Meine besten Bücher 2020

Das war es auch schon wieder, dieses verrückte Jahr 2020. Eines, das mal quälend langsam verging, dann aber auch wieder raste.

Ein Jahr, an dessen Ende ich noch einmal kurz zurückblicken möchte. Schließlich war das vergangene Jahr in vielerlei Hinsicht besonders. Zweimal musste ich meine Bücherei zusperren, Buchhändler*innen wurden zu Versandspezialisten. Zwei Buchmessen fielen ersatzlos aus, ebenso waren Lesungen in diesem Jahr wirkliche Mangelware.

Hier in Augsburg hatten wir Glück, durften wir zwei literarische Soireen in Zusammenarbeit mit der Augsburger Allgemeine durchführen, gerade, als es die Infektionslage zuließ. Kurz vor dem ersten Lockdown war im März Ingo Schulze zu Gast, im Herbst vor dem neuerlichen Lockdown begrüßten wir Olga Grjasnowa zu Gast. Im Anschluss debattierten wir wieder über die Bücher der jeweiligen Saison und ich freute mich, einem großen Publikum die Werke Robinsons Tochter von Jane Gardam und Long Bright River von Liz Moore ans Herz legen zu dürfen. Zwei meiner absoluten Lesehighlights in diesem Jahr.

Eine weitere Lesung, die mir im Gedächtnis bleiben wird, war die Augsburger Premiere von Thomas Hettches bestrickendem Roman Herzfaden, in dem er die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und die ihrer Gründer*innen erzählt. Ein hervorragendes Buch, ganz zurecht auch für den Deutschen Buchpreis im Herbst nominiert.

Buchpreis, Blogbuster und Aufreger

Doch nicht nur den Deutschen Buchpreis habe ich in diesem Jahr wieder begleitet. Auch durfte ich Teil der Jury des Blogbusterpreises sein. Hier waren vielen Manuskripte zu sichten, aus denen ich mich schlussendlich für Yannick Dresens Romanentwurf entschied.

Auch bin ich froh, dass das Jahr nicht ganz so düster endete, wie es sich noch im Frühjahr angedeutet hatte. Zwar gab es für mich einen ganz klaren Aufreger zum Jahresende (der dann zum mit Abstand meistgeklickten Beitrag des Jahres avancierte), generell verlief das Jahr aber dann doch besser als gedacht.

Sieht man von Ärgernissen wie etwa der Cancel-Culture-Phantomdebatte in diesem Jahr ab, bei der man die Aufmerksamkeit und Energie besser für alle die untergegangen Bücher im Frühjahr aufgewendet hätte (zum Beispiel dieses oder dieses hier), war doch auch vieles ganz in Ordnung.

So erzielte der Buchhandel trotz allen Widerfahrnissen mehr erfreuliche Ergebnisse. So gewann mit Helga Schubert gewann so eine Autorin den Bachmannpreis, die durch die digitale Durchführung des Preises ihr Zuhause nicht verlassen musste, in dem sie ihren Mann pflegt.

Besprechungen, Klicks und weiter so?

Auch ich durfte an ein paar digitalen Treffen teilnehmen. So war ich bei Kai Wielands Lesungen zu Zeit der Wildschweine dabei oder traf im Rahmen der Messe Verlagsmitarbeitende und Blogger*innen digital. Kein gleichwertiger Ersatz für all das Ausgefallene, aber wenigstens eine Alternative mit Charme.

Meist gleicht das Schreiben hier einer Arbeit im luftleeren Raum, ohne Echo oder Widerspruch. Dennoch bleibt die Arbeit beglückend, nicht zuletzt durch solche Aktionen oder eine nette Mail, die mich ab und an mal erreicht, und die zu Weitermachen animiert.

Apropos Weitermachen. Auch wenn andere Blogger aufgeben oder das Ende der Blogs gekommen sehen, so kann ich dieses Urteil nicht bestätigen. Die Zugriffszahlen und die Abonnements steigen weiterhin an, wenngleich die Interaktion weiter abnimmt. Im Lauf des Jahres erschienen hier in der buch-Haltung 115 besprochene Bücher (69 davon von Autoren, 45 von Autorinnen für Statistikfüchse).

Enttäuschungen waren erfreulich wenige darunter, Mittelmaß einiges, aber deutlich mehr Highlights. Bücher, die mich durch ihre Sprache, Form, ihren Plot oder ihre Originalität (im besten Falle alles zusammen) überzeugten gab es 2020 reichlich.

