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Brian Selfon – Nachtarbeiter

Goya? Diesen Namen kannte man bislang wohl nur von Hörbüchern, die unter dem Dach der JUMBO Neue Medien & Verlag GmbH erschienen. Doch nun hat man sich zur Expansion entschlossen und betritt nun im Frühling 2022 erstmals den Markt des gedruckten Wortes. Einer der ersten Titel aus dem Verlag ist der Titel Nachtarbeiter von Brian Selfon. Darin widmet er sich den dunklen Seiten Brooklyns und erzählt vom florierenden Geldwäscheunternehmen von Shecky Keenan, das plötzlich unter erheblichen Druck gerät.


Henry, Kerasha, Shecky. Sie sind die Nachtarbeiter. Shecky Keenan hat ein ausgeklügeltes System aus Boten, Konten und falschen Spuren geschaffen, mithilfe dessen er Schwarzgeld wäscht. Im Brooklyn zwischen Kunstgalerien, Bars, Armut und Szenekneipen hat er sich damit seine eigene berufliche Lücke geschaffen. Seine Ziehkinder Henry und Kerasha unterstützen Shecky bei seinem Tun und Treiben.

Henry hat ein Problem, seine Gewalttätigkeit zu kontrollieren. Kerasha ist heroinabhängig beziehungsweise gerade auf Entzug. Höchst widerwillig befindet sie sich in Therapie, um die Traumata ihrer Vergangenheit und Herkunft aufzuarbeiten. Und dann ist da noch Emil, ein aufstrebender Künstler, den Henry auf einer Vernissage kennenlernt und der etwas in Henry anrührt. Er will ihn als Boten in das Geldwäschesystem seines Ziehonkels einführen – doch schon nach kurzer Zeit ist Emil tot.

Nachtarbeiter unter Druck

Brian Selfon - Nachtarbeiter (Cover)

Von dieser Tat ausgehend beginnt Brian Selfon seinen Roman, der immer wieder in Zeitsprüngen vor oder zurück von den Hintergründen zum Tod Emils erzählt. Die Nachtarbeit von Shecky steht eh schon unter keinem guten Stern, da immer wieder Konten gesperrt sind und stets das gleiche Auto vor seinem Haus parkt. Es scheint, als hätte jemand das florierende System ins Visier genommen – und jetzt ist auch noch ein Bote tot. Da stellt sich die Frage, wer Shecky ans Leder möchte.

Brian Selfon hat einen Roman geschrieben, der sich auch aus dessen eigener beruflicher Vergangenheit speist. So ist er selbst in der Strafjustiz tätig und war als Ermittlungsanalytiker für das Büro des Bezirksstaatsanwalts in Brooklyn tätig. Dass er sich mit den dunklen Seiten des New Yorker Stadtteils auskennt, das zeigt Nachtarbeiter eindrücklich. Denn ihm gelingt ein Krimi Noir, der sowohl durch sein vielschichtiges Bild der Halbwelt als auch durch den Blick auf seine Figuren überzeugen kann.

Sprünge in der Zeit und der Perspektive

Immer wieder wechselt Selfon die Perspektive, erzählt aus Sicht von Shecky, Kerasha oder Henry, zeichnet ihre Abhängigkeiten und Abgründe nach. Er springt zeitlich hin- und her, zeigt die Verstrickungen der Figuren in ihre eigene Vergangenheit und schildert das alles in einer derben, direkten und schnörkellosen Sprache (Übersetzung durch Sabine Längsfeld).

Man muss genau am Ball bleiben, um die Hintergründe zum Mord an Emil und die mannigfaltigen Probleme der Nachtarbeiter*innen geordnet zu bekommen. Denn neben den drei flirrenden und ambivalenten Figuren gibt es auch noch eine Ermittlerin namens Zera Montenegro, die noch einmal ganz eigene Verbindungen zu dem Fall hat und die langsam in die Handlung eingebunden wird.

Fazit

Wer klassisch erzählte Krimis mit übersichtlichem Personaltableau, klarem Fall und Motiv sowie eine wohlstrukturierte Tätersuche schätzt, der sollte die Finger von Nachtarbeiter lassen. Vielmehr ist das Buch die komplexe Schilderung einer schwierigen Familie, in der das Misstrauen mindestens ebenso groß ist wie der Zusammenhalt. Das Buch ist in manchen Passagen geradezu ein Wimmelbild des nächtlichen Brooklyns, erzählt von halbseidenen Gestalten, Psychotherapiesitzungen und problembeladenen Hauptfiguren. Das ist manchmal unübersichtlich, dann wieder mitreißend und erinnert in seinen besten Momenten an die Erzählungen von Peter Temple oder James Ellroy.

Es ist ein spannender Debütant, den uns Goya hier im ersten Belletristikprogramm präsentiert. Neben dem Noir von Brian Selfon gibt es ansonsten hier noch Erzählungen aus Kanada, Irland oder der deutschen Provinz zu entdecken. Man darf gespannt sein, was hier noch so alles zu erwarten ist!


