Inspiration für die München-Passagen des Buchs lieferte ihm nicht nur Tanja Graf, die Leiterin des Münchner Literaturhauses, sondern auch Patrick Süskind höchstselbst, wie das Nachwort verrät).

Fazit

Doch bei allem vorhandenen Humor und der merklichen Sympathie für Billy Wilder: die Prägnanz und Klasse des vorherigen Buchs besitzt Mr. Wilder und ich leider nicht. Eine Nahaufnahme des Menschen Billy Wilder, allerdings für meinen Geschmack dann doch etwas zu harmlos und oberflächlich, als dass sich das Buch lange in meiner Erinnerung verhaften würde. Ein nettes Sommerbuch und eine Verbeugung vor einer echten Größe in der Filmgeschichte, bei der für mein Gefühl deutlich mehr drin gewesen wäre.


  • Jonathan Coe – Mr. Wilder und ich
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85356-833-1 (Folio-Verlag)
  • 276 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ulrich Woelk – Für ein Leben

Ulrich Woelk verfolgt in Für ein Leben das Leben seiner beiden Protagonistinnen um die halbe Welt. Ein Berlin-Roman, der den verschlungenen Wegen des Schicksals nachspürt und mit einer erstaunlich hohen Genitalien-Dichte aufwartet.


Schon auf den ersten Seiten des Romans kommt es zu einer schmerzhaften und beinahe folgenschweren Hodentorsion, die Clemens Rubener fast seiner Zeugungsfähigkeit beraubt hätte.

Als Nikisha Lamont ihrem späteren Ehemann, Clemens Rubener, erstmals begegnete, hätte sie ihm um ein Haar die Fruchtbarkeit geraubt.

Ulrich Woelk – Für ein Leben, S. 9

Mit diesem Paukenschlag beginnt Ulrich Woelk seinen Roman. Auf den folgenden Seiten wird noch viel die Rede sein von jener Hodentorsion, die die Ärztin Nikisha Lamont aufgrund mangelnder Erfahrung und Überarbeitung bei Rubener fehldiagnostizierte. In den Nachwehen der gerade erfolgten Maueröffnung ist Nikisha Lamont in ihrem Weddinger Krankenhaus überlastet und erkennt verwirrt von ihrem Patienten die eigentliche Verletzung Clemens Rubeners nicht. Doch die Diagnose kann korrigiert werden, ein anderer Arzt erkennt den kritischen Zustand der Hoden und alles nimmt ein glimpfliches Ende.

Viele Episoden um Erektionsprobleme, Pornoproduktionen, entblößte Genitalien, Priapismus und mehr werden in Woelks Roman folgen. Sie verbinden die Schicksale der Figuren miteinander. Immer wieder kommt es in Für ein Leben zu Kontraindikationen von Geist und (Unter)Leib. Verschiedene Figuren lieben und begehren sich, verbinden und trennen sich und bilden somit eine vielschichtige Erzählung, die den unerklärlichen Wegen der Liebe und des Schicksals nachspürt.

Von Mexiko in den Wedding

Ulrich Woelk - Für ein Leben (Cover)

Nachdem jüngst Regina Scheer im Wedding schon den Wohnsitz Gottes verortete und Nicola Karlsson von Schicksalen im Viertel erzählte (Lichter über dem Wedding) wählt nun auch Ulrich Woelk jenen Arbeiterkiez als Kulminationspunkt verschiedener Schicksale. Da ist Nikisha Lamont, die als Kind zweier deutschen Hippies schon als Kleinkind um die halbe Welt reist. Die Eltern lassen sich in Mexiko nieder, die Tochter beschließt, Medizin zu studieren und gelangt schließlich zurück nach Deutschland, wo sie in einem Weddinger Krankenhaus ihren Dienst versieht.

Dann ist da Clemens Rubener, der mit einem Roman einen großen Erfolg gelandet hat. Eine Verfilmung des Stoffs ist in Planung, in die sich Clemens mit Hingabe stürzt – muss er sich so doch nicht um das drängende Problem der fehlenden Inspiration für einen neuen Roman kümmern. Er hält den Verlag in Gestalt seiner Lektorin hin und erwirbt in Sachen Prokrastination fast virtuose Fähigkeiten.

Auch die in einem Miethaus im Wedding wohnhafte Lu muss kreativ werden, um ihren Alltag zu meistern. Ihr Vater neigt nach dem Tod seiner Frau wechselweise dem Alkoholmissbrauch und der Suche nach einem Ersatz seiner verstorbenen Gattin zu. In diesem unsteten Umfeld findet Lu bei ihren Nachbarn, dem vergeistigten Musiker Hans Krol und dem jungen Victor Belkow Zuflucht. Sind die Eskapaden ihres Vaters zu krass, flüchtet sie zu den ganz unterschiedlichen Männern, um in ihren Wohnungen Distanz zu ihrem Vater herzustellen.

