Vorschaufieber Herbst 2021

Man mag sich eingedenk der immer im niedrigen zweistelligen Bereich stagnierenden Temperaturen noch gar nicht damit befassen: aber die Verlage legen schon fleißig ihre Programme für den Herbst/Winter 2021 vor. Ich habe mich deshalb drangemacht, die Programme zu sichten und spannende Titel aus den Programmen herauszusuchen. Dabei muss ich konstatieren, dass ich im Vergleich zu den kommenden Programmen das Frühjahrsprogramm der meisten Verlage deutlich stärker fand. Ausnahme allerdings der Dumont-Verlag, bei dem ich auch gleich unbesehen das komplette Programm geordert hätte. Aber nun eins nach dem anderen. Worauf kann man sich freuen?

2020 war Maaza Mengiste mit Der Schattenkönig für den Booker Prize nominiert. Nun gibt es das Buch ab September in der Übersetzung von Patricia Klobusiczky und Brigitte Jakobeit im dtv-Verlag zu lesen. Darin erzählt sie vom Einmarsch Mussolinis in Äthiopien 1935 und den Konsequenzen, die dieser Einmarsch für die Bevölkerung hatte.

Middle England war eines meiner großen Buchhighlights im letzten Jahr. vor zwei Jahren. Nun gibt es mit Mr. Wilder & Ich Neues von Jonathan Coe zu entdecken. Darin dreht sich alles – wer hätte das gedacht, um Billy Wilder und dessen vorletzten Dreh im Sommer 1976 auf einer griechischen Insel.

Apropos Buchhighlights: Auch Offene See war ein großer Überraschungshit aus dem letzten Jahr, mit dem mich Benjamin Myers überzeugen konnte. Auch von ihm gibt es ab September mehr zu lesen. Dann erscheint Der perfekte Kreis im Dumont-Verlag.

Indien ist ein Land, aus dem ich bislang fast überhaupt keine Literatur konsumiert geschweige denn hier vorgestellt hätte. Ab September könnte sich das hier in der Buch-Haltung ändern, denn dann erscheint In Flammen von Megha Majumdar, in dem sie einen Blick auf das aktuelle Indien und seine Probleme wirft.

Und auch von Hari Kunzru gibt es Neues zu lesen. Seine beiden Romane White Tears waren und Götter ohne Menschen waren beides echte Highlights. Nun legt der Liebeskind-Verlag nach und präsentiert im August Red Pill, das nach einem verschrobenen und außergewöhnlichen Buch klingt. Ein amerikanischer Schriftsteller am Wannsee in Berlin, Kleist, eine brutale Fernsehserie und ein Agitator, um das und mehr soll es darin gehen.

Im Herbst vergangen Jahres waren sowohl Internet als auch englischsprachige Feuilletons übervoll ob des Lobes für Douglas Stuarts Shuggie Bain, das dann auch den Booker Prize erhielt. Ob die Lobeshymnen gerechtfertigt waren, will ich mir ab August genauer ansehen. Dann erscheint der Roman bei Hanser Berlin in der Übersetzung von Sophie Zeitz.

Wenn wir schon beim Hanser-Verlag sind: aufhorchen hat mich auch diese Ankündigung lassen. Im September erscheint von K-Ming Chang der Roman Bestiarium. Darin erzählt sie von einer taiwanesischen Einwandererfamilie und ihrem Ankommen in Amerika über verschiedene Generationen. Generell fällt der starke Fokus auf asiatische Erzählstimmen in den Herbstprogrammen auf (Kim Thuy, Zhou Haohui, Khué Pham, etc.)

Transgenerationale Konflikte und Traumata spielen auch bei Lukas Rietzschel eine Rolle. Er ist mit Verlegerin Barbara Laugwitz von Ullstein zum dtv-Verlag gewechselt und präsentiert dort nach Mit der Faust in die Welt schlagen seinen zweiten Roman Raumfahrer. Das Ganze gibts ab Juli zu lesen.

Eine kleine Sensation gibt es im Frankfurter Schöffling-Verlag zu bewundern. Diese haben sich um die Wiederentdeckung Gabriele Tergits verdient gemacht. Und nun liegt mit So war’s eben erstmals ein Familienroman aus dem Tergit’schen Nachlass vor, der einen Bogen von 1898 bis in die 50er Jahre spannt und von Flucht, Vertreibung und Kriegen erzählt.

Ein Familienroman erscheint auch im August im Diogenes-Verlag. Hier debütiert Caroline Albertine Minor mit Der Panzer des Hummers. Darin erzählt die dänische Autorin von drei unterschiedlichen Geschwistern, die sich auseinandergelebt haben und völlig unterschiedliche Lebensansätze verfolgen. Ursel Allenstein liefert die Übersetzung.

Zwei Bücher gibt es von Claire Fuller bislang auf Deutsch, zweimal waren es Volltreffer. Auf ihre neues Buch freue ich mich deshalb sehr. Unsere unendlichen Tage soll eine Fabel in der Tradition von Marlen Haushofer sein, angesiedelt im Bayerischen Wald. Die Ankündigung und das bisherige Oeuvre Fullers machen mich auf alle Fälle neugierig.

