Tag Archives: England

Der ewige Gärtner

Reginald Arkell – Pinnegars Garten

Gibt es etwas Altmodischeres als Blumenschauen? Das Flanieren durch Gärten und das Fachsimpeln über Blüten, Saat und Aufzucht ist doch etwas aus der Mode geraten. Zwar erfreuen sich Botanische Gärten oder Kleingärten großer Beliebtheit und auch der Tag der offenen Gartentür findet noch statt. Aber die Gartenkunst hatte schon mal eine größere Bedeutung. Davon zeugt der Roman Pinnegars Garten von Reginald Arkell. Ein hinreißend altmodisches Vergnügen.


Reginals Arkell kam 1881 in Gloucestershire auf die Welt. Er schrieb Theaterstücke und Singspiele, diente im Ersten Weltkrieg als Offizier und verfasste mit Pinnegars Garten (beziehungsweise Old Herbaceous im Original) einen Klassiker der englischen Gartenliteratur. Sein Roman genoss solche Popularität (und tut es noch immer), dass das Buch als Theaterstück 1979 sogar vor der englischen Königsfamilie auf Schloss Windsor aufgeführt wurde. Was macht dieses Buch also zum Klassiker, der sich solcher Beliebtheit erfreut?

Reginald Arkell - Pinnegars Garten (Cover)

Es ist ein warmherziger Ton, der dieses 1950 erschienene Buch durchzieht. Ein alter Mann, genannt Old Herbaceous, also frei übertragen etwa Alter Krautkopf, sitzt in seinem Lehnstuhl und sinniert über sein Leben. Eigentlich trägt er den Namen Herbert Pinnegar. Aber zu seinem Ehrennamen kam er durch seine Passion, die sein ganzes Leben prägen sollte.

Schon als Kind gewann er einen Preis bei einer Gartenschau, als er ein außergewöhnliches Blumenbouquet pflückte. Während gleichaltrige Kinder nach der Schule zu Knechten oder Schäfergesellen wurden (wir schreiben ein England vor der Jahrhundertwende), so hat das Schicksal für Herbert einen anderen Verlauf vorgesehen.

Ein Leben als Gärtner

Über die Jahre steigt er zum Obergärtner im Dienste von Miss Charteris auf. Diese ist die Besitzerin eines Herrenhauses mit ausgedehnten Ländereien. Und Herbert tritt in den Dienst ihres Hauses ein und wächst in den folgenden Jahrzehnten mit seinen Aufgaben. Kriege kommen und Kriege gehen – Old Herbaceous ist aber mit voller Hingabe für die Gärten von Miss Charteris da. In guten, wie in schlechten Zeiten.

In einem ruhigen Ton erzählt sich Reginald Arkell chronologisch durch das Leben von Old Herbaceous. Wie er mit Miss Charteris ein ganz eigenes dynamisches Doppel bildet, wie er seinen Job interpretiert und wie er seine Gärten genauestens hegt und pflegt, davon erzählt Arkell. Und zwar so, dass man gar nicht anders kann, als diesen Gärtner und seine Chefin ins Herz zu schließen.

Dabei ist Pinnegars Garten aber keineswegs nur ein weltabgewandter und schrulliger Roman, der die Gartenkunst feiert und sonst wenig zu sagen hat. Arkell zeigt die gesellschaftlichen Verwerfungen auf, die der Übergang vom Viktorianischen zum Edwardianischen Zeitalter bedeutete. Und nicht zuletzt ist das Buch auch eine Dokumentation darüber, wie die Bedeutung der Gartenkunst über die Jahre abnahm.

Nicht nur für Gartenliebhaber*innen oder Gärtner*innen stellt Pinnegars Garten ein wirkliches Geschenk dar. Liebevoll von Elsemarie Maletzke ins Deutsche übertragen (großartig schon allein der Ausdruck Zungendresche) und mit einem Nachwort von Penelope Hobhouse versehen, ist das Buch ein wirkliches Kleinod. Mit einem Leineneinband ausgestattet nimmt uns das Buch noch einmal mit in eine längst vergangene Zeit, als die Öfen in den Gewächshäuser bollerten und Erdbeeren im Februar eine gärtnerische Sensation waren. Einfach ein toller Roman, der die Möglichkeit gibt, auch ohne eigenen Garten literarisch durch Old Herbaceous Gärten zu lustwandeln.