  • Brian Selfon – Nachtarbeiter
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-8337-4425-9 (Goya)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €

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Maddalena Fingerle – Muttersprache

Nein, ein Sympathieträger ist dieser Paolo Prescher nicht, der uns in Maddalena Fingerles Debüt Muttersprache begegnet. Beständig kreist er um sich, arbeitet sich an seiner Familie, seiner Heimatstadt Bozen und deren Zweisprachigkeit ab und kämpft mit Wörtern, die ihm von anderen beständig dreckig gemacht werden. Doch leider vermag die Grundidee den Roman nicht ganz zu tragen.


Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder »Körper« nur auszusprechen. Ich fand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheiten des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament oder was Sie sonst wollen, ein Urteil herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgend welcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgend welches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.

Hugo von Hoffmannsthal – Der Brief des Lord Chandos, S. 12

Da ist er, der Pilz, der auch das Cover von Maddalena Fingerles Debütroman ziert. Aber es ist nicht nur der modrige Pilz, der Hugo von Hoffmannsthals Chandos-Brief mit Muttersprache verbindet, es ist auch das Grundproblem der unzureichenden Sprache, das die Erzähler in beiden Werken umtreibt. Denn während Lord Chandos die Worte im Mund wie modrige Pilze zerfallen, sind es bei Paolo Prescher die Worte, die ihm beständig dreckig gemacht werden.

Vom Aufwachsen in der „Scheißstadt“ Bozen

Paolo wächst zusammen mit seiner älteren Schwester Luisa in Bozen auf. Sein Vater leidet unter Aphasie beziehungsweise Mutismus und redet nicht mehr. Stattdessen klebt er auf alle Gegenstände in der heimischen Wohnung Zettel mit deren Bezeichnung. Seine Mutter hingegen rettet sich in die Kunst, beständig produziert sie neue Werke, was Paolo anwidert. Für ihn ist sie eine blöde Kuh, die er verachtet.

Überhaupt ist es viel, dass den jungen Erzähler anwidert. Seine Heimatstadt Bozen ist ihm in ihrer (vorgetäuschten) Mehrsprachigkeit ein Graus, er arbeitet sich an den zweisprachigen Bezeichnungen von Bolzano/Bozen ab, hat für die Bewohner und das praktizierte Miteinander von Deutsch und Italienisch (plus Ladinisch) nur Verachtung übrig. Für ihn ist Bozen eine „Scheißstadt“ (S. 171), die ihn quält und martert.

Bozner interessieren sich nur für ihre Wurzeln und ihre eigene Region, und für die Streitereien, was Denkmäler und Straßennamen angeht, und sie haben Angst vor Mischkultur und davor, ihre Wurzeln zu verlieren, die Identität, die Kultur, und wenn sie zufällig doch hingehen, um denen, die von außerhalb gekommen sind, zuzuhören, dann verlieren sie keine Zeit und sie fangen an, ihre Geschichte zu erzählen, von den Wurzeln und der eigenen Region und der Streiterei um die Denkmäler und Straßennamen, und sie sagen, dass sie alle zweisprachig sind, dreisprachig, viersprachig, auch wenn es überhaupt nicht stimmt. Eigentlich müssten wir es ja sein, aber wir beherrschen nur ein paar simple, banale Wörter, die wir ausspucken bei der Zweisprachigkeitsprüfung, die belegt, dass wir zweisprachig sind, weil wir ein paar mickrige Wörter beherrschen.

Maddalena Fingerle – Muttersprache, S. 54

Zudem ist er von einem Tick besessen, der ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Denn durch die zweisprachige Benennung von Gegenständen werden ihm diese Worte beständig dreckig gemacht (selbst sein Name Paolo Prescher ist nur ein Anagramm der dreckigen Worte, nämlich parole sproche). Das Italienische, es ist ihm ein Graus, auch der lokale Dialekt bringt den jungen Erzähler zum Verzweifeln.

Sprache wird gewaschen

Maddalena Fingerle - Muttersprache (Cover)

Die deutsche Sprache, sie ist für ihn die einzig Wahre, sie wirkt auf ihn sauber. Und so entflieht er nach dem Suizid seines Vaters der drückenden Enge seiner Familie und Heimatstadt nach: Berlin, was durchaus eine gewisse Ironie besitzt, ist es doch gefühlt die internationalste Stadt Deutschlands (was einen sich einst profilieren wollenden Staatssekretär namens Jens Spahn zu einem Aufschrei veranlasste, da in manchen Cafés der deutschen Hauptstadt nur noch Englisch gesprochen werde).