Mögen die „alten, weißen Männer“ schon zu einem etwas tendenziösen Begriff geworden sein, gibt es nun dank des DuMont-Verlags und der Übersetzerin Monika Köpfer nun Mittelalte Männer zu entdecken. Geschrieben hat Richard Russo dieses Buch eigentlich schon 1997, nun liegt es aufgrund seines zunehmenden Erfolgs erstmals auf Deutsch vor.

Wenn die Inhaltsbeschreibung des folgenden Buchs nicht nach Breitwandpanorama klingt, dann weiß ich auch nicht. In Wie viel von diesen Hügeln ist Gold erzählt C Pam Zhang von zwei chinesischen Waisenkindern. Diese befinden sich auf der Flucht durch die Prärie, da sie ihren Vater nach althergebrachtem Ritus bestatten möchten.

Ein Buch über eine Bibliothekarin und ihren Arbeitsplatz, der von einer Schließung bedroht ist? Eine Hommage an das Lesen und die skurrilen Kund*innen, die Bibliotheken so besuchen? Ich bin auf alle Fälle mit dabei, wenngleich Cover und Kurzbeschreibung etwas Kitsch und RomCom-Flair versprühen. Aber ein bisschen Eskapismus ist ja auch mal ganz schön. Die letzte Bibliothek der Welt von Freya Sampson erscheint im August bei DuMont.

Neues gibt es auch von Andreas Pflüger. Seine Trilogie um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron zählt zu dem besten, was die deutsche Spannungsliteratur in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Nun gibt es mit Ritchie Girl einen neuen Roman des Drehbuchautors zu lesen, der darin ins Nachkriegsdeutschland entführt und vom Vergessen, Spionage und Neuanfang erzählt. Ab September bei Suhrkamp.

Erfreulich ebenso diese Ankündigung aus dem Hause C. H. Beck.: Nach Alles Licht, das wir nicht sehen, das 2014 erschien, gibt es nun erstmalig etwas Neues von Anthony Doerr zu lesen. Wolkenkuckucksland heißt das neue Buch des amerikanischen Autors. Der Verlag bewirbt es als ein Buch dreier über die Zeit hinweg verbundener Geschichten im Stile des „Wolkenatlas“ von David Mitchell. Mehr braucht es für mich nicht, als dass das Buch hoch oben auf meinem Zettel steht.

Ein weiteres hochinteressantes Buch scheint mir dieses zu sein: María José Ferrada erzählt in Kramp die Geschichte eines Eisenwarenvertreters, der seine Tochter mit auf seine Touren nimmt. Das wäre an sich nicht besonders erzählenswert, würde es sich nicht um den Schauplatz Chile Anfang der 80er Jahre handeln. Die Hochzeit der Pinochet-Diktatur also. Ab Ende August ist das Buch in der Übersetzung von Peter Kultzen bei Berenberg beziehbar.

Steven Hall erzählt in Maxwells Dämonen von dem Autor Thomas Quinn, der das Gefühl hat, von einer Romanfigur verfolgt zu werden. Diese entstammt einem Krimi, den sein Mentor einst schrieb, ehe er spurlos verschwand. Was hat es mit Maxwells Dämonen auf sich? Ab Oktober lässt es sich erfahren.

Spannend auch die Geschichte von Alexander Wolff, der der Enkel des legendären Verlegers Kurt Wolff ist. Er zog für ein Jahr nach Berlin, um dort die schillernde Geschichte seiner Familie zu ergründen. Nachlesen lässt es sich ab September in Das Land meiner Väter (erscheint bei DuMont)

Und Eva Menasse erzählt von der Geschichte und der großen Politik anhand eines kleinen österreichischen Dorfs. Dunkelblum heißt das Werk und wird im August bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen.

Für seinen Roman Die Anomalie erhielt Hervé Le Tellier im letzten Jahr den Prix Goncourt. Nun gibt es seinen Roman in der Übersetzung von Romy und Jürgen Ritte ab August auch auf Deutsch zu lesen. Der Verlag verspricht etwas eigenwillig eine Mischung aus Thriller, Komödie und großer Literatur (warum das eine das andere ausschließen sollte, das will mir nicht so richtig ein).

Mit Wie schön wir waren gibt es Neues von Imbolo Mbue zu lesen. 2017 erschien ihr erster Roman auf Deutsch: Das geträumte Land. In ihrem zweiten Roman erzählt sie von einem ausgebeuteten afrikanischen Dorf, das sich gegen übermächtige Gegner zur Wehr setzt.

Interessant klingt auch dieses Debüt von Stefanie vor Schulte, das mich durch den Klappentext etwas an Charles Lewinskys Der Halbbart erinnerte: Junge mit schwarzem Hahn. Ab August im Diogenesverlag erhältlich.

Ein weiterer vielversprechender Titel auf meiner Liste ist der Roman Wenn wir heimkehren von Andrea Heuser. In diesem Gesellschaftsroman geht es zurück in die 50er Jahre in der alten Bundesrepublik. Auch dieser Roman erscheint im August.

Von diesem Monument (laut André Aciman im Range eines James Joyce, so der Kampa-Verlag in seiner Werbung) habe ich noch nichts gehört. Das Alexandria-Quartett von Lawrence Durrell stellt in vier Bücher vier unterschiedliche Menschen in den Mittelpunkt, deren Erinnerungen an Alexandria in den 30er-Jahren miteinander verbunden sind. Ein Schuber, fast 1300 Seiten – ich bin mehr als neugierig!