  • Reginald Arkell – Pinnegars Garten
  • Aus dem Englischen von Elsemarie Maletzke
  • Mit einem Nachwort von Penelope Hobhouse
  • ISBN 978-3-293-00423-8 (Unionsverlag)
  • 224 Seiten, 14,95 €

Diesen Beitrag teilen

Einen Flügel kann man nicht reparieren …

Daniel Mason – Der Klavierstimmer Ihrer Majestät

Mit der Veröffentlichung von Daniel Masons Der Wintersoldat gelang dem C.H. Beck-Verlag im letzten Jahr ein kleiner Erfolg. Das Interesse an diesem Buch ist beständig. Immer wieder landen auch Suchanfragen zu diesem Buch auf meinem Blog. Inzwischen hat es meine Rezension hier auf gute vierstellige Abrufwerte gebracht. Für diesen kleinen Blog einsame Spitze, wenngleich das Buch bei mir damals keine ähnliche Euphorie auslöste.

Mein Interesse war groß, als der Vorschau des C.H. Beck-Verlags zu entnehmen war, dass ein weiteres Buch von Daniel Mason veröffentlicht wird. Im Falle von Der Klavierstimmer Ihrer Majestät handelt es sich allerdings um keinen neuen Titel. Vielmehr ist das Buch das Debüt Masons und erschien ursprünglich bereits im Jahr 2002. Nun, da das Buch volljährig geworden ist, erscheint es bei C.H. Beck in einer überarbeiteten und von Barbara Heller ins Deutsche übertragenen Fassung.

Daniel Mason - Der Klavierstimmer Ihrer Majestät (Cover)

Mason erzählt in seinem Roman die Geschichte von Edgar Drake. Dieser lebt 1887 zusammen mit seiner Frau in London und verdient sein täglich Brot mit dem Stimmen von Flügeln. Besonders für Erard-Flügel hat er ein Händchen. In ganz London stimmt er diese Flügel und wird als Spezialist gerufen, wenn die Mechanik der Instrumente hakt oder die Saiten verstimmt sind. Da erreicht ihn ein ganz besonderer Auftrag. Er soll den Erard-Flügel eines britischen Militärarztes reparieren. Dieser befindet sich allerdings nicht in London, sondern im Dschungel von Birma. Dort befehligt der Militärarzt eine Stellung.

Da er in seinem Kampf um die Befriedung des rebellischen Landstrichs dort mehr Erfolge als alle anderen Offiziere vorweisen kann, musste man notgedrungen die Forderung des Militärarztes nach einem Flügel erfüllen. In einer Fitzcarraldo-haften Aktion wurde der Flügel in das Fort des Arztes gebracht. Doch nun ist der Flügel aufgrund der humiden Klimas vor Ort verzogen und der Arzt dringt auf eine Reparatur. Edgar Drake macht sich also auf den Weg in den entlegensten Winkel des Königreichs, um für das Problem Abhilfe zu schaffen.

Der Kampf um Birma

Drake, der bislang kaum etwas von der Welt gesehen hat, erlebt in Birma nun eine ganz andere Welt. Undurchdringliche Dschungellandschaften, das Volk der Shan, in dessen Land sich der Klavierstimmer begibt, englische Kolonialherren, Räuberbanden, genannt Dacoits, die die Dörfer und Besatzer terrorisieren. Eine ganz andere Welt herrscht hier, die Daniel Mason gut einzufangen weiß.

Das Grün des Dschungels, das Prasselns des Monsuns und die völlig andere dort herrschende Kultur mitsamt Pagoden und spielenden Kindern – all das beschreibt Mason wirklich gekonnt. Manchmal sind die Schilderungen von Land und Leuten etwas ausufernd, speziell wenn es um die politische Einordnung der verschiedenen Parteien und ihrer Pläne in Birma geht. Dann aber wieder ist Mason auch höchst präzise, wenn er das Handwerk des Klavierstimmens schildert und die über Sprachgrenzen hinweg wirkende Kraft der Musik in Zeilen bannt. Das überzeugt und ist besser gelungen als zuletzt bei William Boyd, der sich an einem ähnlichen Thema versucht.