Für Paolo ist Berlin allerdings das Paradies. Zunächst übernachtet er auf Parkbänken, ehe er in einer Bibliothek eine Anstellung und durch einen Kollegen auch einen Schlafplatz findet. Dort in Berlin macht er die Bekanntschaft mit Mira, die ironischerweise Italienerin ist, was in Paolo die Liebe zu dieser Sprache entflammen lässt, die nun so gar nichts mehr dreckiges an sich hat. Mira (ihr Name ist ein Anagramm von sapone di Marsiglia, also Kernseife) hilft ihm, die einst verdammten Wörter wieder zu waschen und zu säubern. Dies reicht sogar soweit, dass Paolo mit ihr im dritten Teil des Romans dann wieder von Berlin nach Bozen zurückkehrt.

Ein unsympathischer Erzähler

Einen Roman über solch ein abstraktes Thema wie das Polyglotte in Südtirol zu schreiben, das ist wahrlich ein Unterfangen. Maddalena Fingerle hat sich daran versucht – schafft es in meinen Augen aber leider nicht, mit ihrem Roman zu überzeugen.

Das liegt ganz subjektiv gesprochen schon an ihrem Erzähler Paolo. Wie ein junger Thomas Bernhard wirkt er, der in seinem beständigen Kreisen um sich selbst nur Verachtung für seine Umwelt übrighat und so gut wie alles beschimpft. Mit leicht synästhetischen und manischen Anklängen in seinem Charakter stampft er durch die Welt, schimpft über die dreckigen Wörter, möchte seine Schwester und Mutter am liebsten schlagen und ist in meinen Augen ein wirklicher Unsympath, den man überhaupt nicht näher kennenlernen möchte. Dieser wütende und anklagende Sound, das Rotzige in Sprache und Figur ist durchaus gelungen. Persönlich hat es mir den Zugang zu Paolos Lebenswelt und seinen Themen und Sorgen allerdings deutlich erschwert.

Zudem trägt die theoretische Idee den Roman nicht in dem Sinne, dass sie die Erzählung unterfüttert oder viel Material für gut auserzählte Konflikte oder Entwicklungen liefert. Zwar gibt es die drei Kapitel, die Paolo von Bozen nach Berlin und zurück schicken, auch erfährt er eine Wandlung und wird (Achtung, Spoiler!) sogar Vater, aber diese ganze Handlung wird vom beständigen Kreisen um die sauberen und dreckigen Wörtern und den polyglotten Betrachtungen doch sehr an die Wand gedrückt.

Zwar gibt es jede Menge mal offener oder mal versteckterer Theorie und Anklänge (seine Schwester Luisa ist ein Anagramm des Begriffs capire Husserl, also Husserl verstehen, wobei man dann gleich bei dessen berühmter Sprachphilosophie Phänomenologie der Sprache landet, was Husserl mit Paolos Vater und dessen Versuch der Benennung von Dingen vereint. Und ja auch Lord Chandos könnte man hier noch in Verbindung setzen. Überhaupt verstecken sich viele weitere Bezüge und Anspielungen im Text (ganze fünf Seiten Anmerkungen für die Bezüge, Erklärungen Quellen gibt es – bei einem Text von gerade einmal 180 Seiten durchaus bemerkenswert).

Und auch die Arbeit der Übersetzerin Maria Elisabeth Brunner muss man herausgeben, die diesen in seinem Furor und seinen polyglotten Ansätzen sicherlich nicht einfach zu übersetzenden Text ins Deutsche übertragen hat. Sonderlich zugänglich oder mitreißend blieb das alles – zumindest für mich – aber trotzdem nicht.

Fazit

Steht man fester in wissenschaftlichen Diskursen, kennt sich mit Husserls Phänomenologie und den sprachtypischen Befindlichkeiten vor Ort aus, dann könnte einem Muttersprache vielleicht einen ganz neuen Zugang zum Thema und Buch eröffnen. Als Nicht-Südtiroler blieb mir all das verschlossen – wobei ich an einen gelungenen Roman den Anspruch hätte, dass er mir all das auch als Nicht-Kundiger eröffnen und begreifbar machen würde.

Bei Muttersprache hatte ich allerdings dieses Gefühl nicht und blieb von dem Text und der Gefühlswelt seines Helden doch recht ausgeschlossen. Die Auszeichnung als erfolgreichstes Romandebüt des Jahres in Italien und die Zuerkennung des Premio Italo Calvino kann ich aus literarischer Sicht nicht so ganz nachvollziehen. Ein rotziger Erzähler und dessen Suada gegen Bozen und die Mehrsprachigkeit reicht mir da nicht aus. Aber vielleicht gebricht es mir hier einfach an Hintergrundwissen und Einblicken in die italienisch-südtirolerischen Seele, um die Wahl und die Qualität des Romans zu verstehen.

So bleibt Maddalena Fingerles Buch für mich ein interessanter Text, der sich aber an seiner Theorie verhebt und damit das Buch überfrachtet, das zudem mit seinem unsympathischen Erzähler zumindest mich nicht wirklich überzeugen konnte.


