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Benjamin Myers – Offene See

Der Regen war noch viele Meilen entfernt, doch hier im Garten war es plötzlich ruhig und auffallend still geworden. Kein Vogelrufe. Kein fernes Hundegebell. Der Muskel in meinem Hals pochte mit einem fast elektrisierenden Pulsschlag. […]

Da draußen ist die offene See“, sagte Dulcie leise.

Ich stieg vom Sessel. Sie deutete die Wildwiese hinunter.

„Dieser ferne Streifen Meer, wo Himmel und Wasser eins werden.“

Myers, Benjamin: Offene See, S. 118 f.

Wenn ein Entwicklungsroman auf Nature Writing trifft, wenn der Rückzug in die Natur mit einer Mannwerdung verschmilzt, dann kommt so etwas wie Benjamin Myers Offene See heraus. Ein Buch, das die unberührte Natur, Bildung und Lyrik feiert.


Die offene See. Sie ist das, was Robert Appleyard antreibt. Die letzten Prüfungen in der Schule sind geschrieben und schon bald dräut die Arbeit unter Tage. Denn wir befinden uns in Großbritannien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kohleflöze werden nach wie vor abgebaut, Generationen von Männer fahren ein, um wie ihre Vorfahren der Erde Kohle abzuringen. Doch das ist nicht das, was Robert vorschwebt.

Der Sechzehnjährige ist in seiner Liebe zur Natur entflammt. Stundenlang durchmisst er Wälder, wandert und hält sich am liebsten unter dem freien Himmel auf. Die freie Zeit vor seinem Arbeitseintritt will der Junge nutzen, um auf Grand Tour zu gehen und das Meer zu sehen. Und so begibt sich Robert auf eine Wanderung, die Myers im Stile eines Joseph von Eichendorffs inszeniert. Sprudelnde Bäche, Frühlingslandschaft, Entgrenzung pur. Würde aus der Ferne ein Posthorn schallen, man könnte glauben, die Epoche der Romantik würde hier immer noch andauern.

Natur, Rückzug und Freundschaft

Doch wie es so mit dem Wandern ist – auch Unerwartetes tut sich manchmal am Wegesrand auf. Im Falle von Roberts Wanderschaft ist das ein versteckt liegendes Cottage, das er in Küstennähe entdeckt.

Der Weg endete neben dem Cottage, hinter dem nur noch ein Dschungel aus Buschwerk wucherte. Vor dem Haus konnte ich einen Garten sehen, der aus einer kleinen Terrasse mit rissigen Pflastersteinen, einem Rasen und einem Gemüsebeet umgeben von Blumenrabatten bestand. Ringsherum war ein schieferweiß gestrichener Holzzaun, dem die Salzluft arg zugesetzt hatte, denn der Lack warf Blasen, bätterte ab und war stellenweise abgeplatzt.

Der Garten war eine halb kolonisierte Ecke in einer wilden, abfallenden Wiese, die den Blick zum gut eine Meile entfernten Meer lenkte. Die Hecken und Bäume zu beiden Seiten umrahmten die Aussicht wie der Motivsucher eines romantischen Malers.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 34

Immerhin weiß Benjamin Myers selbst recht gut, in welcher Tradition seine Prosa steht. Durch und durch romantisch fängt er die Landschaft ein und inszeniert seine Szenerie im Stile eines Landschaftsmalers á la John Constable. Man könnte dem Autor natürlich Eskapismus, Süßlichkeit oder Kitsch vorwerfen. Aber er belässt es nicht alleine im Feiern der Schönheit unzerstörter Natur und Romantik. Denn durch die Bewohnerin jenes oben beschriebenen Cottages findet nun eine weitere Ebene ins Buch hinein.

In Dulcie jubilo

Die Cottage-Bewohnerin trägt den Namen Dulcie und übt schon ab der erstern Begegnung eine große Faszination auf Robert aus. Zusammen mit ihrem Schäferhund Butters lebt die ältere Dame nahezu autark in ihrem Cottage, umgeben von anderswo rationierten Köstlichkeiten und Büchern.