Viele Episoden ergeben ein Ganzes

Die Erzählung um die Hauptfiguren Nikisha, ihren späteren Ehemann Clemens und Lu umspinnt Woelk mit Erzählungen weiterer Nebenfiguren wie etwa jene eben schon erwähnten Hans Krol oder Victor Belkow, dessen Flucht aus der DDR einst scheiterte. Neben der Fülle von Figurenschicksalen sind es noch zahlreiche andere Elemente, die Woelk in diesen motivreichen Roman integriert. So erzählt er vom Schmuggel von Pornos aus Westberlin in den Osten, Filmarbeiten rund um den apokryphen Film Mexican von Gore Verbinski mit Brad Pitt und Julia Roberts oder lesbische Filmtage eines Kollektivs in einem Weddinger Kiez Kino.

Die Kunst, die Woelk hier deutlich besser als in seinem letzten Roman Der Sommer meiner Mutter gelingt, ist es, die Vielschichtigkeit von Liebe und Begehren darzustellen. So führt das Schicksal Niki und Lu zusammen, lässt sie sich lieben und trennen, sich begehren und abstoßen. Immer wieder ergeben einzelne Episoden Querbezüge und runden sich zum Ende hin – was für eine derart umfangreiche Laufzeit eine wirklich beachtliche Leistung ist. Woelks Buch kann man als Studie über die Macht des Schicksals lesen. Genauso funktioniert der Roman auch als breit gefächertes Panoptikum der verschiedenen Erscheinungsformen von Liebe. Für ein Leben ist aber ein Porträt des Weddings und seiner diversen Bewohner*innen. Medizinische Diagnosen spielen eine Rolle (siehe die hohe Genitalien-Dichte), Kunst und Kultur im Wandel der Zeit sind ebenso Themen, die hier beleuchtet werden. Kurzum: dieser Roman ist eine Wundertüte, die unterhält und erfreulich vielgestaltig daherkommt.

Fazit

Für ein Leben ist ein Roman, der Komplexität wagt und sich nahezu keinen Durchhänger leistet. Was zieht uns an, was stößt uns ab? Wie sehen die Wege des Schicksals aus, sind sie durch etwas zu beeinflussen? All das thematisiert dieses Buch und bietet höchst unterschiedliche Leseweisen an. Ein starkes, vielschichtiges Buch und für mich ein Kandidat für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2021!


  • Ulrich Woelk – Für ein Leben
  • ISBN 978-3-406-77451-5 (C. H. Beck)
  • 632 Seiten. Preis: 26,00 €
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Elena Ferrante und ich – eine Kapitulation

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

Schon ein Jahr lang schaute mich das Leseexemplar von Elena Ferrantes neuestem Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen vorwurfsvoll aus dem Regal heraus an. Irgendwie gab es immer etwas anderes zu lesen, neue Bücher , beruflich zu Lesendes, scheinbar Interessanteres – kurz, ich schob die Lektüre des Romans wieder und wieder vor mir her. Doch genug damit. Nun im Juli griff ich zu Ferrantes Buch. Italien beziehungsweise Sizilien als Schauplatz des Buchs schien mir als Sehnsuchtsort für diesen alles andere als sommerlichen Sommer die richtige Wahl. Doch leider musste ich dann schon nach gut der Hälfte des Romans kapitulieren. Das mit Elena Ferrante und mir wurde nichts. Aber warum?


Elena Ferrante - Das lügenhafte Leben der Erwachsenen (Cover)

Mit dem Erscheinen von Ferrantes Neapolitanischem Quartett war ich in Neugier versetzt. Jedes große Feuilleton schrieb über die vierbändige Saga um Lila und Lenu, angeheizt durch eine kluge Marketingkampagne setzt das #ferrantefieber in Deutschland ein. Sogar als Serie wurde das Quartett in der Folge adaptiert.

Auch ich las die Werke mit Interesse und fand mich wieder in einem Neapel, das wenig mit Pizza und Funiculì Funiculà-Folklore gemein hatte. Stattdessen dominierten Gewalt, unzufriedene und fluchende Figuren und wenig Aufstiegschancen die Welt der Freundinnen. Kinder, später Frauen, die mit ihrem Schicksal haderten, in großer Armut, enttäuscht von den Männern lebten, sich auch gerne einmal beschimpften und hinter dem Rücken schlecht redeten. Wenig Glück, dafür umso mehr Düsternis, Dumpfheit und Elend. Das war das Neapel, das ich in Elena Ferrantes Büchern vorfand.

