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Lawrence Osborne – Welch schöne Tiere wir sind

Jeunesse dorée: zu dieser Klasse könnte man unzweifelhaft Naomi und ihre Freundin Samantha zählen. Als Tochter eines Millionärs kennt die junge Britin Naomi so etwas wie Sorgen eigentlich nicht. Zusammen mit ihrem Vater und der Stiefmutter verbringen sie die Sommer auf der griechischen Insel Hydra. Dort besitzt ihr Vater eine luxuriöse Immobilie, zu deren Vorbesitzern Leonard Cohen gehörte.

Auf der Insel Hydra schließt sie mit Samantha Freundschaft, die aus den Vereinigten Staaten stammt und deren Vater zur Rekonvaleszenz auf Hydra weilt. Schließlich gibt es auf der Insel weder Fahrräder noch Autos – und somit wenig Ablenkung und potentielle Gefahrenquellen, die einer Gesundung entgegenstehen.

Sommer auf Griechenland, das bedeutet Sonne, weißer Strand, Drogen, Schwimmausflüge – aber damit hat es sich dann aber auch schon wieder. Die Tage tropfen so zähflüssig wie der autochthone Honig vom Löffel, der im Buch immer wieder konsumiert wird. Ein schönes Symbolbild für den Stillstand, der auf der autofreien Insel herrscht. Zwar mangelt es an nichts, aber es entwickelt sich eben auch eine Langweile inmitten der ewigen Routine.

In dieses Einerlei aus Müßiggang platzt schon bald eine Begegnung, die für willkommene Abwechslung im Leben der beiden jungen Frauen sorgt. Sie entdecken auf der Insel Faoud, einen Geflüchteten, dessen Herkunft und Geschichte etwas unklar sind. Als Projekt gegen die Langeweile beschließen die beiden Frauen, sich des Mannes anzunehmen. Sie versorgen ihn mit Kleidung, organisieren eine Unterkunft für den Flüchtling – und schmieden schon bald einen verhängnisvollen Plan, der tödliche Konsequenzen nach sich zieht. Mehr sollte an dieser Stelle nicht verraten werden.

Sommerhelle und tiefe Finsternis

Lawrence Osborne gelingt es in seinem zweiten Roman (zuletzt Denen man vergibt, erschienen bei Wagenbach) eine faszinierende Mischung aus Sommerhelle und dunkelster Finsternis zu kreieren. So fängt er die Stimmung auf der Insel Hydra mit tollen Bildern und großen Sprachgirlanden ein. Beispiel gefällig?

Vom Bootssteg des kleinen Örtchens Palamidas stiegen sie eine Stunde lang nach Episkopi auf, bis sie Schluchten und unebene Felder umgaben, auf denen Alpenveilchen überdauerten. Sie setzten sich auf eine Steinmauer und blickten aufs Meer hinunter, auf die massiven, kahlen Inseln, den Schatten von Dokos und die bleiche Masse der Peleponnes dahinter. Berghänge fielen zu einer zerklüfteten Küste ab, die auf kupfergrünes Wasser traf, die steil aufgerichteten Oberflächen mit grauen Felsen und zitterndem Salbei befleckt. Einsame, gotisch geformte Agaven schossen unerwartet auf, die Häupter vom Wind zur Seite gefegt, und um sie herum lagen alte Eselzäune aus Draht wie angespültes Wrackgut, verknotet mit fortgeworfenen Bettgestellen und alten Haustüren. Es sah aus wie ein Land, das sich Zeit ließ mit dem Sterben, mit der Rückkehr ins Prähistorische.

Osborne, Lawrence: Welch schöne Tiere wir sind, S. 76

Die Landschaftsbeschreibungen und die Settings, die Osborne geradezu altmodisch schildert, gefielen mir richtig gut; vor allem, da in ihnen auch stets das Morbide als Prophetie mitschwingt. An dieser Stelle muss auch der Übersetzer Stephan Kleiner erwähnt werden. Dieser überträgt ansonsten unter anderem auch Hanya Yanagihara und Michel Houllebecq ins Deutsche. Ihm gelingt es, die bildsatte Sprache und die manchmal geradezu klinisch kalten Dialoge gut ins Deutsche zu übertragen.

Kammerspiel, Shakespeare, Sommer, Insel – alles drin!