Eine Wiederentdeckung bietet der Weidle-Verlag im Herbst. Hier präsentiert Verleger Stefan Weidle den letzten Roman von Theodor Wolff namens Die Schwimmerin. Das Buch wird als Berlin-Roman, Nachruf auf die Weimarer Republik, Liebes- und Sozialgeschichte angekündigt. Und schon alleine das von Kat Menschik gestaltete Retro-Cover ist es wert, sich dieses Buch einmal genauer anzusehen.

Und auch auf diesen Roman bin ich sehr gespannt: Te-Ping Chen präsentiert in Ist es nicht schön hier zehn Geschichten, die vom modernen China erzählen. Menschen, die verhaftet werden, Gamer, Träumer und noch mehr gibt es in diesem Roman zu entdecken.

Emiliy St. John Mandel erzählt in Das Glashotel eine Geschichte, die in einem Luxushotel an der Küste Kanadas spielt. Dort beschließt eine Barkeeperin, mit einem Hotelgast, einem reichen Investor, nach New York aufzubrechen. Übersetzt von Bernard Robben gibt es das Buch ab August bei Ullstein.

Von Colson Whitehead gibt es auch Neues zu lesen. In Harlem Shuffle erzählt er die Geschichte eines Mannes, der eine Doppelexistenz führt. Denn obschon er ein anständiges Leben anstrebt, muss er sich doch auch als Hehler in Harlem verdingen, um sein Auskommen zu sichern.

Und auch auf dieses Debüt bin ich gespannt: Rumaan Alam erzählt von einer Familie, die einen Urlaub in einem Ferienhaus auf Long Island verbringen will. Doch plötzlich steht Inmitten der Nacht ein schwarzes Ehepaar vor der Tür, die behaupten, dass an der Ostküste alles im Dunkeln liege und das Haus ihnen gehöre. Wem kann die Familie trauen?

Neue Krimis

Einer der ungewöhnlichsten Krimis der letzten Zeit stammt von Stuart Turton. Dieser ist nun mit Der Tod und das dunkle Meer zurück. Und auch dieses Setting klingt wieder ungewöhnlich und spannend: wir sind nämlich im Jahre 1634 an Bord eines Schiffs von Batavia nach Indonesien. An Bord soll der Teufel umgehen, es kommt zu mysteriösen Mordfällen und an Bord ist ein Ermittler, der sich eigentlich auf dem Weg zu seiner Hinrichtung befindet.

Was Krimiunterhaltung an der Grenze zwischen Trash und Ernst anbelangt, ist Candice Fox eine echt Größe. Präzise wie ein Uhrwerk legt sie Jahr für Jahr einen Thriller vor. Dieses Jahr ist es das Buch 606, das mich etwas an den Harrison Ford-Klassiker Auf der Flucht erinnert. Nach einem Gefängnisausbruch ist einer der Insassen unterwegs, seine Unschuld zu beweisen. Gejagt wird er von einer Gefängnisaufseherin, die mit ihm noch eine Rechnung offen hat.

Im Atrium-Verlag erscheint ein Debüt, das ich mir auch gleich auf meinen Merkzettel notiert habe. Die Stille des Bösen von Kyle Perry entführt in die Wildnis Tasmaniens. Dort ist eine Gruppe Jugendlicher verschwunden, wie dies in den 80er Jahren schon einmal passiert ist.

Und auch der Polar-Verlag liefert zuverlässig wieder neue Stimmen und Plots. Mit Black Water Rising veröffentlicht der Verlag nun das Debüt von Attica Locke, die für ihre Krimis viel Lob und Aufmerksamkeit erhielt. Das Buch spielt in den Sümpfen der Bayous im Jahre 1981 und erzählt von eine ehemaligen Black Power-Aktivisten.

Apropos Unabhängige Verlage: auch der im fränkischen Cadolzburg beheimatete Ars Vivendi-Verlag bietet immer wieder Entdeckungen fernab des Mainstream. Nun erscheint dort von Ivy Pochoda ein neuer Roman. Diese Frauen dreht sich um die Opfer eines Serienkillers in Los Angeles, an deren Schutz und Schicksal die Polizei wenig Interesse hegte.

Neue Sachbücher

Von Büchern über Bibliotheken, Buchhandlungen und das Lesen kann ich ja nicht genug bekommen. Umso schöner, dass der DuMont-Verlag nachlegt und mit Vom Glück, zu lesen ein weiteres Buch dieses Genres vorlegt. Darin erzählt Martin Latham von der Liebe zu Büchern und präsentiert eine Geschichte von Buchhandlungen und Buchleidenschaft.

Spannend auch dieses Buch aus dem ersten Programm des neugegründeten Kanon-Verlags. Kirsty Bell erzählt in Gezeiten der Stadt eine Geschichte Berlins, irgendwo zwischen Memoir, Stadtbild und Kulturgeschichte, so die Ankündigung im Katalog des Verlags. Ich bin auf alle Fälle interessiert.

Und auch dieses Buch klingt sehr vielversprechend: Oliver Lubrich geht in Humboldt oder Wie das Reisen das Denken verändert den einzelnen Expeditionen Alexander von Humboldts nach. Er beschreibt wie diese Reisen das Denken dieses großen Gelehrten änderten, neue Einsichten bescherten und seinen Kosmos weiteten. Als Fan von Andrea Wulffs Biografie und der Beschreibung Jürgen Goldsteins ist dieses Buch Pflichtprogramm für mich!