Hier der Übersichtlichkeit halber noch einmal eine Grafik einiger meiner Highlights. Alle unten aufgeführten Bücher finden sich mit ausführlichen Besprechungen auf dem Blog.

Und wie soll es nun weitergehen? Was bringt 2021? Wird es wieder Buchmessen geben? Läuft Instagram den Buchblogs endgültig den Rang ab? Wird Sebastian Fitzek zum vierten Mal in Folge das meistverkaufte Buch des Jahres vorlegen? Ist es an der Zeit, dass Simone Buchholz mal für den Deutschen Buchpreis nominiert wird?

Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, was ich mir wünschen würde für das Literaturjahr 2021. Das hat mich nämlich die Redaktion des A3-Kulturjournals gefragt. Meine Antwort darauf soll diesen kleinen Rückblick beschließen. Was wünscht ihr euch fürs neue Jahr?

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Bram Stoker – Dracula

Sucht man wirkmächtige Romane, die nach ihrem Erscheinen ganze Genre begründet haben, dann kommt man an diesem Buch nicht vorbei: Dracula von Bram Stoker. Mit diesem Roman wurde Stoker zum einem der Urväter des Vampirromans und beeinflusst bis heute Autorin*innen, Filmemacher, Serienschöpfer und andere Kreative. Transsilvanien, Grusel, Blut und eine handvoll Verbündeter gegen Graf Dracula. Und dazu noch eine interessante Montagetechnik – das alles bietet Bram Stokers Roman.

Bram Stoker - Dracula (Cover)

Dass Bram Stokers Buch 1897 erschien und somit schon über 120 Jahre auf dem Buckel hat, das merkt man dem Buch nicht an. Die Geschichte rund um Jonathan Harker und seine Mina, den unheimlichen Graf Dracula mit seiner bleichen Gestalt und den roten Augen sowie den Kampf Professor van Helsings gegen Dracula und seine Verbündeten weiß auch heute noch mit Tempo und erzählerischer Dynamik zu überzeugen.

Um die Geschichte zu erzählen, die mit einer Reise Jonathan Harkers nach Transsilvanien ihren Ausgang nimmt, wählt Stoker eine Montagetechnik aus Tagebucheinträgen und Zeitungsberichten. So lässt er immer wieder in Tagebüchern seine Hauptfiguren zu Wort kommen, die aus verschiedenen Perspektiven das Geschehen beleuchten. Jonathan Harker erzählt, wie er dort in Transsilvanien Graf Dracula beraten will, dann aber in einen Albtraum gerät. Währenddessen verbringt Mina Harker mit ihrer Freundin Lucy einen Urlaub an der englischen Küste. Dort gerät Lucy nach dem Eintreffen eines Geisterschiffs in den Bann einer alten Macht, die sie zusehends schwächt.

Eine Handvoll Verbündeter gegen Dracula

Weitere Elemente finden dann in Gestalt von Professor Abraham van Helsing und Doktor John Seward in die Erzählung. Letzter berichtet in seinem Diarium von einem Insassen seiner Psychatrie namens Renfield. Dieser scheint von einer dunklen Macht besessen, verzehrt Fliegen und erscheint psychisch höchst labil. Zwischen Renfield, dem Geschehen in Transsilvanien und in England stellt schließlich der niederländische Forscher van Helsing eine Verbindung her.

Er bringt Seward, die Harkers und weitere Verbündete auf die Spur des Vampirismus. Dass es sich bei diesem um alles andere als eine Legende zu handeln scheint, das müssen die Verbündeten schnell feststellen. In London kommt es zu einer Serie von Überfällen auf Kinder. Und Dracula scheint dort vor Ort seine Präsenz zu verstärken. Können sie ihm etwas entgegensetzen?

Was nach billigem Klatsch und Kolportage klingt, wird bei Bram Stoker tatsächlich zu einem fesselnden Roman, der sich auch nach über 120 Jahren noch gruselig, spannend und mitreißend liest. Das liegt in der Erzähltechnik begründet, die die spätere Schnitt- und Gegenperspektive des Kinos vorwegnimmt. Ständig ereignen sich neue Dinge, bei denen wir als Leser*innen Verbindungen ahnen, die Protagonist*innen hingegen müssen diese erst entschlüsseln und herstellen. Mit dem Vampir Dracula gelingt Stoker ein scheinbar übermächtiger Gegner, der die gemeinsame Aktion aller Verbündeten erfordert. Dieser Kampf gegen das Böse ist mit einem bemerkenswerten Gespür für Tempowechsel, Überraschungen und Erzähltaktung geschildert. Dadurch bekommt das Buch etwas hastisch-cineastisches, dass das Buch auch heute noch wie einen aktuellen Thriller wirken lässt.