Die Begegnung mit ihr erweist sich als Glücksfall für Robert. Denn was als zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich im Lauf des Buchs zu einer bereichernden Freundschaft. Dulcie ist weltgewandt, hat einen eigenen Kopf und weckt in Robert die Liebe zur Literatur. Die alte Dame entpuppt sich als humanistische Aufklärerin im besten Sinne, die Robert zu eigenständigem Denken herausfordert. So findet der Junge auch zu seiner Liebe für Lyrik. Eine Liebe, die sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen soll.

Offene See ist ein Buch, das die Natur und die Lyrik auf sehr direkte Art und Weise feiert. Das sollte beim Blick auf die Vita Benjamin Myers auch nicht überraschen. Denn Myers schreibt nicht nur Lyrik, sondern auch Sachbüchern, in denen er sich mit Themen rund um die Natur und Landschaften beschäftigt. Mit dem Vorgängertitel errang Myers auch den Roger-Deakin-Award, der sich zeitlebens ja ebenfalls dem Nature Writing widmete.

Sprachliche Mängel

Für mich bleibt nur die Frage bestehen, warum sich ein Lyriker und gefeierter Schriftststeller dann trotz aller unbestrittenen Qualität solche Ausrutscher erlaubt, wie sie immer wieder im Buch zu beobachten sind.

Wenn die Müdigkeit mich überkam, verbrachte ich die Nacht in Scheunen und Schuppen und längst verlassenen Wohnwagen, und mehrmals schlief ich den Schlaf des Gerechten eingezwängt zwischen dichten Heckenwänden aus Brombeersträuchern und Stechpalmen, die vielleicht schon seit dem Mittelalter hier wuchsen, drei Meter hoch und so undurchdringlich wie die Stacheldrahtrollen in Bergen-Belsen.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 22

Warum es hier einen KZ-Vergleich braucht, um eine Hecke zu beschreiben, will mir nicht in den Kopf (natürlich spielt das Buch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dennoch ist so ein Vergleich für mich reichlich unmotiviert und deplatziert).

Oder eine andere Stelle, an werden ich Ich-Erzähler „die Augen wieder schwer“ (S. 98). Schwere Augenlider kenne ich, schwere Augen hingegen nicht – oder vielleicht ist das der Claus-Kleber-Effekt, den Myers hier beschreibt?

Aber Spaß beiseite, solche sprachlichen Schludereien finde ich etwas irritierend, wenn weiter hinten im Buch dann sprachlich so viel sensiblere Lyrik präsentiert wird, die großes Sprachvermögen zeigt. Für die Übersetzung zeichnen sich Ulrike Wasel und Klaus Timmermann verantwortlich, die in meinen (nicht schweren) Augen ihre Sache eigentlich sehr gut machen.

Fazit

In Offene See inszeniert Benjamin Myers die Natur schwelgerisch, manchmal ganz knapp am Kitsch vorbei, manchmal auch leicht darüber. Mit seinem ungewöhnlichen Duo Robert und Dulcie stellt er dem romantischen Natur-Überschwang auch Elemente des klassischen Bildungsroman entgegen und kontrastiert sein Buch so auf reizvolle Art und Weise.

Wenn man bereit ist, einige sprachliche Schludereien oder Ausrutscher in Kauf zu nehmen, bekommt man hier ein berührendes Buch zu lesen, das den Hohegesang auf Kultur und Bildung anstimmt und das ein England heraufbeschwört, das dem heutigen Brexit-Land so fern erscheint wie Dulcies Cottage der Zivilisation. Zudem ausnehmend schön gestaltet!

John Meade Falkner – Moonfleet

Der Dezember wird immer mehr zu meinem Klassikermonat. Nach di Lampedusas Der Leopard und Kästners Drei Männer im Schnee gibt es nun einen britischen Klassiker. John Meade Falkners Roman Moonfleet entführt in ein kleines Dorf an der südenglischen Küste. Darin beschwört er eine Zeit herauf, als noch Schoner und Schmuggler vor der Küste kreuzten. Ein Buch, das auch nach über 120 Jahren seit Erscheinen nichts an Tempo, Action und Abenteuer eingebüßt hat. Genau das Richtige für die Weihnachtsfeiertage, um sich auf eine nostalgische Reise ins 19. Jahrhundert zu begeben.


