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Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde

Hänsel und Gretel in Georgien. In seinem Debütroman Vor einem großen Walde lässt Leo Vardiashvili den Exil-Georgier Saba in das Land seiner Kindheit zurückkehren und dabei Spuren folgen, die den Brotkrumen in Grimms Märchen gleichen. Eine ebenso spannende wie erhellende Spurensuche, die das wechselvolle Schicksal Georgiens eindrücklich vor Augen führt.


Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das tägliche Brot für seine Frau und seine zwei Kinder, Hänsel und Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen.

So beginnt das Märchen der Gebrüder Grimm, die in Hänsel und Gretel das Schicksal zweier Geschwister schildern, die sich nur mithilfe einer klug ausgestreuten Spur aus Brotkrumen aus dem verhängnisvollen Dickicht des Waldes und aus dem Zugriff einer gefährlichen Hexe befreien können. Als sie den Weg zurück zu ihrer Familie finden, ist die Mutter in der Zwischenzeit allerdings verstorben. Viel Motivmaterial für Leo Vardiashvili, der in seinem Debütroman eine ebensolche Spurensuche und die Orientierungslosigkeit zweier Geschwister angesichts des familiären Zerfalls beschreibt.

Hänsel in Georgien

Angesiedelt ist seine Erzählung in keinem fiktiven Märchenland sondern in Georgien, das teilweise aber auch an ein Märchen erinnert. Vorwiegend sind es aber die Spuren seiner Vergangenheit, an denen das Land trägt.

Georgien trennte sich von der Sowjetunion und wurde 1991 zur Republik. Hastig gebildete Parteien stritten sich um den Thron dieser frisch geprägten „Republik“. Es dauerte nicht lange, bis man zu den Waffen griff. Und in genau diesem Winter stürzten wir kopfüber in einen bitteren, chaotischen Bürgerkrieg.

Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde, S. 29

Zurückgeblieben in diesem chaotischen und bitteren Bürgerkrieg ist die Mutter von Saba und Sandro. Zusammen mit ihrem Vater Irakli sind die Kinder vor den Schrecken des Kriegs nach England geflohen, nur ihre Mutter Eka blieb zurück, um dem Rest der Familie die Flucht zu ermöglichen.

Eine Spurensuche in Tbilissi

Die Rückholung der Mutter gelang allerdings nicht. Sie starb in Georgien, obwohl Irakli sich in der neuen Heimat in die Arbeit stürzte, um eine Rückkehr seiner Frau zu ermöglichen.

Leo Vardiashvili - Vor einem großen Walde (Cover)

Doch nun, elf Jahre später nach dem Tod der Mutter, hat sich Irakli auf den Weg zurück in das Heimatland seiner Familie gemacht. Die Lebenszeichen von ihm wurden allerdings immer spärlicher. So entschloss sich Sabas Bruder Sandro auf die Suche nach dem Vater zu machen und ebenfalls nach Georgien aufzubrechen. Aber auch er scheint nun vom Erdboden verschwunden zu sein. Zuvor schrieb er Saba noch eine kryptische Nachricht mit der Botschaft, dass er in der alten Wohnung im Tbilisser Stadtteil Sololaki eine Brotkrumenspur des Vaters entdeckt habe. Das war das letzte Lebenszeichen seines Bruders, womit nun alle Lebenszeichen der übrigen Familienmitglieder verstummt sind.

Kurzerhand macht sich Saba selbst auf den Weg, um den Brotkrumen zu folgen, die in den großen Wald namens Georgien weisen. Das stellt sich aber als gefährliche Mission heraus. Denn schon auf seinem Zwischenstopp in Kiew wird Saba vor einer Rückkehr in das Land seiner Kindheit gewarnt. Vor Ort muss er dann feststellen, dass zudem auch noch die Tiere des Zoos von Tbilissi ausgebrochen sind. Es mehren sich rasch die Zeichen, dass die ausgebrochenen Raubtiere in den Straßen der georgischen Hauptstadt allerdings Sabas geringstes Problem sind. Denn bei seiner Suche vor Ort stößt er schon bald auf unbequeme und höchst gefährliche Wahrheiten…

Viele Themen und Motive – überzeugend verschmolzen

Vor einem großen Walde ist ein wirklicher Schmöker, der gleich mehrere Stile und Motive miteinander vereint. Da ist die Parallele zum Märchen von Hänsel und Gretel, die hier in eine wahre Schnitzeljagd von Graffitispuren und Manuskriptseiten mündet. Da ist die Erzählung des Familienschicksal der Sulidze-Donauris, das Saba bei seiner Rückkehr an alte Lebensstationen der Eltern ergründet. Gesellschaft leistet ihm neben dem Taxifahrer Nodar und dessen prähistorischem Wolga auch eine Vielzahl an Stimmen im Kopf, die sich immer wieder in seine Reise zu den familiären Wurzeln und Geheimnissen einmischen.

