The time of my life

Tom Barbash – Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens

Wenn man zurückschaut, dann neigt man ja dazu, alles zu verklären. Insbesondere im Blick auf die USA hat man das Gefühl, dass früher doch alles noch ein bisschen besser war. Es gab die bessere Musik, von einem narzisstischen Populisten im Weißen Haus ahnte man noch nichts und auch die Risse in der Gesellschaft waren noch nicht so ausgeprägt. Tom Barbash hat einen Roman geschrieben, der in diese „gute, alte“ Zeit zurückversetzt. Und dem es gelingt, nostalgisch zu sein, ohne zu romantisieren. Und der John Lennon noch einmal auferstehen lässt. Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens.


Eine solche Berühmtheit hätten wohl viele Menschen gerne zum Nachbarn gehabt – für Anton Winter ist es Realität. John Lennon heißt der berühmte Nachbar. Er wohnt mit Yoko Ono und seinem Sohn Sean unter einem Dach mit der Familie Winter. Beide Familien sind nämlich Mieter im legendären Dakota Building in New York, einem Appartementhaus der Upper Class.

Nach dem Ende der Beatles hat sich Lennon in das Haus zurückgezogen und will dort seine Ruhe genießen. Auch Anton Vaters Buddy sehnt sich nach Ruhe. Denn als berühmter Talkmaster ist ihm seine Show und sein Dasein irgendwann über den Kopf gewachsen. Und so verschwand er vor einigen Jahren während einer seiner Talkshows von der offenen Bühne. Seither reiste er umher und suchte sich selbst.

Auch Anton selbst war irgendwann mit dem Status Quo als Sohn und Zuarbeiter des berühmten Buddy Winter unzufrieden. Und so begab er sich nach Afrika, wo er als Mitglied des Peace Corps Aufbauhilfe leistete. Doch eine lebensbedrohliche Malaria-Erkrankung zwang ihn zurück nach New York in die Arme seiner Familie. Und so treffen nun diese drei Männer unterschiedlichen Alters im Dakota Building aufeinander. Sie alle kämpfen mit ihren eigenen Problemen und laborieren an ihrem momentanen Dasein.

Die Suche nach Erfolg

Buddy Winter möchte eigentlich wieder an die goldenen Talkshow-Zeiten anknüpfen, zugleich ist er höchst unsicher, ob er dem Druck des Fernsehens noch genügt. Mit dem Ich-Erzähler Anton hat er allerdings Unterstützung an seiner Seite. Und wäre der Nachbar John Lennon nicht der ideale Talkshowgast für ein Comeback – oder warum nicht gleich eine triumphale Reunion der Beatles? Die Pläne der Winters im Sommer 1980 sind wahrlich groß, nicht zuletzt, da auch die finanziellen Ressourcen der Familie zusehends schmelzen.

Tom Barbash - Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens (Cover)

Allerdings hält das Buddy und seine Familie nicht vom Feiern ab. Eine Party reiht sich an die nächste, Berühmtheiten geben sich die Klinke in die Hand, Antons Mutter macht Werbung für die Kampagne Ted Kennedys. Man besucht die Olympischen Spiele in Lake Placid. Anton unternimmt sogar einen Segeltörn mit John Lennon. Über allem schwebt aber die Frage – kann Buddy noch einmal an seine alten Erfolge anknüpfen?

Es ist bemerkenswert, wie es Tom Barbash gelingt, die Welt der Jahre 1979/80 auferstehen zu lassen. Die Welt der Hauspartys, Segeltrips und Wahlkämpfe fängt er atmosphärisch dicht und für mich als Nachgeborenen durchaus glaubhaft ein. Seine Reanimation von John Lennon in diesem hell-nostalgischen Roman ist ebenfalls mehr als gelungen. Auch als Hommage an die Beatles und Lennon funktioniert dieser Roman ausgezeichnet.