Keine unbedingt postkoloniale Erzählhaltung

Weniger überzeugend hingegen ist Masons im Buch vertretende Haltung zum Kolonialismus. Dieser wird an keiner Stelle wirklich kritisch beleuchtet. Staunend tappt sein Edgar Drake durch die von den Briten beherrscht Welt Birmas und hinterfragt das Wirken der Briten kaum. Vielmehr manifestiert sich im Buch eine durchaus fragwürdige Haltung zum Thema Kolonialismus, die beispielsweise in diesem Dialog durchscheint:

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die britische Herrschaft begrüßen?“

„Ich habe großes Glück“, erwiderte sie nur.

„Aber in England“, beharrte Edgar „sind viele entschieden der Meinung, dass die Kolonien sich selbst verwalten sollten, und ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht. Wir haben schreckliche Dinge getan.“

„Aber auch gute.“

Mason, Daniel: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät, S. 281

Hier hätte ich mir ein wenig mehr kritische Distanz zum Thema gewünscht, wie sie beispielsweise beim großartigen James Gordon Farrell stets Thema ist. In die Gattung der postkolonialen Literatur kann ich Der Klavierstimmer Ihrer Majestät leider nur schwerlich einordnen. Mit seinem unkritischen und auf die Musik fokussierten Erzähler macht es sich der amerikanische Autor etwas zu leicht und traut sich sogar noch, kolonialen Kitsch in Form einer Liebesgeschichte zu einer Birmesin in die Handlung einzuführen.

Wer sich davon nicht stören lässt, der bekommt mit Der Klavierstimmer Ihrer Majestät ein Buch, das die exotische Welt Birmas um 1890 herum gut einzufangen weiß. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte Birmas, lange bevor das Land Myanmar hieß. Und nicht zuletzt ein Roman, der dem Beruf des Klavierstimmers und der menschenvereinenden Kraft der Musik ein Denkmal setzt.

Diesen Beitrag teilen

Benjamin Myers – Offene See

Der Regen war noch viele Meilen entfernt, doch hier im Garten war es plötzlich ruhig und auffallend still geworden. Kein Vogelrufe. Kein fernes Hundegebell. Der Muskel in meinem Hals pochte mit einem fast elektrisierenden Pulsschlag. […]

Da draußen ist die offene See“, sagte Dulcie leise.

Ich stieg vom Sessel. Sie deutete die Wildwiese hinunter.

„Dieser ferne Streifen Meer, wo Himmel und Wasser eins werden.“

Myers, Benjamin: Offene See, S. 118 f.

Wenn ein Entwicklungsroman auf Nature Writing trifft, wenn der Rückzug in die Natur mit einer Mannwerdung verschmilzt, dann kommt so etwas wie Benjamin Myers Offene See heraus. Ein Buch, das die unberührte Natur, Bildung und Lyrik feiert.


Die offene See. Sie ist das, was Robert Appleyard antreibt. Die letzten Prüfungen in der Schule sind geschrieben und schon bald dräut die Arbeit unter Tage. Denn wir befinden uns in Großbritannien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kohleflöze werden nach wie vor abgebaut, Generationen von Männer fahren ein, um wie ihre Vorfahren der Erde Kohle abzuringen. Doch das ist nicht das, was Robert vorschwebt.

Der Sechzehnjährige ist in seiner Liebe zur Natur entflammt. Stundenlang durchmisst er Wälder, wandert und hält sich am liebsten unter dem freien Himmel auf. Die freie Zeit vor seinem Arbeitseintritt will der Junge nutzen, um auf Grand Tour zu gehen und das Meer zu sehen. Und so begibt sich Robert auf eine Wanderung, die Myers im Stile eines Joseph von Eichendorffs inszeniert. Sprudelnde Bäche, Frühlingslandschaft, Entgrenzung pur. Würde aus der Ferne ein Posthorn schallen, man könnte glauben, die Epoche der Romantik würde hier immer noch andauern.

Natur, Rückzug und Freundschaft

Doch wie es so mit dem Wandern ist – auch Unerwartetes tut sich manchmal am Wegesrand auf. Im Falle von Roberts Wanderschaft ist das ein versteckt liegendes Cottage, das er in Küstennähe entdeckt.

