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Claire Keegan – Das dritte Licht

Dass man mit kleinen Geschichten maximale Wirkung erzielen kann, das stellt Claire Keegan immer wieder unter Beweis. So gelang ihr mit Kleine Dinge wie diese eine großartige Weihnachtsfabel in Dicken’scher Tradition. Eine Erzählung, die zwar zu einer kalte Zeit in Irland spielt, die aber dennoch einen hell lodernden humanistischen Glutkern besitzt, wie ich in meiner Besprechung zum wenig später für den Booker-Prize nominierten Roman schrieb. Und auch in der ursprünglich 210 beziehungsweise in deutscher Übersetzung 2013 erschienenen Erzählung Das dritte Licht kann man dies mustergültig beobachten.

Nun lässt sich der Text in einer überarbeiteten Version und dementsprechend auch angepassten Übersetzung von Hans-Christian Oeser noch einmal entdecken.


Der Steidl-Verlag und der Übersetzer Hans-Christian Oeser haben unzweifelhaft ein Gespür für großartige irische Literatur. So gab es zuletzt von dort die bemerkenswerte Lebensgeschichte Annie Dunnes zu lesen, die Sebastian Barry in seinem Roman erzählt. Dort bekommt es die widerspenstige Annie überraschend mit zwei Kindern zu tun, die sie auf dem gemeinsamen Hof in den irischen Wicklows mit ihrer Cousine beaufsichtigen und hüten muss.

Das dritte Licht von Claire Keegan spielt von dort nur gute hundert Kilometer südlich entfernt und weist eine ähnliche Konstruktion auf, obgleich alles hier noch konzentrierter und noch kondensierter ist.

An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wo die Leute meiner Mutter herkommen. Es ist ein heißer Tag, strahlend hell, mit Mustern aus Schatten und jähem grünlichem Licht entlang der Straße. Wir fahren durch das Dorf Shillelagh, wo mein Vater bei einer Partie Forty Five unser rotes Kurzhornrind verloren hat, dann am Viehmarkt von Carnew vorbei, wo der Mann, der die Färse gewonnen hat, sie kurze Zeit später wieder verkaufte. Mein Vater wirft seinen Hut auf den Beifahrersitz, kurbelt das Fenster herunter und raucht. Ich schüttele mir die Zöpfe aus dem Haar, strecke mich auf der Rückbank aus und schaue aus dem Heckfenster.

Claire Keegan – Das dritte Licht, S. 7

So beginnt die Erzählung der namenlosen Heldin, die von ihrem Vater zur Verwandtschaft, den Kinsellas, dort in den Südosten Irlands gebracht wird. Die Mutter daheim erwartet wieder Nachwuchs und ist bestrebt, die Anzahl hungriger Münder zuhause zu reduzieren, während sie kurz vor der Niederkunft steht. Deshalb wird die Erzählerin zur kinderlosen Verwandtschaft gebracht, wo sie dort auf dem Hof von Mr. Kinsella und Mrs. Kinsella betreut und beaufsichtigt werden soll.

Ein Sommer in Wexford

Es ist eine Aufgabe, die alle Beteiligten nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten gerne annehmen. Mr. Kinsella lässt das Mädchen zum Briefkasten rennen und stoppt die Zeit, Mrs. Kinsella stattet das Kind neu aus und bindet es in die Tätigkeiten im Haushalt und auf dem Hof mit ein, man holt Wasser aus dem Brunnen, besucht eine Totenwache und hält es gut miteinander aus.

Claire Keegan - Das dritte Licht (Cover)

Erst eine übergriffige und allzu neugierige Nachbarin enthüllt der Ich-Erzählerin nach einiger Zeit das Geheimnis der Kinsellas. So haben die beiden ihren Jungen unter tragischen Umständen verloren. Eine Erfahrung, die das Paar bis tief ins Mark erschüttert und eine Leerstelle im Leben hinterlassen hat, die nun durch das Mädchen gefüllt wird. Es ist eine Erkenntnis, die sich dem Mädchen zunächst noch gar nicht wirklich erschließt (eine Erfahrung, die sich auch mit Annie Ernaux verbindet), die dem Text aber auch eine zweite, traurig-melancholische Ebene verleiht, die stets über dem Text schwebt.

So ist der nächtliche Ausflug zum Strand, den das Mädchen zusammen mit Mr. Kinsella unternimmt, mehr als doppeldeutig. Alleine das ungewohnte Händehalten, die Erfahrung der Unbeschwertheit im Spiel mit dem Wellen am und vor allem das metaphorische Bild der zwei Lichter, zu denen sich ein drittes Licht gesellt, sind stark aufgeladen und sind von einer wirklich eindringlichen Qualität, obschon Claire Keegan nur wenige Zeilen braucht, um über die Schilderung des Erlebens auch die Seelenlandschaften ihrer Figuren zu skizzieren.