Nostalgie ohne Verklärung

Seine wahre Klasse aber besteht nun darin, dass dieser Roman nicht in die Kitsch- und Verklärungsfalle tappt. Denn Barbashs New York ist eben nicht nur eine sonnendurchflutete Partymetropole, in der jeder jeden kennt. Morde und Gewalt (auch gegenüber Kindern) sind eben auch hier an der Tagesordnung. Mit der aufziehenden Bewerbung Ronald Reagans für das Amt des Präsidenten zeigt sich, dass Lügen, Fake-News und Unsinn verbreitende Präsidentendarsteller nicht nur ein Menetekel unserer Tage sind. Dieser Roman beherrscht das Kunststück der Nostalgie ohne Verklärung. Geradezu bittersüß wirkt das Buch, wenn Barbash einen John Lennon in voller Schöpferkraft zeigt, der von seiner Hamburger Zeit mit den Beatles erzählt oder ein Schiff über das Meer steuert. Einen John Lennon, der am Ende des Buchs – die Historie verrät es – vor den Türen des Dakota Buildings erschossen werden wird.

Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens ist auch ein Buch, das sich mit dem Thema der Depression auseinandersetzt. Wie umgehen mit Druck und Erwartungen, die von außen an einen herangetragen werden? Und warum nicht einfach mal aus den gewohnten Mustern ausbrechen? Das Werk von Tom Barbash ist den Grundzügen ein leichter Roman. Aber die Qualität des Buchs besteht eben auch darin, in dieser Leichtigkeit genug Ebenen mit tiefergehenden und durchaus bewegenden Themen eingebunden sind. Die Emanzipation von den eigenen Eltern etwa und die Kunst, ein eigenes Leben zu führen sind integraler Bestandteil seiner Erzählung.

Man könnte Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens auch auf folgenden Nenner bringen: Nostalgie ohne Kitsch, Romantik ohne Verklärung. Das kennzeichnet dieses Buch, das ich hiermit nachdrücklich empfehle, wenngleich es eine etwas rundere Übersetzung vertragen hätte.

Nicht nur eingedenk des 80. Geburtstags, den Lennon vor wenigen Tagen hätte feiern können. Eine schöne Hommage!


  • Tom Barbash – Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens
  • Aus dem Englischen von Michael Schickenberg
  • ISBN: 978-3-462-05311-1 (Kiepenheuer-Witsch)
  • 352 Seiten: Preis: 22,00 €
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Élisabeth Filhol – Doggerland

Es ist ein Sturmtief namens Xaver, das in Élisabeth Filhols Roman Doggerland alles durcheinanderbringt. Ein Sturmtief, wie es selten zuvor eines gab.

Sie haben gesehen, wie es geboren wurde, wie es im Meer vor Island aus dem Nichts auftauchte. Sie verfolgten gebannt, wie es sich entfaltete, eingenistet im Inneren eines Tiefdruckgebiets, gezeugt von einem Schwall subtropischer feuchter Luft, der sich an die Grenzen des atlantischen Ozeans verirrt hatte. Und nun explodiert es förmlich, eine Bombe. Wie in einem Film, den man im Schnellvorlauf abspielt, da war nichts und nun ist es da. Man spricht es auf Französisch eher wie Xavère aus und weniger wie Xavier, noch ist Xaver keine Katastrophe, noch ist es ein schönes Anschauungsobjekt. Als solches verdient es, auf Initiative der europäischen Meteorologen, mit einem eigenen Taufnamen ausgezeichnet zu werden. Es bringt alles dafür Nötige mit, tauchte unerwartet auf, war unvorhersehbar, und ist ausreichend spektakulär.

Filhol, Elisabeth: Doggerland, S. 7

Schade nur, dass die Attribute Xavers nicht auf Filhols Roman anwendbar sind. Denn gegen den Sturm im Buch nimmt sich Doggerland selbst aus wie ein laues Lüftchen.


Einen Vorwurf kann man Élisabeth Filhols Roman nicht machen. Denn wer will, der lernt in Doggerland jede Menge. Über das Doggerland selbst, jenes verschwundene Land zwischen England und Dänemark, das es einst beide Länder verband und mithilfe dessen man trockenen Fußes von Skandinavien nach Großbritannien gelangen konnte.

Man erfährt vieles: über die Entstehung jenes Doggerlands, über archäologische Funde, Radiokarbondatierungsmethoden, Völkerbewegungen und die Entwicklung der Flora. Man liest von kantabrischen Winden, Wind-Berechnungsmodellen, Gletscherwanderungen und den Faktoren, die zum Verschwinden des Doggerlandes führten. Filhol erzählt von Forschern wie Clement Reid oder Dick Mol, von Palynologie oder Unterwasser-Archäologie. Und sie berichtet über Tsunamite, die Erdölindustrie, die damit verbundene wirtschaftliche Prosperität, isostatischen Rebound, Rifte, und dergleichen mehr.