  • Maddalena Fingerle – Muttersprache
  • Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner
  • ISBN 978-3-85256-849-2 (Folio Verlag)
  • 180 Seiten. Preis: 22,00 €
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Julia Schoch – Das Vorkommnis

Biografie einer Frau

Zu meinen für das Literaturjahr 2022 geäußerten Wünschen zählte auch der, dass es mit dem autofiktionalen Schreiben ein Ende haben möge. Alle Verlage warfen in letzter Zeit immer Bücher dieser Machart auf den Markt: fiktionalisierte Autobiographien, Memoirs, Autofioktionales, nach wahren oder doch nicht so wahren Begebenheiten Erzähltes. Die Nachfrage war und ist groß. Bei mir allerdings nicht mehr. Denn ich bin eindeutig übersättigt.

Nach dem Knausgard’schen tausendseitigen Mammutzyklus, Eshkol Nevos Selbstinterview, Krachts Schweizerkundung, Alem Grabovacs Kindheit, Julia Francks Welten auseinander, Jan Wilms Schneebuch sowie dutzend anderer Bücher, etwa von Christian Dittloff, Edgar Selge, Helen McDonald, Monika Helfer, Annie Ernaux, Joachim Meyerhoff, Helga Schubert oder Tove Ditlevsen, hoffte ich, dass der Trend des autofiktionalen Schreibens passé sei.

Das Erzählen von Familiengeschichte oder Teilen der (vermeintlich) eigenen Biografie, das Spiel mit Wahrheit und Fiktion, das Hineinschreiben des Alter Egos der Autor*innen in die Texte, all das wirkte in seinem Kreisen um die eigene Befindlichkeit auf mich zunehmend manieriert und kalkuliert. Obschon viele der obigen Autor*innen tolle Geschichten zu erzählen haben und einige Vitae in ihrer literarischen Form zu überzeugen wussen, litt ich einfach an Übersättigung, aus der heraus sich auch mein Wunsch nach einem Ende dieses Trends speiste.

Es geht weiter in Sachen Autofiktion

Julia Schoch - Das Vorkommnis (Cover)

Dass mein Wunsch nach einem Ende des Booms so schnell noch nicht in Erfüllung geht, das zeigt sich nun mit Julia Schochs neuem Buch Das Vorkommnis. Wieder ist es eine Schriftstellerin namens Julia, die aus der Ich-Perspektive ein Erlebnis schildert, das in ihr eine Erschütterung auslöst und zu viel Reflektieren und Nachdenken führt, woran uns Schoch in ihrem Buch ausführlich teilhaben lässt.

So stellt sich der Autorin nach der Lesung beim Signieren eine Frau vor, die sich ihr als Halbschwester offenbart. Die Autorin umarmt die Schwester in einer Übersprungshandlung, die wahren Schockwellen entstehen dann erst aber langsam danach.

Zusammen mit ihren Kindern und ihrer Mutter fliegt die Schriftstellerin in die USA, wo sie in Bowling Green in einem Studentenwohnheim wohnt und Vorlesungen hält. Während ihr Vater daheim mit dem Tod ringt, versucht sie in der Ferne ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Vater, ihrer Schwester und ihrer eigenen Familie zu klären und hinterfragt die eigenen Erinnerungen an ihre Beziehungen und ihre Rolle als Mutter.

Das Kreisen um das eigene Ich

In kurzen Kapiteln (72 Stück auf gut 190 Seiten) durchmisst die Erzählerin die eigenen Gedanken und kreist viel um das eigene Ich, während in Sachen äußerer Handlung nur wenig passiert. Was definiert uns als Familienmenschen? Was macht Beziehungen aus? Das sind die Fragen, die Schoch in ihrem Roman umtreiben. So kommt es auch innerhalb des Romans zu einem Nachdenken über das Wesen der Fiktion, die Schoch im Bezug auf Familie hier so beantwortet:

Familie ist Fiktion.

Daran ist nichts Schlimmes. Fiktionen sind keine Täuschungen. Fiktion bedeutet dem Wort nach das Erdenken und Hervorbringen einer neuen Welt. Sie ist eine Möglichkeit, über einen kleinen Umweg in die Wirklichkeit zu gelangen“

Julia Schoch – Das Vorkommnis

Während der Lektüre beschlich mich öfter der Gedanke, dass ich hier eher dem Niederschreiben persönlicher Gedanken und einer Wirklichkeitsfindung als einem wirklich erzählerischen Werk im Sinne eines klar strukturierten und zielgerichteten Text beiwohne. Zwar fliegt die Autorin in die USA und erlebt auf dem Campus Begebenheiten, der Fokus des Buchs liegt für mich aber im assoziativen Aufrufen von Vergangenem und Erinnertem.

Auch ist für mich die Genrezuordnung als Roman wenig treffend, wenngleich dieser Begriff natürlich ein weites Feld ist und verschiedenste Ausformungen erlaubt. Mit meiner Definition des Begriffs des Romans im Sinne eines erzählenden Buchs hat Ein Vorkommnis wenig gemein (und erinnerte mich in manchen Passagen stark an das Buch von Helga Schubert).