Wir bleiben noch eine Weile stehen und blicken aufs Wasser hinaus.

„Sie mal, wo vorher nur zwei Lichter waren, sind jetzt drei.“

Ich blicke übers Meer. Dort blinken nach wie vor die beiden Lichter, doch dazwischen leuchtet jetzt auch noch ein anderes Licht.

„Kannst du’s sehen?“ fragt er.

„Ja“, sage ich. „Da drüben.“

Da legt er die Arme um mich und zieht mich zu sich, als wäre ich sein eigenes Kind.

Claire Keegan – Das dritte Licht, S. 72 f.

Fazit

Hier schreibt eine Autorin, die es schafft, mit wenigen Zeilen und Szenen ganze Lebensdramen in packende und eindringliche Bilder zu kreieren. Das dritte Licht fügt sich ein in ein schriftstellerisches Oeuvre, das von der Schönheit zwischenmenschlichen Begegnungen, dem Sieg des Herzens über die Ratio und von einfachen Menschen in schwierigen Zeiten erzählt.

Wie sich Claire Keegan ihren Themen nähert, wie sie alles Überflüssige reduziert, wie sie ihre Geschichten allesamt mit einer Botschaft der Empathie auch in schlechten Zeiten versieht, das ist beeindruckend. Auch wenn Keegans Erzählungen zeitlich jeweils grob verortet sind (hier geben die unter der irischen Landbevölkerung diskutierten Butterberge und die EWG eine ungefähre zeitliche Orientierung), so wohnt doch allen Geschichten etwas Zeitloses inne, das dieses literarische Werk auch über unsere Gegenwart hinaus lesens- und entdeckenswert machen.

Schön, dass der Steidl-Verlag dieser Autorin ein Zuhause gibt – und schön auch, dass Keegans Schaffen nach der Nominierung für den Booker Prize im vergangenen Jahr nun auch vielleicht durch die oscarnominierte Adaption ihres Buchs unter dem Titel An Cailín Ciúin bzw. The Quiet Girl noch etwas mehr Aufmerksamkeit erhält. Es wäre ihr zu gönnen!


  • Claire Keegan – Das dritte Licht
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-199-2 (Steidl)
  • 104 Seiten. Preis: 20,00 €

Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß

Ich trinke einen Schluck Seewasser und muss grinsen: Es ist süß, es ist zuckersüß, dieses Wasser, dieser Sumpf, es hat den Geschmack von Kirschen, von Clementinenmarmelade, von Marshmallows, das Wasser des Sees ist immer süß, brülle ich aus Leibeskräften.

Und noch einmal: Das Wasser des Sees ist immer süß.

Brülle ich aus Leibeskräften.

Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß, S. 245

Wer hat hier recht? Der Buchtitel oder die Erzählerin Gaia? Nach der Lektüre von Giulia Caminitos neuem Roman muss man konstatieren, dass vom impulsiven, dopamingesättigten Ausruf der Heldin am Ende wenig bleibt. Denn das Wasser ist hier wirklich nicht süß, allenfalls ist es recht arsenhaltig.

Armut und Enge

Dabei ist das Wasser zunächst noch völlig abwesend. Vielmehr ist es die Armut und Enge, die das Leben von Gaias Familie bestimmt. Die Mutter Antonia, der nach einem Sturz von einem Arbeitsgerüst querschnittsgelähmte Vater, der Bruder Mariano sowie die jüngeren Zwillinge und Gaia, sie leben in ärmlichsten Verhältnissen auf zwanzig Quadratmetern einer dunklen und illegalerweise besetzten Wohnung im Untergeschoss. Jeder brüllt jeden an dort in der Via Monterotto Nr. 64, das Leben auf engstem Raum gleicht einem emotionalen Pulverfass.

Doch nach vehementem Protest der Mutter und einer Absetzung der alten Sozialdienstchefin bessert sich die Lage etwas, als die Familie in eine richtige Sozialwohnung in Rom ziehen darf. Doch auch hier bleibt die Familie aufgrund ihrer Klasse und der bisweilen hysterischen Umgangsformen sozial isoliert. Da hilft auch der vehemente Protest der Familie mit drastischen Aktionen nur wenig – ihrer Klasse können sie nicht entkommen.

Giulia Caminito - Das Wasser des Sees ist niemals süß (Cover)

Und so drillt die Mutter Antonia Gaia hartnäckig für schulische Erfolge. Während die Mutter in den Häusern bessergestellter Familien putzt, forciert sie das Lesen von Büchern aus der Bibliothek und drängt auf schulische Erfolge.