Fakten statt Erzählung

In vielen Passagen hat man das Gefühl, statt eines erzählenden Romans ein Sachbuch randvoll mit Fakten und Ideen zu lesen. Leider sprechen auch die Figuren in diesem Roman beständig, als würden sie Dialoge für eine Dokumentation aufsagen.

„Bald fühlst du dich bei diesen Menschen wie zu Hause. Sie sind also unsereresgleichen. Aber selbst wenn wir das gleiche Gehirn haben und den gleichen Planeten bewohnen, stößt du bei deiner Arbeit doch an Grenzen. Du besuchst die Erde, die sie trägt, lässt sie auf dich wirken, aber sie gibt dir nur begrenzt Auskunft, du wirst nie erfahren, in welcher Welt sie eigentlich leben.

„Genau, ihre Kultur bildet eine Barriere. Ich werde nie über die nötigen Codes verfügen. Sie gleichen uns ja, und sind zugleich so verschieden von uns, dass es nur natürlich ist, dass wir Mühe haben, sie zu verstehen. Wir können das auf die Zeit schieben, die uns voneinander trennt. Auch wenn achttausend Jahre gemessen an der Menschheitsgeschichte nicht gerade viel sind. Die Menschen aus dem Mesolithikum haben keine Pyramiden gebaut, sie haben keine Megalithen errichtet, aber ihre Kultur ist deshalb weder ungeschliffen noch rudimentär. Vielleicht war ihre Gesellschaft im Ganzen betrachtet sogar lebenswerter als unsere, das ist gut möglich.

Filhol, Elisabeth: Doggerland, S. 48

Im Kern steckt in Doggerland eine interessante Geschichte

Das ist schade, denn eigentlich ist die Geschichte, die Doggerland erzählen will, eine interessante. Zum Einen ist da die Geschichte der Natur. Xaver, der sich wie ein Tsunami aufbaut, und über England in kaum gekannter Intensität zu wüten beginnt. Und dann ist da auch das Doggerland selbst, das durch den Klimawandel verschwand und nun nur noch Forscher wie Margaret oder Marc interessiert.

Deren Geschichte ist der andere Part, der den Reiz des Buchs ausmachen könnte. Die Betonung liegt auch hierbei leider auf dem Konjunktiv. Denn dieses Potenzial schöpft Doggerland ebenfalls nicht wirklich aus.

Einst verband Margaret und Marc eine studentische Liaison. Dann verlor man sich aus den Augen. Sie forscht seither wissenschaftlich über die Doggerbank und das Doggerland. Mann, Kind, universitäre Forschung und ein Haus in St. Andrews, das ist nun Margarets Leben. Marc hingegen interessiert sich ebenfalls für das Forschungsgebiet, allerdings aus wirtschaftlichen Gründen. Denn er hat die Seiten gewechselt und ist nun in der Erdölindustrie tätig. Beide machen sich trotz Xaver auf den Weg nach Esbjerg in Dänemark, wo sie sich auf einem Symposium nun endlich wieder sehen sollen.

Nicht ausgeschöpftes Potenzial

Ein Sturm, der die Figuren faktual und emotional beeinflusst. Eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit, Wissenschaft vs. Industrie, Familienleben vs. einsamer Wolf. Es steckte viel Potenzial in diesen Anlagen, aus dem Élisabeth Filhol für mein Empfinden viel zu wenig macht. Sie beschreibt über dutzende Seiten Xaver, um ihn dann für das Symposium in Dänemark auszublenden. Sie findet kein rechtes Maß für die Faktenhuberei, die ihre eigentliche Geschichte an die Wand drückt.

Und sie lässt ihre Figuren ernsthaft Dinge wie die folgenden sprechen:

„Am Ende deines Studiums“, sagt Margaret, „hast du dich ins Abenteuer gestürzt. Nachdem du die Nordsee bereits gedanklich umkreist, sie im Hörsaal in ihren theoretischen Grenzen studiert hattest, hast du beschlossen, dich ihr zu stellen. so wie ich das auf meine Art auch getan habe, da mir ihre bloßen Umrisse nicht genügten, auch wenn ich nicht so ungestüm vorangegangen bin wie du, als ewig Rastloser. Das ist kein leere Raum. Das ist ein Raum, der von allen Seiten durchkreuzt wird. Indem man sich ihm stellt, füllt man ihn aus. Man schafft es, ihn zu besetzen. Man fordert die Kartografen heraus, die daraus einen weißen Fleck auf der Landkarte gemacht haben, dabei ist dieser Ort seit Menschengedenken bewirtschaftet worden, durchquert worden, kartiert worden, in der Fiktion, in den Gründungsmythen, in den mündlich weitergebenen Erzählungen.