Auch wenn der Anfang des Buchs noch gemächlich sein mag, so ändert sich das Tempo und der Tonfall des Buchs dann in der zweiten Hälfte enorm. Vieles im Buch erinnerte mich zu Beginn manchmal an Tennesse Williams Die Katze auf dem heißen Blechdach. Auch habe ich deutliche Anleihen bei den Dramen William Shakespeares ausgemacht. Der zweite Teil kippt dann in einen waschechten Thriller (bei dem man die ein oder andere Unwahrscheinlichkeit in Kauf nehmen sollte). Die Registerwechsel im Buch werden von Osborne aber gut vollzogen. Ihm gelingt es immer, die sonnendurchflutete aber sehr untergründige Stimmung beizubehalten.

Dafür nimmt man es dann auch in Kauf, dass Osborne die Oberflächlichkeit im Buch eben auch an Klischees bzw. abgenutzten Erzählfiguren aufhängt. Denn die Oberflächlichkeit der Jeunesse dorée wird dadurch besonders transparent. Mag der Kontostand auch nie Thema von bangen Überlegungen sein – am Ende des Buchs werden auch Samantha oder Naomi nicht glücklicher sein. Im Gegenteil. Und diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, in Welch schöne Tiere wir sind liest sich das Ganze aber wirklich weg wie ein ein Eiswürfel, der unter der griechischen Sonne schmilzt.

Und so fällt dann auch mein Fazit aus. Man erhält mit Welch schöne Tiere wir sind ein vielfältiges Buch. Ein Blick ins Leben der Oberen Zehntausend (wenngleich nicht ganz klischeefrei). Ein Buch über die Frage, wie wir mit Geflüchteten umgehen. Einen spannenden griechischen (und italienischen) Thriller. Ein Kammerspiel. Oder um es kurz zu machen: sehr gute und stilsichere Literatur!


Auch andere Blogger haben das Buch gelesen und besprochen – mit teils unterschiedlichen Endergebnissen. Eine Rezension findet sich unter anderem bei Alexandra im Bücherkaffee und eine andere Besprechung hat Petra vom Blog LiteraturReich verfasst.

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Jean-Baptiste del Amo – Tierreich

Und der HERR redete mit Mose und Aaron und sprach zu ihnen: Redet mit den Kindern Israel und sprecht: Das sind die Tiere, die ihr essen sollt unter allen Tieren auf Erden. Alles, was die Klauen spaltet und wiederkäut unter den Tieren, das sollt ihr essen. Was aber wiederkäut und hat Klauen und spaltet sie doch nicht, wie das Kamel, das ist euch unrein, und ihr sollt’s nicht essen. Die Kaninchen wiederkäuen wohl, aber sie spalten die Klauen nicht; darum sind sie unrein. Der Hase wiederkäut auch, aber er spaltet die Klauen nicht; darum ist er euch unrein. Und ein Schwein spaltet wohl die Klauen, aber es wiederkäut nicht; darum soll’s euch unrein sein. Von dieser Fleisch sollt ihr nicht essen noch ihr Aas anrühren; denn sie sind euch unrein.

3. Buch Mose, Kapitel 11

Das Schwein als unreines Tier – sucht man die Ursprünge dieses Mythos, dann wird man im Alten Testament fündig. Bis heute hält sich dieses Bild, und das in mannigfaltiger Hinsicht. Sowohl in religiöser als auch in äußerlicher Hinsicht gilt vielen das Schwein als schmutzig. Es riecht stark, wälzt sich im Schlamm, verzehrt alles, was ihm vor den Rüssel kommt. Dass Schweine zu den intelligentesten Tieren im Tierreich zählen, das fällt dabei oft unter den Tisch.

Vom ambivalenten Verhältnis von Mensch und Tier erzählt auch der Franzose Jean-Baptiste del Amo in seinem Roman Tierreich (erschienen bei Matthes& Seitz). Er setzt fünf Generationen gascognischer Schweinezüchter in den Mittelpunkt seines Romans. Diese bewirtschaften zunächst einen kleinen Pachtbetrieb in Puy-Larroque, einem Dorf am Fuß der Pyrenäen. Doch schon bald geht das 19. Jahrhundert und damit das Zeitalter der Industrialisierung zuende. Doch nun setzt eine andere Industralisierung ein – die des Fleischs.