Frauen im Dunkeln, wenig Hoffnung und Freude

In der Folge machte sich der Suhrkamp daran, die Backlist der Autorin zu erschließen. Zumeist in der Übersetzung von Karin Krieger erschienen nach und nach ältere und vergriffene Werke der Autorin, darunter auch der Roman Frau im Dunkeln. Auch hier stand wieder eine Frau Mittelpunkt, deren Leben wirklich im Dunkeln stattfand. Sie stiehlt am Strand die Puppe eines kleinen Mädchens und beobachtet, was diese Tat mit dem Kind und seiner Mutter macht.

Damals schrieb ich in meiner Besprechung von überspannten Frauenfiguren, wahren Furien, deren Handlungsmotivation unklar bleibt. Ein Einfühlen in den geschilderten Kosmos wollte mir so gar nicht gelingen, sodass ich konstatierte:

Von Strand, la dolce vita und Entspannung ist bei Elena Ferrante nicht viel übrig. Auf ihre Welten muss man sich einlassen – mir ist das hier leider überhaupt nicht gelungen. Die Faszination für die Frau im Dunkeln liegt für mich im Dunkeln.

Meine Rezension vom 11. Februar 2019

Zurück in Neapel

Seit jener Besprechung waren zwei Jahre ins Land gegangen, Zeit also für einen abermaligen Versuch mit Elena Ferrante und mir. Und schon nach wenigen Seiten fühlt man sich wieder heimisch in dieser Welt. Abermals ist die Erzählung in Neapel angesiedelt, diesmal erzählt die junge Giovanna, die sich am Beginn der Pubertät befindet. Ein Schlüsselsatz prägt sich bei ihr ein, der ihre Welt erschüttern soll.

Zwei Jahre, bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben.

Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen, S. 9

Ihr Vater, ein bewunderter Intellektueller, vergleicht in jenem Gespräch das Aussehen Giovannas mit dem seiner Schwester, die in der Familie totgeschwiegen wird. Das weckt das Interesse des Mädchens, die sich nun für die familiären Wurzeln zu interessieren beginnt. Sie lernt ihre Tante kennen, eine ausgesprochen vulgäre Erscheinung, die Giovanna fasziniert. Immer mehr pflegt sie den Kontakt mit ihrer Tante und muss erkennen, dass auch ihre eigenen Eltern Lügen leben und obschon besserer Umgangsformen und Manieren durchaus auch schlechte Seiten haben.

Davon erzählt Elena Ferrante ausführlich, indem sie durch Giovanna auf diese lügenreiche Welt der Erwachsenen blickt, die voller Widersprüche und Heuchelei steckt. Die vulgäre Tante wird damit zum Gegenpol, da sie all das in ihrem derben Dialekt thematisiert und Giovanna damit auch ein Stück weit die Augen öffnet.

Monothematisch und voller überspannter Figuren

Alleine, mir war das irgendwann zu viele. Diese Monothematik von fluchenden und bigotten Figuren, einem Neapel, in dem scheinbar nie die Sonne scheint, die völlige Abwesenheit von Hoffnung und Freude, all das war mir nun im sechsten Buch der Autorin zu viel. Was im vierbändigen Freundinnen-Quartett schon manchmal kaum erträglich war, hat mir hier endgültig die Freude an der Lektüre vermiest, sodass ich dieses Buch wider meinen eigentlichen Gewohnheiten abbrach.

Nun muss es natürlich nicht die oben angesprochene Neapel-Pizza-Romantik mit jodelnden Pizzaoilo, stundenlangem Bad im Meer und Schlendern durch die engen Gassen im Abendlicht sein. Aber ein klein wenig mehr mediterranen Charme, eine nuancen- und kontrastreichere Welt und wenigstens ein bisschen Zufriedenheit oder ausgeglichenere Figuren anstelle von Überspanntheit, Schimpfen und Betrügen, das hätte mir gefallen, besonders in diesem so trostlosen Sommer, in dem ich zum Buch griff.

So muss ich leider konstatieren, dass das mit Elena Ferrante und mir wohl nichts mehr wird, habe ich doch das Gefühl, stets das gleiche Buch in leicht variiertem Setting zu lesen. Elena Ferrante seien die vielen euphorischen Leserinnen und Leser gegönnt, ich zähle mich nun nach diesem Lektüreabbruch nicht mehr dazu.


  • Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
  • Aus dem Italienischen von Karin Krieger
  • ISBN: 978-3-518-42952-5 (Suhrkamp)
  • 414 Seiten. Preis: 24,00 €
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