Sie benennen ihn, orten ihn, geben ihm eine Himmelsrichtung, verwurzeln ihn symbolisch, festigen von einer Generation zur nächsten eine sehr genaue Kenntnis dieses Gebietes. Wenn man das Gebiet des Doggerlands kartografiert, wo heute das Meer ist, dann klärt man damit etwas, das nur unzureichend geklärt wurde, nicht richtig definiert wurde, so als würde man die Pixeldichte pro Zoll erhöhen, so lange bis man eine Brücke von einer Seite zur anderen spannen kann, von der Küste Jütlands zur Küste Yorkshires. (…)

Filhol, Élisabeth: Doggerland, S. 249

Wer um Himmels Willen spricht so? Selbst wenn es sich um rhetorisch beschlagene und wissenschaftlich versierte Figuren handelt, sind diese Erklärdialoge doch fernab jeder Realität und auch jedes literarischen Sprechens. Hier findet keine wirkliche Kommunikation statt, hier werden Figuren nur gezeigt, statt sie miteinander ins Gespräch treten zu lassen. Und so gewinnen Figuren keine Konturen und bleiben dadurch leider mehr als blass.

Fazit

Man kann die Metaphern, die im Text überdeutlich ausbuchstabiert werden, gelungen finden. Die Dichotomien von Forschung und Industrie, von Archäologie des Gestern und der Zukunft des Erdöls gut herausgearbeitet finden. Oder die Erzählung um Marc und Elisabeth und ihre nicht aufgearbeitete Geschichte gelungen finden. Ich tue es leider nicht.

Für mich gibt Doggerland viele Versprechen, die leider allesamt nicht eingelöst werden. Statt durch Figuren und Handlung eng an den Text gebunden zu werden, brachte mich Élisabeth Filhol mit ihrer stilistisch eigenwilligen Prosa zum gedanklichen Abschweifen. Und das leider ein ums andere Mal. Hier wird viel Potenzial verschenkt. Somit von mir keine Empfehlung. Leider.


  • Élisabeth Fihol – Doggerland
  • Aus dem Französischen von Cornelia Wend
  • ISBN 978-3-96054-232-2 (Edition Nautilus)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €

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Charlotte McConaghy – Zugvögel

Und wir schauen in den Himmel
denn bald ist es soweit
In jedem Jahr auf diesem Platz zur gleichen Zeit
bilden Zugvögel ein V am Firmament
und wir schauen ihnen nach bis man das V nicht mehr erkennt

Thees Uhlmann – Zugvögel

Doch was passiert, wenn man am Himmel kein Vögel mehr beobachten kann, die in V-Formation gen Süden fliegen? Wenn die meisten Tiere auf der Erde verschwunden sind? Woran soll man noch festhalten? Diese Frage stellt sich auch Franny. Sie hat die letzten Küstenseeschwalben aufgestöbert und will deren Zug nachverfolgen. Denn Küstenseeschwalben gehören zu den belastbarsten Zugvögeln, legen in ihrem Leben den Weg von Arktis zu Antarktis mehrfach zurück. In ihrem Leben fliegen die Tiere eine Strecke von über 2,4 Millionen Kilometer, das ist eine Strecke, der der dreifachen Distanz zum Mond entspricht.

Küstenseeschwalben in Patagonien (By PMATAS – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48578659)

Wenn es also robuste und überlebensfähige Tiere gibt, dann die Küstenseeschwalben. Und so beringt Franny drei Tiere mit einem Peilsender und will ihrem Kurs folgen. Vielleicht gibt es an dem Ort ihrer Brut ja noch mehr Tiere?

Franny überzeugt den Kapitän eines Fischerbootes, dem Signal der Tiere zu folgen. Denn dort wo die Küstenseeschwalben sind, muss es auch Fische geben. Für die Crew des Kutters ein entscheidendes Argument, schließlich liegen die letzten Fangerfolge schon wieder eine ganze Weile zurück. Wie die anderen Tiere, so sind auch die Fische größtenteils verschwunden. Eine Reise beginnt, die einen unvorhergesehenen Verlauf nehmen wird.