Von Schweinen und Menschen

Eindrucksvoll gelingt es Del Amo in seinem Buch aufzuzeigen, wie sich der Hunger nach Fleisch innerhalb nur weniger Generationen und Jahre exponentiell steigert. Setzt die erste Generation der Gascogner Bauern noch auf eine Co-Existenz mit dem Schwein, so wird am Ende des Buchs im Jahr 1981 eine schon fast pervers übersteigerte Schweinezuchtanlage stehen, in der die Tiere im Tagestakt werfen und zur Schlachtbank geführt werden.

Die Sublimation des Schweins vom bäuerlichen Nutztier bis hin zur reinen Mäst- und Schlachtmasse, das ist ein Thema, das in Tierreich grandios und ebenso erschütternd inszeniert wird.

Ebenso eindrucksvoll ist die Milieustudie eines Bauernhofs über die Zeit hinweg, die Del Amo mit höchster Akribie betreibt. Beginnend im Jahr 1898 zeigt er die Lebensverhältnisse der Bauern, das dörfliche Leben, das harte Ringen ums Überleben. Die Bewirtschaftung der eigenen Scholle, den kalten und effizienten Umgang der Menschen untereinander, der höchstens etwas Raum für Bigotterie lässt – all das liest sich unheimlich dicht und bildstark. Die Vorstudien für Del Amos Buch müssen von größter Genauigkeit und Detailverliebtheit gewesen sein. Anders ist dieses gekonnte Einfühlen in alle Lebensverhältnisse nicht zu erklären.

Die engen und düsteren Bauernstuben, den Wahnsinn des Schlachthauses 1. Weltkrieg, die industrialisierten Mastanlagen – stets findet der Franzose (Jahrgang 1981) Bilder, die sich einprägen und die den oder die Leser*in sicher nicht mehr so schnell loslassen. Del Amo verzichtet auf jede Art von Weichzeichner – was teilweise schwer erträglich ist, aber genau deswegen auch so gut ist.

An der Grenze des Erträglichen – und deshalb so gut

Menschen, die äußere Schönheit mit ästhetischer Schönheit gleichsetzen (oder verwechseln, wie ich meine), die dürften mit diesem Buch garantiert nicht glücklich werden. Zwar gelingt es Del Amo meisterhaft, gerade in der ersten Hälfte bis hin zum Ersten Weltkrieg, eine Natur zu schildern, die man in dieser Benennungsstärke und Dichte kaum in anderen Büchern findet. Doch damit erschlägt man eben nur einen Teil des Buchs.

Denn das entschleunigte Leben gerade vor dem Weltkrieg, es hält auch jede Menge Schmutz, Derbheit und Obszönität bereit. Konsequent naturalistisch schildert der Franzose all das, was bei uns als tabuisiert gilt – egal ob bei Tier oder Mensch. Das Sterben, Ausscheidungen, sexuelle Gelüste bei Mensch und Tier, Triebe und Abgründe – all das ist in Tierreich bis hart an die Grenze des Erträglichen (und manchmal auch darüber hinaus) ausgeführt. Da wird beschrieben, wie der Leichensaft einer aufgebahrten Leiche das Holzbett durchsickert, wie eine Mutter eine Fehlgeburt den Schweinen zum Fraß vorwirft und dergleichen mehr. Das lässt oftmals schlucken, auch wenn man ahnt, wie es in vergangen Zeit zugegangen sein muss.

Dass das alles noch vor dem Ersten Weltkrieg passiert und wir dann noch einen Sprung ins Jahr 1981 vor uns haben, lässt dann schon ahnen, dass hier konsequenterweise auch nicht alles schöner oder besser werden wird.

Um es auf eine griffige Formel zu bringen: Jean-Baptiste del Amo schaut nicht weg, sondern eben genau hin. Unbarmherzig hält er seine Blick auf die Dinge gerichtet, auch wenn diese teilweise schwer erträglich sind. Die Unreinheit und Schmutzigkeit, die ja dem Schwein attributiert wird, sie ist hier konsequenterweise allgegenwärtig. Schweinisch eben.

Und das erwarte ich auch von guter Literatur, die nicht gefallen will, sondern unangepasst und unbequem ist. Sie soll mir Dinge zu zeigen, die nicht in meiner Komfortzone liegen, sondern die mich auch herausfordern und Dinge überdenken lassen, auch eben in ästhetischer Hinsicht.