Doch auch hier bleibt Gaia isoliert, da immer und immer wieder ihre eigene Herkunft Thema ist, sie aufgrund der ärmlichen Kleidung und Verhaltensweisen oftmals geschnitten wird und so beständig Ausgrenzung erfährt.

Ein weiterer Umzug bringt dann endlich etwas Besserung – und auch der See ist nun in Reichweite. Denn die Familie tauscht ihre Wohnung am Corso Trieste mit der Wohnung einer anderen Dame, der eine Sozialwohnung im Hinterland von Rom zugewiesen wurde, nämlich in Anguillara Sabazia. Das Örtchen befindet sich im Nordosten Roms und grenzt an den Lago di Bracciano. Dort lernt Gaia neue Freunde kennen, verliebt sich, macht unter großen Anstrengungen einen Schulabschluss.

Doch euphoriegesättigte Momente wie der eingangs zitierte bleiben eine Ausnahme. Es kommt zum Selbstmord einer Freundin, andere Todesfälle folgen. Und wirklich angekommen ist die Familie weder seelisch noch sozial so richtig dort am See, sodass auch Anguillara nicht der Endpunkt des vielbewegten Lebens von Gaias Familie sein wird.

Sozialrealistisches Erzählen

Das Wasser des Sees ist niemals süß ordnet sich ein in die Welle von sozialrealistischem Erzählen ein, das im Nobelpreis für Annie Ernaux oder hierzulande im fabelhaften Roman von Daniela Dröscher dieses Jahr seinen bisherigen Höhepunkt fand.

Ähnlich wie zuletzt auch Christian Baron zeigt Giulia Caminito klar, wie unsere Herkunft und materielle Armut das ganze folgende Leben prägen und wie man seiner Klasse noch nicht einmal durch Orientierung am Bildungsideal wirklich entkommen kann.

In diesem Sinne ist Das Wasser des Sees ist niemals süß ein hochpolitischer Roman, bei dem auch wie schon in Caminitos Debüt Ein Tag wird kommen der Anarchismus eine wichtige Rolle spielt. Hier ist es Gaias Bruder Mariano, der sich schon bald von seiner Familie abwendet, stammt er doch von einem anderen Vater und wird zur Großmutter nach Ostia abgeschoben, wo er sich radikalisiert und von der Familie abwendet. Denn auch er hat für sich erkannt, dass die Klasse ein Thema ist, dem man radikal entgegentreten muss und bei dem die herkömmlichen politischen Programme für ihn keine große Hilfe sind.

Auf den Spuren Elena Ferrantes

Mit ihrem Roman wandelt Giulia Caminito auch klar auf den Spuren Elena Ferrantes, spielen doch beide Romane im proletarischen Milieu und zeigen junge Frauen bei ihrer Entwicklung in der italienischen Gesellschaft, bei der sie immer wieder an Grenzen stoßen. Nicht ganz so episch ausufernd wie Ferrante aber dennoch auch so präzise zeigt Caminito innerfamiliäre Selbstzerfleischung, die Hilflosigkeit ihrer Heldin, der Vorbilder fehlen, und den Versuch, dem eigenen Milieu zu entkommen – und die Ausweglosigkeit, die ein solches Unterfangen bedeutet.

Damit verhaftet sich Das Wasser des Sees ist niemals süß in der gegenwärtigen Tradition von klassistischer Aufklärungsliteratur, orientiert sich aber auch an der Gattung des naturalistischen Romans.

Dieser große Realismus bezüglich der sozialen Herkunft von Gaias Familie und der mangelnden Aufstiegschancen machen aus dem Buch ab und an auch eine schwer verdauliche, düstere und gravitätische Angelegenheit, die schwer an ihrer eigenen Bedeutung trägt. Denn viel Hoffnung gibt es hier nicht, selbst wenn einzelne Lichtblicke das Dunkel ab und an durchschneiden.

Auch passend für Weihnachten

Nicht zuletzt passt der zweite Roman von Giulia Caminito auch in diese vorweihnachtliche Zeit, wenngleich nicht unbedingt auf kritische Art und Weise. Denn neben einer angeblich im See versenkten Krippe spielt hier auch das Weihnachtsfest eine nicht unwesentliche Rolle, bei der es zum Clash der Familienmitglieder kommt. Ausführlich inszeniert Caminito hier ein karges Weihnachtsfest, das zwar nur eine halbe Stunde dauert, im Buch aber eine große Passage einnimmt. Statt Ruhe und Besinnlichkeit kommt es zum Aufprall verschiedener Ansichten und Temperamente, wobei selbst der Puderzucker bestäubte Pandoro dann nichts mehr ausrichten kann.