Ursprünglich erschien Falkners Buch im Jahr 1898. Es ist das mittlere von insgesamt drei Werken, die John Meade Falkner zeitlebens verfasste. Neben den zwei anderen Romanen schrieb er um die Jahrhundertwende auch Handbücher über die Landschaften in Oxfordshire und Berkshire sowie Gedichte, die posthum veröffentlicht wurden. Sein berühmtestes Buch ist aber zweifelsohne Moonfleet, das als Klassiker der Abenteuerliteratur gilt. Dass die Popularität und Faszination ungebrochen ist, das zeigt nicht zuletzt auch eine Verfilmung als Miniserie, die im Jahr 2013 ausgestrahlt wurde.

Im Deutschen existieren auch zahlreiche Ausgaben dieses Werks. Unter anderem erschien 1995 das Buch in der ungekürzten Neuübersetzung durch Oliver Koch in der Reihe Bibliothek der klassischen Abenteuerromane. Andere Autoren, die in dieser vergriffenen Bibliothek versammelt wurden, waren beispielsweise Wilkie Collins und Alexandre Dumas.

Auch der Münchner Kleinverlag Liebeskind nahm sich (zum Glück!) dieses Buchs an. In der Übersetzung von Michael Kleeberg erschien Moonfleet hier im Jahr 2016 und ist auch noch im Buchhandel lieferbar. Ein Glücksfall, wie ich finde, denn das Buch bietet jede Menge nostalgischer Unterhaltung, die an Klassiker des Genres wie etwa Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel erinnert.

Auf der Jagd nach Blackbeards Schatz

Ausgangspunkt der Geschichte ist das Dörfchen Moonfleet, in dem der junge John Trenchard lebt. Dieser erzählt uns als Leser*innen aus der Ich-Perspektive seine unglaubliche Geschichte.

Dort in Moonfleet wächst Trenchard bei seiner Tante auf, der er mit seinem verträumten Wesen ein Dorn im Auge ist. Am liebsten verbringt er die Tage mit dem Beobachten des Meeres. Doch nicht nur er interessiert sich sehr für das maritime Leben vor der Küste Dorsets. Auch der Großteil der übrigen Bevölkerung schaut genau hinaus auf Meer – denn Moonfleet ist ein Schmugglernest. Von der anderen Seite des Ärmelkanals bringen die Schmuggler in Nacht-und-Nebel-Aktionen Güter wie etwa Fässer voller Alkohol in die Verstecke auf der englischen Seite. Dabei ist sehr viel Vorsicht geboten – denn nicht nur die Obrigkeit versucht, die Schmuggler festzusetzen. Auch die Strömungen vor der Küste sind höchst tückisch. Immer wieder erleiden Schoner dort Schiffbruch und werden dann von der lokalen Bevölkerung geplündert.

Dabei ist dieses kriminelle Verhalten schon fast eingeschrieben in die DNA der Bevölkerung von Moonfleet. Denn einer der Vorfahren der lokalen Lehnsherren soll der legendäre Freibeuter Blackbeard gewesen sein. Jener Blackbeard versteckte vor seinem Ableben einen Diamanten irgendwo in der Gegend. Diese Legende beschäftigt nach wie vor die Einwohner*innen – allen voran natürlich John mit seiner lebhaften Fantasie. Er will den sagenumwobenen Diamanten unbedingt aufspüren. Dass auf dem Edelstein der Legende nach ein Fluch liegen soll, hindert den jungen Mann nicht.

Seine Suche nach dem Diamanten löst ein turbulentes Abenteuer aus, das zu einer gefahrenvollen Schatzsuche wird – Überfälle, Flucht, Verstecke etc. inklusive. Falkner bietet in seinem Buch alles auf und schickt John Trenchard und seinen Ziehvater, den Schmuggler Elzevir Block, auf eine ebenso temporeiche wie turbulente Reise.

