Die einen widmen dem Holz ein Lied, die anderen schreiben Bücher über den Wunderstoff. Fällt die deutsche Band 257ers in die erste Kategorie, so ist der Brite Roger Deakin der zweiten Kategorie zuzuschlagen.
Im Jahr 2018 erschien nach dem Logbuch eines Schwimmers seine zweite Publikation in der Reihe Naturkunden des Berliner Verlags Matthes und Seitz. Tragischerweise konnte Roger Deakin diese Veröffentlichung selbst gar nicht mehr miterleben. Der Brite starb kurz nach der Vollendung des Manuskripts im Jahr 2006.
Das Buch versammelt Erinnerungen, Erlebnisse und Asssoziationen rund um das Thema Holz, das auf Deakin einen ganz eigenen Reiz ausübte. So stellt er im Vorwort seines Werks im Bezug auf sich selbst fest:
Ich bin ein Woodlander; in meinen Adern fließt Baumsaft.
Deakins, Roger: Wilde Wälder, S. 8
Diese Faszination für das Element Holz, sie trieb Deakin zeitlebens um. Eindrucksvoll legt er davon in seinem Buch Zeugnis ab. Ausgehend von seinem Zuhause in Suffolk nimmt Deakin die Leser*innen mit in die Welt der Bäume und Hölzer. Er gliedert sein Buch dabei in vier Teile. Deakin hat sie Wurzeln, Splintholz, Treibholz und Kernholz getauft.
Holz und Vorurteil
Ähnlich wie bei einem Baum beginnt auch bei Deakin alles mit den Wurzeln. Bei ihm ist jene Wurzel seine Heimat im englischen Landstrich Suffolk. Von dort treibt ihn seine Faszination immer wieder und immer weiter aus. Zunächst spürt er dem Holz und den Menschen in seiner englischen Umgebung nach, neugierig, ohne ideologische Scheuklappen. Holz und Vorurteil quasi, könnte man unter Verballhornung eines anderen englischen Klassikers sagen.
Er besucht eine Furnier-Werkstatt in Coventry, in der die Furniere für die Innenausstattung von Jaguaren zurechtgeschnitten werden. Er betätigt sich als Kulturhistoriker und beschreibt die Tradition des Gallapfeltages, eines Tags, an dem seit dem Mittelalter der Bevölkerung eines Dorfs erlaubt wurde, in den Wäldern Feuerholz zu sammeln. Er besucht den Künstler David Nash, der Holz als Werkstoff für seine Skulpturen und Installationen ganz neu definiert. Über all diese Ausflüge und Beschreibungen bekommt man hier schon einen Eindruck, welche Bedeutung Holz nicht nur für die englische Bevölkerung stets hatte und hat.
Zudem zitiert Deakin in seinen Reportagen und Texten auch immer wieder berühmte Dichter und Denker und zeigt, wie auch in deren Schaffen das Holz Einzug hielt. So finden sich Zitate von Shakespeare, Jonathan Swift bis hin zu Thomas Hardys Roman Die Woodlanders, der einen großen Einfluss auf Roger Deakin ausübte.
Immer weiter treiben ihn seine Erkundungen zum Thema Holz hinaus. Im Kapitel Treibholz ist es schließlich sogar Kirgistan, wohin es den Abenteurer verschlägt. Dort begibt er sich auf die Spur alter Walnussbäumen. In anderen Texten informiert er über die Ursprünge der Äpfel, reist mit Freunden in die Karpaten und Pyrenäen. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den facettenreichen Erkundungen, an denen er die Leser*innen teilhaben lässt.
Eine Hymne auf das Holz
Wilde Wälder (übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers) ist eine vielstimmige Hymne auf den Stoff Holz, den Edward Thomas einst das fünfte Element nannte. Durch sein Buch ruft Roger Deakin wieder eindrücklich ins Bewusstsein, was Holz eigentlich bedeutet. Aus ihm entstehen Behausungen, es spendet Kraft und Ruhe, Bäume bedeuten Nahrungen, Arbeit und Leben – und nicht zuletzt sind sie Grundlage unseres ganzen Ökosystems. Dafür sensibilisiert Wilde Wälder, wobei man Deakin dabei auch die ein odere andere Abschweifung zu viel gerne nachsieht.