Damit steht Caminito dem tradierten Weihnachtskitsch natürlich diametral gegenüber. Es zeigt sich hier aber auch im Kleinen, was das Buch im Ganzen prägt. Statt guter Laune, der Reproduktion von eingeübten Klischees und falschem Lächeln (wie eben klassischerweise beim Weihnachtsfest) setzt die Autorin auf einen sozialrealistischen Blick, der auch zeigt, wie man sich an Weihnachten streitet oder in der Gesellschaft kaum nach oben kommt und sich oftmals vergeblich abstrampelt, obwohl die Aufstiegsversprechen doch für alle gelten sollten.

Das befriedigt natürlich nicht das Bedürfnis nach harmonischer guten Laune, ist dafür aber aufgrund des Blicks, der frei von Verklärung und Romantisierung ist, durchaus überzeugend.

Fazit

Wie Caminito im Nachwort des Romans erklärt, waren für ihre Schilderungen drei Frauenschicksale entscheidend, um ihre Geschichte zu erzählen, die sich auch aus eigenem Erleben speist.

Dies ist keine Biografie, keine Autobiografie und auch keine Autofiktion, es ist eine Geschichte, die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt hat in dem Versuch, aus ihnen eine Erzählung zu machen, die Erzählung jener Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, der Schmerzen, die ich nur umschifft habe, und denen, die ich durchlebt habe.

Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß, S. 313

Dieser Versuch ist in meinen Augen wirklich gelungen, auch wenn Caminitos Roman alles andere als ein Roman der guten Laune geworden ist. Alles ist hier dunkel, eng, ohne allzu viel Hoffnung – und eben dadurch überzeugend, da sie nicht der Versuchung von Nostalgie oder Harmonie erliegt. Gutes sozialrealistisches Erzählen, das die Verknüpfung von Herkunft und Klasse im Italien der Jahrtausendwende ergründet.


  • Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß
  • Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
  • ISBN 978-3-8031-3349-6 (Wagenbach)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €

Naomi Hirahara – Clark & Division

Mitten hinein ins Milieu der japanischstämmigen Amerikaner*innen in Chicago zur Zeit des Zweiten Weltkriegs führt der Roman Clark & Division der Krimiautorin Naomi Hirahara, die man hier zum ersten Mal auf Deutsch entdecken kann. Darin erzählt sie von gesellschaftlicher Spannung, Ausgrenzung und bedrohten Frauen in der amerikanisch-japanischen Community.


George Takei - They called us enemy (Cover)

George Takei kennen Star Trek-Fans als Darsteller des Hikaru Sulu. Weniger bekannt ist die Herkunft und Kindheit des Schauspielers, die er im 2019 erschienenen Graphic Novel They called us enemies aufarbeitete. Darin erzählt er, wie er als Vierjähriger mitsamt seiner Familie auf Geheiß des damaligen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt im Jahr 1942 in einer Art Internierungslager auf amerikanischen Boden festgesetzt wurde.

Nachdem Japan den hawaiianischen Militärstützpunkt Pearl Harbor bombardiert hatte, wurden aus japanischstämmigen Amerikaner*innen plötzlich Feinde, die man in solchen Camps unter Kontrolle haben wollte, wie George Takei in seinen Erinnerungen schildert.

Aus Los Angeles ins Internierungslager

Auch die Ich-Erzählerin Aki muss in Clark & Division die gleiche Erfahrung machen. So berichtet sie von dem, was ihr als in Los Angeles geborene Tochter japanischer Einwanderer nach dem Kriegseintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg widerfährt:

Einen Tag später erklärte Präsident Franklin D. Roosevelt Japan offiziell den Krieg. Unsere Welt wurde erschüttert, und unsere Freunde begannen zu verschwinden. Roys Vater wurde abgeholt und zusammen mit buddhistischen Issei-Priestern, Japanischlehrern und Judotrainern in ein Gefängnis in Tuna Canyon gesteckt. Wenige Tage später ließ die Regierung ihn und die anderen mit dem Zug an einen unbekannten Ort bringen. Da Pop nicht im Vorstand irgendeiner Sprachschule oder anderer japanischer Institution saß, wurde er nicht abgeholt, was er fast als Beleidigung auffasste. Als wäre er nicht wichtig genug, um wie die anderen als Bedrohung für die nationale Sicherheit zu gelten.

Naomi Hirahara – Clark & Division, S. 21

Vom Stadtteil Tropico in Los Angeles geht es für die Familie von Aki ein Lager namens Manzanar, das dem aus den Erinnerungen George Takeis ähnelt. Nach langer Zeit dort darf sich die Familie Ito dann allerdings in Chicago im japanischen Viertel ansiedeln, wohin ihnen die ältere Tochter Rose schon vorgereist ist. Doch als die drei Itos dann endlich in Chicago angekommen sind, erwartet sie vor Ort schon die nächste Hiobsbotschaft: Rose ist tot. Sie soll sich am Bahnhof an der Kreuzung der Clark- und Divisionstreet vor einen Zug geworfen haben.