Der Weg endete neben dem Cottage, hinter dem nur noch ein Dschungel aus Buschwerk wucherte. Vor dem Haus konnte ich einen Garten sehen, der aus einer kleinen Terrasse mit rissigen Pflastersteinen, einem Rasen und einem Gemüsebeet umgeben von Blumenrabatten bestand. Ringsherum war ein schieferweiß gestrichener Holzzaun, dem die Salzluft arg zugesetzt hatte, denn der Lack warf Blasen, bätterte ab und war stellenweise abgeplatzt.

Der Garten war eine halb kolonisierte Ecke in einer wilden, abfallenden Wiese, die den Blick zum gut eine Meile entfernten Meer lenkte. Die Hecken und Bäume zu beiden Seiten umrahmten die Aussicht wie der Motivsucher eines romantischen Malers.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 34

Immerhin weiß Benjamin Myers selbst recht gut, in welcher Tradition seine Prosa steht. Durch und durch romantisch fängt er die Landschaft ein und inszeniert seine Szenerie im Stile eines Landschaftsmalers á la John Constable. Man könnte dem Autor natürlich Eskapismus, Süßlichkeit oder Kitsch vorwerfen. Aber er belässt es nicht alleine im Feiern der Schönheit unzerstörter Natur und Romantik. Denn durch die Bewohnerin jenes oben beschriebenen Cottages findet nun eine weitere Ebene ins Buch hinein.

In Dulcie jubilo

Die Cottage-Bewohnerin trägt den Namen Dulcie und übt schon ab der erstern Begegnung eine große Faszination auf Robert aus. Zusammen mit ihrem Schäferhund Butters lebt die ältere Dame nahezu autark in ihrem Cottage, umgeben von anderswo rationierten Köstlichkeiten und Büchern.

Die Begegnung mit ihr erweist sich als Glücksfall für Robert. Denn was als zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich im Lauf des Buchs zu einer bereichernden Freundschaft. Dulcie ist weltgewandt, hat einen eigenen Kopf und weckt in Robert die Liebe zur Literatur. Die alte Dame entpuppt sich als humanistische Aufklärerin im besten Sinne, die Robert zu eigenständigem Denken herausfordert. So findet der Junge auch zu seiner Liebe für Lyrik. Eine Liebe, die sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen soll.

Offene See ist ein Buch, das die Natur und die Lyrik auf sehr direkte Art und Weise feiert. Das sollte beim Blick auf die Vita Benjamin Myers auch nicht überraschen. Denn Myers schreibt nicht nur Lyrik, sondern auch Sachbüchern, in denen er sich mit Themen rund um die Natur und Landschaften beschäftigt. Mit dem Vorgängertitel errang Myers auch den Roger-Deakin-Award, der sich zeitlebens ja ebenfalls dem Nature Writing widmete.

Sprachliche Mängel

Für mich bleibt nur die Frage bestehen, warum sich ein Lyriker und gefeierter Schriftststeller dann trotz aller unbestrittenen Qualität solche Ausrutscher erlaubt, wie sie immer wieder im Buch zu beobachten sind.

Wenn die Müdigkeit mich überkam, verbrachte ich die Nacht in Scheunen und Schuppen und längst verlassenen Wohnwagen, und mehrmals schlief ich den Schlaf des Gerechten eingezwängt zwischen dichten Heckenwänden aus Brombeersträuchern und Stechpalmen, die vielleicht schon seit dem Mittelalter hier wuchsen, drei Meter hoch und so undurchdringlich wie die Stacheldrahtrollen in Bergen-Belsen.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 22

Warum es hier einen KZ-Vergleich braucht, um eine Hecke zu beschreiben, will mir nicht in den Kopf (natürlich spielt das Buch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dennoch ist so ein Vergleich für mich reichlich unmotiviert und deplatziert).

Oder eine andere Stelle, an werden ich Ich-Erzähler „die Augen wieder schwer“ (S. 98). Schwere Augenlider kenne ich, schwere Augen hingegen nicht – oder vielleicht ist das der Claus-Kleber-Effekt, den Myers hier beschreibt?

Aber Spaß beiseite, solche sprachlichen Schludereien finde ich etwas irritierend, wenn weiter hinten im Buch dann sprachlich so viel sensiblere Lyrik präsentiert wird, die großes Sprachvermögen zeigt. Für die Übersetzung zeichnen sich Ulrike Wasel und Klaus Timmermann verantwortlich, die in meinen (nicht schweren) Augen ihre Sache eigentlich sehr gut machen.