Maritime Schatzsuche wie aus dem Bilderbuch

Ein Diamant, auf dem ein Fluch lastet. Ein Versteck, das noch niemand gefunden hat. Das gefährliche Schmugglerleben. Ein mit allen Wassern gewaschener Schmuggler, der John unter seine Fittiche nimmt. Verrauchte Dorfgasthäuser, in denen der Gin und die Legenden zirkulieren. All das sind natürlich Zutaten für eine Abenteuergeschichte wie aus dem Bilderbuch. Falkner erzählt sie in einem gelungenen Ton aus jugendlich-naiver Schilderung und Rückblenden eines erwachsenen Mannes. Die Kapitel tragen dabei sprechende Namen (Die Springflut, Die Flucht etc.).

Auch nach über 120 Jahren besitzt dieses Buch einen Drive und eine Erzählkraft, die zeitlos ist. Falkner treibt seine Handlung immer wieder voran, hält mit erzählerischen Kniffen das Tempo hoch und schildert plastisch das Treiben in Moonfleet. Dass dabei das Rollenbild natürlich auch ebenso historisch ist, sollte niemanden verwundern.

Frauen existieren in dieser Welt kaum, es sind im Buch eigentlich nur zwei relevante Figuren, die Johns Welt bevölkern. Die eine Frau ist seine Angebetete (und natürlich schutzbedürftig und dem Helden erlegen), die andere ein wahrer Hausdrachen, die als Ziehtante John mit frömmelnden Traktaten und Vorwürfen überzieht.

Die wirkliche Mutter findet er vielmehr in der Gestalt des Schmugglers Elzevir, der sich des Jungen annimmt. Diese Beziehung schildert Falkner auch sehr emotional und fürsorglich. Ein Kontrast zu der sonstigen Handlung, bei der John schon einmal in bester Rambo-Manier durch einen Fensterladen eines Hauses bricht.

Fazit

Insgesamt ist Moonfleet ein absolut stimmiges Buch, das einen in seine Kindheit zurückversetzt, in der man gerne noch Pirat war und mit Jim Hawkins und Konsorten durch Bücher wie die Schatzinsel jagte. Ein in meinen Augen zeitloser Klassiker, dessen Neuauflage im Liebeskind-Verlag auf alle Fälle sinnvoll ist. Hier ist ein echter Abenteuer-Klassiker (wieder) zu entdecken!

Wie Phoenix aus der Asche

Die Brettspielereihe T.I.M.E. Stories

Am Anfang dieser Rezension spreche ich erst einmal eine Brettspiel-Empfehlung aus. Denn die Reihe der T.I.M.E.-Stories zählen zu dem Spannendsten, das ich seit langem auf meinem Spieletisch hatte. Die Kernidee dahinter: als Spieler ist man Mitglied der T.I.M.E. Agency und reist durch die Zeit. Dabei gilt es verschiedene Fälle zu lösen. Beispielsweise ist man in einer Nervenheilanstalt eingeschlossen und muss die mysteriösen Vorgänge hinter den dicken Mauern lösen. Oder man ist im Mittelalter zur Zeit der Inquisition unterwegs, muss 1992 eine amerikanische Kleinstadt vor einer Seuche retten, und und und. Jede der Erweiterungen erzählt eine völlig neue Geschichte. Dabei hat man in jedem Fall immer eine bestimmte Menge an Zeit zur Verfügung, um seine Ermittlungen durchzuführen. Jeder Mitspieler kann sich einen Wirt suchen, mit dessen Identität und Eigenschaften man die Ermittlungen durchführt. Im Normalfall ist eine Lösung des Falles vor Ablauf der Zeit nicht zu schaffen, aber dann startet man einfach noch einmal von vorne. Eventuell einen neuen Wirt aussuchen, die Erkenntnisse aus den vorherigen Durchläufen im Hinterkopf, dann ermittelt man weiter, bis eine Lösung gefunden ist.