Ebenso ist Vor einem großen Walde aber auch ein Porträt Tbilissis und damit auch des ganzen Landes Georgien, dessen nicht verheilte Wunden ebenso präsent sind wie die Einschüsse im Mauerwerk der Stadt. Ähnlich wie Archil Kikordze in Der Südelelefant ist auch Vardiashvilis Beschau der nicht verheilten Wunden und der psychologischen Narben der Zivilbevölkerung eine beeindruckende Reise in ein Land, das zwar Beitrittskandidat der EU sein mag, dessen Geschichte und Verfassung trotz einer Patenschaft mit der Buchmesse und Werken von Nino Haratischwili und Co. nicht wirklich greifbar ist.

Wo sich Der Südelefant auf den begrenzten Raum Tbilissis und einen Handlungszeitrahmen von gerade einmal einem einzigen Tag beschränkte, da geht Leo Vardiashvili noch weiter. Sein Buch gleicht in vielen Passagen einem atemlosen Roadtrip, der von Tbilissi und den einzelnen Stadtteilen bis nach Ossetien führt und der auch einige Opfer fordern wird.

Das ist in seiner Verschmelzung von unablässig nach vorne treibender Handlung und gleichzeitiger Rückschau auf die Familie und die Entwicklung des ganzen Landes gut gelungen. Durch die Schnitzeljagd und einige immer wiederkehrende Motive entfaltet Vor einem großen Walde einen erheblichen Sog und lässt mit Saba nur so durch die Seiten gleiten.

Fazit

Tief in die Geschichte Georgiens und die Familie Sulidze-Donauri führt dieser Debütroman ein, dessen Verfasser mit seinem Helden Saba das postsowjetische Familienerbe teilt. Denn auch Leo Vardiashvili emigrierte als Jugendlicher mit seiner Familie aus Tbilissi nach Großbritannien. Aus dieser Erfahrung schöpft der Autor eine ebenso mitreißende wie einsichtsreiche Geschichte, die das Schicksal Georgiens und die Stadt Tbilissi auch im Lesesessel etwas näher bringt und dabei großartig unterhält. Ein Einstand nach Maß!


  • Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde
  • Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
  • ISBN 978-3-546-10094-6 (Claassen)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €
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Steffen Kopetzky – Damenopfer

Ein Leben, das auch fünf Bücher gefüllt hätte. In seinem neuen Roman erzählt Steffen Kopetzky vom Leben und Sterben Larissa Michailowna Reissners, die gleich ein Dutzend Leben lebte, immer mit einer klaren kommunistischen Mission vor Augen und bereit für ein Damenopfer, um ihre Ziele zu erreichen. Eine facettenreiche Lektüre, literarisch interessant gestaltet und zugleich ein Anknüpfungspunkt an Kopetzkys Bestseller Risiko aus dem Jahr 2015.


Wie fasst man ein solches Leben in einen Roman? In gerade einmal dreißig Lebensjahren war Larissa Reissner Journalistin in Afghanistan, waghalsige Agitatorin, Trotzki-Verbündete, Komintern-Strategin, Polit-Kommissarin der Wolgaflotille, Revolutionärin, Mutter, Lehrbeauftragte und bestens verknüpfte Planerin eines waghalsigen Plans.

Dutzende Facetten einer Frau, der Steffen Kopetzky mit einem ebenso facettenreichen Erzählkonzept nahekommen möchte, dessen Struktur an Eva Menasses Quasikristalle erinnert und mit dem Kopetzky nach eigenem Bekunden an den Surrealismus und die harte Schnitttechnik des ebenfalls im Buch auftretenden Sergej Eisenstein anknüpfen möchte. Diese filmischen Referenzen der 20er Jahre bildet Kopetzky hier durch einen vielstimmigen Chor an Erzähler*innen nach.