Auch heute noch aktuell und hervorragend lesbar

Abgesehen von ärgerlichen antisemitischen Klischees in einer Passage des Buchs kann ich als Leser dieses Buch auch heute noch uneingeschränkt weiterempfehlen. Besonders schön die neue Aufmachung des Vampir-Schmökers, der in der aufgepeppten Lieblingsklassiker-Edition des Reclam-Verlags erschienen ist. Neben einer schönen äußeren Gestaltung mit abgestimmten Vorsatzpapier und gelungenem Cover überzeugen auch die inneren Werte. So klingt die Übersetzung von Ulrich Bossier auch im Deutsch zumeist rund. Und ein Nachwort von Elmar Schenkl rundet das Buch an. Ein Nachwort, in dem er eine Linie vom dichterische Aufeinandertreffen Mary Shelleys, John Polidori und Lord Byron im Jahr 1816 über Bram Stoker bis hin zu Stephenie Meyers „Biss“-Romanen der Gegenwart zieht.

Eine runde Sache, diese Neuauflage eines Buchs, das wie seine behandelte Figur des Dracula nicht totzukriegen ist. Hiermit von mir ausdrücklich empfohlen!


  • Bram Stoker – Dracula
  • Übersetzt von Ulrich Bossier
  • Mit einem Nachwort von Elmar Schenkl
  • ISBN: ISBN: 978-3-15-020352-1 (Reclam)
  • 608 Seiten. Preis: 12,00 €

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Slumdog Detectives

Deepa Anappara – Die Detektive vom Bhoot-Basar

Von den sozialen Unterschieden im modernen Indien, von verschwundenen Kindern und einer Bande Kinder-Detektive erzählt die Inderin Deepa Anappara in ihrem Debüt Die Detektive vom Bhoot-Basar. Ein Buch, das aus kindlicher Perspektive ein zutiefst widersprüchliches Land porträtiert (übersetzt von pociao und Roberto de Hollanda).


Zugegeben: Indien ist ein Thema, das in unserer westlichen orientierten Kultur eine eher untergeordnete Rolle spielt. In der Literatur könnte man Vikas Swarup, Arundhati Roy oder Aravind Adiga als prominenteste Vertreter nennen. Und auch Jhumpa Lahiri zähle ich als zumindest indisch-stämmige Autorin mit. Damit hat es sich aber schon. Auch auf diesem Blog hier habe ich das Land literarisch wenig auf dem Schirm.

Ebenso wie in der Literatur ist auch im Kino – abgesehen von Bollywood – Indien Mangelware. Am ehesten wäre hier noch Danny Boyles Film Slumdog Millionaire aus dem Jahr 2008 zu nennen, der immerhin oscarprämiert wurde.

Tatsächlich war auch jene filmische Referenz die Erste, die mir während der Lektüre von Die Detektive vom Bhoot-Basar in den Sinn kam. Ebenso wie im Film ist es auch hier bei Deepa Anappara ein Kind, aus dessen Warte wir seine Welt und die gesellschaftlichen Verhältnisse geschildert bekommen. Im Falle von Deepa Anapparas Buch heißt ihr Ich-Erzähler Jai. Zusammen mit Pari und Faiz bildet er jenes titelgebende detektische Triumvirat vom Bhoot-Basar. Der Hintergrund dazu ist ein trauriger (und leider höchst aktueller, wie die Autorin im Nachwort ihres Buchs schildert). Täglich verschwinden in Indien Kinder – was aber niemanden wirklich groß interessiert. Schließlich ist Indien sehr bevölkerungsreich und die verschwundenen Kindern stammen meist aus niedrigen Kasten ohne entsprechende soziale Bedeutung. Und auch im Bhoot-Basar ist dies nicht anders.

Die indischen Drei ???