Ein Feuerwerk der Sprache und Übersetzungskunst

Dass all diese oben beschriebenen Grausamkeiten und letzten Ende auch das ganze Buch dennoch so eindrücklich und genau sind, das hat auch einen ganz bestimmten Grund: die Sprache des jungen Franzosen, die bei ihm ein Instrument von größter Präzision ist. Ich kann mich an kein Buch in zurückliegender Zeit erinnern, das für alle Milieus, Zeiten und Ereignisse so einen guten sprachlichen Zugriff gefunden hat. Dass dem so ist, ist in genauso großem Maße natürlich auch der Übersetzerin Karin Uttendöfer zuzuschreiben. Wie sie den Sound und das teilweise hochspezielle bäuerlichen Sprachgewebe zu durchdringen vermag, das ist große Übersetzungskunst. Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung war und ist da mehr als nur angemessen.


Ein Buch, das zugleich schweinisch und saustark ist. Eines, das ein sprachliches Kunstwerk ist. Und eines, das die Beziehung von Schwein und Mensch neu sehen lässt. All das ist Tierreich von Jean-Baptiste del Amo.

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Vea Kaiser – Rückwärtswalzer oder Die Manen der Familie Prischinger

Zu Besuch in der literarischen Apotheke

Vea Kaiser muss vor der Arbeit an Rückwärtswalzer eine literarische Apotheke besucht haben. In dieser Apotheke gibt es Schubladen und Regale vom Boden bis zur Decke. In diesen Schubladen, so stelle ich es mir vor, schlummern alle möglichen Ingredenzien, die man zum Verfassen eines Buchs brauchen könnte. Hinter einigen Türchen verbergen sich Plotzutaten wie Spannungsbögen, überraschende Wendungen oder für Krimischreiber*innen der ein oder andere Whodunnit. In anderen Ablagen hingegen befinden sich widersprüchliche Figuren, Schicksalsschläge oder Verwechslungen, die Bücher anreichern können.

Für Genres gibt es wieder eine ganze Abteilung mit Schubladen wie etwa Familienroman, Krimi, Entwicklungsroman oder Schmonzette. Fläschchen beinhalten Stimmungen wie Traurigkeit, Melancholie oder Lebensfreude, die über die Bücher gesprüht werden können.

Alles ist da, man kann zugreifen und sich seine Bücher nach Herzenslaune zusammenbauen. Es gibt Autor*innen, die diese literarische Apotheke eher selten benutzen und wenn dann höchsten ein oder zweimal verschämt in Schubladen greifen. Dann gibt es aber auch Schreiber*innen wie Vea Kaiser, die vor jedem Buch ein paar Mal in der Apotheke vorbeischauen und die Zutaten in Massen nach Hause schleppen, um daraus dann ihre Romane zu basteln.

Diesmal muss sich die österreichische Autorin besonders lang in der Genre- und Figurenabteilung aufgehalten haben. Sie hat bei den Familienromanen und der Gattung Road Novel zugeschlagen, Slapstick, Traurigkeit, Humor und besonders viele skurrile Figuren in ihre Tüten eingepackt. Und all diese Zutaten finden sich nun in ihrem neuen Roman Rückwärtswalzer .

Hedi, Wetti, Mirl, der Lorenz – und eine tiefgekühlte Leiche

So ist der Roman zuvorderst auf seinem skurrilen Personal aufgebaut. Da gibt es den glücklosen und ziemlich bankrotten Schauspieler Lorenz, der von seiner Freundin verlassen Halt bei der Familie sucht. Dann gibt es die drei Tanten namens Hedi, Wetti und Mirl, die alle ganz eigene Vergangenheiten haben, und die mit ihrer Kochbegeisterung und dem omnipräsenten Speiseangebot auch ganze Kompanien des österreichischen Bundesheers versorgen könnten. Und da ist Onkel Willi, der mit seiner Verehrung des Diktators Tito, für dessen Meisterspion er sich selbst hält, auf die Nerven fällt.