Warum erzähle ich nun zu Beginn der Rezension von Stuart Turtons Die sieben Morde der Evelyn Hardcastle von diesem Spiel? Der Vergleich mit dieser Art von Spielemechanismus aus der T.I.M.E.s-Reihe liegt auf der Hand, wenn man sich anschaut, wie Turtons Debüt funktioniert. Denn zunächst wirkt alles noch wie bei einem klassischen britischen Landhaus-Krimi.

1 Mord, 8 Perspektiven, viele Verdächtige

Ein Mann erwacht mit Gedächtnisverlust in einem Wald, eilt zum nahegelegenen Herrenhaus und findet dort eine höchst verdächtige Personenansammlung vor. Er weiß etwas von einem Mord, der am Abend passieren wird. Doch alles wirkt etwas sonderlich. Immer wieder tauchen irritierende Details auf. So bekommt er Informationen von einer Frau namens Anna zugespielt, die ihm Hinweise zu Ereignissen zukommen lässt, die erst später eintreten werden. Alle Personen im Herrenhaus scheinen Geheimnisse zu haben, ein mysteriöser Lakai macht Jagd auf ihn. Und dann gibt es auch noch einen Pestdoktor, der dem Ich-Erzähler eine verstörende Wahrheit offenbar.

Fast könnte man glauben, dass man in ein Hasenloch wie in Alice im Wunderland gefallen ist. Denn der Ich-Erzähler, der sich als Arzt mit Amnesie herausstellt, ist nur einer von acht Figuren, denen man im Laufe des Buch begegnen wird. Alle sind für genau 24 Stunden ein Wirt, in dessen Identität der Held in Stuart Turtons Buch schlüpft. Wie Phoenix aus der Asche wird er immer wiedergeboren und bekommt eine neue Identität verpasst. Mithilfe der acht Perspektiven soll er den entscheidenden Mord an Evelyn Hardcastle aufklären. Wenn er die Beweise für den Mord an der Tochter der Herrenhausbesitzer erbringt, verspricht der mysteriöse Pestdoktor, ihn aus der Zeitschleife zu entlassen, in der er gefangen ist.

Wenn M.C. Escher Krimis bauen würde

Die sieben Morde der Evelyn Hardcastle (Übersetzung durch Dorothee Merkel) ist ein Krimi wie ein Gemälde von M.C. Escher. Ständig werden die Perspektiven durcheinander gewirbelt, wacht man wieder in einem neuen Körper auf, erhält neue Puzzlesteine für das Krimirätsel im Hause Hardcastle, das mindestens so verwinkelt ist, wie es die Räume des Herrenhauses sind. Das ist manchmal kompliziert bis anstrengend, dann aber auch immer wieder ein verblüffender Spaß, den man sich auch gut in der Form einer Fernsehserie vorstellen könnte.

Ein wirklich innovatives Krimirätsel, das durch seine acht Perspektiven immer wieder alles auf den Kopf stellt. Memento trifft Und täglich grüßt das Murmeltier trifft John Dickson Carr – einmal kräftig durchgewirbelt, und man erhält einen der außergewöhnlichsten Kriminalromane der jüngeren Vergangenheit.

Naomi Alderman – Die Lektionen

Manche Bücher finden auf verschlungenen Wegen zu mir. So traf ich auf Naomi Aldermans Roman Die Gabe auf dem Grund einer Grabbelkiste. Für den Betrag von einem Euro konnte ich so der neue Besitzer des Buchs werden. Alderman sorgte im letzten Jahr mit ihrem Roman Die Gabe für Aufsehen. Das Buch fand sich auf Bestsellerlisten, wurde mit vielen Artikeln bedacht und gewann den Baileys Women’s Prize for Fiction. Nur ich habe dieses Werk bis heute nicht gelesen.

Dafür widmete ich mich nun The Lessons, so der Titel des Buchs im Original. Übersetzt wurde das Buch von Christiane Buchner und es spielt in einem Milieu, in dem sich Alderman auskennt: nämlich an der Universität von Oxford. Im Original erschien das Buch 2010, 2012 lag es dann in deutscher Übersetzung vor.