Ho Chi Minh und Anna Achmatowa als Erzähler*innen

Steffen Kopetzky - Damenopfer (Cover)

Anstelle eines personalen Erzählers entscheidet sich der Romancier für eine Vielzahl von prominenten Erzählerinnen und Erzählern, die in ihrem Leben an entscheidenden Punkten Kontakt mit der 1920 geborenen Larissa Michailowna Reissner, genannt Lyalya, hatten. Darunter sind Männer der Weltgeschichte wie Ho Chi Minh, Dichter*innen wie Boris Pasternak oder Anna Achmatowa und Militärs wie Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski. Sie alle erzählen aus ihrer Perspektive von den Berührungspunkten mit dem Leben Larissa Reissners. Es sind Begegnungen, die mal nur kurz dauerten oder sich über ein halbes Leben hinzogen – allen Erzähler*innen aber blieb die Frau eindrücklich im Gedächtnis.

Das ist bei diesem Leben allerdings auch kein Wunder. Denn egal ob Larissa Reissner in Afghanistan reportierte oder die Niederschlagung des Hamburger Aufstands der KPD beobachtete, bei der Rückeroberung Kasans im Bürgerkrieg auf Seiten der Bolschewiken kämpfte oder mit ihrem Ehemann Fjodor Raskolnikow als Politkommissarin die Wolgaflotille beaufsichtigte – stets betrieb sie ihre Unternehmen mit größtmöglicher Intensität.

Ein waghalsiger Plan

Das größte Vorhaben ihres Lebens zieht sich über die einzelnen Erzählstimmen hinweg durch den Roman. Es ist ein waghalsiger Plan, mit dem sie während ihrer Zeit in Afghanistan im Jahr 1923 zum ersten Mal befasst ist. Dort stößt sie auf die Spuren eines unter dem Pseudonym Neumann schreibenden Strategen. Er hielt den Gewinn Deutschlands gegen die imperialistische Kraft Englands für möglich. Ein Plan, den Larissa adaptieren möchte, um den Sieg des Kommunismus und damit die große Freiheit gegenüber der Weltreiche Englands oder Amerika zu erreichen. Sie setzt sich auf die Spur dieses Mannes, hinter dem sich kein anderer als der Major und letzte Ritter des Königreichs Bayern verbirgt, der aus Kopetzkys Risiko bekannte Oskar Ritter von Niedermayer.

„Niedermayer, Oskar. In Afghanistan zwischen 1915 und 1917, Hauptmann der Königlich Bayerischen Armee im Auftrag des Großen Generalstabs. Jetzt gerade, 1923, gibt es eine Buchveröffentlichung in Deutschland über seine Erlebnisse während der Expedition. Er schreibt nun als Oskar von Niedermayer. Ist also irgendwann nach seiner Rückkehr offenbar noch geadelt worden.“

Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 139
Larissa Reissner (Porträt)

Während in Russland Trotzki und Stalin um die Nachfolge Lenins ringen, lernt Larissa Reissner unter Einsatz eines sprichwörtlichen Damenopfers am Ufer des Wannsees schließlich endlich jenen sagenumwobenen Militärstrategen Niedermayer, den deutschen Lawrence von Arabien, kennen.

Zum Dritten im Bunde der Revolutionäre wird der „Rote Napoleon“ Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, mithilfe dessen Reissner den Sieg des Kommunismus vorantreiben möchte. Doch bei aller Ambition dieser Pläne für eine Deutsch-Russische Weltrevolution kommt das Ende des Vorhabens abrupter als gedacht. Denn gerade einmal mit dreißig Jahren verstirbt Larissa Reissner in einem Moskauer Krankenhaus 1926 überraschend an Typhus.

Brüche und Lücken eines Lebens

Unter großer Anteilnahme wird die junge Frau zu Grabe getragen, wofür sogar der Dichter und später mit seinem Doktor Schiwago zu Weltruhm gelangende Boris Pasternak ein Gedicht verfasst, in dem ein ganzes Stück weit die Anlage des Erzählkonzept Steffen Kopetzkys selbst paraphrasiert wird:

Im Gegensatz zu einer Zeichnung bestand ein Gedicht aus einzelnen Teilen, Worten, die nicht miteinander verbunden waren, und glich darin dem Leben selbst. Es war aus Brüchen und Lücken aufgebaut. Die Natur aber hörte niemals auf, die Menschen selbst lebten eingebettet in der Geschichte, und obwohl ihr Leben aus lauter Fragmenten bestand, hielt es doch irgendwie zusammen. Das war, was er zu feiern wünschte: dass es die Einheit des Lebens nicht gab und es dennoch ein Ganzes war. Dieses Wunder zu preisen war die Aufgabe der Kunst, und das wollte er in seinem Gedicht „Zum Andenken an Larissa Reissner“ zum Ausdruck bringen, tastete sich heran, Stunde um Stunde arbeitend und leidend.

Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 426

Wie schon in seinen letzten Werken Propaganda oder Risiko spannt Steffen Kopetzky auch hier wieder einen ganz weiten Bogen auf. Das führt soweit, dass er den Totengräber des Grabs von Larissa Reissner eine Episode widmet und sogar die Geschichte des Friedhofs, die bis in die Zeit von Katharina der Großen zurückreicht, in einem Rückgriff schildert.

Ganz Kopetzky-typisch verbindet auch Damenopfer Militärgeschichte mit einer persönlichen Biografie. Kulturgeschichte, Erzählung der politischen Entwicklung Russlands in der Post-Leninphase und Geopolitik vereinen sich mit einer ambitionierten Erzählstruktur. Schauplätze in Afghanistan, Leipzig oder Moskau, dazu eine Vielzahl an Figuren und Erzähler*innen und nur wenig Stringenz in der Erzählung selbst, das erfordert viel Aufmerksamkeit.

Fazit

So gefällig wie Kopetzkys letzter mit leichter Hand skizzierte Pandemie-Handstreich Monschau ist das freilich nicht. Dafür entlohnt Damenopfer aber mit einem facettierten Porträt einer faszinierenden Frau. Steffen Kopetzky erweckt die russische Geschichte der 20er und 30er Jahre mitsamt ihrer wichtigen politischen, militärischen und kulturellen Impulsgeber zum Leben und liefert ein ambitioniertes Werk ab, das viele seiner Erzählthemen fortführt und wache Leserinnen und Leser sehr belohnt!


  • Steffen Kopetzky – Damenopfer
  • ISBN 978-3-7371-0151-6 (Rowohlt)
  • 448 Seiten. Preis: 26,00 €
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Anuk Arudpragasam – Nach Norden

Eine Reise zu den Schmerzpunkten verschiedener Leben und denen eines ganzen Landes. Anuk Arudpragasam schickt in Nach Norden seinen Protagonisten auf eine Reise durch das vom Bürgerkrieg gezeichnete Sri Lanka und spürt dabei dem Schmerz in vielen Facetten nach.


Fast sechs Stunden dauert es laut Google Maps, möchte man mit dem Auto von Colombo bis nach Kilinochchi im Norden Sri Lankas reisen. Begibt man sich in die Hände des Reiseleiters Anuk Arudpragasam, so wird aus dieser knapp 340 Kilometer langen Strecke eine Lesereise von annähernd ähnlich vielen Seiten, die tief in die Geschichte Sri Lankas führt.

Dabei beginnt alles mit zwei Nachrichten, die in Krishan, dem Helden von Anuk Arudpragasams Roman, starke Erinnerungen und Bewegungen auslösen.

Zwei Nachrichten und eine Reise

So schreibt ihm Anjum, seine ehemalige Geliebte, die er einst in Indien kennenlernte und die sich nun nach langer Stille bei Krishan über dessen Verbleib erkundigt. Und dann stirbt auch noch Rani, die die Betreuung von Krishans pflegebedürftiger Großmutter Appamma übernommen hat.

Rani stammte aus dem Nordosten Sri Lankas, ein Gebiet, das lange vom Bürgerkrieg und dem Kampf der tamilischen Tiger geprägt war. Sieverlor in diesem Krieg ihre beiden Söhne, den jüngeren tragischerweise noch am vorletzten Tag jenes Krieges, der viele zehntausende Opfer forderte und erst 2009 nach fünfundzwanzig Jahren des blutigen Kampfes beendet wurde. Dieser Kampf, die Erinnerungen an Anjum und sein eigenes kurzzeitiges Engagement dort im Norden lösen vielfältiges Erinnern aus.