Doch dann ist plötzlich der Onkel Willi tot, was die Tanten auf einen skurrilen Plan ruft: Onkel Willi stammt aus Montenegro, wo er auch unbedingt seine letzte Ruhe finden wollte. Doch das Geld für eine Überführung ist weg, und so werden die Tanten und Lorenz aktiv. Der Großvater wird in der Kühlkammer des benachbarten Fleischhauers tiefgekühlt, ehe es dann mit der schockgefrosteten Leiche, den drei Tanten auf der Rückbank und Lorenz am Steuer gen Montenegro geht.

Wenn man nach drei Büchern ein Thema im Schreiben Vea Kaisers ausgemacht haben kann, dann ist es wohl die Familie und die Frage des sozialen Verbunds. In Blasmusikpop war es ein ganzes Dorf, das im Fokus stand. In Makarionissi war Vea Kaiser dann auf die Generationen einer chaotischen griechischen Familie konzentriert. Und nun geht es eben um die Familie Prischinger und die Frage, was die Familie im Innersten zusammenhält.

Hierfür variiert die Österreicherin ihre Schreibweise, indem sie diesmal keinen ganz chronologischen Ansatz verfolgt. Ging es doch in den ersten beiden Büchern in immer kleiner werdenden Schritten von der Vergangenheit in die Gegenwart, operiert sie diesmal mit zwei Erzählsträngen. Der eine ist der oben geschilderte Erzählstrang, der das Verscheiden Onkel Willis und die Reise nach Montenegro beschreibt.

In diesen Strang hinein schneidet Kaiser immer wieder Episoden aus dem Leben der Beteiligten durch die Jahrzehnte hindurch. Eine spannende Montagetechnik, für den Kaiser den Begriff des Rückwärtswalzers erfunden hat.

So bekommen die Tanten alle unterschiedliche Schicksale verpasst, Willis Geschichte wird klarer und auch Lorenz bekommt ein bisschen eine Entwicklung zugestanden. Vom trägen Waschlappen bis zum Leichenchauffeur – muss man ja auch erst einmal schaffen.

Ein österreichischer Roman im besten Sinne

Rückwärtswalzer ist ein österreichischer Roman im besten Sinne. Stets ist die Faszination des Morbiden und des Jenseitigen präsent, egal ob in Form der tiefgefrorene Leiche oder als Tod durch Silagegase. Dies geht dann aber auch wieder mit einer großen Portion Humor einher, der manchmal auch fast etwas in kalauerhafte und Peter-Steiners-Theaterstadelhafte kippt. Doch insgesamt balanciert Vea Kaiser ihre Geschichte dann schon immer wieder gut aus, sodass es vom Lachen bis zur Traurigkeit oder Melancholie nur ein kurzer Sprung ist. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Die Mischung aus der literarischen Apotheke ist ganz gut abgewogen.

Eine Hymne auf den Familienverbund, ein Gruß an John Irving (der Bär lässt grüßen) und Shakespeare (die drei Tanten weckten bei mir manchmal Erinnerungen an Macbeth), ein facettenreiches Buch, das ich ohne Bedenken weiterempfehlen kann, egal ob hier in der Bibliothek oder als Geschenk für Bekannte.

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Susan Hill – Stummes Echo

Ich wollte es eigentlich nicht – doch auch in dieser Besprechung muss einmal mehr das schon zur Sentenz geronnene Anfangswort aus Tolstois Anna Karenina stehen. Es bietet sich einfach zu gut an:

Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.

Tolstoi, Lew: Anna Karenina, S. 3

Auch Susan Hill scheint sich bei ihrem Roman Inspiration beim russischen Altmeister geholt haben. Ihr erstaunlich kurzer, nur 164 Seiten langer Roman Stummes Echo illustriert Tolstois These nämlich einmal mehr. Ihr Roman dreht sich um die vier Kinder einer Familie, die der Tod der Mutter zusammenbringt.

Da wäre May, die wieder nach Umwegen auf den heimischen Hof The Beacon zurückgekehrt ist. Ein Versuch eines Studiums in London und eine Tätigkeit in einem Kloster waren doch nur Station, ehe sie wieder an den heimischen Herd zurückkehrte, bedingt durch den Tod des Vaters und die Pflegebedürftigkeit der Mutter.

Ihre Geschwister Colin, Berenice und Frank haben The Beacon hingegen den Rücken gekehrt. Sie alle leben ihre eigene Leben, wobei vor allem das Tuch zwischen den drei Geschwistern und Frank zerschnitten ist. Den Grund dafür arbeitet Hill erst allmählich heraus.