Fazit

In Offene See inszeniert Benjamin Myers die Natur schwelgerisch, manchmal ganz knapp am Kitsch vorbei, manchmal auch leicht darüber. Mit seinem ungewöhnlichen Duo Robert und Dulcie stellt er dem romantischen Natur-Überschwang auch Elemente des klassischen Bildungsroman entgegen und kontrastiert sein Buch so auf reizvolle Art und Weise.

Wenn man bereit ist, einige sprachliche Schludereien oder Ausrutscher in Kauf zu nehmen, bekommt man hier ein berührendes Buch zu lesen, das den Hohegesang auf Kultur und Bildung anstimmt und das ein England heraufbeschwört, das dem heutigen Brexit-Land so fern erscheint wie Dulcies Cottage der Zivilisation. Zudem ausnehmend schön gestaltet!

Diesen Beitrag teilen

John Meade Falkner – Moonfleet

Der Dezember wird immer mehr zu meinem Klassikermonat. Nach di Lampedusas Der Leopard und Kästners Drei Männer im Schnee gibt es nun einen britischen Klassiker. John Meade Falkners Roman Moonfleet entführt in ein kleines Dorf an der südenglischen Küste. Darin beschwört er eine Zeit herauf, als noch Schoner und Schmuggler vor der Küste kreuzten. Ein Buch, das auch nach über 120 Jahren seit Erscheinen nichts an Tempo, Action und Abenteuer eingebüßt hat. Genau das Richtige für die Weihnachtsfeiertage, um sich auf eine nostalgische Reise ins 19. Jahrhundert zu begeben.


Ursprünglich erschien Falkners Buch im Jahr 1898. Es ist das mittlere von insgesamt drei Werken, die John Meade Falkner zeitlebens verfasste. Neben den zwei anderen Romanen schrieb er um die Jahrhundertwende auch Handbücher über die Landschaften in Oxfordshire und Berkshire sowie Gedichte, die posthum veröffentlicht wurden. Sein berühmtestes Buch ist aber zweifelsohne Moonfleet, das als Klassiker der Abenteuerliteratur gilt. Dass die Popularität und Faszination ungebrochen ist, das zeigt nicht zuletzt auch eine Verfilmung als Miniserie, die im Jahr 2013 ausgestrahlt wurde.

Im Deutschen existieren auch zahlreiche Ausgaben dieses Werks. Unter anderem erschien 1995 das Buch in der ungekürzten Neuübersetzung durch Oliver Koch in der Reihe Bibliothek der klassischen Abenteuerromane. Andere Autoren, die in dieser vergriffenen Bibliothek versammelt wurden, waren beispielsweise Wilkie Collins und Alexandre Dumas.

Auch der Münchner Kleinverlag Liebeskind nahm sich (zum Glück!) dieses Buchs an. In der Übersetzung von Michael Kleeberg erschien Moonfleet hier im Jahr 2016 und ist auch noch im Buchhandel lieferbar. Ein Glücksfall, wie ich finde, denn das Buch bietet jede Menge nostalgischer Unterhaltung, die an Klassiker des Genres wie etwa Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel erinnert.

Auf der Jagd nach Blackbeards Schatz

Ausgangspunkt der Geschichte ist das Dörfchen Moonfleet, in dem der junge John Trenchard lebt. Dieser erzählt uns als Leser*innen aus der Ich-Perspektive seine unglaubliche Geschichte.

Dort in Moonfleet wächst Trenchard bei seiner Tante auf, der er mit seinem verträumten Wesen ein Dorn im Auge ist. Am liebsten verbringt er die Tage mit dem Beobachten des Meeres. Doch nicht nur er interessiert sich sehr für das maritime Leben vor der Küste Dorsets. Auch der Großteil der übrigen Bevölkerung schaut genau hinaus auf Meer – denn Moonfleet ist ein Schmugglernest. Von der anderen Seite des Ärmelkanals bringen die Schmuggler in Nacht-und-Nebel-Aktionen Güter wie etwa Fässer voller Alkohol in die Verstecke auf der englischen Seite. Dabei ist sehr viel Vorsicht geboten – denn nicht nur die Obrigkeit versucht, die Schmuggler festzusetzen. Auch die Strömungen vor der Küste sind höchst tückisch. Immer wieder erleiden Schoner dort Schiffbruch und werden dann von der lokalen Bevölkerung geplündert.