Wer sind wir Deutschen eigentlich? Immer wieder gibt es im C. H. Beck-Verlag dazu interessante Bücher, geschrieben etwa von Christopher Clark. Ein ähnliches Lese- und Ideenerlebnis erhoffe ich mir von folgendem Titel: Deutschland – Geschichte einer Nation von Helmut Walser Smith.

Und dann noch zu einem Genre, das schon fast ausgestorben schien: der Arbeiterroman. Ein ebensolcher erscheint bei Matthes & Seitz Berlin im September, geschrieben von Joseph Ponthus. In seinen Aufzeichnungen Am laufenden Band erzählt er von seiner Arbeit in den Fischfabriken und Schlachthöfen der Bretagne. Es ist sicherlich spannend, auch diese Milieus mal wieder in der Literatur vertreten zu sehen. Berlinromane und Coming of Age gibt es ja wahrlich schon genug.

So viel zu meinen Vorschautiteln, die weit oben auf meiner Merkliste rangieren. Gibt es Titel, auf die ihr euch besonders freut oder Titel aus meiner Vorstellung, die euch besonders ansprechen?

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Steffen Kopetzky – Monschau

Steffen Kopetzky bleibt seinem Schauplatz Eifel treu. Schilderte er in seinem zuletzt erschienen Roman Propaganda die die Schlacht im Hürtgenwald am Ende des Zweiten Weltkriegs, so spielt Kopetzkys neue Erzählung nun im Jahre 1962 dort in der Eifel. Schauplatz ist das beschauliche Städtchen Monschau, südlich von Aachen gelegen, fast direkt an der Grenze zu Belgien. Dort kommt es im Anfang des Jahres zu einem Pockenausbruch. Ein Monteur der ortsansässigen Ritherwerke hatte sich auf einem Indienaufenthalt mit den tückischen Viren infiziert. Doch anstelle der Einhaltung der strengen Quarantäneregeln feierte der Monteur im Anschluss an seinen Auslandsaufenthalt Weihnachten und traf viele Kolleg*innen. Mit der Folge dieses Verhaltens sieht man sich gleich zu Beginn des Buchs konfrontiert: es kommt zu einer Pockenendemie in Monschau.

Während der Chef der Ritherwerke die Produktionsfähigkeit seiner Werke in Gefahr sieht und den Betrieb auf gar keinen Fall einschränken will, ist es die Wissenschaft in Form des Düsseldorfer Dermatologen Günther Stüttgen und dem griechischen Medizinstudenten Nikos Spyridakis, die auf einen lokalen Shutdown drängt, um Infektionsketten nachzuverfolgen und den Ausbruch der Viren einzugrenzen. Zwischen den beiden Positionen entfalten sich einige Spannungen, die durch eine beginnende Liebesgeschichte und alte Verbindungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zusätzlich belastet werden.

Eine frappierende Ähnlichkeit mit unserer Gegenwart

Man kann Monschau nicht lesen, ohne das von Kopetzky geschilderte Geschehen permanent im Kopf mit unserer pandemischen Gegenwart abzugleichen. Die Ähnlichkeiten sind ja frappierend. Ähneln sich der Verlauf und die Bilder der Pandemie (wenngleich hier Nikos Spyridakis hier noch in eine alte Stahlkocheraurüstung schlüpfen muss, um sich vor den Viren zu schützen) sind es vor allem die Fehler im Umgang mit der Endemie dort, die bei der Lektüre mit dem Kopf schütteln lassen ob der Unfähigkeit, etwas aus der Geschichte zu lernen.

Steffen Kopetzky - Monschau (Cover)

So ist der Karneval den Monschauer*innen heilig und soll nicht der Virenbekämpfung geopfert werden. In der Folge begeben sich zahlreiche Monschauer*innen ins benachbarte Dorf, um dort trotz der zahlreichen Vireninfektionen sorglos zu feiern und sich dem Amüsement hinzugeben. Die Parallele zu einem ähnlich halsstarrigen Beharren auf Starkbierfeste, Skigaudi und Karneval während der aktuellen Pandemie ist bestürzend.

In der genauen Beschreibung des Ablaufs des Pockenausbruchs entfaltet Monschau die Kraft eines mitreißenden Dokudramas. Kopetzky nimmt verschiedene Figuren und ihren Blick auf die Pandemie in den Blick und zeigt ihre Beweggründe für ihr Verhalten. Vom tumb-strategischen Direktor der Ritherwerke bis hin zu Spyridakis, dem der aufkeimende Liebe zur jazzhörenden Erbin der Ritherwerke Kraft gibt, gelingt es Kopetzky, nachvollziehbare Figuren zu gestalten. War schon Propaganda eine große Verbeugung vor dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Günther Stüttgen, so führt er in Monschau diese Verbeugung fort.