Neben dem Farbschnitt und dem passenden Umschlag wird das Buch auch nicht zuletzt durch einen tollen gestalterischen Kniff aufgewertet: vor jedem neuen Kapitel ist der gerade passende dendrochronologische Baumschnitt gesetzt. So sieht man die Kambiumsschichten von Ulme, Berg-Ahorn, Buche oder einer echten Feige. Eine stimmige Gestaltungsidee, die das Buch abrundet und eine sinnige Fortführung von Text und Bild darstellt. Typisch Naturkunden eben.
Ich wollte es eigentlich nicht – doch auch in dieser Besprechung muss einmal mehr das schon zur Sentenz geronnene Anfangswort aus Tolstois Anna Karenina stehen. Es bietet sich einfach zu gut an:
Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.
Tolstoi, Lew: Anna Karenina, S. 3
Auch Susan Hill scheint sich bei ihrem Roman Inspiration beim russischen Altmeister geholt haben. Ihr erstaunlich kurzer, nur 164 Seiten langer Roman Stummes Echo illustriert Tolstois These nämlich einmal mehr. Ihr Roman dreht sich um die vier Kinder einer Familie, die der Tod der Mutter zusammenbringt.
Da wäre May, die wieder nach Umwegen auf den heimischen Hof The Beacon zurückgekehrt ist. Ein Versuch eines Studiums in London und eine Tätigkeit in einem Kloster waren doch nur Station, ehe sie wieder an den heimischen Herd zurückkehrte, bedingt durch den Tod des Vaters und die Pflegebedürftigkeit der Mutter.
Ihre Geschwister Colin, Berenice und Frank haben The Beacon hingegen den Rücken gekehrt. Sie alle leben ihre eigene Leben, wobei vor allem das Tuch zwischen den drei Geschwistern und Frank zerschnitten ist. Den Grund dafür arbeitet Hill erst allmählich heraus.
Nun also der Tod der Mutter und damit verbunden die Geschehnisse, die man schon aus unzähligen Romanen und Filmen kennt. Die verstreut lebenden Geschwister finden sich wieder ein. Schließlich muss die Beerdigung ihrer Mutter organisiert werden. Und auch die Verlesung des Testaments steht noch aus – also raufen sich alle zusammen und versuchen, der Mutter die letzte Ehre zu erweisen.
Eine Familie, vier Kinder, viele Probleme – 164 Seiten
Das ist im Grunde die ganze Handlung hinter Stummes Echo. Wenn ich oben schrieb, dass man die Motive und Geschehnisse schon aus anderen Romanen und Filmen kennt, dann ist das auch die Stärke und Schwäche des Buchs zugleich. Stärke, da es Hill wirklich gelingt, auf den 164 Seitenihre Figuren vernünftig auszugestalten, aufeinandertreffen zu lassen und die Motivationen kurz und knapp zu beleuchten – und zwar so, ohne dass man das Gefühl hat, es fehle etwas oder wäre zu überstürzt beschrieben.
Gut reduziert Hill ihr Buch auf das Wesentliche – das aber nichts Neues bietet. Das ist eben die zugleich angedeutete Schwäche. Die Reihe derer, die um die Fragilität der Familie wussten und wissen, ist lang. Schon Tolstoi hat den allzugrüchigen Frieden, der sich Familie nennt, eindrucksvoll thematisiert. Und bis heute ist es ein Thema, zuletzt beispielsweise in Karl-Heinz Otts Die Auferstehung.
Dieses Thema ist schon landauf landab behandelt worden. Man könnte es auf die Formel bringen: alles ist schon gesagt worden – aber noch nicht von jedem. Und so bearbeitet Susan Hill dieses Thema eben einmal mehr, ohne dem Sujet etwas Neues hinzufügen zu können oder dem Ganzen besondere Aspekte abringen zu können.
Stummes Echo ist eine nette kleine Geschichte. Eine sonderliche Tiefenwirkung oder Erinnerungswürdigkeit besitzt das Buch in meinen Augen allerdings leider in nur geringem Maße.