In den Jahren seit dem Ende der Kämpfe war er besessen geworden von den Massakern, die im Nordosten stattgefunden hatten, mehr und mehr hatte ihn die Schuld des Überlebenden ergriffen, und er sehnte sich nach der Art Leben, die er vielleicht führen könnte, wenn er die träge akademische Welt verließ, in die er sich abgesondert hatte, und an einem Ort lebte und arbeitete, der ihm etwas bedeutete.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 21

Von Colombo nach Kilinochchi

Anuk Arudpragasam - Nach Norden  (Cover)

Krishan beschließt, sich von seinem aktuellen Wohnort Colombo an der Westküste Sri Lankas nach Kilinochchi im Norden der Insel zu begeben. Von dort stammt Rani, dort verunglückte sie und dort soll sie nun im Kreis ihrer Familie beerdigt werden. Und dorthin zieht es nun auch Krishan, der sich dort seinen Gedanken und Erinnerungen stellen möchte.

Während er also per Bahn in den Norden reist, stürmen die Erinnerungen immer stärker auf ihn ein. Seine Großmutter Appamma und ihr Abgleiten in die Hilflosigkeit und ihr Schwanken zwischen Selbstbehauptung und dem Einfordern von Hilfe. Die Anstellung von Rani, die nach dem Tod ihrer Söhne in Depressionen verfiel, die sie mit immer stärker werdender Elektroschocktherapie zu bekämpfen versuchte, ehe sie in der Anstellung als Betreuerin von Rani in Colombo neuen Sinn fand. Die Erinnerungen an Anjum, ihr gemeinsames Kennenlernen in Indien, die langsame und intensive Romanze, die sich entspann. All diese Erinnerungen stürmen auf den Erzähler ein – genauso wie zahlreiche Erinnerungen an Gedichte, Dokumentarfilme und Legenden, derer sich der junge Mann erinnert.

Eine Reise zu den Schmerzpunkten eines ganzen Landes und seiner Bewohner

Dabei ist Nach Norden ein Buch der Erinnerung, das konsequent die Schmerzpunkte eines Landes und seiner Bewohner umkreist und auch berührt. So schon sich schon Krishan wenig, wenn er mit akribischer Genauigkeit der verflossenen Romanze zwischen Anjum und ihm nachspürt, sich ihr ganzes Kennenlernen noch einmal vor Augen führt, was den Schmerz der Trennung noch einmal deutlicher werden lässt.

Auch das familiäre Gefüge mit der verfallenden eigenen Großmutter und den notwendigen Kraftanstrengungen, die die heimische Pflege erfordert, beschreibt uns Krishan ungeschönt. Er führt dies von der persönlichen Ebene dann auf die nationale Ebene, wenn langsam die ganze Bedeutung des Bürgerkriegs, die Zerstörung, das persönliche Leid und das der Gesellschaft in Nach Norden offenbar wird. Hier schon jemand weder sich noch sein Land, um die einschneidende Bedeutung des Bürgerkriegs dort im Norden der Insel zu vermitteln.

Ein genauer Beobachter

Zudem ist erweist sich der junge 1988 geborene Tamile Arudpragasam hier auch als genauer Beobachter, der seine Sprache bewusst wählt und bei der es ein Fehler wäre, allzu schnell über sie hinwegzugehen oder sie nur als Vehikel der Erzählung zu begreifen.

Egal ob erotisch aufgeladene nächtliche Begegnungen im Schlafwagen oder die Bestattungszeremonie von Rani – diese Prosa der Gedanken- und Erinnerungsschleifen gleicht in manchen Szenen einer hochauflösenden Zeitlupe, in der sich der tamilische Erzählung manchmal schon schmerzhaft viel Zeit nimmt, um die Handlung und inneren Bewegungen zu schildern.

Nach Norden ist ein Roman, der sich Zeit lässt, der seine Themen genau umkreist und der alle Wahrnehmungen in langen Satzperioden genau nachzubilden und abzubilden versucht (Übersetzung durch Hannes Meyer):

Als er sie beobachtete und sie ihn, hinter ihr die Landschaft vorbeirauschte, er aber nur das Blinzeln ihrer Augen und das Schlagen seines Herzens wahrnahm, war Krishan dankbar, dass sie beide Teil desselben Ortes und derselben Zeit waren, dass sie zumindest jetzt diesen Augenblick teilten, einen Augenblick, der nicht nur Nahes und Fernes enthielt, sondern auch Vergangenes und Zukünftiges, ein Augenblick ohne Länge und Breite und Höhe, der aber alles von Bedeutung in sich barg, so als wären alle anderen Bestandteil der Welt bloß kosmische Kulisse, eine Illusion, die nun verschwinden konnte, da sie entlarvt war. Was man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks oft Liebe nannte, das wurde ihm in jener Nacht klar, war weniger die Beziehung weiter Menschen an und für sich als vielmehr eine Beziehung zwischen zwei Menschen und der Welt, deren Zeugen sie waren, einer Welt, deren Oberflächen und Äußerlichkeiten sich allmählich auflösten, währen die beiden Menschen tiefer und tiefer in ihrer Liebe versanken.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 176 f.