Ein Schulkamerad Jais ist verschwunden. Die Polizei glänzt allerdings durch Abwesenheit, lässt sich lediglich bestechen um den Fall dann ad acta zu legen. Die fragenden Verwandten des Jungens speist man ab und droht bei weiterem Nachhaken einfach das Basti, also das slum-ähnliche Stadtviertel in dem Jai und seine Freunde leben, kurzerhand per Bulldozer einzuebnen. Das will Jai allerdings nicht so hinnehmen. Als glühender Fan indischer und amerikanischer Krimiserien beschließt er, mit seinen beiden besten Freunden die Spur des Verschwundenen aufzunehmen.

Deepa Anappara - Die Detektive vom Bhoot-Basar (Cover)

Als eine Art indischer Drei ??? machen sich die Kinder auf und ermitteln in ihrem Basti und darüberhinaus. Findig wird kurzerhand ein Straßenhund eingespannt, um die Fährte ihres Freundes aufzunehmen. Doch dann verschwindet wieder ein Kind. Und noch eins. Ist es wirklich ein böser Dschinn, der im Viertel umgeht und sich die Kinder holt?

Es ist eine aktuelle Thematik, die dem Buch zugrundeliegt. Aus ihrer Empörung über die sozialen Zustände und aus ihrem Versuch heraus, die Aufmerksamkeit auf dieses schreiende Unrecht zu lenken, ist dieser Roman entstanden, wie Deepa Anappara im Nachwort des Buchs erklärt. Aus einem moralischen Impetus heraus geschriebene Literatur läuft meistens Gefahr, unter ihrer guten Absicht in die Knie zu gehen. Stilistisch überzeugt das Ganze oftmals nicht. Hier ist das dankenswerterweise anders.

Ein kleiner Indisch-Crashkurs von Deepa Anappara

Denn sowohl die Perspektive, aus der sie die Geschichte schildert, als auch die Sprache sind stimmig. Gleichzeitig könnte diese Authentizität auch viele Leser*innen abschrecken. Denn das Buch birst schier vor indischen Termini. Verwandschaftsbezeichnungen, Kosenamen, Örtlichkeiten – alles hat seine eigenen Namen, die in einem beigefügten Glossar erklärt werden. Dennoch fühlt sich das alles auch ein wenig nach Indisch-Sprachkurs für Anfänger an.

Aber sei’s drum – das Buch ist nicht nur ein guter Roman mit kriminalliterarischen Elementen. Auch die Widersprüche des Landes und die krassen Gegensätze zwischen Arm und Reich thematisiert das Buch auf ansprechende Weise. Völlig neu ist die Erkenntnis der sozialen Unterschiede und der schreienden Armut nicht. Aber wie Deepa Anaparra dieses Nebeneinander von armen Basti und den Reichen-Hochäusern, genannt HiFi-Hochhäuser inszeniert, das ist wirklich gut gemacht. Das Leben dort im Slum, bei dem man für einen normalen Toilettengang anstehen und bezahlen muss, während nebenan auf der Müllkippe andere Kinder den Unrat auch aus den Hochhäusern durchwühlen; es sind diese Gegensätze, die berühren. Und auch der Schluss des Buchs ist in der Logik des Romans stimmig und lässt nachdenklich zurück. Dass da die klischierte Covergestaltung völlig am Charakter des Buchs vorbeigeht, darüber will ich hier eingedenk des tollen Inhalts hinwegsehen.

Fazit

Ein Buch mit Botschaft, ein kindliches Detektivtrio, ein Blick auf die Widersprüche des modernen Indiens: Die Detektive vom Bhoot-Basar bietet all das. Engagierte Literatur, die dankenswerterweise von Rowohlt als Spitzentitel des Frühjahrsprogramms prominent platziert wurde. Denn das Buch und sein Thema verdienen Aufmerksamkeit.


  • Deepa Anappara – Die Detektive vom Bhoot-Basar
  • Aus dem Englischen von pociao und Roberto von Holland
  • ISBN: 978-3-498-00118-6 (Rowohlt)
  • 400 Seiten, Preis: 24,00 €
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Ein Schrumpfkopf erzählt

Jan Koneffke – Die Tantsa-Memoiren

Als Gregor Tstantsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Schrumpfkopf verwandelt.

So verballhornt könnte man eine Pointe des an Pointen nicht armen Romans von Jan Koneffke zusammenfassen. Denn im neuesten Roman des 1960 geborenen Autors und Übersetzers begegnen wir einem mehr als außergewöhnlichen Erzähler. Es handelt sich um einen sprechenden Schrumpfkopf, auch genannt Tsantsa, der uns hier seine Tsantsa-Memoiren präsentiert.