Mit Heilige und andere Tote modernisiert die Engländerin Jess Kidd das Genre des Spukromans. Sie serviert den Leser*innen in ihrem neuen Roman eine Mischung aus Kriminalroman, Schauermärchen und Heiligenlegende. Das Ergebnis diese Mischmaschs ist dabei genauso überbordend wie exzentrisch. [Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann]
Die Ausgangslage bildet das Haus Bridlemere, in welches die Ich-Erzählerin Maud Drennan geschickt wird. Jenes Haus wird von Cathal Flood bewohnt, einem kauzigen, alleinstehenden Senior. Seine Frau ist unter mysteriösen Umständen schon vor Jahren ums Leben gekommen und so bewohnt Flood nun alleine das verwinkelte Haus. In seiner Zeit als alleinstehenden Rentner hat er sich zu einem veritablen Messie entwickelt, weshalb Maud nun für Ordnung im Chaos sorgen soll.
Bislang ist es Cathal gelungen, sämtliche Betreuer, die ihm von der Agentur geschickt wurden, innerhalb weniger Tage aus dem Haus zu ekeln. Doch nicht so mit Maud. Sie verbeißt sich in die Aufgabe und entwickelt einen großen Ehrgeiz, das Haus und auch Cathal wieder auf den rechten Weg zurückzuführen.
Ein verwinkeltes Haus, mysteriöse Todesfälle = ziemlich viel Suspense
Dies ist der Grundplot, den Jess Kidd sicher und mit Gespür für die richtigen Akzente entwickelt. Auf ihre Grundidee sattelt sie nun noch einen Krimiplot mit Suspense-Elementen. Denn schon bald wird bei Maud Misstrauen über das Verscheiden von Cathals Ehefrau geweckt. Immer wieder verwehrt ihr der Hausbesitzer den Zugang zu bestimmten Bereichen des Anwesens, was natürlich nur die Neugier der Ich-Erzählerin anstachelt. Mit ihr zusammen durchstreift man als Leser Bridlemere und geht auf Entdeckungsreise.
Dabei stolpert Maud immer wieder über Hinweise, die sie am offiziellen Tathergang des Todes zweifeln lassen. Auch entdeckt sie ein Foto, das zwei Kinder zeigt. Allerdings ist der weibliche Part des Fotos ausgebrannt worden. Immer stärker beschleicht Maud das Gefühl, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Und in dem Maße, in dem ihr Misstrauen wächst, wird auch ihre Neugier und ihr Spürsin geweckt.
Unterstützung erhält Maud bei ihren Nachforschungen neben einer Freundin noch von ungewöhnlicher Seite: die titelgebenden Heiligen stehen Maud nämlich ebenfalls bei. Immer wieder hat die Protagonistin Visionen und tritt in Interaktion mit diesen Geistern, vor allem mit St. Dymphna, passenderweise der Patronin der psychisch Kranken.
Nichts für Krimi-Puristen
Für Krimi-Puristen mag dieses Buch ein Albtraum sein. Da treten Geister auf und es werden Gläser gerückt. Das Haus spielt Maud immer wieder Hinweise zu, indem gerne einmal solange Vorräte aus den Regalen hüpfen, bis der Hinweis gefunden ist. Steckt im Kern des Buchs die Untersuchung eines möglichen Mordfalls, so würde ich Heilige und andere Tote dennoch nicht als Krimi klassifizieren.
Jess Kidd holt mit diesem Buch den (viktorianischen) Schauerroman ins 21. Jahrhundert. Ihr gelingt diese Neuinterpretation im Ganzen betrachtet doch recht solide. Schlägt das Buch im letzten Drittel die ein oder andere erzählerische Volte zu viel und wirkt zum Schluss hin etwas gehetzt und überfrachtet, so ist Heilige und andere Tote in der übergeordneten Betrachtung doch ein ebenso ungewöhnlicher wie kreativer Roman.
Dieses Buch steckt so voller exzentrischer Gestalten, wie Bridlemere von Plunder und Abfall vollgeramscht ist. Man muss sich hineinwagen, in dieses erzählerische Haus, macht aber dann auch auf alle Fälle die ein oder andere besondere Entdeckung. Definitiv eine ungewöhnliche Lektüre, an der sich bestimmt auch die ein oder anderen Geister scheiden.