Es interessiert mich nur wenig

Und jetzt kommt der Luxus, zu dem mich dieses höchst subjektive Blog befähigt (und in gewisser Weise auch die subjektive Erzählweise von Schochs Buch): insgesamt gesehen interessiert mich das alles allerhöchstens peripher und wusste mich nicht zu überzeugen, obwohl ich dem Buch wirklich eine Chance gab.

Gefühlt schon unzählige Male las oder sah ich Erzählungen, in denen plötzlich ein unbekanntes Familienmitglied auftaucht und in der Folge Fragen darüber entstehen, was man über seine nächsten Mitmenschen eigentlich weiß und zu wissen glaubt (etwa zuletzt bei Michael Robothams Die andere Frau).

Wahrscheinlich bin ich als auf Erzählen und literarische Finesse gepolter Leser einfach die falsche Zielgruppe für dieses Buchs. Aber die recht belanglosen Gedanken, das (für meine Begriffe) überzogene Drama, das aus der Begegnung erwächst, das beständige schriftliche Nachdenken in Verbindung mit einer recht durchschnittlichen Sprache war mir für einen überzeugenden Roman zu wenig. Ich konnte mich – vielleicht auch Mangels völlig anderer Lebenswelt und Erfahrung – in den Kosmos der Ich-Erzählerin einfach nicht einfühlen und betrachtete alles aus einer großen Distanz. Die Erzählerin, die Welt, das Erlebte, es war mir fremd und blieb es das ganze Buch über.

Gewiss, sicher kann man das Nachdenken des Romans als facettierte Darstellung der Gedankenwelt der Protagonistin rühmen, man kann die Biographie einer Frau gelungen finden, man kann Schochs Prosa als genau und reflektiert preisen. Die Spiegelung der eigenen Vita und der brüchigen Familienkonstellation grandios, das Hinterfragen dessen, was man weiß gekonnt und überzeugend ausgeführt. Ein großer Wurf, eine zeitgemäße Reflektion der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft.

Alles das wird sicherlich bald in den professionellen Kritiken und Feuilletons zu diesem Buch zu lesen sein, womöglich auch zu Recht und ich war unfähig, das alles aus dem Text zu lesen [Ein kleiner Nachtrag: quod erat demonstrandum]. Aber ich kann es leider wirklich nicht – und es tut mir für das Schochs Buch leid. Aber das ehrliche und persönliche Urteil soll auf diesem Blog stets oberstes Ziel sein.

Fazit

Schochs Vorkommnis hätte ich in Form dieser Verarbeitung nicht lesen müssen. Es lässt mich kalt, löst in mir nichts aus, ist nach dem Zuklappen bei mir schnell in den Hintergrund geraten. Für meinen Geschmack zu banal, literarisch zu uninteressant und erneut ein Beweis, dass es mit mir und dem autofiktionalen Erzählen nichts mehr werden wird. Und so bleibt in Bezug auf diese Art des autofiktionalen Schreibens für mich nur ein Wunsch bestehen, den ich paraphrasiert aus Schochs Text übernehmen möchte:

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, gleichzeit wusste ich: Es gibt keine andere Wahrheit als das, was ich sehen und fühlen kann. Und was ich fühlte, war: Es ist vorbei.

Julia Schoch – Das Vorkommnis, S. 134

  • Julia Schoch – Das Vorkommnis
  • ISBN 978-3-423-29021-0 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 20,00 €
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Fatma Aydemir – Dschinns

Im letzten Jahr feierte das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei seinen 60. Jahrestag. Medienberichte beschworen noch einmal die Zeit herauf, als Türk*innen als „Gastarbeiter“ gelabelt die deutsche Industrie voranbrachten, ihnen jedoch lange Zeit Anerkennung und Wertschätzung versagt blieb. Als billige Arbeitskräfte waren die Türk*innen in der Wirtschaftswunderzeit willkommen, aber als Mitbürger wollte man sie doch nicht bezeichnen.

Und auch wenn türkisches Leben heute aus Deutschland nicht mehr wegzudenken ist und sichtbarer geworden ist, war es doch ein schwieriger Weg der Assimilierung und der gesellschaftlichen Akzeptanz. Sechzig Jahre ist das Anwerbeabkommen her. Genauso lange hat es auch gedauert, bis ein Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund am Kabinettstisch Platz nehmen durfte. Wie lang und steinig dieser Weg war, das lässt sich nun auch in Fatma Aydemirs großartigem neuen Buch Dschinns nacherleben und erfühlen.

Wir riefen nach Arbeitskräften, doch es kamen Menschen

Fatma Aydemir - Dschinns (Cover)

Der berühmte Ausspruch von Max Frisch lässt sich auch auf Aydemirs Buch übertragen, denn hier sind es sechs ganz unterschiedliche Menschen und deren Leben, die die 1986 geborene Autorin in den Mittelpunkt stellt. Den Anfang und das Ende des Buchs bilden dabei Hüseyin und Emine Yilmaz, die die Leben ihrer vier Kinder rahmen. Jedem der vier Kinder ist jeweils ein Kapitel im Mittelteil gewidmet.