Nun also der Tod der Mutter und damit verbunden die Geschehnisse, die man schon aus unzähligen Romanen und Filmen kennt. Die verstreut lebenden Geschwister finden sich wieder ein. Schließlich muss die Beerdigung ihrer Mutter organisiert werden. Und auch die Verlesung des Testaments steht noch aus – also raufen sich alle zusammen und versuchen, der Mutter die letzte Ehre zu erweisen.

Eine Familie, vier Kinder, viele Probleme – 164 Seiten

Das ist im Grunde die ganze Handlung hinter Stummes Echo. Wenn ich oben schrieb, dass man die Motive und Geschehnisse schon aus anderen Romanen und Filmen kennt, dann ist das auch die Stärke und Schwäche des Buchs zugleich. Stärke, da es Hill wirklich gelingt, auf den 164 Seitenihre Figuren vernünftig auszugestalten, aufeinandertreffen zu lassen und die Motivationen kurz und knapp zu beleuchten – und zwar so, ohne dass man das Gefühl hat, es fehle etwas oder wäre zu überstürzt beschrieben.

Gut reduziert Hill ihr Buch auf das Wesentliche – das aber nichts Neues bietet. Das ist eben die zugleich angedeutete Schwäche. Die Reihe derer, die um die Fragilität der Familie wussten und wissen, ist lang. Schon Tolstoi hat den allzugrüchigen Frieden, der sich Familie nennt, eindrucksvoll thematisiert. Und bis heute ist es ein Thema, zuletzt beispielsweise in Karl-Heinz Otts Die Auferstehung.

Dieses Thema ist schon landauf landab behandelt worden. Man könnte es auf die Formel bringen: alles ist schon gesagt worden – aber noch nicht von jedem. Und so bearbeitet Susan Hill dieses Thema eben einmal mehr, ohne dem Sujet etwas Neues hinzufügen zu können oder dem Ganzen besondere Aspekte abringen zu können.

Stummes Echo ist eine nette kleine Geschichte. Eine sonderliche Tiefenwirkung oder Erinnerungswürdigkeit besitzt das Buch in meinen Augen allerdings leider in nur geringem Maße.

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C. E. Morgan – Der Sport der Könige

Zucht und (Familien)Ordnung

Es gibt Bücher, die machen es dem Leser (respektive mir) nicht leicht. Man muss sich durch so manche Seiten kämpfen, bleibt immer wieder hängen. Das Ende des Buchs scheint in weiter Ferne – lohnt sich da das Durchhalten? Oder sollte man nicht lieber abbrechen und die Zeit besser investieren?

In vielen Fällen würde ich energisch für Letzteres werben, im Falle von Der Sport der Könige bin ich ich froh, dies nicht getan zu haben. Warum?

Viele Leser*innen werden schon die äußeren Werte des Buchs abschrecken. Über 960 Seiten umfasst das von Thomas Gunkel übersetzte Werk. Und dann ist das Thema noch dazu auf den ersten Blick eines, das jetzt auch keine Jubelstürme auslösen dürfte. Pferdezucht im Süden der USA, und das über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg. Das dürfte so einige Leser*innen zurückschrecken lassen.

Und tatsächlich gab es auch bei mir immer wieder Phasen, in denen ich das Buch zuklappen und beiseite legen wollte. Denn Morgans Roman bietet dazu reichlich Gelegenheit. Oftmals fehlt gerade im zweiten und dritten Fünftel des Romans die Spannkraft und der Fokus. Immer wieder wechselt die Autorin Erzählperspektive und Figuren (und das teilweise auch ohne wirkliche Not). Springt in der Zeit hin und her, ist mal bei den Siedlern und Sklaven, die das Land von Kentucky prägten. Dann nimmt sie von einem Absatz auf den anderen neue Figuren in den Fokus, erzählt mal im Präteritum, dann wieder im Präsens. Logisch ist das nicht immer und hätte deutliche Straffungen durch ein Lektorat verdient. Doch das Ganze belohnt auch, schließlich ist die Geschichte hinter Der Sport der Könige eine durchaus spannende. Aber worum geht es überhaupt in diesem sehr amerikanischen Roman und was kennzeichnet das Buch?

Eine Familiengeschichte aus Kentucky

Die Folie des Opus Magnum bietet die Familiengeschichte der Forges. Einst gelangte ein Vorfahr von Henry Forge mit einem Sklaven nach Kentucky, wo er sich niederließ und den Grundstein für die erfolgreiche Dynastie legte. Generation folgte auf Generation und machte sich das fruchtbare Land untertan. Erst Henry Forge schert aus der agrikulturellen Erblinie der Familie aus. Er hegt schon als Kind den Traum, Pferde zu züchten. Und für diesen Traum kämpft er und infiziert mit seinen Visionen auch seine Tochter. Zusammen versuchen sie, ein Rennpferd zu züchten, das die Konkurrenz bei Rennen weit hinter sich lässt.

Doch Konkurrenz und Rivalität gibt es nicht nur zwischen den Pferden und zwischen den jeweiligen Ställen. Auch die Familiengeschichte der Forges ist vermintes Terrain. Immer wieder prallen die Lebenswelten von Henry und seiner Tochter Henrietta aufeinander. Die Widersprüche zwischen altem (zutiefst rassistischen) Denken in der Tradition des Südens und einer weiblichen, von Fortschritt geprägten Sicht auf das Leben bilden eine explosive Gemengelage.

Den zündenden Funken an der Lunte jenes Forge’schen Pulverfasses bildet der Pferdepfleger Allmon. Er kommt zur Farm, nachdem er zuvor jahrelang im Gefängnis gesessen hatte (wofür, das erklärt C. E. Morgan wohldosiert im Laufe des Buchs). Er übernimmt durchaus talentiert die Aufzucht und Betreuung der Pferde in den Ställen von Henry und Henrietta. Doch bei einem normalen Dienstherr-Angestellten-Verhältnis bleibt es nicht.

Henrys Tochter fühlt sich stark zu dem schwarzen Ex-Häftling hingezogen, was auch bei Henry nicht unbemerkt bleibt. Für ihn als einen Rassisten reinsten Wassers ist dies natürlich ein einziger Affront, den er mit allen Mitteln verhindern will. Doch die drei Parteien verstricken sich durch ihr Begehren, ihr Taktieren und ihre Intrigen in ein Netz, dass sie unauflöslich umspinnt.

Das Menschliche im Tier, das Tierische im Menschen

Das Spannende an Morgans Roman ist, dass sie die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen lässt. So sind für sie die Pferderennen und die damit einhergehende zirkusähnlichen Events nur Stellvertreterkriege. Die wahren Rivalitäten spielen sich zwischen den Pferdezüchtern, Rennstallbesitzern und Jockeys ab. Sie bringen die echten Rivalitäten ans Tageslicht und enthüllen das animalische Erbe, das sich in den Konkurrenzkämpfen Bahn bricht. Besonders eindringlich sind dementsprechend auch die Szenen mit den großen Schauwerten geraten. Die Beschreibungen der Pferderennen rufen Erinnerungen an andere große Pferderennklassiker wach, allen voran Ben Hur oder die Krimis von Dick Francis.

Aber auch in anderen Szenen gelingt es C. E. Morgan hervorragend, sowohl höchst mitreißend, als auch metaphernsatt zu erzählen. So schildert sie höchst anschaulich den Alltag von Pferdezüchtern, unter anderem eben auch die Besamung einer Pferdestute. Von der Mechanik dieser Szene weiß sie dann geschickt auf die menschliche Sexualität überzuleiten – auch hier kommt sie wieder vom Tierischen zum Menschlichen. Dass sich beides kaum unterscheidet, das wird in der Der Sport der Könige immer wieder klar.

Die Anziehung und Hassliebe zwischen Henrietta und Allmon, die sich immer wieder explosiv Bahn bricht, wird von ihr nuanciert gezeichnet. Aber auch hier ist Henry ein unausweichlicher Teil, dem die Affäre zwischen seiner Tochter und dem Ex-Häflting nicht verborgen bleibt. Soll er dieses Begehren seines einfach akzeptieren, oder muss er versuchen, die Bande auch im Sinne seines dem Rassismus verhafteten Denkens zu kappen?