Wie ein Christian Drosten des Jahres 1962 wirkt dieser Stüttgen in der Beschreibung Kopetzkys, den er als kundigen und umsichtigen Manager des Pockenausbruchs zeigt (von höchster „strategischer Intelligenz“, S. 96). Unerwartet dramatisch wird das Buch dann in seinem ungewöhnlichen Schluss, der die erzählerischen Fäden aus Propaganda rund um Stüttgen noch einmal aufgreift. Hier wirkt das Buch fast manchmal wie eine Ausarbeitung übrigen Materials, das Kopetzkys letztes großes Schreibprojekt noch bereithielt (was die Qualität des Buchs aber keinesfalls mindert). Denn bis auf kleine stilistische Holprigkeiten habe ich keinerlei Kritikpunkt an diesem Buch.

Ein unterhaltsames medizinisches Dokudrama

Ahnte Vera, dass sie mit dieser Geschichte und ihrem in die Zukunft weisenden Entschluss nun Nikos Spyridakis‘ Herz endgültig zum Schmelzen brachte, so wie der geniale Induktionsofen aus dem Ingenieurskontor ihres Onkels ein Stück Metall? Wurde er in diesem Moment zu einem kupferfarbenen griechischen Ritter, Vera treu ergeben, weil er vermeinte, in ihre Seele geblickt zu haben?

Steffen Kopetzky – Monschau. S. 164 f.

Hätte es auch einzelne Abschweifungen wie etwa die Schilderung der Hamburger Sturmflut im gleichen Jahr oder einige überanstrengte Bilder wie das obige nicht gebraucht, so gelingt es Kopetzky doch ein toller historischer Roman und ein Stück Medizingeschichte, das die Atmosphäre und die belastende Enge dort in den Gassen Monschaus aufgreift. Von Grass, Simmel und „Zwei kleine Italiener“ bis hin zu Stuyvesant und Rémy Martin atmet dieses Buch den Geist des Jahres 1962. Unterhaltsam und informativ zugleich, das ist Monschau von Steffen Kopetzky. Und in seiner Parallele zur Lage unserer Tage wirklich bemerkenswert.

Empfohlen sei an dieser Stelle auch das Video, in dem Kopetzky die Hintergründe seiner Geschichte erläutert:


  • Steffen Kopetzky – Monschau
  • ISBN 978-3-7371-0112-7 (Rowohlt)
  • 352 Seiten. Preis: 22,00 €
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Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong

War in den letzten Wochen von Hongkong die Rede, waren es alles andere als positive Schlagzeilen, die uns von dort erreichten. Die Sanktionen gegen die Demokratiebewegung. Die Verhaftungen bekannter Politaktivisten wie Jimmy Lei oder Joshua Wong. Die Besetzung der Polytechnischen Universität. Das Vorgehen der chinesischen Regierung, allen voran der Regierungschefin Carrie Lam, das die Proteste auslöste. Und die Erkenntnis, dass die Tage der Freiheit und Exklusivrechte für alle Hongkongchines*innen schon gezählt sind.

Diese aktuelle Episode ist allerdings nur ein Beispiel für die wechselvolle Geschichte Hongkongs. Chan Ho-Kei beleuchtet diese in in seinem Kriminalroman Das Auge von Hongkong auf formal ungewöhnliche Art und Weise.


Denn statt sich für eine durchgängige Geschichte zu entscheiden, erzählt Chan-ho Kei gleich sechs Fälle. Fälle, die in unterschiedlichen Jahrzehnten angesiedelt sind und sich von der Gegenwart in die Vergangenheit bewegen. Dreh- und Angelpunkt der Geschichten ist der Ermittler Inspector Kwan, auch genannt Das Auge von Hongkong. Seine deduktorischen Fähigkeiten sind legendär, schon in jungen Jahren erwarb sich der Ermittler einen Ruf wie Donnerhall. Wie es dazu kam, das erzählt uns der chinesische Autor Stück für Stück. Löst Kwan seinen letzten Fall rund um einen Harpunenmord noch auf dem Sterbebett, bekommt er es dann in jüngeren Jahren mit einem genau orchestrierten Überfall, verdächtigen Kollegen oder einer Erpressung zu tun.

Der Sherlock aus Hongkong

Der Vergleich zu Sherlock Holmes ist insofern gerechtfertigt, da wir als Leser oft mit den Polizeikollegen lange im Dunkeln tappen, ehe Kwan dann zur Verblüffung aller Beteiligten die Indizien zu einem schlüssigen und oftmals sehr überraschenden Schluss bringt. Doch nicht nur Kwan glänzt in diesem über 570 Seiten starken Episodenkrimi. Es gibt auch einen heimlichen Hauptdarsteller, nämlich Hongkong.

Chan-ho Kei siedelt seine Erzählungen in verschiedenen Distrikten an (die man dank der Karte im Vorsatz gut zuordnen kann); er erzählt vom kolonialen Erbe und den rasanten Veränderungen, denen die Stadt unterlag. So bekommt man einen guten Eindruck von der wechselvollen Historie Hongkongs, die sich in der Gegewart nur konsequent fortsetzt. Wer Das Auge von Hongkong gelesen hat, versteht auch aus der Distanz diese Stadt und ihre Bedeutung besser.

Die Verbindung aus Stadtgeschichte und Kriminalerzählungen gelingt Chan-ho Kei überzeugen. Und wenngleich die Übersetzung wie schon bei 64 von Hideo Yokoyama einen Umweg geht und statt aus der Originalsprache aus der englischen Übersetzung von Sabine Längsfeld ins Deutsche übertragen wurde, ist das Ergebnis durchaus stimmungsvoll.