Zugvögel – ein gutes Buch

Manchmal kann ein Urteil über ein Buch ganz einfach ausfallen. Zugvögel ist ein Buch, das ein solches Urteil erlaubt. Das bedeutet im konkreten Falle: dieses Buch ist wirklich gut! Mit ihrem Debüt ist Charlotte McConaghy ein stimmiges Debüt gelungen, das mich überzeugt hat.

Charlotte McConaghy - Zugvögel (Cover)

In diesem Roman findet vieles zusammen. Eine komplexe Protagonistin, deren Hintergrundgeschichte sich erst langsam entfaltet. Ein dystopisches Setting, das aber nicht brachial aufgemotzt wird, und das für die eigentliche Handlung nur die Grundierung darstellt. Themen wie Naturschutz oder Selbstfindung, die die Geschichte bereichern, aber nicht erdrücken. Und eine Heldin, die widersprüchlich ist und die die Sympathie der Lesenden ein ums andere Mal mit ihrem Verhalten strapaziert.

Trotz der vielen Rückblenden und Zeitsprünge entwickelt Zugvögel einen Sog und ein Tempo, der in die Geschichte rund um die Küstenseeschwalben und Frannys Lebens- und Liebesgeschichte hineinzieht. Nature Writing, Liebe, Umweltschutz – dieses Buch vereint viele zeitgeistige Themen. Es würde mich nicht wundern, wenn diesem Roman ein großer Erfolg beschieden ist. Übersetzt wurde es im Übrigen von Tanja Handels.


  • Charlotte McConaghy – Zugvögel
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397470-6 (S. Fischer)
  • 398 Seiten. Preis: 22,00 €
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Wenn die Erinnerungspolizei klopft

Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung

Es ist ein Zitat von George Eliot, das in abgewandelter Form häufig auf Grabsteinen oder sonstigen Erinnungsdevotionalien zu finden ist:

Unsere Toten werden erst dann wirklich tot sein, wenn wir sie vergessen haben

George Eliot: Adam Bede, S. 89

Die Vorstellung, dass erst das Vergessen den Toten zum Toten macht, sie ist weitverbreitet und hilft auch beim Trauern. Wie es ist, in einer Welt zu leben, in der aber alles tatsächlich immer mehr dem Vergessen anheimfällt, darüber hat Yoko Ogawa eine gelungene Parabel geschrieben. Ursprünglich bereits 1994 erschienen, liegt das Buch nun unter dem Titel Insel der verlorenen Erinnerung in der Übersetzung von Sabine Mangold im Liebeskind-Verlag vor.

Viel Aufmerksamkeit erhielt das Buch in diesem Jahr durch die Tatsache, dass es in der englischen Übersetzung neben den Büchern von Daniel Kehlmann oder Fernanda Melchor für den International Booker Prize nominiert war. Zwar verlor Ogawa gegen Marieke Lucas Rijneveld, viel Aufmerksamkeit war dem Titel aber gewiss. Aufmerksamkeit, die auch der Liebeskind-Verlag zu nutzen wusste. Nach den Unwägbarkeiten der Coronakrise hatte man sich dort notgedrungen den Entschluss gefällt, kein Herbstprogramm zu publizieren. Diese Entscheidung wurde durch den Hauptgewinn des Deutschen Verlagspreises wenig später dann aufgeweicht. Und so entschied man sich, als einzigen Titel Yoko Ogawas Buch den deutschen Leser*innen vorzustellen. Eine gute Entscheidung, wie die Lektüre dieses Buchs zeigt.

Mit dem Zeug zum Klassiker

Denn, wenngleich man mit solchen Begriffen vorsichtig sein muss – Yoko Ogawas Buch hat alles, was ein Klassiker haben muss. Ein reduziertes Setting, sprachliche Genauigkeit und im Kern eine die Zeiten überdauernde Frage: wie kann man in einem übermächtigen Regime Widerstand leisten? Und was bedeutet dieser Widerstand für das Individuum?