Alles beginnt mit Hüseyin, der es endlich geschafft hat. Im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen hat er zeit seines Lebens hart gearbeitet, um seine Familie zu ernähren. Stets hat ihn dabei der Traum eines eigenen Zuhauses begleitet. Diesen Traum hat er sich nun mit Beginn des Ruhestandes erfüllt. In Zeytinburnu, einem Stadtteil Istanbuls, hat er sich eine Wohnung gekauft und diese mit all dem Luxus versehen, den es in Deutschland in der engen Unterkunft seiner Familie nie gab. Ein Balkon, eine schöne Aussicht, teure Möbel.

Alles ist angerichtet für einen komfortablen Lebensabend in seiner Heimt – doch Hüseyin wird ihn nicht mehr erleben. Noch bevor seine Familie die Wohnung in Augenschein nehmen kann, stirbt Hüseyin in seinen eigenen vier Wänden. Am Totenbett kommen sie nun alle zusammen, seine vier Kinder Ümit, Perihan, Hakan, Sevda und seine Ehefrau Emine. Der Tod bringt die fünf Menschen wieder zusammen – und lässt unterschiedliche Lebensentwürfe auf engstem Raum kollidieren. Denn wenn es etwas gibt, das diese Familie verbindet, dann sind es ihre Unterschiede.

Zwei Eltern, vier Kinder, unzählige Unterschiede

Da ist Sevda, die Erstgeborene, die von ihren Eltern erst spät aus der Türkei nach Deutschland nachgeholt wurde. So etwas wie Mutterliebe hat sie nicht erfahren, eher prägten Unverständnis und Ignoranz von seiten der Eltern das Verhältnis, aus dem sie sich durch Abnabelung befreit hat. Ümit, der jüngste der vier Geschwister, kämpft mit seiner Liebe zu einem gleichaltrigen Jungen und soll therapiert werden. Perihan, genant Peri, stürzt sich eher in Abenteuer, konsumiert Drogen und schreibt eine Arbeit über Nietzsche, während Hakan den unangepassten Revoluzzer gibt. Illegale Graffitis, Breakdance, Widerstand gegen die Obrigkeit und Familie, von der er sich nicht verstanden fühlt.

Alle vier Kinder Hüseyins verkörpern geradezu archetypisch die Biografien vieler Kinder mit Migrationshintergrund, die zu ganz unterschiedlichen Rollen in der Gesellschaft gefunden haben. Anpassung oder Widerstand, tradierte Rollenbilder oder Emanzipation – alle unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen sind in der Familie Yilmaz durchdekliniert.

Den Abschluss bildet dann Emine, die vor dann wie all ihre Kinder zuvor einen ganz eigenen Blick auf ihre Beziehung mit Hüseyin und ihre Kinder hat. Unverständnis, ererbte Vorstellung und Hilflosigkeit prägen das Miteinander der ersten und zweiten Generation, das sich vor allem im Streitgespräch zwischen ihr und ihrer Tochter Sevada Bahn bricht. Goßartig gelingt es Fatma Aydemir, diese unterschiedlichen Lebensentwürfte und Sichtweisen miteinander agieren zu lassen.

Sie stellt die Ansichten nebeneinander, enthält sich aber einer Bewertung und überlässt diese den Leser*innen. Alle Sichten haben ihre Existenzberechtigung und so etwas wie einen falschen oder richtigen Lebensentwurf gibt es nicht. Das Leben mit Migrationshintergrund ist pluralistischer und diverser, als es uns in diesen populistischen Zeiten oftmals glauben gemacht werden soll. Damit ist aber längt auch noch nicht gut, denn es gibt viel zu tun, bis der Weg zur Gleichheit und Geichstellung erreicht ist, wie dieses engagierte Buch zeigt.

Von der Akzeptanz des vermeintlich anderen

Noch immer sind Menschen mit (türkischem) Migrationshintergrund in der Öffentlichkeit wenig sichtbar, auch wenn über 2,8 Millionen Menschen einen türkeistämmigen Hintergrund haben (so zumindest der letzte Stand aus dem Jahr 2018). Die Bildungs- und Aufstiegschancen sind geringer – und wer hierzulande eine Wohnung sucht, und Yilmaz oder Hakanoglu heißt, auch der hat es schwerer. Da sind die Worte von Ex-Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Festaktes zum 60. Jubiläum des Anwerbeabkommens ein hehrer Wunsch, dem die Realität noch nicht standhält.

Denn die Frage ist: Wie lange muss man, wenn man einen Namen hat, der erkennbar nicht deutschen Ursprungs ist, sich eigentlich integrieren, bevor man integriert ist? Da, finde ich, muss jeder auch die Chance haben, spätestens mit der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft als Teil dieses Landes angesehen zu werden. Da darf der Name dann keine Rolle mehr spielen.