Fazit

Möchte man die Geschichte Hongkongs etwas besser verstehen, ist man mit diesem Krimi gut beraten. Sucht man ein formal ungewöhnlichen Krimi, dann ist man mit diesem Buch ebenfalls gut beraten. Und möchte man mal wieder in guter alter Arthur Conan Doyle-Manier über Verbrechen und Verbrecher rätseln, auch dann ist dieses Buch eine wirkliche Empfehlung. Drei gute Gründe, um sich Das Auge von Hongkong von Chan Ho-Kei einmal näher anzusehen!


  • Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-028-5 (Atrium)
  • 576 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ling Ma – New York Ghost

In China greift ein neuartiges Virus um sich. Bei einer Ausbreitung in China bleibt es nicht, schon bald wird das sogenannte „Shen-Fieber“ zu einer Pandemie, bei der es keine Heilungschancen gibt. Die USA riegeln sich ab, die See- und Luftwege nach China werden abgeschnitten. Und doch ist das Virus mobiler als gedacht. Schon bald breitet es sich auch in den USA aus, trotz der Pflicht zu Schutzmasken und vermehrter Hygiene. Die Gesellschaft driftet zunehmend auseinander, vereinzelt sich, tritt den Rückzug ins Private an.

Klingt wie eine Blaupause zu unserer aktuellen Situation? Auf alle Fälle – allerdings, und das ist das Bemerkenswerte: dieses Buch erschien bereits 2018. Ling Ma verfasste damals New York Ghost, das nun aufgrund seiner Prophetie geradezu unheimlich wirkt. Ein Buch, das man auf der Suche nach Ablenkung von der Gegenwart besser nicht in die Hand nehmen sollte. Wer allerdings originelle Endzeiterzählungen zu schätzen weiß, der kann hier unbedingt zugreifen.

Alles beginnt mit einem dystopischen Setting. Die Erzählerin Candace Cheng hat sich einer Gruppe Überlebender in einem postapokalyptischen Amerika angeschlossen. Fast alle Menschen sind tot, die Erde wirkt unbevölkert. So etwas wie eine Zivilisation gibt es nicht mehr. Candace wurde in einem Taxi von ein paar Überlebenden aufgefunden, die sich nun unter der Leitung eines Anführers auf den Weg machen, um eine Mall in ihren Besitz zu bringen. Doch wie kam es zu dieser Situation? Davon erzählt Candace in Rückblenden.

Auf der Suche nach Identität

Dabei beschränkt sich Ling Ma allerdings glücklicherweise nicht auf eine pure dystopische Erzählung, sondern bringt einige Themen mehr in ihren Roman ein. So ist Candace das Kind zweier chinesischer Einwanderer und in ihrer Suche nach einer Identität zwiegespalten. Einerseits wird sie durch die familiären Wurzeln und Aufstiegshoffnungen geprägt, auf der anderen Seite möchte sie sich auch dem amerikanischen Lebensstil anpassen.

Immer wieder durchstreift sie vor dem Ausbruch des tödlichen Fiebers New York. Sie beobachtet Menschen, wandert durch Chinatown und pflegt ein Blog mit dem sprechenden Titel New York Ghost. Wie ein Geist durchmisst sie ein New York, in dem sie keinen rechten Anschluss finden mag, fotografiert urbane Szenen und ist von Unrast geprägt.

Diese Unrast im Charakter von Candace Cheng steht in einem groben Kontrast zu ihrer Arbeitsdisziplin, die von einem hohen Arbeits- und Leistungsethos geprägt ist. Jeden Tag begibt sie sich pflichtbewusst in ihre Arbeit nahe des Time Square, wo sie für einen großen Verlag Bibelprojekte vergibt und koordiniert. Der Verlag zeichnet sich durch ein immenses Preisdumping aus, weswegen die Bibel zumeist im Ausland gefertigt werden müssen, genauer gesagt in China.

Und obwohl Candace qua Job ganz nah dran ist an den Ereignissen, die von China ausgehend ihren Lauf nehmen, bekommt sie zunächst wenig davon mit. Sie stürzt sich in die Arbeit und selbst als New York schon ganz entvölkert und entgeistert ist, schleppt sie sich mit stoischer Disziplin in die Arbeit. Denn die Ordnung muss ja aufrechterhalten werden.

Doch irgendwann muss auch Candace einsehen: in einer Welt, in der fast niemand mehr lebt, in der die öffentliche Ordnung komplett zusammengebrochen ist, hilft auch ein hohes Arbeitsethos nur bedingt, um zu überleben.

Vom Überleben, Arbeitsethos und dem Shen-Fieber

Eine der Lobeshymnen auf das Buch preist New York Ghost als eine Mischung aus The Office und The Leftovers. Und so krude es klingen mag – das trifft den Kern sehr gut (auch wenn ich vom Humor der Ricky Gervais-Serie hier nur bedingt etwas merkte). Ling Ma bringt in ihrem Buch viele scheinbar widersprüchliche Themen zusammen. Die hellsichtige Schilderung einer Pandemie. Betrachtungen der amerikanischen Gegenwart durch eine chinesischstämmige Migrantin. Schilderungen unserer teilweise absurden Arbeitswelt und ihrer ökonomischen Folgen. All das führt ihr Buch zusammen und vergisst dabei auch die Spannung nicht. Denn während Candace immer wieder zurückblickt und so langsam an Kontur gewinnt, treibt die Handlung in der entvölkerten Gegenwart weiter voran.