Fazit

Mit Nach Norden nimmt uns Anuk Arudpragasam mit auf die zerrissene Insel Sri Lanka und zeigt ein Land fernab der touristischen Glanzpunkte. Vielmehr sind es die Schmerzpunkte, die Arudpragasam auf persönlicher genauso wie auf gesellschaftlicher Ebene interessieren. Seine Reise wird zu einer Reise in die Vergangenheit eines vom Bürgerkrieg gezeichneten Landes und auch zu einer Reise des eigenen seelischen Schmerzes. Gewiss keine leichte Literatur, aber ein Buch, auf das man sich mit genügend Zeit einlassen sollte und dessen Sprache das ideale Vehikel für Arudpragasams Erzählansatz der Langsamkeit und Nachdenklichkeit ist.


  • Anuk Arudpragasam – Nach Norden
  • Aus dem Englischen von Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-446-27381-8 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Tade Thompson – Wild Card

Ist das eine Ermittlungsmethode? Ewige Skepsis?“. Die Frage kam leise.

„Ich habe keine Methoden“, antwortete ich wahrheitsgetreu.

Tade Thompson – Wild Card, S. 195

Mitten hinein in einen Hexenkessel aus Bürgerkrieg, Mord und Überlebenskampf führt Tade Thompson in seinem Thriller Wild Card. Bekanntheit erlangte der nigerianische Autor mit seiner Wormwood-Trilogie, die man dem Genre des Afrofuturismus zurechnen kann und deren Auftaktband Rosewater mit dem Arthur C. Clarke-Award ausgezeichnet wurde. Doch von Science-Fiction ist in seinem ursprünglich 2015 erschienen Roman Wild Card keine Spur. Stattdessen legt er hier einen Thriller reinsten Wassers vor, der in den fiktiven afrikanischen Staat Alcacia entführt.

Eine kleine Lüge mit großen Auswirkungen

Tade Thompson - Wild Card (Cover)

Dorthin fliegt Weston Kogi, um der Beerdigung seiner Tante beizuwohnen. Eigentlich lebt er inzwischen in England und verdingt sich als Wachmann, doch die familiären Banden innerhalb der Yoruba sind stark. Und so kommt Weston zurück in das Land, aus dem er einst aufgrund des Bürgerkriegs floh. Die Lage hat sich inzwischen beruhigt und auch die Beerdigung geht reibungslos über die Bühne. Doch für Kogi halten die Feierlichkeiten trotzdem ein dickes Ende bereit. Einem ehemaligen Schulkameraden gegenüber gibt er den Aufschneider. So behauptet er, bei der Mordkommission der englischen Polizei angestellt zu sein. Eine Lüge, die sich als fatal erweisen soll.

Den nach der Feier wird er von der Liberation Front of Alcacia gekidnappt. Diese möchte, dass er den Mord an einem hochangesehenen Politiker aufklärt und die Verantwortlichen für den Mord bei der People Christian’s Army findet. Doch kaum ist Weston Kogi aus den Fängen der LFA entlassen, wird er einmal mehr entführt. Nun ist es die PCA, die von Weston Kogi die Aufklärung des Mordes an dem Politiker verlangt. Und die Schuld soll er – keine große Überraschung – bei der LFA finden. So sitzt Weston Kogi gehörig in der Klemme, steht er doch zwischen den beiden verfeindeten Rebellengruppen und hat darüber hinaus keine Ahnung, wie das geht: einen Mord aufklären.

Immer wieder flackert Gewalt auf

Bei seiner Suche nach den Hintergründen für den Mordanschlag erlebt er die ganze Grausamkeit und den Wahnsinn am eigenen Leib. Banden, Geheimpolizei, Verbündete, die ein doppeltes Spiel treiben gibt es in Alcacia an jeder Ecke. Mit Weston Kogi möchte man da nicht tauschen.