Dabei ist dieses kriminelle Verhalten schon fast eingeschrieben in die DNA der Bevölkerung von Moonfleet. Denn einer der Vorfahren der lokalen Lehnsherren soll der legendäre Freibeuter Blackbeard gewesen sein. Jener Blackbeard versteckte vor seinem Ableben einen Diamanten irgendwo in der Gegend. Diese Legende beschäftigt nach wie vor die Einwohner*innen – allen voran natürlich John mit seiner lebhaften Fantasie. Er will den sagenumwobenen Diamanten unbedingt aufspüren. Dass auf dem Edelstein der Legende nach ein Fluch liegen soll, hindert den jungen Mann nicht.

Seine Suche nach dem Diamanten löst ein turbulentes Abenteuer aus, das zu einer gefahrenvollen Schatzsuche wird – Überfälle, Flucht, Verstecke etc. inklusive. Falkner bietet in seinem Buch alles auf und schickt John Trenchard und seinen Ziehvater, den Schmuggler Elzevir Block, auf eine ebenso temporeiche wie turbulente Reise.

Maritime Schatzsuche wie aus dem Bilderbuch

Ein Diamant, auf dem ein Fluch lastet. Ein Versteck, das noch niemand gefunden hat. Das gefährliche Schmugglerleben. Ein mit allen Wassern gewaschener Schmuggler, der John unter seine Fittiche nimmt. Verrauchte Dorfgasthäuser, in denen der Gin und die Legenden zirkulieren. All das sind natürlich Zutaten für eine Abenteuergeschichte wie aus dem Bilderbuch. Falkner erzählt sie in einem gelungenen Ton aus jugendlich-naiver Schilderung und Rückblenden eines erwachsenen Mannes. Die Kapitel tragen dabei sprechende Namen (Die Springflut, Die Flucht etc.).

Auch nach über 120 Jahren besitzt dieses Buch einen Drive und eine Erzählkraft, die zeitlos ist. Falkner treibt seine Handlung immer wieder voran, hält mit erzählerischen Kniffen das Tempo hoch und schildert plastisch das Treiben in Moonfleet. Dass dabei das Rollenbild natürlich auch ebenso historisch ist, sollte niemanden verwundern.

Frauen existieren in dieser Welt kaum, es sind im Buch eigentlich nur zwei relevante Figuren, die Johns Welt bevölkern. Die eine Frau ist seine Angebetete (und natürlich schutzbedürftig und dem Helden erlegen), die andere ein wahrer Hausdrachen, die als Ziehtante John mit frömmelnden Traktaten und Vorwürfen überzieht.

Die wirkliche Mutter findet er vielmehr in der Gestalt des Schmugglers Elzevir, der sich des Jungen annimmt. Diese Beziehung schildert Falkner auch sehr emotional und fürsorglich. Ein Kontrast zu der sonstigen Handlung, bei der John schon einmal in bester Rambo-Manier durch einen Fensterladen eines Hauses bricht.

Fazit

Insgesamt ist Moonfleet ein absolut stimmiges Buch, das einen in seine Kindheit zurückversetzt, in der man gerne noch Pirat war und mit Jim Hawkins und Konsorten durch Bücher wie die Schatzinsel jagte. Ein in meinen Augen zeitloser Klassiker, dessen Neuauflage im Liebeskind-Verlag auf alle Fälle sinnvoll ist. Hier ist ein echter Abenteuer-Klassiker (wieder) zu entdecken!