Immer wieder bricht die Gruppe der Überlebenden zu sogenannten Pirschen auf. Man begibt sich auf die Suche nach der Sicherheit verheißenden Mall. Und zu allem Überfluss muss Candace auch noch ein allesentscheidendes Geheimnis vor der Gruppe Überlebender verbergen. Das Überleben in einer pandemischen Endzeit, es ist mehr als kompliziert.

Fazit

Hätte man hier im Deutschen Ling Mas Roman schon zum Erscheinungszeitpunkt lesen können, man hätte das Buch sicher als reine Fiktion abgetan. Eine Endzeiterzählung mehr, wie sie sicher nie eintreten würde. Doch schon zwei Jahre später hatte die Gegenwart das Buch in Teilen eingeholt. Bei literarisch schwächeren Titeln wäre zu diesem Zeitpunkt das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten gewesen. Die Realität hätte die Fiktion überschrieben und das Buch als schwachen Abklatsch des Erlebten hinter sich gelassen, zumal die Schilderung der Dystopie kein besonderes Alleinstellungsmerkmal gegenüber ähnlichen Veröffentlichungen hat.

Glücklicherweise hat sich Ling Ma aber eben nicht nur auf eine Endzeiterzählung von erschreckender Prophetie verlassen. Ihr Buch bietet ja wie eingangs erwähnt noch andere Blickwinkeln. New York Ghost ist in seiner Gesamtheit ein faszinierendes und hochaktuelles Leseerlebnis. Auch unter dem Aspekt der aktuellen Diskussion über die Frage von Repräsentanz in der Literatur ist das Buch mehr als lesenswert.

Ein Dank gebührt der Herausgeberin und Übersetzerin Zoe Beck. Sie hat das Buch mit ihrem Indie-Verlag CulturBooks dem deutschen Buchmarkt zugänglich gemacht. Und bietet uns damit die Chance auf eine echte Entdeckung einer jungen Autorin mit prophetischen Gaben.

Auch auf dem Blog Poesierausch wurde das Buch besprochen.


  • Ling Ma – New York Ghost
  • Aus dem Englischen von Zoe Beck
  • ISBN 978-3-95988-152-4 (CulturBooks)
  • 359 Seiten. Preis: 23,00 €
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Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz

Das Geheimnis großer Literatur

Was macht ihn aus, den guten Stil? Worauf kommt es an, was unterscheidet den Könner vom mittelmäßigen Autor beziehungsweise die Könnerin? Michael Maar wählt in seinem umfangreichen Stilführer die einzig erfolgsversprechende Herangehensweise: die der Subjektivität. Schon zu Beginn macht Maar klar, dass guter Stil genauso wie die Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Dennoch versucht er sich an einer Unterscheidung von gutem und schlechtem Stil und rückt dabei sowohl die Makro- als auch die Mikroebene des Stils in den Blick

Herzstück des Romans ist das Porträt von 50 prägenden Stilist*innen der deutschen Sprache. Bewusst konzentriert sich Maar nur auf deutschsprachige Autor*innen (die Tücke der Übersetzung von Stil in eine andere Sprache streift er zu Beginn kurz). Einsetzend in der Weimarer Klassik beginnt die Reise durch die fiktive Bibliothek, macht einen Abstecher zu den österreichischen Autor*innen und endet dann in der Gegenwart bei Wolfgang Herrndorf und Clemens J. Setz.

Was macht guten Stil aus?

Michael Maar - Die Schlange im Wolfspelz (Cover)

Um diese Bibliothek herum gruppiert Maar einige Kapitel in dem er sich mit dem Handwerkszeug für guten Stil auseinandersetzt. Was ist Stil und was versteht der Autor darunter? Von der Interpunktion bis hin zum gelungenen Nebeneinander von Hypo- und Parataxen reichen die Betrachtungen des Germanisten, die immer nachvollziehbar und klar argumentierend sind. Was macht eine Metapher zu einer gelungenen? Warum klingen manche Dialoge so furchtbar hölzern, andere wieder geistreich und mitreißend? Und was hat es mit der titelgebenden Schlange im Wolfspelz auf sich?

Auch einen Kürzestausflug zur Lyrik erlaubt sich Maar und stellt fest, dass diese ja fast die Essenz von Stil beinhaltet. Durs Grünbein, Ann Cotten, Jan Wagner und Monika Rinck werden in den Blick genommen und ihre lyrischen Produktionen genau untersucht. Ein vergnüglicher Ausflug in die Welt der Erotik und des Todes schließt sich an, ehe die Auflösung der beiden Literaturquiz und ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit bibliographischen Angaben dieses monumentale Buch abschließen

Mit Leidenschaft und Humor

Um gleich einmal die von Michael Maar so klug genutzte subjektive Herangehensweise auch für diese Besprechung in Anspruch zu nehmen: die Lektüre von Die Schlange im Wolfspelz macht einfach große Freude. Michael Maar argumentiert klar und nachvollziehbar. Auch ist er professionell genug, manche Entscheidungen über den jeweiligen Stil auch dem Leser selbst zu überlassen oder eigene ambivalente Urteile zuzulassen (so etwas bei Hans Henny Jahnn).