Angela Merkel in ihrer Rede zum Festakt des Anwerbeabkommens am 31.08.2021

Wie komplex es ist, zwischen zwei Ländern und Ethnien aufzuwachsen, das zeigt sich in Dschinns eindrücklich. Die Kämpfe um einen Platz in der Gesellschaft und die Akzeptanz des eigenen Ichs, sie dekliniert Fatma Aydemir hervorragend durch und zeigt, wie die Frage der Herkunft oftmals noch das entscheidende Kriterium ist, das unser Leben bestimmt. Besonders in der Lebensgeschichte von Peri wird dies klar, da sie besonders die um die Frage ihrer Herkunft und mögliche kurdische Wurzeln ihrer Familie kreist.

Verständnis für das vermeintlich Fremde

Wer Dschinns liest, der bekommt Verständnis für das vermeintlich Fremde und erkennt, wie deplatziert die Abwertung oder Ausgrenzung anderer Menschen ist, die womöglich anders heißen oder aussehen, als man das es selbst kennt. Dieses Buch ist zutiefst humanistisch in seinem Kampf für mehr Verständnis und Toleranz und ein echter Empathie-Booster.

Wer Fatma Aydemirs Buch liest, dem wird klar, dass es die Frage nach dem richtigen Leben, der Emanzipation und dem Finden eigener Werte und eines Kompasses ist, die uns über alle vermeintlichen Grenzen hinaus eint – auch im Kampf mit der eigenen Familie.

Und auch wenn die Handlung des Buchs im Jahr 1999 spielt, so bleibt doch ein Gefühl der Zeitlosigkeit zurück was diese Fragen und unser aller Bedürfnis nach Individualität und einem Platz im Leben angeht.

Zudem ist das Buch auch literarisch spannend gearbeitet. So wählt Fatma Aydemir für die erste und zweite Generation unterschiedliche Erzählperspektiven und lässt auch die Frage stehen, wer die Dschinns nun sind, die das Leben der Yilmazens beeinflussen. Ist es eine Figur, die sich erst spät im Gespräch offenbart, sind es wirklich Geister in der Istanbuler Wohnung oder doch noch einmal eine ganz andere Erzählinstanz? Hier neigt Aydemirs Buch genauso wie in der Bewertung der unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht zu einer eindeutigen Antwort – was ich sehr goutiere.

Fazit

So ist Dschinns ein enorm starker Frühjahrstitel, der Lebenswürfe und die Frage der eigenen Identität gekonnt verhandelt. Fatma Aydemir erzählt von einer Familie, die ihre Unterschiede eint und zeigt, welch langer Weg hinter der deutschen und türkischen Gesellschaft in diesem Land liegt – und welcher noch zu gehen ist. Ein literarisch wie thematisch überzeugender Roman mit humanistischem Kern, der zwar anders als Aydemirs 2017 erschienenes Debüt Ellenbogen gearbeitet ist – aber erneut wieder überzeugend um die Frage von Herkunft und Identität von Deutsch-Türk*innen kreist.


  • Fatma Aydemir – Dschinns
  • ISBN 978-3-446-26914-9 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €

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Percival Everett – Erschütterung

Was macht es mit einem, wenn dem eigenen Kind die Diagnose einer tödlichen Krankheit gestellt wird? Percival Everett hat darüber in Erschütterung geschrieben – und ein echtes Highlight in diesem jungen Bücherjahr geschaffen.


Im Mittelpunkt seines Romans steht der Geologieprofessor Zach Wells. Dieser arbeitet am Lehrstuhl seiner Universität und hat sich dem Spezialgebiet der Geologie-Paläobiologie verschrieben. So hält er (nach eigener Einschätzung) im wahrsten Sinne des Wortes knochentrockene Vorlesungen über Sedimentablaberungen und Funde von ausgestorbenen Lebewesen und unternimmt Exkursionen mit seinen Studierenden.

Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich.

Percival Everett – Erschütterung, S. 10

Eine Erschütterung des eigenen Lebens

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Privat ist es vordergründig eine Bilderbuchexistenz, die Zach Wells führt. Mit seiner Frau Meg und Tochter Sarah lebt er in Altadena ind Kalifornien, hat sein gesichertes Auskommen und eigentlich keine größeren Sorgen. Zwar ist die Liebe zu seiner Frau längst einer tolerierenden Ko-Existenz gewichen und der große Sinn im Leben fehlt, doch wirkliche Probleme fühlen sich anders an.

Wie, das muss Wells nach einigen beunruhigenden Zwischenfällen erfahren. So übersieht seine junge Tochter im gemeinsamen Schachspiel eine Figur, die deutlich vor ihr steht. Gravierendere Ereignisse folgen. Die Tochter wirkt wie abwesend und hat zwischendurch Anfälle, die sich weder Zach noch seine Frau erklären können. Eine Konsultation bei Ärzten bringt die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Tochter am Batten-Syndrom leidet. Hierbei handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die mit Erblindung, Verlust von intellektuellen und motorischen Fähigkeiten und Krampfanfällen einhergeht.