Dabei erfährt der sprechende Schrumpfkopf im venezuelanischen Cumaná um 1780 seine Erweckung durch einen sprechenden Ara. Dieser ist neben einem Affen und einem Jaguar eines der Haustiere, die sich Don Francisco in seinem herrschaftlichen Haus hält. Jener Don Francisco stammt eigentlich aus Spanien, ist nun in Venezuela allerdings im Dienst der spanischen Krone abgeordnet. In seinem Dienstzimmer baumelt auch der Schrumpfkopf, der sich untätig im Wind wiegt, ehe der Ara in sein Leben tritt. Dessen Spracharabesken stimulieren die kognitiven Fähigkeiten des Schrumpfkopfs. Und damit nicht genug. Neben der Gabe des Verstandes erwacht auch die Fähigkeit zum Sprechen des Tantsa – was dann postwendend gleich einmal für den Tod Don Franciscos sorgt.

In der Folge beginnt eine wahre Odysee, die uns der sprechende Schrumpfkopf weitestgehend chronologisch erzählt. Eine Odyssee, die bis ins Augsburg dieser Tage führt.

Von Südamerika bis nach Augsburg

Der Schrumpfkopf gelangt von Südamerika nach Europa, verlebt einige Zeit in Rom, gelangt nach Bamberg, Norddeutschland, reist im Gepäck von Scharlatanen, Bahningenieuren und erlebt Hinrichtungen, Kriege und den technischen Fortschritt. Ebenso wechselvoll wie seine Provenienz ist auch die seiner Besitzer*innen und deren Absichten mit dem Tsantsa. Mal wird er im Dienste der Wissenschaft gemartert, mal in London im Zuge der Weltausstellung im Crystal Palace als Kuriosum gezeigt. Immer wieder erlebt der Schrumpfkopf neue Abenteuer und erfährt so verschiedene Jahrhunderte aus einer ganz eigenen Perspektive.

Jan Koneffke - Die Tsantsa-Memoiren (Cover)

Koneffke lässt seinen Tansta dabei ein antiquiertes Deutsch sprechen, der Schrumpfkopf selbst gibt Auskunft, dass er ein um 1820 gebräuchliches Idiom gebraucht. Sprachlich werden uns so sehr elaboriert die Abenteuer geschildert, die in ihrer thematischen und zeitlichen Fülle ein höchst abwechslungsreiches Leseerlebnis ergeben.

Ein abwechslungsreiches Leseerlebnis, in das sich leider mit zunehmender Zeit tatsächlich dann aber auch einige kleine Längen einschleifen. Koneffke weicht dann allerdings auf einen Trick aus, indem er mithilfe der Psychoanalyse den Schrumpfkopf seine eigene Geschichte und Herkunft ergründen lässt. Diese liegt zu Beginn des Buchs nämlich noch im Dunkeln.

Erst allmählich lichtet sich das Dunkel um das Vorleben des Schrumpfkopfs, ehe er dann dieser Tage in Augsburg seinen Moment der Rückführung erlebt.

Zwar hätten ein paar Straffungen im Text speziell ab der Hälfte des 560 Seiten starken Romans gutgetan. Durch seine Fabulierfreude und den Erfindungsreichtum gleicht Koneffke dieses Manko in meinen Augen aber aus. Und mit der Erfindung seines besonderen Erzählers ist dem Autor ein wirklicher Coup gelungen. So viel Fabulierfreude liest man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten.

Fazit

In der Gesamtheit ist Jan Koneffke ein bunter, ja geradezu barocker Bilderbogen mit einem ganz besonderen Erzähler gelungen. Ein sprachlich ansprechender Unterhaltungsroman, der durch seine opulente Fülle an Themen und zeitgeschichtlichen Momente besticht.


  • Jan Koneffke – Die Tsantsa-Memoiren
  • ISBN 978-3-86971-177-5 (Galiani)
  • 560 Seiten. Preis: 24,00 €

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Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer

Sie gilt als DIE Dame der katalanischen Literatur: Mercè Rodoreda. 1908 geboren und 1983 verstorben, durchlebte sie ein Leben voller Höhen und Tiefen. Den Impuls zum Schreiben gab ihre unglückliche Ehe, in der sie die Literatur als Mittel der Weltflucht entdeckte.

Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs floh Rodoreda ins Exil. Zunächst lebte sie in Spanien, ehe sie dann in die Schweiz übersiedelte. Erst in den siebziger Jahren kehrte sie dann in ihre katalanische Heimat zurück.

Von diesen wechselvollen Zeiten und dem turbulenten Leben merkt man ihrem im Schweizer Exil entstandenen und 1967 veröffentlichten Roman Der Garten über dem Meer allerdings überhaupt nichts an. Im Gegenteil. Ruhe, Melancholie und Zurückhaltung kennzeichnen diesen Roman, der neben Auf der Plaça del Diamant zu den wohl bekanntesten Werken Rodoredas zählt.

2014 gab Roger Willemsen dieses Buch im Rahmen der mare-Klassiker-Reihe heraus. Kirsten Brandt besorgte die erstmalige Übersetzung aus dem Katalanischen, Willemsen selbst verfasste das Nachwort. Noch nie war das Buch zuvor im Deutschen zu lesen. So konnte man über dreißig Jahre nach dem Tod Rodoredas eine wirkliche Neuentdeckung machen.

Eine Entdeckung, für die man Willemsen wirklich dankbar sein muss. Denn Der Garten über dem Meer ist ein literarisches Kleinod, eines das von der Vergänglichkeit des Sommers und zugleich von der Vergänglichkeit von Beziehungen erzählt

Von der Vergänglichkeit

Ausgangspunkt sind die Erinnerungen eines namenlosen Gärtners, der sich zurückerinnert an sechs Sommer, in denen er ein Herrenhaus betreute. In sechs Kapiteln erzählt er von seiner Rückschau auf jene Sommer, die von ganz unterschiedlichen Erlebnissen, Affären, Feiern, Unglück und Begegnungen geprägt waren.

Mercè Rodoreda - Der Garten über dem Meer (Cover)

Die Frau des Gärtners ist bereits verstorben, sodass er alleine in seiner kleinen Hütte auf dem Gelände des Herrenhauses lebt, als seine Schilderungen einsetzen. Er erzählt vom jungen Paar Francesc und Rosamaria, das mitsamt seiner Freundesclique die Sommer in ihrem Herrenhaus am Meer verbringen. Dort feiern sie rauschende Feste und Bälle, reiten aus, fahren Wasserski und genießen das dolce vita.

Doch was sich zunächst paradiesisch anhört, offenbart auch seine Schattenseiten, von denen der Gärtner erzählt. Eifersüchteleien, Affären, am Ende erbaut sich gar ein neuer Nachbar in bester Gatsby-Manier ein neues und noch prunkvolleres Haus neben dem des jungen Paares.

Lakonisch und mit einem genauen Gespür für die Risse im Gefüge der Clique betrachtet der Gärtner das Geschehen dort hoch oben über dem Meer. Durch seine soziale Außenseiterrolle kann er alles ungefiltert erzählen und legt so die Verwerfungen in der Clique und auch die dunklen Seiten der Sommertage offen. Während er sich um die Ordnung im Garten müht, driften die jungen Leute während der Sommer immer weiter auseinander.

Heiterkeit und Wehmut

Durch den Rückblick bekommt Rodoredas Erzählungen einen melancholischen, distanzierten, klaren und doch auch nostalgischen Ton. Das Wissen um die unmittelbar vergangenen Sommer schwingt im Buch mit und schlägt so den Bogen von sommerlicher Heiterkeit bis hin zum Wehmut. Das ist toll gemacht und zeigt eine Autorin, die zurecht für ihr Schreiben gerühmt und gepriesen wird. Hier ist eine Backlist-Perle zu entdecken. Eine große Empfehlung meinerseits!

Mit Der Garten über dem Meer bekommt man Sommererinnerungen ohne Falschheit. Ein Rückblick mit Wehmut und zugleich mit einem unbestechlichen Blick. Und Rodoreda gelingt ein präzises Bild einer spanischen Jeunesse dorée, das auch nach über 60 Jahren seit seinem Erscheinen nichts von seiner Klasse eingebüßt hat.


  • Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • Mit einem Nachwort von Roger Willemsen
  • ISBN 978-3-8333-1054-6 (Berlin-Verlag)
  • 240 Seiten. Preis: 11,00 €
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