Auch ist er so frei, die jeweilige Handschrift der gerade besprochenen Stilistin oder des Stilisten sanft zu imitieren, zu umspielen und so die jeweiligen Merkmale in den eigenen Text zu überführen. Das ist manchmal ironisch, mal kalauernd, mal schmunzelnd, aber immer respektvoll. Ein Beispiel für alle diese Merkmale zugleich findet sich in folgendem Paragraph, der sich mit der Prosa Arno Schmidts auseinandersetzt:

Wir behalten uns vor, die Prosa des späten Schmidt bei aller genialischen oder genitalischen Interessantheit letztlich partiell entsetzlich zu finden. Sein Mädchen- und Frauenbild ist es in jedem Fall. Räusper: Phall

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 521

Mit einer Faszination für das Entlegene

Schön auch neben dem Humor, der in jeder dieser über 650 Seiten steckt, ist die Leidenschaft Michael Maars für das Entlegene, das Apokryphe. Neben allem Erwartbaren (Thomas Mann, Brigitte Kronauer, Martin Mosebach) überrascht er immer wieder. So lobpreist er etwa die Prosa Hildegard Knefs:

Wie blaß dagegen die gerühmte Kunstprosa Christa Wolfs. Sakrileg! Aber wir stehen hier und können nicht anders: für Knefs Memoiren gäben wir die ganze Kassandra.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 394

Auch andere schon wieder fast vergessene Autor*innen wie Wilhelm Raabe, Unica Zürn, Alexander Lernet-Holenia oder Ulrich Becher lässt er seine Aufmerksamkeit zuteilwerden und macht Lust auf ihre (Wieder)Entdeckung. Wie ein guter Lehrer macht er neugierig, reist manche Erzählungen an, ergeht sich aber nicht in ausufernden Inhaltsreferaten oder ähnlich Unarten. Vielmehr sind seine Porträts der Autor*innen wirkliche Kurzporträts, pointiert und konzise. Sie machen Lust auf eine weitere Beschäftigung mit den jeweiligen Schreibenden.

Immer wieder illustriert er seine Geschmacksurteile mit passenden Zitaten aus entsprechenden Werken und nutzt auch das Stilmittel des Vergleichs, um die jeweiligen Besonderheiten seiner Autor*innen herauszuarbeiten. So stellt er beispielsweise eine Wasserfallszene aus dem Zauberberg von Thomas Mann der aus dem Oeuvre Heimito von Doderers – jenem „austriakischen Kaktus“, so Maar – gegenüber.

Evident gelingt es ihm, Übereinstimmungen oder Unterschiede im Stil so herauszuarbeiten. Auch zeigt er, warum man Felix Salten zugleich als Verfasser des Bambis und der Josefine Mutzenbacher zuordnen darf (an den Satzzeichen sollt ihr ihn erkennen!). Hätte man Michael Maar als Deutschlehrer in der Schule gehabt, die Literaturbegeisterung hätte um sich gegriffen. Viele Lektüretrauma hätten vermieden und unzählige Schüler*innen über das Schulende hinaus zu Leser*innen gemacht werden können. Ein Jammer!

Mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit

Auch macht Maar keinen Hehl aus der Tatsache, dass sein Buch keinen umfassenden Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. So formuliert er am Ende seines Buchs:

Als der Pfiff der Trillerpfeife ertönte, die letzten Türen geschlossen wurden und die Lokomotive langsam in Richtung Verlagshaus losdampfte, verblieb noch ein Grüppchen Passagiere im Wartesaal Daß es Droste-Hülshoff, Horváth, Hebbel, Mörike, Nestroy, von Keyserling, Jonson, Kempowski, Dürrenmatt, Rühmkorf, Serner und ein paar andere nicht mehr auf den Zug geschafft haben, ist zu bedauern und keineswegs ihre Schuld.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 545

Dieser Zustand ist natürlich bedauerlich. Aber einerseits lässt er sich mit der passenden Lektüre leicht beheben. Und andererseits gibt er Hoffnung auf einen Nachschlag, von dem man gerne noch hätte.

Fazit

Dieses Buch ist ein Sachbuch auf höchstem Niveau. Kenntnisreich, anregend, humorvoll. Michael Maar gelingt es hier unnachahmlich, Lust auf Literatur zu machen. Diese Reise durch die Welt der deutschen Literatur ist ein Erlebnis. Was man alles mit Sprache anfangen kann, hier wird es einem beim Lesen offenbar. In die Hände dieses kundigen Reiseleiters kann man sich ohne Sorgen begeben. Überraschungen, Kurzweil, Begeisterung. All das erwartet einen auf den vielen hundert Seiten dieses Buchs. Es ist anregend, geistessprühend, kurzweilig, bestechend klar im Urteil. Und es zeigt, wie beglückend das Leben als Leser*in sein kann.

Dass Die Schlange im Wolfspelz für den ersten Deutschen Sachbuchpreis nominiert wurde, begrüße ich sehr. Maars Buch verdient alle Ehre und viele weitere begeisterte Leser*innen. Denn wer hier keine Lust auf Literatur bekommt, dem ist auch nicht mehr zu helfen!

https://www.youtube.com/watch?v=AH3kZOZpTq8
  • Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz
  • ISBN 978-3-498-00140-7 (Rowohlt)
  • 656 Seiten. Preis: 34,00 €
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