Diesen Beitrag teilen

Wie Phoenix aus der Asche

Die Brettspielereihe T.I.M.E. Stories

Am Anfang dieser Rezension spreche ich erst einmal eine Brettspiel-Empfehlung aus. Denn die Reihe der T.I.M.E.-Stories zählen zu dem Spannendsten, das ich seit langem auf meinem Spieletisch hatte. Die Kernidee dahinter: als Spieler ist man Mitglied der T.I.M.E. Agency und reist durch die Zeit. Dabei gilt es verschiedene Fälle zu lösen. Beispielsweise ist man in einer Nervenheilanstalt eingeschlossen und muss die mysteriösen Vorgänge hinter den dicken Mauern lösen. Oder man ist im Mittelalter zur Zeit der Inquisition unterwegs, muss 1992 eine amerikanische Kleinstadt vor einer Seuche retten, und und und. Jede der Erweiterungen erzählt eine völlig neue Geschichte. Dabei hat man in jedem Fall immer eine bestimmte Menge an Zeit zur Verfügung, um seine Ermittlungen durchzuführen. Jeder Mitspieler kann sich einen Wirt suchen, mit dessen Identität und Eigenschaften man die Ermittlungen durchführt. Im Normalfall ist eine Lösung des Falles vor Ablauf der Zeit nicht zu schaffen, aber dann startet man einfach noch einmal von vorne. Eventuell einen neuen Wirt aussuchen, die Erkenntnisse aus den vorherigen Durchläufen im Hinterkopf, dann ermittelt man weiter, bis eine Lösung gefunden ist.

Warum erzähle ich nun zu Beginn der Rezension von Stuart Turtons Die sieben Morde der Evelyn Hardcastle von diesem Spiel? Der Vergleich mit dieser Art von Spielemechanismus aus der T.I.M.E.s-Reihe liegt auf der Hand, wenn man sich anschaut, wie Turtons Debüt funktioniert. Denn zunächst wirkt alles noch wie bei einem klassischen britischen Landhaus-Krimi.

1 Mord, 8 Perspektiven, viele Verdächtige

Ein Mann erwacht mit Gedächtnisverlust in einem Wald, eilt zum nahegelegenen Herrenhaus und findet dort eine höchst verdächtige Personenansammlung vor. Er weiß etwas von einem Mord, der am Abend passieren wird. Doch alles wirkt etwas sonderlich. Immer wieder tauchen irritierende Details auf. So bekommt er Informationen von einer Frau namens Anna zugespielt, die ihm Hinweise zu Ereignissen zukommen lässt, die erst später eintreten werden. Alle Personen im Herrenhaus scheinen Geheimnisse zu haben, ein mysteriöser Lakai macht Jagd auf ihn. Und dann gibt es auch noch einen Pestdoktor, der dem Ich-Erzähler eine verstörende Wahrheit offenbar.

Fast könnte man glauben, dass man in ein Hasenloch wie in Alice im Wunderland gefallen ist. Denn der Ich-Erzähler, der sich als Arzt mit Amnesie herausstellt, ist nur einer von acht Figuren, denen man im Laufe des Buch begegnen wird. Alle sind für genau 24 Stunden ein Wirt, in dessen Identität der Held in Stuart Turtons Buch schlüpft. Wie Phoenix aus der Asche wird er immer wiedergeboren und bekommt eine neue Identität verpasst. Mithilfe der acht Perspektiven soll er den entscheidenden Mord an Evelyn Hardcastle aufklären. Wenn er die Beweise für den Mord an der Tochter der Herrenhausbesitzer erbringt, verspricht der mysteriöse Pestdoktor, ihn aus der Zeitschleife zu entlassen, in der er gefangen ist.

Wenn M.C. Escher Krimis bauen würde

Die sieben Morde der Evelyn Hardcastle (Übersetzung durch Dorothee Merkel) ist ein Krimi wie ein Gemälde von M.C. Escher. Ständig werden die Perspektiven durcheinander gewirbelt, wacht man wieder in einem neuen Körper auf, erhält neue Puzzlesteine für das Krimirätsel im Hause Hardcastle, das mindestens so verwinkelt ist, wie es die Räume des Herrenhauses sind. Das ist manchmal kompliziert bis anstrengend, dann aber auch immer wieder ein verblüffender Spaß, den man sich auch gut in der Form einer Fernsehserie vorstellen könnte.

Ein wirklich innovatives Krimirätsel, das durch seine acht Perspektiven immer wieder alles auf den Kopf stellt. Memento trifft Und täglich grüßt das Murmeltier trifft John Dickson Carr – einmal kräftig durchgewirbelt, und man erhält einen der außergewöhnlichsten Kriminalromane der jüngeren Vergangenheit.

Diesen Beitrag teilen