Der Verlust von Sicherheit

Die Diagnose erschüttert die zuvor so sicher geglaubte Lebenswelt des Professors und löst ebenjene titelgebende Erschütterung seiner Existenz aus. So überlegt er während einer gemeinsamen Wanderung in den den nahen Bergen:

Wie schon zuvor betrachtete ich meine Tochter von hinten, studierte ihre schreckliche Schönheit, widmete mich meiner schrecklichen Liebe. (…) Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem das geschehen war. Sarah war drei Monate alt, und obwohl ich bei allen mit dem Vatersein verbundenen Ängsten glücklich war, war mir meine Liebe zu meiner Tochter bis zu diesem Tag abstrakt, amorph, distanziert vorgekommen. Ich wischte mir gerade ihren sauren Speichel vom Hemd, als ich in ihr ziemlich ausdrucksloses kleines Gesicht sah, und es war um mich geschehen. Restlos. Vollständig. Unverzeihlich.

Und nun war ich hier auf diesem öden Berg, in diesen Wäldern,und ging ihr hinterher. Falls ein Bär oder ein Puma aus dem Unterholz käme, würde ich ihn mit bloßen Händen töten, um sie zu beschützen. Meine einzige Aufgabe im Leben bestand darin, dieses kleine Tier am Leben zu halten, und das konnte ich nicht. Hinter ihr auf diesem Pfad überlegte ich nicht, dass ich ein guter Vater, ein liebevoller Vater sein, sondern, dass ich weiterhin Vater bleiben wollte.

Percival Everett – Erschütterung, S. 128

Die Rettung in Form einer Jacke

Inmitten dieser Grenzerfahrung findet Zach Wells eher zufällig Ablenkung und neuen Sinn. In einer auf Ebay bestellten Secondhand-Jacke versteckt sich ein kleiner Zettel mit einem spanischsprachigen Hilferuf. Dieser setzt ihn auf die Fährte amerikanischer Nazis, die auf ihren Anteil am Verschwinden junger Frauen im kalifornisch-mexikanischen Grenzland haben. In diesem Hilferuf findet Wells Sinn und Ablenkung und erfährt damit auch einen neuen Weg aus seiner in Routine und Angst erstarrten Welt.

Erschütterung ist das Psychogramm eines mittelalten Akademikers, dessen sicher geglaubte Existenz gehörig ins Wanken gerät. Und während Richard Russo aus dieser Ausgangslage jüngst ein ironisch-heiteres Porträt zauberte, ist die Registerwahl von Percial Everett eine ganz andere.

Eindringlich und literarisch überzeugend

Zwar kann man Erschütterung auch als Campusroman lesen – es sind alle Zutaten vorhanden, inklusive Unibesetzung mitsamt aktueller Rassismus-Debatte. Aber es ist das Privatleben und die Bindung zu seiner Tochter, die in diesem Roman den größten Raum einnimmt. Everett konzentriert sich ganz unmittelbar auf Zach Wells, der als Ich-Erzähler aus seiner kleinen, abgeschlossenen Welt erzählt. Und dennoch findet sich hier bei allem Kokettieren mit der eigenen Belanglosigkeit Tiefe und Wucht, da es Everett hervorragend gelingt, die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten zu vermitteln und fühlbar zu machen. Das Ringen mit den eigenen Gefühlen, Tochterliebe, eheliche Erstarrung – all das schildert Percival eindringlich und literarisch überzeugend.

Immer wieder zerteilen kleine Schnipsel wie etwa Schachstellungen oder wissenschaftliche Kurzbeschreibungen die Gedanken und Schilderungen von Zach Wells. Er erzählt von seinem universitären Alltag, den Verlockungen und der Suche nach der Wahrheit hinter dem Hilferuf. All das ist bestechend komponiert und entwickelt wirklich einen Sog, der erst mit der letzten Seite abreißt. Hier ist nichts zuviel, keine Belanglosigkeit oder Geschwätzigkeit. Erschütterung ist das Proträt eines Mannes, der sämtliche Gewissheiten verliert und der dennoch das Richtige tun will. Everett vermisst die Seele seines Helden, die Landschaft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet und erzählt daneben auch en passant einen Krimi, der neben der Vielzahl von anderen Romanen mit gleichem Schauplatz bestehen kann.

Fazit

Erschütterung ist ein starker Roman, der von Nikolaus Stingl übersetzt nun bei Hanser erschienen ist. Percival Everett gelingt das eindringliche Bild eines Akademikers, dem seine Gewissheit abhandenkommt und der sich mit einem drohenden Verlust abfinden muss, obwohl er sich doch so bequem in seinem Leben eingerichtet hat. Bestechend erzählt und schon jetzt einer dieser Frühjahrstitel, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.

Und nicht zuletzt ist dieses Buch auch der rare Fall eines Romans, dessen deutscher Titel deutlich treffender als das amerikanische Original namens Telephone ist.

  • Percival Everett – Erschütterung
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27266-8 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 23,00 €
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