Diese Nachricht erschüttert die Familie, die gerade erst dem Lager entkommen einen Neustart ihres Lebens versuchen wollten. Vor allem Aki kann die Nachricht vom Suizid ihrer bewunderten Schwester nicht glauben, ebenso wenig wie die Info, dass Rose erst kürzliche eine Abtreibung gehabt haben soll. Auf eigene Faust beginnt sie nachzuforschen und hört sich zwischen nisei (japanischstämmigen) und hakujin (amerikanischen) Bewohnern rund um die Ecke der Clark- und Division-Street um, wo sie – wir befinden uns immer noch in einem Krimi- auf einige unangenehme Einsichten und Wahrheiten stößt.

Das Leben der nisei in Chicago

Division & Clark ist ein Krimi, der vor allem durch seine Milieuschilderungen und Einblicke in ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel amerikanisch-japanischer Geschichte besticht und das außerhalb der Romane Schnee, der auf Zedern fällt von David Guterson oder The buddha in the attic von Julie Otsuka (oder eben George Takeis Erinnerungen) kaum thematisiert wurde

Naomi Hirahara - Clark & Division (Cover)

Der Kriminalfall, der von den Milieuschilderungen umhüllt wird, ist dabei zwar solide, aber eben auch nicht mehr.

Aki ermittelt, indem sie Personen aus dem Umfeld ihrer Schwester befragt, Spuren im Tagebuch nachgeht und die Rolle übernimmt, die eigentlich ihren Eltern gebührte. Sie organisiert die Beerdigung, nimmt Kontakt mit der lokalen Polizeibehörde auf und hört sich auf den Straßen Chicagos um. Damit erfindet Naomi Hirahara das Rad zwar nicht neu, liefert aber solide Krimikost ab.

Besonders wird dieses Buch aber eben durch den genauen Blick auf das Leben der Nisei in Chicago. Ihre Community und die Erfahrungen, die sie in der amerikanischen Gesellschaft machen mussten, vermittelt die Autorin eindrucksvoll und versetzt uns direkt in die Enge der Internierungslager und der brummenden Straßen Chicagos, die ein Spiegelbild des Inneren der Ich-Erzählerin Aki sind. Die eigene bewunderte Schwester tot, die Eltern hilfsbedürftig in der neuen Stadt, die Liebe und das Datin in der japanischen Community, das alles fordert die junge Frau wirklich heraus.

Auch arbeitet Hirahara das schizophrene Verhältnis Amerikas gegenüber den jungen japanischen Männern heraus, die zunächst inhaftiert und feindselig beäugt wurden, ehe sie dann als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gebraucht wurden, um in Japan, auf pazifischen Inseln oder beim D-Day in Europa zu kämpfen.

Davon erzählt Hirahara und liefert Einblicke in die japanische Gesellschaft, die mit der amerikanischen nicht immer deckungsgleich war oder ist – und zeigt die Stellen, an denen das besonders schmerzhaft zutage trat. Das macht aus Clark & Division ein lesenswertes Buch, das im Gewand eines Kriminalromans ein verdrängtes Kapitel des 20. Jahrhunderts noch einmal in Erinnerung ruft.


  • Naomi Hirahara – Clark & Division
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-7472-0422-1 (Ars Vivendi)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

„Die Kleinfamilie“, zitiere ich, „ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau. Er ist der Bourgeois, sie das Proletariat.“

„Wer sagt das? Marx?“, will meine Mutter wissen.

„Nein, Engels.“

Sie nickt

„Vielleicht hat er nicht ganz unrecht, dein Engels.“

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter. S. 204

Nicht erst seit der Zuerkennung des diesjährigen Literaturnobelpreises an die Französin Annie Ernaux ist die Erkundung der eigenen weiblichen Identität in Verschränkung mit der Klassenfrage in den literarischen Fokus gerückt. Annie Ernaux in Frankreich, Elena Medel in Spanien, Autorinnen wie Daniela Dröscher oder Marlen Hobrack hierzulande gehen mal mehr und mal weniger fiktionalisiert ihrer eigenen Familiengeschichte und Herkunft auf den Grund, um Klassismus und die Prägung der eigenen Identität durch die Herkunft zu ergründen und offenzulegen.

Gab es zwar schon vereinzelt schreibende Selbsterkunderinnen wie Ulla Hahn, doch bislang war das Feld in Deutschland bislang eher in der Hand schreibender Männer wie Andreas Maier, Christian Baron oder Alem Grabovac. Nun sind es verstärkt weibliche Schreibende, die dieses Genre auch durch die Mittel der Autofiktoentscheidend prägen und bestimmen.