Bei Ian McGuire wird es in Nordwasser im wahrsten Sinne des Wortes schmutzig. Ein dunkler, ein derber und ein brutal guter Thriller rund um eine Expedition ins gefährliche Nordwasser.
Dabei fokussiert sich Ian McGuire in seinem Roman auf zwei gegensätzliche Charaktere, die sein Buch tragen. Da ist zum Einen der Harpunier Drax, ein Mann ohne Moral oder Gewissen. Seinen Gegenpart bildet der irische Arzt Sumner, der aus Verlegenheit als Schiffsarzt zur Nordwasser-Expedition dazustößt. Er trägt besonders an einem Geheimnis aus seiner Vergangenheit, das mit der Besatzungszeit durch das englische Empire in Delhi zusammenhängt.
Vom Nordwasser zum Mordwasser
Geheimnisse, brutale Draufgänger, das Schiff als begrenzte Bühne, auf der die Charaktere aueinanderprallen. Schon in der Anlage ist Nordwasser sehr stark und verspricht einiges an Spannung, was das Buch dann auch tatsächlich einzulösen vermag.
Geschickt schafft es Ian McGuire, die brodelnde Atmosphäre auf dem Schiff in Worte zu fassen. Unter Leitung von Kapitän Brownlee wird das Nordwasser nämlich schnell zum Mordwasser (ein Kalauer pro Rezension sei mir erlaubt …). Nicht nur Robben und Wale werden nämlich von den Männern des Profits wegen abgeschlachtet. Auch bald findet sich die Leiche eines Schiffsjungen an Bord. Sumner beginnt nachzuforschen, wer den brutalen Mord an dem Jungen begangen hat.
So reichert der britische Schriftsteller seine dichten Schilderungen des Lebens an Bord und der Waljagd zusätzlich noch mit einem Whodunnit-Krimiplot an. Gerät ihm die Einführung seiner Figur Drax für meinen Geschmack zu plakativ, so findet McGuire schon bald in besseres Fahrwasser und entwickelt kontinuierlich seinen Plot und seine Figuren mit ihren Abgründen. Dabei funktioniert Nordwasser auch besonders über die Körperlichkeit.
Das Gegenteil von Sauber
Ian McGuire pflegt in Nordwasser keine klinisch-reines Grundattitüde, um es vorsichtig auszudrücken. Der Leser wird mit Unmengen von Blut, erschlagene Tiere, Scheiße, heimtückischen Morden, Ausschlag und diversen körperlichen Versehrungen konfrontiert. Nordwasser ist Survival of the fittest in Reinform.
Zartbesaitete Leser mögen sich mit Grausen abwenden oder argumentieren, dass alles ja so schmutzig und unappetitlich sei. Ich möchte dem entgegenhalten, dass diese Erzählung allerdings nur so funktionieren kann und muss. Der von McGuire so gebaute Erzählrahmen folgt dem Gesetz der Authentizität und bedarf genau deshalb dieser Schmutzigkeit auf allen Ebenen. Kategorien wie Sauberkeit oder ästhetische Schönheit in puncto Handlung und Plot sind bei diesem Thema fehl am Platz – diese bei Nordwasser einzufordern wäre lächerlich und deplaziert. Stattdessen macht dieser Thriller wieder sinnlich erfahrbar, wie es damals an Bord eines Walfängers und im Eis der Antarktis gewesen sein muss.
Dieses Aufrufen der Bilder und die geradezu atemlose Handlung, die in ihren Bann zieht – das ist großartig gelungen. Das Buch steht für mich in einer Reihe der großen Abenteuerliteratur. Die deutlichsten Brüder im Geiste sind Das Herz der Finsternis von Joseph Conrad oder (natürlich) Moby Dick von Herman Melville. Aber auch die Erinnerungen Heute dreimal ins Polarmeer gefallen von Arthur Conan Doyle standen mir beim Lesen deutlich vor Augen. Auch die Jury des Booker-Preises sah das so. Sie nominierte 2016 das Buch für den Preis.