Yoko Ogawa - Insel der verlorenen Erinnerung (Cover)

Darum kreist ihre Geschichte, die in meinen Augen zurecht mit Kafka, Bradbury oder Margaret Atwood verglichen wird. Die Figuren in ihrer ganzen Verlorenheit platziert Yoko Ogawa auf einer Insel, die nicht genauer bestimmt wird. Immer wieder verschwinden Dinge auf der Insel. Vögel, Kalender, Bücher. Viele dieser Dinge verschwinden nebenbei, andere entsorgen die Bewohner*innen der Insel selbst. Mit diesen Dingen verschwinden dann auch die Erinnerungen an die frühere Existenz dieser Dinge.

Damit es dabei mit rechten Dingen zugeht und niemand verschwundene Dinge heimlich hortet, kommt die Erinnerungspolizei zum Einsatz. Diese überwacht totalitär die Einhaltung der Regeln und durchsucht auch schon einmal ohne Ankündigung Häuser auf der Suche nach Überbleibseln, die Inselbewohner*innen zuhause versteckt haben. Razzien, Angst, Unterdrückung – sie kennzeichnen das Leben der Inselbewohner*innen, die sich lethargisch ihrem Schicksal fügen.

Nichts weniger als eine ganze Person daheim versteckt hat die namenlose Heldin dieses Buchs. Sie verdingt sich als Romanautorin. Ihr Lektor R hat die Gabe, sich an alles erinnern zu können, auch an verschwundene Dinge. Das macht ihn natürlich zu einer Zielscheibe für die Erinnerungspolizei. Da die Geburt seines Kindes bevorsteht und die Heldin ihren Lektor liebgewonnen hat, wagt sie ein riskantes Unterfangen. Zusammen mit einem betagten Bekannten versteckt sie R bei sich daheim, während um sie herum immer mehr Dinge verschwinden.

Vom Widerstand gegen ein totalitäres Regime

Vom Widerstand gegen ein totalitäres Regime erzählt Yoko Ogawa. Sie tut dies auf eine kluge Art und Weise. Durch das reduzierte Setting und den Fokus hin auf die wichtigen Personen schafft sie ein dichtes und nahegehendes Leseerlebnis. Sie bleibt eng an ihrer namenlosen Figur, erzählt eindrücklich, wie es sich anfühlt, wenn die Dinge um einen herum verschwinden. Aber auch davon, welchen Muts und welcher Entschlossenheit es bedarf, um Widerstand zu üben. Der Widerstand gegen das scheinbar übermächtige Regime, das seine sinnlosen Regeln mit Repressionen und Einschüchterung durchsetzt.

Nicht zuletzt ist es diese zeitlose Qualität, die das Buch besitzt, die es zum potentiellen Klassiker macht. Egal ob die Regime mit ihrer Machtausübung in Belarus oder in Nordkorea herrschen, ob in der Vergangenheit im Dritten Reich oder eben hier in einer nicht näher benannten Zeit: die Themen und Gefühle werden immer die gleichen sein. Und wie sie Yoko Ogawa beschreibt, das ist wirklich großartig. Es bleibt zu hoffen, dass die Erinnerung an dieses Buch die nächsten Jahre nicht verblasst und bestehen bleibt. Auch eine mögliche Erinnerungspolizei hat gegen dieses Buch hoffentlich keine Chance. Yoko Ogawas Werk hat es verdient!


  • Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung
  • Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
  • ISBN: 978-3-95438-122-7 (Liebeskind)
  • 352 Seiten: Preis: 22,00 €

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Hinaus aufs Meer

Amity Gaige – Unter uns das Meer

Wie kann man seine Beziehung kitten? Wie damit umgehen, wenn Leidenschaft und Anziehung schon lange verschwunden sind, da aber zwei kleine Kinder sind, die einen binden? Für diese Fragen finden Michael und seine Frau Juliet eine unorthodoxe Lösungsmöglichkeit. Zusammen mit ihren beiden Kindern gehen sie auf eine Bootstour. Sämtliches Ersparte wird in den Erwerb einer Yacht gesteckt, die Tochter verpasst ein Schuljahr – aber womöglich kann es ihre Beziehung retten?

Von diesem Reparaturversuch einer Ehe erzählt die Amerikanerin Amity Gaige. Ihr Roman heißt Unter uns das Meer und wurde von André Mumot ins Deutsche übertragen (im Original: Sea Wife). Eine wilde Tour übers Meer und durch eine Beziehung.