Der Schauplatz Oxford und die Gestaltung sowie der Klappentext des Buchs legen gleich den Verdacht nahe: bei Die Lektionen handelt es sich um einen Campusroman. Das ist nicht wirklich falsch, aber auch nicht ganz zutreffend. Denn Aldermans Roman spielt nur zur Hälfte in Oxford, die zweite Hälfte des Buchs beschäftigt sich mit den Freundschaften, die in Oxford entstanden, sich nun aber teilweise weit von der einstigen Alma Mater entfernt haben.

Nicht immer wie aus dem Bilderbuch: Studieren in Oxford

Im Mittelpunkt steht der Erzähler James Stieff, der von großen Hoffnungen seiner Familie begleitet nach Oxford kommt. Dort muss er allerdings schon recht schnell feststellen, dass es in Oxford nie genügt, gut zu sein. Es geht immer darum, besser als die anderen zu sein. Ein Mensch, der sich diesem Druck nicht beugen will und durch seine Unangepasstheit fasziniert, das ist Mark. Reich, sexy, ein bisschen geheimnisumwittert – da ist es kein Wunder, dass auch James in den Dunstkreis von Mark gerät.

Freundschaften in Oxford

Zusammen mit weiteren Freunden beschließen sie, ein altes Haus im Besitz von Marks Familie zu bewohnen und dort eine WG zu gründen. Chronologisch nach Trimestern geordnet erzählt Alderman in der Folge von den Unternehmungen und Schwierigkeiten der Clique. Der besondere Schwerpunkt liegt dabei klar auf der Freundschaft von Mark und James, die komplex und kompliziert ist. Begehren, Abstoßung und Anziehung über das Ende von Oxford hinaus: als Leser ist man eng in die Freundschaft der beiden Männer eingebunden, die in ihrem Fortschreiten dann sogar etwas an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben erinnert.

DER Campusroman oder DER große literarische Wurf ist Die Lektionen nicht. Dazu ist die Sprache etwas zu gewöhnlich und auch die Figurenzeichnung generell etwas zu oberflächlich. Lediglich James und Mark bekommen so etwas wie Widersprüche und Tiefe verpasst, die restlichen Figuren bleiben Abziehbilder, die Handlung versumpft stellenweise, manchmal wirkt alles etwas bemüht oder unglaubwürdig.

Dennoch unterhält Aldermans zweiter Roman wirklich und ist zumindest partiell ein schöner (queerer) Campusroman, der sich dem Mythos Oxford auf lesenswerte Art und Weise nähert.

Wer Campusromane á la Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead oder Donna Tartts Eine geheime Geschichte mochte, der könnte auch hier zugreifen. Allerdings muss man dann eher bei Antiquariaten oder Wühltischen die Augen offen halten, denn das Buch ist im normalen Buchhandel nicht mehr lieferbar und nur noch aus zweiter Hand zu beziehen.

Roger Deakin – Wilde Wälder

Holz sieht sehr schön aus, Holz ist vielseitig

Du kannst es verbrennen, du kannst es sägen

Ja, wenn du es verbrennst, dann spendet es Wärme

Ich und mein, ich und mein Holz

Songtext „Holz“ der 257ers

Die einen widmen dem Holz ein Lied, die anderen schreiben Bücher über den Wunderstoff. Fällt die deutsche Band 257ers in die erste Kategorie, so ist der Brite Roger Deakin der zweiten Kategorie zuzuschlagen.

Im Jahr 2018 erschien nach dem Logbuch eines Schwimmers seine zweite Publikation in der Reihe Naturkunden des Berliner Verlags Matthes und Seitz. Tragischerweise konnte Roger Deakin diese Veröffentlichung selbst gar nicht mehr miterleben. Der Brite starb kurz nach der Vollendung des Manuskripts im Jahr 2006.

Das Buch versammelt Erinnerungen, Erlebnisse und Asssoziationen rund um das Thema Holz, das auf Deakin einen ganz eigenen Reiz ausübte. So stellt er im Vorwort seines Werks im Bezug auf sich selbst fest:

Ich bin ein Woodlander; in meinen Adern fließt Baumsaft.