So ist es bei Daniela Dröscher die Ich-Erzählerin Ela, die sich an ihre eigene Kindheit erinnert. Einsetzend im Jahr 1983 wird die Erzählerinnen chronologisch vier Jahre ihrer Kindheit präsentieren. Jahre, in denen das Unglück der eigenen Mutter wie Blei auf den Schultern der Erzählerin lag, was die Geschichte der Mutter auch zu ihrer höchsteigenen Geschichte macht, wie sie im Prolog des Buches erklärt.

Dabei sind den vier Jahren vier Attribute zugeschrieben, die ironischerweise der Beziehung der eigenen Eltern und der zu ihrem Kind spotten. So beginnt das Jahr 1983 als Jahr der Kommunikation, es folgen das Jahr der Frauen in Südafrika, das Jahr der Vereinten Nationen, ehe 1986 zum Jahr des Friedens getauft wird. Doch weder Frieden, noch Kommunikation, Einheit oder gar Respekt vor dem Weiblichen sind der Beziehung der eigenen Eltern eingeschrieben, wie Daniela Dröscher eindrucksvoll zeigt.

Eine Familie im Grabenkampf

Denn obschon Elas Eltern ein heteronormatives BRD-Eigenheim-Leben in der fiktiven Kleinstadt Obach im Hunsrück führen, hat die Beziehung der Eltern Risse oder gleicht besser gesagt eher einem Grabenkampf.

In den Tagen zuvor war es eisig bei uns zu Hause zugegangen. Martha-Oma schwieg beleidigt, mein Vater ebenso. Auch meine Mutter hatte neuerdings das Schweigen für sich entdeckt. Nun hatte ich also zwei Elternteile, die schwiegen. Es war wie im Kalten Krieg, nur dass ich keine Ahnung hatte, wer von beiden jetzt der OSTBLOCK war.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 98
Daniela Dröscher - Lügen über meine Mutter (Cover)

Dabei sind die Konflikte und beharkten Themenfelder äußerst vielfältig. Das präsenteste ist sicherlich das vom Vater ständig bemängelte Übergewicht seiner Frau, das ihm ein Dorn im Auge ist. Er fordert ihr Diäten ab und sorgt mit seiner beständigen Kritik und Disziplinierungsversuchen durch Wiegen für eine Scham auch bei Ela. Doch auch ansonsten sind die Konfliktfelder vielfältig. Die Abwertung der Mutter durch die Schwiegereltern, die ungleich verteilte Sorgearbeit (neben Ela werden in den folgenden Jahren noch eine weitere Tochter, ein Pflegekind und die demente Großmutter in ihren Aufgabenbereich fallen) reicht bis hin zu den Finanzen, die völlig ungleich verteilt sind. So hat der Vater „Spielgeld“ zur eigenen Verfügung, den eigentlichen Unterhalt der Familie muss die Mutter aus ihrem Vermögen bestreiten.

Der Versuch von beruflicher Qualifizierung und ökonomischer Selbstständigkeit wird von ihrem Mann argwöhnisch beäugt und abgewertet. Als dann eine Erbschaft den Bau eines neuen Eigenheims ermöglicht, ist es vor allem der Vater, der dann mit extravaganzen Ausgaben für luxuriöse Autos auffällt.

Das Kind im Spannungsfeld

Die Beziehung der Eltern ist von Taktieren, Heimlichkeiten, Lügen und der Aufführung einer fadenscheinigen Komödie (oder eher Tragödie) vor den Augen des eigenen Kindes bestimmt, das in die Konflikte hineingezogen wird und oftmals gar nicht weiß, wie es sich verhalten soll, wenn die Konfliktregeln der Erwachsenen so undurchschaubar sind, wie es in der eigenen Familie der Fall ist.

„Wir werden das schon schaffen“, sagte sie. „Aber du musst mir versprechen: kein Wort zu Papa.“

Mir war flau im Magen. Ich fühl[t]e mich beklommen, gleichzeitig aber machte es mich stolz, dass sie mir so geheime Sachen erzählte.

„Klar“, sagte ich. „Mach ich.“

Das war meine Rolle. Inzwischen war ich geübt darin, Geheimnisse zu hüten. Und allmählich verstand ich, dass Geheimnisse eine gewisse Verwandschaft zu Lügen besaßen.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 254

Eine noch größere Fallhöhe bekommt das Beschriebene durch die Kommentierung der erwachsenen Erzählerin, die sich vor den einzelnen Kapiteln zu Wort meldet und mit einem emanzipierten und gebildeten Blick das damalige Schauspiel analysiert und sich auch in ihre Mutter einzufühlen und zu verstehen versucht. Hier wird aus dem chronologisch voranschreitenden Familienbild dann ein Sachbuch, das die Frage von Klasse, Herkunft, der Prägung des sozialen Milieus verhandelt und untersucht.