Diesen erfolgreichen Tiertrainer in die Wüste schicken und seine Tochter dabei vielleicht verliere – oder dem potentiellen Erfolg mit seinem Pferd alles unterordnen? Es ist auch diese Schwanken zwischen Kalkül und Gefühl, aus dem Morgans Buch seinen Reiz zieht. Die Amerikanerin lässt die Leser*innen selbst abwägen und vermeidet dadurch den Fehler, alles selbst allzu genau zu bewerten und damit dem Buch die moralische Spannung zu entziehen.

Großer Stilwillen – mit Problemen

Wie ich eingangs schon schrieb, machte es mir dieses Buch alles andere als leicht. Lässt man das Thema und die amerikanische Zentrierung auf die Familie als Kernzelle des Romans beiseite bleibt immer noch die Frage: wie ist der Stoff erzählt?

Hier zeigt sich der große Formwillen von C. E. Morgan, die mit dem Buch fast an der magischen 1000-Seiten-Grenze kratzt. Dies ist erlaubt, da das Buch von der erzählten Zeit her eine riesige Spanne umfasst. Mehrere Generationen werden in Der Sport der Könige betrachtet und sogar bis zurück in die Sklavenzeit springt die Autorin. Jene für Amerika identitätsstiftende Periode ruft sie mit immer wieder zwischengeschalteten Binnenepisoden wach. Diese schildern anschaulich das Schicksal von Sklaven. Das ist gut gedacht und gemacht, da ja der Rassismus DAS große Subthema des Buchs ist und dementsprechend einer umspannenden Betrachtung mit historischem Blick bedarf.

Nun schrieb ich oben, dass die 960 Seiten auf alle Fälle erlaubt sind. Doch die andere Frage lautet, ob diese Fülle an Seiten wirklich alle notwendig ist – versteht die Autorin alle 960 Seiten konzise mit Inhalt zu füllen und sind diese für die Handlung alle unerlässlich? Da sieht die Sache in meinen Augen schon wieder ganz anders aus.

Oftmals hängen die Erzählbögen nämlich ordentlich durch, lassen Dynamik und Esprit vermissen. Dies sorgte bei mir dann für jenes Durchhänger-Gefühl, das mich nach dem Start bis zur Mitte des Buches hin (immerhin über 300 Seiten) befiel. Wo will die Autorin hin und warum kommt sie damit nicht eher auf den Punkt? Diesem Gefühl meiner Lesefrustration hätte durch das stärkere Einwirken einer Lektorin oder eines Lektors sicherlich Abhilfe verschafft werden können.

So muss nicht jeder Verästelung des Familienstammbaums nachgegangen werden, um bestimmt Ansichten oder Ereignisse zu belegen. Ein Fokus auf wenige entscheidende Momente in den Generationengeschichten und Schlaglichter auf Momente, die für die Charakterprägung der Protagonisten entscheidend waren, dies wäre für mich die bessere erzählerischen Entscheidung gewesen. So ist doch vieles ausgewalzt oder manchmal auch überflüssig – um nicht von den so manches Mal störenden oder überflüssigen stilistischen Flachsen, die dieser Text besitzt.

Gerade aber zum Ende des Buchs hin rundet sich dann aber auch vieles, die erzählerischen Bögen hinter ihren erzählerischen Finten werden manifest. Gerade das Ende und der wirklich starke Abschluss versöhnen dann doch mit dem ziellosen (manchmal auch nur so erscheinenden) Mäandern im Mittelteil. Doch auf diesem Weg bis hin zum Erkenntnisgewinn riskiert es C. E. Morgan mit ihren erzählerischen Kapriolen und Ausschweifungen, so manche Leser’in zu verlieren. Das ist schade, denn wie bei jedem guten Pferderennen ist doch der Zieleinlauf das Spannende und Entscheidende.

So braucht es aber jede Menge Puste und Geduld, um mit C. E. Morgan den Sport der Könige zu betreiben und mit ihr auf die Strecke zu gehen. Doch es lohnt sich!

Henry trat vom Zaun zurück und begriff plötzlich: Wenn man alle Rennbahnen auf der Welt schloss , jedes Zaumzeug weghängte und jedes Koppeltor aufstieß, würden Pferde immer noch in der offenen Prärie hintereinander herjagen. Es war unausweichlich, unbezweifelbar, denn ihr Wettstreit war angeboren. Neben dem natürlichen Ehrgeiz von Tieren waren die größten Träume der Menschen nichts als plumpe Machenschaften.

Morgan, C. E.: Der Sport der Könige, S. 904

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