Ein Lob sei an dieser Stelle auch an den Übersetzer Joachim Körber ausgesprochen. Ihm gelingt es, die derbe Sprache, das nautische Vokabular und die großen szenischen Bilder, die McGuire entwirft, gut ins Deutsche zu übertragen, ohne dass viel vom Sound verlorengeht. Sicherlich keine ganz leichte Aufgabe, die der Übersetzer aber sehr gut gemeistert hat.
Nordwasser ist ein waschechter Abenteuerroman, eine hochspannende Jagd nach Walen und letztendlich auch nach Erlösung, sowie das Duell zweier ungleicher Männer. Nordwasser ist wunderbar altmodisch und zugleich hochaktuell. Ian McGuire ist damit ein echtes Kunststück gelungen!
Der Berliner Verlag Matthes und Seitz macht es mit seiner Neuauflage von Vera Brittains Memoir Vermächtnis einer Jugend möglich: die Wiederentdeckung eines faszinierenden Buches und einer nicht minder faszinierenden Frau, die heute schon wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist.
Zwar ziert in Hamburg und Berlin-Mitte zwei prominente Plätze der Name Vera Brittains, doch ihr Werk und ihre Mission verdienen eigentlich mehr. Mehr als zwei Schilder mit rudimentären Informationen über diese außergewöhnliche Frau. Denn in ihrer packenden Autobiographie erzählt Brittain von dem, was Kriege für die Menschen bedeuten, wirbt energisch für den Frieden und erzählt vom Kampf für Frauenrechte.
Zusammen mit ihrem Bruder Edward wächst Brittain Ende des 19. Jahrhunderts im ländlichen England wohlbehütet auf. In puncto Bildung fällt schon bald das Talent des Mädchens auf, und so schafft sie es bis nach Oxford, wo sie Englische Literatur am Mädchencollege zu studieren beginnt. Doch das Weltgeschehen jener Tage wirkt sich auch ins Privatleben von Vera Brittain aus.
Nachdem 1914 in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet wurde, entzündet sich das Pulverfaß Balkan mit den bekannten Konsequenzen. Nacheinander treten die Nationen Europas in das ein, was als Großer Krieg bezeichnet wird (wer sollte ahnen, dass wenige Jahre später ein noch brutalerer Krieg folgen sollte?). Auch England greift im August 1914 per Kriegserklärung ins Kriegsgeschehen ein, nachdem Belgien gemäß dem Schlieffen-Plan angegriffen und besetzt wurde. Großbritannien betrachtet sich als Schutzmacht Belgiens und wird nun so in den Krieg involviert, was anfangs durchaus noch begrüßt wurde.
Engagement im Ersten Weltkrieg
Denn zunächst herrscht allenorten noch viel Enthusiasmus, erwartet man doch ein schnelles Ende des Kriegs. Auf deutscher Seite kursiert der bekannte Schlachtruf, der auch auf der nebenstehenden Postkarte verewigt ist: Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit, jeder Klapps ein Japs.
Mit großer Begeisterung und Kriegsgeheul stürzt man sich in die Schlacht. Auch auf der Insel war die Lage zu Kriegsbeginn von einer ähnlichen Euphorie geprägt. Zahlreiche junge Männer melden sich zum Militär, darunter auch Vera Brittains Bruder und ihr baldiger Verlobter Roland Leighton. Diesem Engagement will Vera nicht nachstehen und meldet sich als sogenannte VAD (Voluntary Aid Detachment) für den freiwilligen Hilfsdienst an der Heimatfront.
Als Krankenschwester ist sie für die Versorgung und Pflege der an der Front verletzten Soldaten zuständig. Doch die beginnende Euphorie wandelt sich schnell mit zunehmender Dauer und den damit einhergehenden Verlusten an der Front. Besonders der Einsatz ihres Verlobten und ihres Bruders in diesem Krieg strapaziert die Nerven und sorgte für eine ständige Belastung. Sie konstatiert:
Die Welt war aus den Fugen und wir alle waren die Opfer; anders konnte man es nicht sehen. Diese vernichteten, sterbenden jungen Männer bezahlten genauso wie ich für eine Situation, die weder sie noch ich herbeigesehnt oder auf irgendeine Weise herbeigeführt hatten. Ich dachte an ein Gedicht mit dem Titel „An Deutschland“, das ich irgendwo gelesen hatte, es fasst den in mir aufkeimenden Gedanken in Worte. Später erfuhr ich, dass es von Charles Hamilton Sorley stammte, der 1915 gefallen war:
Ihr saht nur eurer Zukunft großen Plan
und wir nur unser enges Hirngewinde,
und jeder wehrt des anden liebstem Wahn
voll Hass. Also bekämpfen Blinde Blinde.