Und nicht zuletzt auch die Sprache stimmt in diesem Buch. Gelungen schafft es Daniela Dröscher, sich die Perspektive eines Kindes anzueignen und aus den Augen der kindlichen Ich-Erzählerin auf diesen elterlichen Kampf nach undurchsichtigen Regeln zu blicken. Immer wieder sind Floskeln und Redewendungen der Erwachsenen kursiv gesetzt (was etwas an die erzählerischen Mittel von Heinz Strunks letztem Roman erinnert) und zeigen Sprache beziehungsweise den Dialekt, der in vielen Dialogen zum Einsatz kommt, als Marker von Bildung, Alter und sozialem Rang. Auch dieser Aspekt des Buches ist gut gelungen und hochinteressant.

Fazit

Vor dem Hintergrund der 80er Jahre, der diffusen Angst vor dem Atomunglück in Tschernobyl, dem sowjetischen Feind oder der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, dem Tennisfieber rund um Steffi Graf und Boris Becker und dem sozialen Druck der Kleinstadt seziert Daniela Dröscher das Kleinbürgertum, die Unterdrückung der Frau in der Ehe und den Blick eines Kindes auf die seltsame Welt der Eltern, das sie zugleich mit dem späteren analytischen und gebildeten Blick der erwachsenen Erzählerin vergleicht und kontrastiert.

Toll erzählt und genussvoll spielend mit den Möglichkeiten der (Auto-)Fiktion dringt sie mit ihrem Roman ganz tief in das Geflecht von Familie ein, zeigt Widersprüche und patriachale Strukturen auf und unternimmt den Versuch, ihre Mutter zu verstehen – und setzt der fiktiven Mutter damit auch ein höchst plastisch und anschaulich geratenes Denkmal, das es völlig verdient in die Endrund des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft hat.


  • Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter
  • ISBN 978-3-462-00199-0 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €

Dörte Hansen – Zur See

Mit ihren beiden bislang erschienen Romanen Altes Land und Mittagsstunde hat sich Dörte Hansen weit nach vorne in die Riege wichtiger deutscher Erzählerinnen katapultiert. Glänzend ihre Erzählweise zwischen Anspruch und Unterhaltung, mit der sie die Bestsellerlisten erklommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden bislang erschienen Werke auch als Serie fürs Fernsehen (Altes Land) und als Verfilmung fürs Kino (Mittagsstunde) adaptiert. Nun liegt mit Zur See der dritte Roman der 1964 geborenen Autorin vor, der erwartungsgemäß aus dem Stand die Bestsellerlisten erklommen hat. Auch hier bleibt sie ihren Themen des norddeutschen Settings und der Beschreibung lebensnaher Charaktere treu. Und hat mich dennoch etwas enttäuscht.


Eine nicht näher benannte Nordseeinsel ist der Schauplatz von Dörte Hansens neuem Buch. Hier lebt die Familie Sander in dem wohl schönsten Haus der Insel, reetgedecktes Dach und Delfter Kacheln an den Wänden inklusive. Doch nicht nur der Knochenzaun, der das Haus umgibt, ist morsch. Auch die Familie im Inneren des Hauses leidet unter Auflösungserscheinungen.

So ist Jens Sander, der Ehemann von Hanne Sander und Vater der drei Kinder, schon vor längerem ausgezogen und lebt auf der kleinen Nordseeinsel Driftland als Vogelwart. Hanne hält derweil das Haus sauber und ist vor allem mit der Betreuung ihres Sohnes Ryckmer beschäftigt.

Dieser war einst Kapitän auf einem Nordseeschiff, doch seine Erfahrungen im Sturm haben ihn zum Alkoholiker gemacht, dem von seiner Mutter täglich sechs Flaschen Bier zugestanden werden, keine mehr und keine weniger. Nächtens erbricht er sich nach Exzessen schon einmal in die Rosen und unterhält an guten Tagen die Touristen, indem er die Rolle als Seemann gibt. Dabei hat er sein Kapitänspatent schon lange verloren.

Seine Schwester Eske pflegt im lokalen Altersheim die Senioren, Henrik ist als jünster ein arrivierter Künstler, der mit Treibgut Skulpturen formt, die sich die reichen Inseltouristen gerne in ihre luxuriösen Häuser stellen.