Deakins, Roger: Wilde Wälder, S. 8

Diese Faszination für das Element Holz, sie trieb Deakin zeitlebens um. Eindrucksvoll legt er davon in seinem Buch Zeugnis ab. Ausgehend von seinem Zuhause in Suffolk nimmt Deakin die Leser*innen mit in die Welt der Bäume und Hölzer. Er gliedert sein Buch dabei in vier Teile. Deakin hat sie Wurzeln, Splintholz, Treibholz und Kernholz getauft.

Holz und Vorurteil

Ähnlich wie bei einem Baum beginnt auch bei Deakin alles mit den Wurzeln. Bei ihm ist jene Wurzel seine Heimat im englischen Landstrich Suffolk. Von dort treibt ihn seine Faszination immer wieder und immer weiter aus. Zunächst spürt er dem Holz und den Menschen in seiner englischen Umgebung nach, neugierig, ohne ideologische Scheuklappen. Holz und Vorurteil quasi, könnte man unter Verballhornung eines anderen englischen Klassikers sagen.

Holzskulptur von David Nash

Er besucht eine Furnier-Werkstatt in Coventry, in der die Furniere für die Innenausstattung von Jaguaren zurechtgeschnitten werden. Er betätigt sich als Kulturhistoriker und beschreibt die Tradition des Gallapfeltages, eines Tags, an dem seit dem Mittelalter der Bevölkerung eines Dorfs erlaubt wurde, in den Wäldern Feuerholz zu sammeln. Er besucht den Künstler David Nash, der Holz als Werkstoff für seine Skulpturen und Installationen ganz neu definiert. Über all diese Ausflüge und Beschreibungen bekommt man hier schon einen Eindruck, welche Bedeutung Holz nicht nur für die englische Bevölkerung stets hatte und hat.

Zudem zitiert Deakin in seinen Reportagen und Texten auch immer wieder berühmte Dichter und Denker und zeigt, wie auch in deren Schaffen das Holz Einzug hielt. So finden sich Zitate von Shakespeare, Jonathan Swift bis hin zu Thomas Hardys Roman Die Woodlanders, der einen großen Einfluss auf Roger Deakin ausübte.

Immer weiter treiben ihn seine Erkundungen zum Thema Holz hinaus. Im Kapitel Treibholz ist es schließlich sogar Kirgistan, wohin es den Abenteurer verschlägt. Dort begibt er sich auf die Spur alter Walnussbäumen. In anderen Texten informiert er über die Ursprünge der Äpfel, reist mit Freunden in die Karpaten und Pyrenäen. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den facettenreichen Erkundungen, an denen er die Leser*innen teilhaben lässt.

Eine Hymne auf das Holz

Wilde Wälder (übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers) ist eine vielstimmige Hymne auf den Stoff Holz, den Edward Thomas einst das fünfte Element nannte. Durch sein Buch ruft Roger Deakin wieder eindrücklich ins Bewusstsein, was Holz eigentlich bedeutet. Aus ihm entstehen Behausungen, es spendet Kraft und Ruhe, Bäume bedeuten Nahrungen, Arbeit und Leben – und nicht zuletzt sind sie Grundlage unseres ganzen Ökosystems. Dafür sensibilisiert Wilde Wälder, wobei man Deakin dabei auch die ein odere andere Abschweifung zu viel gerne nachsieht.

Neben dem Farbschnitt und dem passenden Umschlag wird das Buch auch nicht zuletzt durch einen tollen gestalterischen Kniff aufgewertet: vor jedem neuen Kapitel ist der gerade passende dendrochronologische Baumschnitt gesetzt. So sieht man die Kambiumsschichten von Ulme, Berg-Ahorn, Buche oder einer echten Feige. Eine stimmige Gestaltungsidee, die das Buch abrundet und eine sinnige Fortführung von Text und Bild darstellt. Typisch Naturkunden eben.