Dabei scheut sich Tade Thompson auch nicht vor expliziten Szenen, um die Gräuel in Alcacia zu bezeichnen. Immer wieder flackern Momente größte Gewalt und Brutalität auf. Leichen werden zerstückelt, Menschen werden von Landminen in die Luft gesprengt. Missbrauch und Unterdrückung sind an der Tagesordnung. Das muss man aushalten können. Vor allem aber ist es die Ahnung, dass die hier beschriebenen Szenen doch wohl nur Abziehbilder der Gewalt sind, die in vielen afrikanischen Staaten tatsächlich grassiert. Das inzwischen so abgenutzt Schlagwort vom afrikanischen Bürgerkrieg wird hier wieder neu mit Bedeutung aufgeladen.

Eine bestechende Grundidee

Bestechend ist ja die Grundidee dieses Krimis. Eine aufschneiderischer Ex-Alcacianer, der nun mit den Auswirkungen seiner Flunkereien zu kämpfen hat. Allerding macht Tade Thompson für mein Gefühl zu wenig aus der Grundidee. Schnell mutiert Kogi vom Lügner zum tatsächlichen Ermittler, der sämtlichen Spuren nachgeht, Verhöre führt, die ihn weiterbringen und immer weiß, wie es gerade weitergeht in dem Schlamassel, in dem er steckt. Er liest sich dann als Ermittler wider Willen doch recht austauschbar, da er dann genau das macht, was alle anderen Ermittler*innen in solchen Situationen auch machen würden. Egal wie oft er zusammengeschlagen, misshandelt und malträtiert wird – wenig später fährt er unbeirrt und stoisch mit seinen Ermittlungen fort. Ein kriminalistisches Stehaufmännchen reinsten Wassers, dem man seinen früheren Job in England angesichts dieses Talents nicht so richtig abnimmt.

Auch wenn Kogi behauptet, dass er keine eigene Methode habe – Tade Thompson lässt ihn durchaus zielgerichtet im Nebel stochern. Hier hätte man durchaus mit Kogis Nicht-Eignung für den Job spielen können, um den Thriller noch etwas origineller und unverwechselbarer zu gestalten.

Fazit

Davon abgesehen ist Wild Card ein prima Thriller, der mit seinem Schauplatz und Thema andere Wege geht, anstelle einen weiteren Serienkiller-Thriller aus Europa oder Cop-Thriller aus Übersee zu präsentieren. Gelungene Unterhaltung mit leichten Abstrichen, relevant und außergewöhnlich.


  • Tade Thompson – Wild Card
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • ISBN 978-3-518-47151-7 (Suhrkamp)
  • 329 Seiten. Preis: 11,95 €
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Ronya Othmann – Die Sommer

Große Erwartungen hatte ich an das erzählerische Debüte von Ronya Othmann, die im renommierten Hanser-Verlag ihr Debüt Die Sommer veröffentlichte. Leider schaffte es die 1993 geborene Autorin in meinem Fall nicht, die hohen Erwartungen und Vorschusslorbeeren so ganz einzulösen.


Als die Ankündigung für Ronya Othmanns Debüt in der Vorschau des Hanser-Verlags auftauchte, war ich mir sicher, einen gesetzten Kandidaten für die Longlist des Deutschen Buchpreises ausgemacht zu haben. Verheißungsvoll die Ankündigung schon alleine durch die politisch relevante Themensetzung (der syrische Bürgerkrieg und die Geschichte der Jesiden) und dazu noch Motive, auf die man bei solchen Preisen gerne setzt, nämlich Coming-of-Age und das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen.

Zudem war dem Buch im Vorfeld schon viel Publicity gewiss, bedingt durch die reichweitenstarke Twitter-Präsenz von Ronya Othmann und ihre Tätigkeit als Kolumnistin der taz. Auch der Gewinn des Publikumspreises beim Ingeborg-Bachmann-Preis im vorigen Jahr hatte die Erwartungen gesteigert. Beste Startbedingungen für einen großen Erfolg also.

Etwas überrascht war ich dann allerdings schon, als die Jury mein Buchpreis-Lotto nicht bedachte und Die Sommer die Nominierung vorenthielt. Nach der Lektüre des Buchs kann ich diese Entscheidung allerdings auch etwas nachvollziehen. Denn trotz der richtigen Themen offenbart das Erzählen Othmanns doch Mängel, die die Entscheidung der Jury plausibel erscheinen lassen.