Brittain, Vera: Vermächtnis einer Jugend, S. 309 f.
Die Erfahrung des allgegenwärtigen Leids
In den Schilderungen der psychischen Belastung und dem emotionalen Druck, dem sich Brittain stellvertretend für tausende junger Mensch ausgesetzt sah, ist dieses Buch unglaublich beeindruckend. In mehreren Passagen droht der Atem zu stocken, gerade wenn sie lapidar Ereignisse von größter Wucht schildert, die man kaum zu verarbeiten vermag.
Die Tätigkeit als eigentlich ungelernte Hilfskrankenschwester, die unter der Schikane von Vorgesetzten und dem unentrinnbaren Leid litt, vermittelt Vera Brittain ungeschönt und sehr direkt. Auch wenn der Erste Weltkrieg nun genau 100 Jahre zurückliegen mag – das Leid wird mit dieser Lektüre wieder plastisch erfahrbar. Sie nimmt die Leser mit in Krankenstationen und auf die Schlachtfelder, die zur Todesstätte von hunderttausenden jungen Menschen wurden. Ein besonderes Augenmerkt gilt Vera Brittain dabei der Yper-Schlacht und der Passchendaele-Schlacht, bei der auch ihr Bruder involviert war. Dort rieben sich deutsche und alliierte Truppen auf, ohne dass sich in diesem Stellungskrieg wirkliche Landgewinne oder taktische Vorteile ergeben hätten. So lautet hier das Urteil der Autobiographin:
Zwischen 1914 und 1919 haben sich junge Männer und Frauen, bestürzend reinen Herzens und naiv für die Eigeninteressen der Älteren und der zynischen Ausbeutung, immer wieder – wie ich an jenem Morgen in Boulogne – einer Sache verpflichtet, die sie anfangs für edel und gut hielten und an die sie auch später lange glauben wollten. Je „fadenscheiniger“ der Patriotismus wurde, je mehr Argwohn und Zweifel sich einzuschleichen begannen, umso inbrünstiger und häufiger wurden die periodischen Neu-Verpflichtungen, umso beharrlicher die Selbstbeschwörung, dass unsere Sache gerecht sei und unser Beitrag frei von selbstsüchtigen Interessen.
Brittain, Vera: Vermächtnis einer Jugend, S. 304
Aus Schaden wird man doch nicht klüger
Gewalt gebiert Gewalt, und Krieg wird immer wieder nur wieder neuen Krieg hervorrufen. Diese Erkenntnis ist ja nicht neu, schon der griechische Dramatiker Ayschylos thematisierte das in seinem Dramenreigen Die Orestie 500 vor Christus. Doch auch 2414 Jahre später ist dieser Gedanke immer noch vital und gültig. Dies zeigen auch die Erinnerungen von Vera Brittain ganz klar.
Die Britin illustriert eindrucksvoll, wie der Kriegseintritt Großbritanniens die Lage keinesfalls befriedete, sondern immer noch mehr anheizte. Sie schildert das Leid, das auf beiden Seiten der Frontlinie unfasslich groß war und zeigt, wie eine ganze Generation junger Menschen ihr Leben gab. Und das im Endeffekt für Nichts und wieder Nichts.
Denn nach Ende des Großen Kriegs beginnt sie im Auftrag des Völkerbundes Vorträge zu halten und England zu bereisen. Sie kommt in diesem Zuge auch nach Deutschland, wo sie feststellt, dass auch hier das Leid allgegenwärtig ist. Wirklichen Gewinn hat der Krieg allein den Spekulanten, Kriegstreibern und Großindustriellen gebracht, die am Krieg und Leid mitverdient haben. Den einfachen Menschen hat der Krieg nur Verluste beschert.