Amity Gaige - Unter uns das Meer (Cover)

Die Welt der Seefahrt, sie ist voller Aberglauben. Unter anderem bringt es Unglück, wenn man ein Schiff neu benennt. Doch genau diesen Frevel begeht Michael. Er benennt die 14 Meter lange Yacht, für die er sein gesamtes Vermögen zusammengekratzt hat, nach seiner Frau Juliet. Doch schon Shakespeare, dessen Heldin den Namen mit Michaels Frau teilt, wusste im gleichnamigen Drama: These violent delights have violent ends (So wilde Freude nimmt ein wildes Ende, Romeo & Julia, 2. Aufzug, 5. Szene). Ob das auch für das Schicksal der beiden gilt?

Um ihre Geschichte zu erzählen, wählt Amity Gaige einen besonderen erzählerischen Kniff. Sie lässt Juliet und Michael abwechselnd zu Wort kommen. So ist es ein Schiffstagebuch von Bord der Juliet, wobei das eher eine Art Tagebuch denn eine nautische Dokumentation darstellt, in das Michael seine Gedanken notierte. Dem entgegen setzt Gaige (auch in anderer Schrift gesetzt) die Gedanken und Erinnerungen Juliets.

Zwei gegensätzliche Figuren im Widerstreit

Das ist mehr als reizvoll, vor allem, da Juliet und Michael so gegensätzliche Figuren sind. Während sie mit der Idee, ein Jahr auf einem Schiff zu verbringen, überhaupt nichts anfangen kann, leistet er jede Menge Überzeugungsarbeit, um seinen Traum zu verwirklichen. Er, der alle Linke und staatliche Einmischung verteufelt, sie, die eigentlich kurz vor ihrer Dissertation stand, ihre Karriere dann zugunsten der Kinder aufgab.

Wie sich die beiden streiten, gegensätzlicher Meinung sind, sich auch um der Kinder willen immer wieder zusammenraufen, das ist psychologisch wirklich glaubhaft geschildert.

Mein Mann und ich sind sehr verschieden, sagte ich. Wir streiten uns wieder und wieder über dieselben Dinge. Wir streiten, aber wir ändern nie die Meinung des anderen. Wir entfernen uns bloß immer weiter voneinander.

Gaige, Amity: Unter uns das Meer, S. 162

Auch wenn die Juliet über 14 Meter lang ist, täuscht das ja nicht darüber hinweg, dass der Schauplatz mehr als begrenzt ist. Zwei Kojen, ein Geschmeinschaftsraum, eine Kombüse. Das war es. Aber ähnlich wie zuletzt Ben Smith gewinnt auch Amity Gaige ihrem kleinen Schauplatz maximalen Ertrag ab. Die Grabenkämpfe zwischen den Erwachsenen, die Kämpfe mit Natur und Technik und die Schönheit des Meeres – all das fasst die Amerikanerin in tolle Prosa. Ein gesondertes Lob ergeht an dieser Stelle auch an Übersetzer André Mumot, der das nautisch geprägte Vokabular toll ins Deutsche überträgt.

Ein Buch mit Überraschungen

Unter uns das Meer ist ein Roman, der immer wieder überrascht. So enthüllt Amity Gaige geschickt nach und nach die Charaktere und Geschichte ihrer Figuren. Als nach zwei Dritteln eine anfangs nur angedeutete Vermutung zur Wahrheit wird (man betrachte nur das Shakespeare’sche Juliet-Zitat), so verliert der Roman auch dadurch nicht an erzählerischer Kraft. Wie Gaige zwischen ihren beiden Ich-Erzählern hin- und herspringt und doch den Plot vorantreibt, das ist tolle Erzählkunst.

Wenngleich der Effekt der beiden Perspektiven nicht ganz so etragreich ausgereizt wird wie im Falle von Lauren Groffs Licht und Zorn, muss man doch konstatieren: erzählerisch kann dieses Buch in allen Belangen überzeugen. Kantige Figuren, ein vorwärtsdrängender Plot, präzise Sprache. Hier kommt zusammen, was bei guter Literatur immer zusammenfinden sollte. Eine echte Entdeckung, dieser Roman. Hier erleidet man keinesfalls literarischen Schiffbruch.


  • Amity Gaige – Unter uns das Meer
  • Aus dem Englischen von André Mumot
  • ISBN 978-3-8479-0051-1 (Eichborn-Verlag)
  • 384 Seiten, Preis: 22,00 €
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