Die Sommer in Tel Khatoun

Den erzählerischen Bogen des Romans bildet die Familiengeschichte Leylas. Diese wohnt eigentlich in München. Die Sommer verbringt sie allerdings in der Heimat ihres Vaters. Dieser ist Jeside aus Kurdistan, einem Land, das sich auf Teile Syriens, der Türkei und den Irak erstreckt. Vor Jahren ist er nach Deutschland geflüchtet. Seine Familie allerdings wohnt immer noch im Dorf Tel Khatoun. Dorthin kehrt Leyla immer wieder zurück, in den Schoß der Familie. Mit ihrem Aufwachsen weitet sich auch ihr Blick. Die kulturellen Eigenheiten der lokalen Bevölkerung, die Mentalitätsunterschiede, die Vertreibung der Jesiden – all das nimmt Leyla in den Sommer immer dezidierter wahr und prägt so ihre eigene Identität.

Ronya Othmann - Die Sommer (Cover)

Doch was in Othmanns Buch wie auch in vielen anderen Erzählungen 2011 mit einem harmlosen Graffiti an einer Schulmauer beginnt (so geht zumindest die Legende, über deren Wahrheitsgehalt die Meinungen auseinandergehen), mündet in einen Bürgerkrieg, der Syrien seit nunmehr neun Jahren in seinem unerbittlichen Griff hat. Tausende Tote, Zerstörung, eine immer unübersichtlicher werdende Gemengelage aus Assad-Unterstützern, Milizen, Aufständischen und Stellvertreter-Fronten sind die Bilanz dieses Bürgerkriegs. Die Auswirkung des Großen spüren auch die Dorfbewohner im Kleinen.

Und davon erzählt Ronya Othmann. Und erzählt und erzählt. Gerade im ersten Teil des Buchs drängte sich für mich der Eindruck auf, ich würde in einem erzählerischen Flugzeug sitzen, das beständig hochtourig seine Runden auf der Rollbahn dreht, allerdings nie wirklich abhebt.

Ihre Exkurse in die Geschichte, die soziologischen Betrachtungen ihres Dorfes, der kulturellen Identitäten, die ihr innewohnen: all das ist eigentlich spannend – allerdings nicht als Roman. Und so tat ich mich mit dem zähen Erzählen wirklich schwer, das unter der Fülle der Themen leidet, die aufgrund ihrer Exotik und Unverständlichkeit für die westlichen Leser eingeführt werden müssen.

Ein starker zweiter Teil

Doch dann kommt der zweite Teil dieses Romans, der mich dann doch wieder für Othmanns Erzählen einnahm. Wie der Bürgerkrieg beginnt und so die Rückkehr ins familiäre Dorf unmöglich macht und zudem auch die Pubertät die Orientierungslosigkeit Leylas verstärkt, das ist gut gemacht. Während sie nach Halt im Leben sucht, verliert Syrien diesen Halt zusehends.

Durch diese doppelte Auflösung vorher so gefestigt scheinender Strukturen gewinnt das Buch. Zudem darf auch Leylas Vater hier seine Geschichte dann zu Gehör bringen, die symptomatisch für so viele andere Schicksale steht. Wir im Westen, die wir von all den Meldungen rund um den syrischen Bürgerkrieg schon abgestumpft sind, bekommen hier die Brisanz und die Auswirkungen jenes Kriegs ganz unverhüllt geschildert. Die Sommer macht klar, was dieser Krieg bedeutet und welche Schicksale damit verknüpft sind. Besonders das radikale Ende, das zwar nicht ganz unvorhersehbar kommt, aber trotzdem überrascht, ist für mich neben der Geschichte des Vaters einer der wichtigsten Punkte, die der Roman auf der Haben-Seite verbuchen kann.

Das überzeugte mich mehr als all die Schilderungen und Beschreibungen im ersten Teil. Ein Stück weit versöhnte es mich sogar mit der in meinen Augen schwächeren ersten Hälfte des Buchs. Hätte ich diese Geduld in der Lektüre nicht mitgebracht und mich unter Zeitdruck dazu verführen lassen, die Lektüre abzubrechen, wäre mir ein Buch entgangen, das sich zusehends bessert und an Form und Relevanz gewinnt. Vollumfänglich überzeugte es mich nicht. Aber als Debüt, das relevantes zeitgeschichtliches Erzählen in den Mittelpunkt rückt, ist das doch sehr beachtenswert.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es hier: Aufklappen hat sich des Buchs angenommen, genauso wie Carsten Otte. Auch die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit haben das Buch besprochen.


  • Ronya Othmann – Die Sommer
  • ISBN 978-3-446-26760-2 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €
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