Logisch lässt sich aus diesen Erlebnissen und den Schilderungen in Vermächtnis einer Jugend Vera Brittains Engagement für mehr Pazifismus ableiten. Ihr unermüdliches Werben um Friede und Verzeihen unter persönlicher Belastung beeindruckt.
Doch bitter auch die Erkenntnis, dass man aus Schaden doch offensichtlich nicht klug wird. Denn fünfzehn Jahre später nach dem verlustreichen Frieden von Compiègne überzieht ja schon der nächste, noch blutigere Krieg Europa. Gewalt gebiert eben doch nur Gewalt.
Für Vera Brittain muss dies persönlich, ihrem Memoir nach zu urteilen, eine Niederlage ohnesgleichen gewesen sein. Denn ihre Mission für Frieden und Abrüstung konnte man nur als gescheitert betrachten.
Vera Brittains Kämpfe
Andere Kämpfe hingegen waren für Vera Brittain erfolgreicher. So schafft sie es in einem Umfeld, das Frauen gerne niedrig hielt, ihren Bildungsabschluss in Oxford zu erlangen. Sie setzt sich für Frauenrechte ein und macht die Bekanntschaft mit einigen Vordenkerinnen. Besonders mit ihrer Freundin Winifred verband Vera Brittain eine innige Freundschaft. Diese Freundschaft half ihr auch dabei, die Wunden, die der Erste Weltkrieg in ihr geschlagen hatte, wenigstens ein wenig zu mildern.
Ein weiteres Heilmittel, das sich auch in der Gestaltung von Vermächtnis einer Jugend niederschlägt, ist die Lyrik. Diese spielt für Vera eine wichtige Rolle. Ihr Verlobter Roland dichtet genauso wie ihr Bruder und sie selbst. Die 13 Kapitel, die die chonologische Ordnung des Buchs ergeben, werden stets mit einem Gedicht eingeleitet. Diese hat Hans-Ulrich Möhring ins Deutsche übertragen, wofür ihm Respekt gebührt. Die lyrische Übertragung funktioniert beeindruckend gut. Doch nicht weniger Respekt muss auch Ebba D. Drolshagen gezollt werden. Sie hat die knapp 500 Seiten Autobiographie wunderbar übersetzt. Zudem steuert sie auch noch ein Nachwort bei, dass die Lektüre abrundet. So wird nicht nur die persönliche Sicht Vera Brittains sondern auch ein objektiverer Blick auf ihr Leben möglich.
Doch was bleibt von einem solchen Leben, solchen Erlebnissen und einem solchen Engagement gegen Krieg und Gewalt? Vera Brittain selbst findet in ihrem Memoir zu folgendem, analytischen Schluss:
Ich hatte endlich die Bitterkeit darüber abgelegt, mein halbes Leben lang immer wieder in der Freiheit beschnitten worden zu sein, zu arbeiten und Neues zu schaffen. Ich begann zu begreifen, dass diese alten Feinde und mein Kampf gegen sie mein Leben seiner Mittelmäßigkeit enthoben, ihm Glanz verliehen, es lebenswert machten; Menschen, denen das Schicksal zu viel abverlangt, sind um so viel vitaler als jene, denen es zu wenig abfordert. In gewisser Weise war ich mein Krieg, und mein Krieg war ich, ohne ihn täte ich nichts und wäre nichts
Brittain, Vera: Vermächtnis einer Jugend, S. 505
Unbedingt wieder neu zu entdecken: Vera Brittain
Vermächtnis einer Jugend ist ein Manifest: eines, das die Gräuel des Kriegs beschreibt und eindringlich für Frieden wirbt, ein Manifest für Bildung und genauso ein Weckruf für Frauenrechte und eine Anerkennung ihrer Stellung und Verdienste.
Mag das Buch in Großbritannien ein Verkaufsschlager (gewesen) und auch für die Leinwand adaptiert worden sein – hier in Deutschland würde Vera Brittain etwas mehr Ruhm guttun. Man kann nur hoffen, dass diese Neuauflage der Autobiographie dazu führt, dass Vera Brittain vielfach gelesen wird. Ihre Verdienste sollten nicht vergessen werden.
Hier gilt es schließlich wieder, eine außergewöhnliche Frau zu entdecken, die uns immer noch viel zu sagen hat!
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