Während die Mitglieder der Familie Sander alle ihre Leben leben, kämpft der Inselpfarrer Matthias Lehmann derweil mit einer handfesten Glaubenskrise und seiner Beziehung zu seiner Frau und Töchter. Als dann ein Wal an den Strand der kleinen und so pittoresken Insel angespült wird, kommt einiges in Bewegung, auch bei Hanne und Jens.

Die Prägung der Heimat

Dörte Hansen - Zur See (Rezension)

Zur See ist ein Roman, der von der Prägung der Heimat erzählt, aber auch von den Gefahren, die ihr drohen. So ist Hansens nicht näher benanntes Eiland wohl auch mit einigen Parallelen zur Insel Sylt zu sehen, bei der die reichen Touristen und die dauerhafte touristische Ausbeutung längst alles Einheimische, Autochthone verdrängt hat und zur Kulisse werden hat lassen.

Dörte Hansen zeigt (ähnlich wie zuletzt auch Susanne Mathiessen) , wie die monetären Anreize durch die zahlungskräftigen Touristen langsam alles Einheimische Verdrängen, wie die Fischkutter und Kutschfahrten über die Insel längst zum Folklorekitsch geworden sind, die zwar ein einträgliches Auskommen bescheren, aber keinen Sinn. Sogar das letzte Inselwäldchen wurde hier verkauft – und beständig klopfen die Immobilienmakler an Hanne Sanders Tür und lassen ihren Briefkasten von Kaufangeboten überquellen.

Scharf auch ihre Blick auf die Rituale auf einer solchen Insel, etwa der Alkoholkonsum, der schon den jungen Konfirmanden eingeschrieben wird. Auch der Tourismus, der längst vom familiären Miteinander der Gästezimmer zu einer anonymen Beherbung anspruchsvoller Fremder geworden ist. Doch neben aller Kritik ist Zur See auch ein beobachtungsscharfes Buch, das dem Inselgeist nachspürt und dem, was im Verschwinden begriffen ist.

Die Kräfte der Insel

Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlicher, aber stärker.

Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.

Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.

Dörte Hansen – Zur See, S. 18 f.

Schade nur, dass Dörte Hansen allzu deutlich das Klischee der menschenscheuen und einsilbigen Norddeutschen auf die Spitze treiben muss. Jeder hier lebt für sich, stirbt für sich und lässt andere kaum in die Seele blicken. Die Nachbarin mit dem ausgestopften Dackel, die sich als ernährungstechnischer Messie entpuppt. Jens Sander auf seiner Vogelbeobachtungsstation. Eske Sander nacht allein im Altersheim. Hanne in ihrem viel zu großen Haus. Jens in seinem Atelier. Alle leben sie nebeneinander her, statt miteinander.

Dieser Roman kommt mir vor wie ein Schachbrett, auf dem Dörte Hansen filigran ihre Figuren aus einem Stück holz drechselt und die sorgsam ausgestalteten Figuren in Position stellt, aber nicht mit ihnen spielt, sondern sich in der Beobachtung des Spielbrett ergeht.

Die Figuren interargieren so rein gar nicht miteinander. Jeder lebt für sich, denkt und handelt alleine, niemand reagiert auf das Schicksal der anderen oder unternimmt einen Versuch der Gestaltung des eigenen oder fremden Schicksals. Das mag natürlich dem Klischee der Norddeutschen entsprechen, für einen gelungenen Roman war es mir aber deutlich zu wenig. Da kann selbst der angeschwemmte Wal nicht mehr für Abhilfe schaffen, der ebenso verloren am Strand liegt, wie es die übrigen Figuren in diesem Buch tun.

Fazit

Mit Zur See bleibt sich Dörte Hansen treu und erzählt abermals von einer Welt, die im Verschwinden inbegriffen ist. Statt auf dem norddeutschen Land ist es hier nun eben eine Insel, deren Rituale und Bewohner*innen sie höchst plastisch mit einem tollen Sprachzugriff schildert. Vom sich wandelnden Tourismus, der Kulisse und der Folklore, die man den Fremden vorgaukelt und von der Einsamkeit, die allen unglücklichen Familien auf ihre Art und Weise eingeschrieben ist, erzählt die Bestsellerautorin und wird damit viele Leser*innen wieder glücklich machen.

Und doch bleibt bei mir das Gefühl von verschenktem Potenzial, interagiert doch keine ihrer sorgsam entworfenen Figuren miteinander, leben alle für sich und und sind auf ihre Art und Weise unglücklich. Es ist ein Buch, das viel beschreibt und bei dem ich mir ein wenig mehr zwischenmenschliche Handlung gewünscht hätte, selbst wenn das dem Klischee der menschenscheuen und wortkargen Norddeutschen entsprechen mag.


  • Dörte Hansen – Zur See
  • ISBN 978-3-328-60222-4 (Penguin)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €