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Ulrike Draesner – Schwitters

Literarische Künstlerbiografien boomen. Beschäftigte sich mit Markus Orths jüngst mit dem Maler Max Ernst, so wandte sich Robert Seethaler in seinem aktuellen Buch dem Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler zu. Und das mit durchwachsenem Erfolg. Nun hat sich auch Ulrike Draesner einen bedeutenden Künstler ausgesucht, von dessen Leben sie erzählt. Es handelt sich um Kurt Schwitters. Einflussreicher Dadaist, Gestalter, Fotograf, Künstler und Urheber des Gedichts An Anna Blume. Ein umtriebiger, getriebener Mensch und ein Sprachkünstler. Ein Protagonist, wie gemacht also für Ulrike Draesner, Professorin für Deutsche Literatur und akribische Spracharbeiterin.

Ein dreigeteiltes Leben

Nach ihrem kompakten Männerporträt in Kanalschwimmer nun also Kurt Schwitters. Dessen Leben erzählt sie dreigeteilt, einsetzend zur Zeit des Nationalsozialismus. Kurt Schwitters entschließt sich, zusammen mit seinem Sohn Ernst und dessen Frau nach Norwegen vor den Nazis zu fliehen. Dort, wo die Familie schon zuvor auf der Insel Hjertøya ihre Urlaube verbrachte, versucht er sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken. Zuvor hatten sie Schwitters Kunst als „entartet“ gebrandmarkt. Seine Frau Helma bleibt derweil in der familieneigenen Villa in Hannover zurück.

Ulrike Draesner - Schwitters (Cover)

Doch der Eroberungswillen der Nationalsozialisten kennt keine Grenzen. Immer weiter rücken sie in den Norden vor. Und so tritt Kurt mit seinem Sohn erneut die Flucht Flucht an, immer höher in den Norden hinauf. Schließlich entkommen sie per Schiff aus Norwegen. Eine Odyssee schließt sich an, bei der sie sich schließlich in einem Internierungslager auf der Isle of Man wiederfinden.

Der zweite Teil erzählt dann von Kurt „Körrrt“ Schwitters Leben in England. Seine Frau ist in Hannover verstorben, und so versucht sich Schwitters ein zweites Leben auf der Insel aufzubauen. Sein Schwanken zwischen den Ländern und vor allem zwischen den Sprachen fängt Ulrike Draesner in diesem Teil an. Den letzten Part des Buchs bildet das Nachleben von Schwitters. Der Streit, der um seine Kunst entbrannte, die Kämpfe, die Schwitters Sohn und die Geliebte ausfochten und dergleichen mehr. Davon erzählt Ulrike Draesner dann im Abschluss des Buchs.

Die drei Teile aus deutschem, englischen und Nachleben bilden Schwitters und zeigen einen vielschichtigen, komplizierten und ungemein produktiven Mann. Einen, der sich mit seiner Merz-Kunst beschäftigte, der die Frauen liebte, mit der Sprache kämpfte, der nicht anders konnte, als Künstler zu sein.

Schwitters-Sprache und Draesner-Sprache

Nun kann man über dieses Buch allerdings auch nicht sprechen, ohne über die Sprache des Buchs zu sprechen. Denn Ulrike Draesner eignet sich Schwitters Merz-Sprache an. Sie verknappt, spielt mit Worten, sucht, umkreist, tanzt. Das ist ungemein kunstfertig und untermauert Draesner Status als Wortkünstlerin – manchmal ist es allerdings auch ein wenig zu viel des Guten. Denn vor allem im England-Teil droht die Handlung gegen die Sprache zu verlieren. Etwas antriebslos dreht dieser Teil im Leerlauf und kommt nicht wirklich vom Fleck. Das Verloren-Sein nach dem Krieg, die Unentschiedenheit zwischen Deutsch und Englisch (nicht zuletzt entbrannte über den Staatsbürgerschaft-Antrag Schwitters nach seinem Ableben ein Streit) und die kreativen Themen. Sie interessieren Ulrike Draesner in diesem Teil mehr, als wirklich mit der Handlung voranzukommen. Das lässt diesen Teil gegen den hektischen, immer vorwärts treibenden ersten Teil des Schwitters auf der Flucht etwas blass erscheinen.

Ein Merzheft von Kurt Schwitters

Dieses Sprach-Problem, dass die Handlung an die Wand drückt, ist auch im Nachwort dieses Buchs zu besichtigen. In manchen Passagen droht vor lauter Wortspielen und ungewohnten Zugriffen auf die Sprache dieses Nachwort nahezu unlesbar zu werden. Die Virtuosität, die Draesner hier und an anderen Stellen im Buch ausstellt, ist für mich ein bisschen zu viel des Prunkens. Dass sie umgehen kann mit Sprache wie kaum ein anderer Autor oder eine Autorin, das hat sie ja schon hinlänglich bewiesen. Und auch der erzählerische Kniff, die Verlorenheit Schwitters zwischen der deutschen und englischen Sprache sprachlich nachzubilden, ist durchaus interessant. Hätte sie sich damit zurückgehalten und etwas mehr erzählt, dann wäre das Buch ein Meisterwerk geworden. So ist dieser Schwitters-Roman manchmal sprachlich etwas zu viel des Guten und hätte ein wenig mehr Lektorat und Streichungen verdient.

Fazit

Nichtsdestotrotz originell und eine angemessene Würdigung dieser Gestalt Schwitters, deren vielfältiges Oeuvre und Leben hier wieder begreifbar wird. Und eines, das ein Künstlerleben selbst wieder in ein Kunstwerk überführt. Ein Buch, das an Stelle des blassen Seethaler’schen Mahler-Portraits durchaus einen Platz auf der Longlist beim Deutschen Buchpreis verdient hätte.


Ein kleiner Hinweis noch an alle Leser eines physischen Schwitters-Romans: Es empfiehlt sich durchaus, dem Schutzumschlag etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und diesen einmal abzunehmen.

  • Ulrike Draesner – Schwitters
  • ISBN: 978-3-328-60126-5 (Penguin)
  • 480 Seiten. Preis: 25,00 €
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Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt

Als letzten Dienstag die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises verkündet wurde, fand sich auch dieses Buch auf der Liste: Iris Wolff mit ihrem Roman Die Unschärfe der Welt. Eine fragmentarisch erzählte Geschichte einer Banater Familie, die ich persönlich nicht auf der Liste erwartet hätte.


Denkt man an die Region des Banat beziehungsweise an Banater-Schwaben, dann sind es die Namen der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und Richard Wagner, die wohl die prominentesten Vertreter*innen der Literatur dieses Landstrichs sind. Ein Gedicht Richard Wagners ist auch Iris Wolffs Roman vorangestellt. Wie der 1952 geborene Wagner stammt auch Iris Wolff aus dem Banat. 1977 wurde sie in Hermannstadt in Siebenbürgen geboren, zog jedoch 1985 mit ihrer Familie aus Rumänien nach Deutschland. Heute lebt und schreibt die Autorin in Freiburg im Breisgau.

Von der Frage der Heimat

Die Umkreisen der Frage der Heimat, es ist ein Thema, das auch ihrem neuen Buch zugrunde liegt. Von der Entfremdung und der doch stets präsenten Anziehung der Heimat erzählt ihr Buch, das sich aus sieben Kapiteln zusammensetzt. In jedem der Kapitel steht eine andere Figur im Mittelpunkt, die sich jedoch alle um die Familie von Samuel gruppieren. Sein Vater Hannes ist Pastor im Banat, seine Frau Florentine kümmert sich um Haus und Hof. Ein solch gastfreundliches Haus wie das der Eltern Samuels erregt natürlich Aufmerksamkeit, besonders die Securitate interessiert sich für das Treiben im Pfarrhaus.

Iris Wolff - Die Unschärfe der Welt (Cover)

Später wird Samuel spektakulär die Flucht in den Westen bis nach Deutschland antreten. Die Heimat wird er und die Heimat wird ihn aber nie so wirklich los. Spätestens nach dem Fall der Mauer zieht es den jungen Banater-Schwaben wieder in seine rumänische Heimat, wo er feststellen muss, dass man die Vergangenheit nicht einfach hinter sich lassen kann.

Iris Wolff hat ein Buch geschrieben, bei der die titelgebende Unschärfe wirklich Programm ist. Denn dieses Prinzip der Unschärfe ist für ihr Erzählen maßgeblich. So wechselt sie in jedem der sieben Kapitel die Erzählfigur, wodurch manchmal Irritationen ausgelöst werden, bis sich im Laufe des Kapitels die Bezüge zu den bislang eingeführten Figuren ergeben. Die Figuren werden hierbei nur skizziert, in kurzen, aber entscheidenden Momenten gezeigt. Sie bleiben eben unscharf. Das Buch besticht nicht wirklich durch eine genaue Figurenzeichnung, dafür ist auf den etwas mehr als 200 Seiten zu wenig Raum.

Auch für die genauen politischen Hintergründe oder eine genaue Verortung in einen Zeit- und Ortsgefüge interessiert sich die Autorin weniger. Vielmehr liegt der Fokus auf der flüchtig erzählten Familiengeschichte, deren Schicksal symptomatisch für viele andere Schicksale von Banater-Schwaben ist.

Sprachlich schwierig

Sprachlich stehe ich dem Buch etwas indifferent gegenüber. Denn Iris Wolff gelingen mitunter wirklich schöne Sätze und Aphorismen sowie genaue Beobachtungen. Dem stehen aber auch Passagen und Satzperioden entgegen, die für mich nicht nur am Kitsch entlangschrammen, sondern ausgiebig in ihm baden. Beispielsweise seien hier zwei Passagen kurz angeführt:

Er strich über die Zehen, die glatte Haut der Ferse, die Waden, die etwas von der Zeit bewahrt hatten, da Samuel ein Säugling gewesen war. Etwas blieb immer erhalten, erlaubte einen langsamen Abschied, Die Weichheit, die Glätte, das Zartgliedrige, Florentine nahm wahr, dass Bene diese Empfindungen nicht suchte, er nahm sie beiläufig auf, während er vorlas.

Wolff, Iris: Die Unschärfe der Welt, S. 25

Oder hier noch folgendes Beispiel:

Sie zog die Decke bis unters Kinn. Samuel hatte, ohne es zu wissen, die Landkarte ihres Körpers für sich eingenommen, und wenn es etwas gab, wofür sie an diesem Abend dankbar war, dann, dass dieser Atlas unsichtbar war.

Wolff, Iris: Die Unschärfe der Welt, S. 101

Solche Passagen ließen mich etwas mit dem Buch fremdeln, dass ansonsten doch eine Familiengeschichte bietet, die einer durchaus elegant skizzierten Aquarellzeichnung gleicht. Interessant montiert, für mein Empfinden allerdings nicht unbedingt buchpreiswürdig.

Das sieht auch Katharina Herrmann auf ihrem Blog Kulturgeschwätz so. Inzwischen wurde der Roman noch für einige weitere Buchpreise nominiert. So ist Iris Wolff neben dem Deutschen Buchpreis nun auch für den Bayerischen Buchpreis sowie den Wilhelm Raabe-Preis nominiert.


  • Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt
  • ISBN: 978-3-608-98326-5 (Klett-Cotta)
  • 215 Seiten. Preis: 20,00 €
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Augustus Rose – Philadelphia Underground

Kann das gutgehen? Ein Thriller über Kunst, eine junge Ausreißerin, Lost Places, Drogen, Diebstahl und Marcel Duchamp? Was nach einer zugegeben recht wirren Mischung klingt, geht im Fall von Augustus Rose‚ Debütroman Philadelphia Underground dann doch wirklich gut. Ein Roman, der auch Leser von Donna Tartt oder A. G. Lombardo interessieren dürfte.


Der Weg des großen Künstlers von morgen, er führt ihn in den Untergrund. Dieses Zitat wird Marcel Duchamp zugeschrieben. Visionärer Künstler, Schöpfer von sogenannten Readymades (wie etwa dem berühmten Urinal), Gemälden und Installationen wie seinem letzten Werk Etats Donnés, der seine Sammlung dem Philadelphia Museum of Art vermachte. Jener Duchamp scheint auch immer wieder den Weg Lees zu kreuzen. Diese lebt entfremdet von ihrer eigenen Familie in Philadelphia. Untergeschobene Drogen haben sie ins Jugendgefängnis gebracht. Von dort bricht sie aus – und wählt den Weg in den Untergrund. Sie taucht unter, bricht in Wohnungen ein, verdingt sich als Diebin und kommt schließlich in einer Wohngemeinschaft unter. Dort lernt sie Tomi kennen, der sie in die Gemeinschaft der Urban Explorer, kurz Urbex, einführt. Gemeinsam durchstreifen sie verlassene Gebäude, auch Lost Places genannt, und brechen unter anderem in das Kunstmuseum von Philadelphia ein. Dort lernt Lee durch Tomi die Kunst Marcel Duchamps kennen.

Auf den Spuren der Société Anonyme

Augustus Rose - Philadelphia Underground (Cover)

Doch es ist nicht nur die Kunst Duchamps, die Lee beschäftigt. Auch die sogenannte Société Anonyme treibt sie um. Jene Gesellschaft, die ursprünglich von Duchamp, Man Ray und Katherine S. Dreier gegründet wurde, scheint dieser Tage in Philadelphia auferstanden zu sein. Immer wieder tauchen Jugendliche völlig abgestumpft und entrückt nach Drogenexzessen auf. Die Société scheint hinter diesen Vorkommnissen zu stecken. Und Lee ist ebenfalls in ihr Visier geraten. Die Mitglieder jener omniösen Organisation haben die Jagd auf Lee eröffnet. Doch was wollen sie von ihr? Der Gang in den Untergrund scheint für die junge Frau angeraten.

Es ist eine wirklich wilde Mischung, die Augustus Rose in seinem Debüt hier anrührt. Eine Geheimgesellschaft, drogenvernebelte Kinder, die in Philadelphia auftauchen, eine Ausreißerin auf der Flucht, eine Schnitzeljagd durch und unter der Stadt und über allem schwebend Marcel Duchamp. Wie soll so etwas zusammenfinden? Nach der Lektüre von Philadelphia Underground kann ich konstatieren, dass Rose das Kunststück gelingt, ähnlich wie in der Kunst Marcel Duchamps, scheinbar Widersprüchliches zusammenzufügen, sodass ein überzeugendes Kunstwerk entsteht.

Ein Kunstwerk, zusammengebaut aus Widersprüchlichem

Im Kern ist Philadelphia Underground eine wilde Räuberpistole, an der man sich die Freude über den Text durch ein genaues Überprüfen der Realität verleidet. Vielmehr sollte man sich wie bei der Betrachtung von Kunst einfach einlassen auf Lee und das große Abenteuer, das ihr bevorsteht. Dieses Buch ist Konzeptkunst im Sinne Duchamps, die mitreißt, die in Bunker und Röhren unter Philadelphia entführt. Die eine Coming of Age-Geschichte ist, ein großes Abenteuer mit einer Prise Momo gegen die grauen Männer. Action gepaart mit Kunstbetrachtungen, die Stadt Philadelphia als großes Abenteuerspielplatz und nicht zuletzt auch eine etwas unorthodoxe Einführung in das Schaffen Duchamps. Was hier vielleicht etwas theoretisch klingt, wird im Buch zu einer spannend zu lesenden und immer wieder überraschenden Geschichte, die zum originellsten gehört, das ich dieses Jahr bislang in die Finger bekam. Und einer, die ich bei nächster Gelegenheit gleich noch einmal lesen möchte.

Fazit

Was ist nun Philadelphia Underground von Augustus Rose? Wie sollte man es auf einen Nenner bringen? Ich würde sagen, dieses Buch ist originell, eigen, eine Hommage an die Kunst Marcel Duchamps – literarische Konzeptkunst, leicht zugänglich, inspirierend. Ein Buch, das sich dem Thema der Kunst und der Kunstvermittlung auf außergewöhnlichen Wegen nähert.


  • Augustus Rose – Philadelphia Underground
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-492-05797-4 (Piper-Verlag)
  • 464 Seiten, Preis: 22,00 €

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Auf Murmeljagd

Gibt es einen schlechten Zeitpunkt, um ein Buch über die Schrecken des Dritten Reichs zu veröffentlichen? Offensichtlich ja, wie der Fall Ulrich Becher zeigt. Er entschied sich nämlich, sein Opus Magnum, den 700-seitigen Roman Murmeljagd, 1969 zu veröffentlichen. Ein Buch, das sich mit Flucht, Terror und Menschenjagd auseinandersetzt – das aber kaum jemand lesen wollte. Die 68er-Bewegung hatte ihre Wirkmacht noch nicht entfaltet, die Ohrfeige Kurt Georg Kiesingers durch Beate Klarsfeld lag gerade einmal ein Jahr zurück. Sich literarisch mit den Schrecken der Jahre 33-45 auseinanderzusetzen, das stand für die damalige Gesellschaft noch nicht wirklich auf dem Programm, die Phase der Exilliteratur war schon vorbei.

Und so blieb auch Ulrich Becher mit seinem Buch der Erfolg und die Aufmerksamkeit verwehrt. Ein Status, der sich bis heute nicht wirklich geändert hat. Ulrich Becher? Eher kennt man noch Johannes R. Becher, expressionistischer Dichter und Schöpfer der DDR-Nationalhymne. Aber Ulrich Becher? Dieser Name lässt wohl höchstens bei Germanisten und eingefleischten Literaturkenner*innen die Glocken läuten, wie auch Eva Menasse in ihrem Nachwort zur Neuauflage der Murmeljagd bemerkt.

Schon einmal wagte Schöffling im Jahr 2010 eine Neuauflage dieses apokryphen Klassikers. Nun, zehn Jahre später gibt es wieder einen Versuch, Bechers Buch dem geneigten Publikum nahezubringen. Diesmal publiziert der Verlag zudem auch noch die New Yorker Novellen, die zwanzig Jahre vor der Murmeljagd entstanden. Ähnlich wie im Falle Gabriele Tergits oder Jens Rehns versucht Schöffling auch hier eine Wiederentdeckung eines Buch, das in einer gerechten Welt ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden wäre – und das bei allen Schwächen, die dem Buch auch zweifelsohne innewohnen.

Albert Trebla wird gejagt

Held von Bechers monumentalen Roman ist der Jagdflieger Albert ***, der sich in seiner Funktion als Journalist den Palindromnamen Albert Trebla zugelegt hat. Im Ersten Weltkrieg diente er als Aufklärungsflieger. Bei einem seiner Einsätze kam er einem feindlichen Flugzeug zu nahe, sodass er einen Kopfschuss kassierte. Nach einem Lazarettaufenthalt hilft ihm nur noch Ephedrin, um den oftmals pochenden Schmerz der Stirn zu betäuben.

Ulrich Becher - Murmeljagd (Cover)

Jener Trebla hat dem Krieg abgeschworen, er ist zum linken Journalisten geworden. Doch nun, zwanzig Jahre nach seinem Abschuss über den Wolken, dräut der Zweite Weltkrieg am Horizont. Die Nazis haben die Macht übernommen, Säuberungswellen und Gleichschaltung bedrohen Menschen wie Trebla. Und so entkommt er mithilfe eines waghalsigen Skimanövers über Vorarlberg in die Schweiz. Den SS-Patrouillen entgeht er nur um Haaresbreite. Dort in der Schweiz wartet seine Frau Xane auf ihn.

Da er unter dem tückischen Heufieber leidet, ist eine Tarnung kein Problem. Er zieht sich als Hotelgast zur Heufieberkur ins Engadiner Oberland zwischen Pontresina und Sils Maria zurück. Dort, in der abgeschiedenen alpenländischen Bergwelt möchte er zur Ruhe kommen. Doch damit ist es nicht weit her. Denn das Engadin wird von einer Reihe merkwürdiger Selbstmorde erschüttert. Immer ist es Trebla, der sich in unmittelbarer Nähe der Suizidanten befand. Zudem begegnet Trebla merkwürdigen Hotelgästen, die sein Misstrauen wecken. Sind es wirklich harmlose Murmeltierjäger, die im ladinischen Gebirge umhersteigen? Oder ist Trebla selbst das Murmeltier, auf das Jagd gemacht wird?

Engadiner Gestalten

Wie es sich anfühlt, wenn man aufgrund seiner politischen Einstellung zur unerwünschten Person und zur gejagten Figur wird, davon weiß Ulrich Becher eindrücklich zu berichten. Changierend zwischen bedrohlicher Stimmung und Komödiantentum, zwischen Tod und Kalauer durchlebt sein Trebla ein wahres Wechselbad der Gefühle. Zusammen mit seiner Frau begegnet er höchst skurrilen Gestalten, die Bechers Engadin bevölkern. Ein Cocker Spaniel-züchtender und dem Alkohol fröhlich zusprechender Landanwalt, genannt Avoccato Wau Wau. Ein ehemaliger irischer Jockey. Ein Berliner Schlossbesitzer, ein Arzt namens Dr. Pompejus Tardüser. Dieser Roman ist voller Figuren, die auf mysteriöse Art und Weise aus dem Leben scheiden oder bei denen lange nicht klar ist, was sie Trebla so wollen.

Dieser hetzt fiebrig durchs Engadin, immer mit Druck auf der Brust und der dräuenden Gefahr im Nacken. Dabei entstehen Szenen, die man nach dem Lesen nie wieder vergisst. So erzählt Becher vom brutalen Umgang der Schergen im KZ, vom Todesritt eines vormals weltbekannten Clowns in die Elektrozäune des KZ Dachaus oder dem brutalen Tod von Treblas bestem Freund, einem Wiener Arzt, durch jugendliche Nazischergen in einem Viehwaggon. Diese Bilder, die Becher in Murmeljagd zeichnet, sind von einer unfasslichen Wucht. Ihm gelingt in diesem Buch einer Meisterwerk der nuancierten Stimmungen, die von dramatischen Todesfällen bis zu schwarzem Humor reicht. Da stören auch die paar erzählerischen Volten, die das Buch beständig schlägt, nicht wirklich.

Und damit ist der wichtigste Punkt, der dieses Buch eigentlich kanonwürdig macht, noch gar nicht angesprochen. Es ist der Punkt der Sprache. Beziehungsweise der der Sprachgewalt. Denn Murmeljagd ist zuvorderst ein Sprachmeisterwerk im Guten wie im Schlechten. So ist die Erzählweise Bechers mit dem Adjektiv expressionistisch noch kaum erschlagen. Es ist ein Buch, das knallt, das explodiert, das sprüht, das fordert, oftmals auch überfordert und das zeigt, wozu Sprache im Stande ist.

Ein Meisterwerk der Sprache

Die größte Hürde dürften dabei schon die ersten Seiten sein, zumindest mir erging es so. Was da über die Seiten purzelt, könnte so manch eine*n veranlassen, das Buch wieder zuzuklappen und wegzulegen. Und das wäre ein Fehler. Denn Ulrich Becher zeigt hier über 700 Seiten, wie vielfältig Sprache ist, wie sie eine Geschichte bereichern und veredeln kann. Denn die Virtuosität des Meisterschülers von Georg Grozs ist unerhört. Eine Virtuosität, die manchmal auch nerven und überfordern kann, wie auf den ersten Seiten dieses Romans. Manchmal wirkt Becher wie ein naseweises kleines Kind, das alles zeigen will, was es kann. Da stecken Seiten voller Fix Laudon!, ausgeschriebener Ja-Jotts, Ka-Zetts und Ess Ess, die Charaktere geben sich häufig unterschiedlichste Kosenamen, sämtliche Dialekte werden ausgeschrieben, egal ob österreichisch, berlinerisch oder schweizerisch.

Dann gelingen Becher auch wieder Passagen, die man einfach nur bewundern kann, so etwa wie diese.

Der Berge Elefantengrau hatte mittlerweile einen Malventon angenommen, aber vom Berninapass herüber züngelte Homers „Rosenfinger der Frühe“. Spielten auf einem Firnzipfel Piz Palü, indes überm Rosatscheine formlose Ampel schwebte, der zur Sichel geschrumpfte Junimond verwischte hinter einer Federwolke, seit Tagen der erste überm Hochtal. Kein Kuhglockenklimpern, kein Vogelzwitschern, Verhallen zweier Schläge von der Pfarrkirche her, halb vier, eines schläfrig-heisern, fast grunzenden Hahnenschreis, der ohne Antwort blieb. Trotz des lästigen Tocketocke – ohne es wäre die Stille beispielslos geweisen – rührte ich mich nicht von der betonierten Stelle, als er herangetragen wurde, der unwirklich sachte Pfiff.

Becher, Ulrich: Murmeljagd, S. 581

In einer Zeit, in der viele Bücher in einer uniformen und austauschbaren Sprache geschrieben scheinen, ist Murmeljagd ein Buch, das zeigt, wie das auch aussehen könnte, mit spannender Sprache. Die Vielfalt, die in diesem Buch steckt, ergäbe genug Material für ein ganzes dutzend spannender Forschungsprojekte (an dieser Stelle sei auch auf das mehr als hilfreiche Online-Projekt zur Murmeljagd von Dieter Häner hingewiesen).

Neugier und Wille zu Bechers Stil ist vonnöten

Natürlich ist Ulrich Bechers Buch eines, das viele Leser*innen überfordern dürfte. So etwas wie Entspannung und Zerstreuung findet sich hier nicht, zu fordernd ist der Stil, zu düster das Thema. Auch erklärt sich so der Status des Buchs, den die Murmeljagd bis heute besitzt.

Wer sich aber auf dieses Wagnis der Jagd einlässt, bekommt es mit einem der außergewöhnlichsten Bücher der jüngeren deutschen Literatur zu tun. Und nicht zuletzt ist auch die Figur des Ulrich Bechers auch eine hochgradig faszinierende. Schließlich zählt er zur Garde der Exilautoren, er war der jüngste Schriftsteller, dessen Werke von den Nazis 1933 verbrannt wurden. Sein Leben und sein heute fast vergessenes Werk verdienten auf alle Fälle einer Wiederentdeckung.

Schön dass Schöffling nun noch einmal von Eva Menasse sekundiert einen Versuch für dieses Werk startet. Denn die Murmeljagd hat es verdient. Hier gilt auf alle Fälle: wer wagt, der gewinnt. Sieht auch die geschätzte Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze so.

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Verena Güntner – Power

Wenn die Suche nach einem Hund die ganze Dorfgemeinschaft auseinanderzureißen droht – Verena Güntners zweiter Roman „Power“.


Wenn man im namenlosen Dorf Verena Güntners jemanden etwas wiederfinden will, dann betet man nicht zum Heiligen Antonius. Kerze ist es, die man fragen muss. Die junge Schülerin hat ein Talent im Auffinden von Dingen. Und so ist es auch sie, die von der alten Frau Hitschke kontaktiert wird. Denn ihr geliebter Hund Power ist verschwunden. Hatte sie ihn kurz vorher noch vor dem Edeka angebunden, findet sich von ihm nach dem Supermarktbesuch keine Spur mehr. Jetzt soll Kerze helfen, den Hund wiederzufinden. Und Kerze stürzt sich gleich in die Ermittlungen, die am Ende zu einem völligen Riss zwischen den Generationen im Dorf führen werden.

Dabei ist eigentlich der Rahmen der Geschichte schon nach wenigen Seiten klar. Der verschwundene Power und die Tatsache, dass Kerze nach sieben Wochen den madenzersetzten Leib Powers gefunden haben wird. Doch die Zeit dazwischen ist es, für die sich Verena Güntner in ihrem Buch interessiert. Dabei beschränkt sie sich hauptsächlich auf drei Figuren, mithilfe derer sie ihre Geschichte erzählt. Da ist die alte Hitschke, die nach dem Tod ihres Mannes isoliert in ihrem Haus lebt. Dann gibt es noch den Sohn des Bauern Huber, der neben dem teuren Fendt 1000 Vario-Traktor, Freiwild und der Abrichtung des hofeigenen Hundes keine großen Hobbys hat. Er fungiert als Bindeglied zwischen Alt und Jung. Und da ist zu guter Letzt noch Kerze, die im Lauf des Buchs zur Anführerin der Dorfkinder wird.

Aufstand der Kinder

Glaubt man sich zunächst in einem schon hundertmal gelesenen Coming-of-Age Roman (das sommerliche Dorf fernab der Zivilisation, die kindliche Protagonistin, die scheinbare Ereignislosigkeit, geschildert in eigenwillig-jugendlicher Sprache), kippt das Ganze schon bald. Denn aus Kerzes Suche wird etwas sehr Eigentümliches. Kerze fühlt sich nämlich auf beängstigende Art und Weise in Power ein. So wird sie sukzessive selbst zum Hund und eignet sich tierische Verhaltensweisen wie etwa den Gang auf vier Beinen oder Bellen zur Kommunikation an. Und mit dieser Nachahmung ist sie nicht alleine. Immer mehr Kinder schließen sich ihr an, die schließlich dahin flüchten, wo schon seit den Gebrüdern Grimm die meisten Märchen spielen – in den Wald. Dort werden die Kinder zum wilden Rudel, die versuchen, Powers Spuren aufzunehmen.

Power

Versucht man Power auf realistische Art und Weise zu lesen, dann scheitert man schnell. Weder kann oder will Verena Güntner die Motivation Kerzes und ihrer Gefolgsleute erklären, noch spielen äußere Ordnungsmächte wie Lehrer*innen oder die Polizei eine Rolle. Auch kommen Medien, die eine solche Entwicklung aufgreifen würden, allenvoran die sozialen, überhaupt nicht vor. Die Lösung des Problems wird nur unter den Erwachsenen und den Kindern des Dorfs ausgemacht. Während die alte Hitschke als Verursacherin der Entwicklungen im Dorf langsam ausgehungert wird, rotten sich die Kinder im Wald zusammen. Schon bald wird klar, dass man mit den Kriterien des Realismus an Power scheitert.

Vielmehr muss man Power in meinen Augen als Generationenfabel oder Groteske lesen. Der Wald als Schauplatz setzt schon einen gewissen märchenhaften Ton, der durch das Tun und Treiben der Kinder verstärkt wird. Durch die Fokussierung auf die drei Hauptfiguren Hitschke, Hubersohn und Kerze zeigt die Berliner Autorin und Schauspielerin das Auseinanderdriften der Generationen, in deren Mitte der Hubersohn steht, der symbolhaft selbst ganz zerrissen ist, zwischen Vater und Hund, zwischen dem potentiellen Erbe des Hofs und dessen Zerstörung.

Zwischen den Generationen

Wie weit das Verschwinden eines Hundes zu einer Radikalisierung auf beiden Seiten der Demarkationslinie Generation führen kann, das exerziert die Autorin in Power durchaus eindrücklich durch. Aber hat das Buch neben dieser Schilderung der Radikalisierung mehr zu bieten? Ich finde leider nein. Denn eine allzu tiefe Bedeutung sollte man in Güntners Fabel nicht suchen (zumindest habe ich sie nicht gefunden). Bezeichnend war für mich ein Dialog, der am Ende des Buchs steht.

Kerze läuft an ihr vorbei, die Treppe hinauf, wirft einen Blick ins Zimmer der Mutter, sieht die Monstera auf dem Sims stehen, halb vertrocknet wie immer.

„Schön, dass die noch da ist“, ruft sie nach unten.

„Bitte?“

„Ach, Egal“

Im Badezimmer macht sie das Duschwasser an, geht kurz in ihr Zimmer, in dem die Geister nicht mehr sind.

Güntner, Verena: Power, S.

Irgendwo zwischen skurril, beunruhigend, grotesk und märchenhaft ordnet sich dieses Buch mit seiner Handlung ein. In welche Richtung Verena Güntner am Ende damit wollte, könnte ich selber nicht sagen. Einen wirklichen Angriffspunkt für eine stringente Lesart habe ich leider nicht entdeckt. Für mich eine interessante Stimme mit einem originellen Plot. Vollkommen überzeugt hat es mich dennoch leider nicht, weshalb ich auch nicht glaube, dass Güntner mit Power den Preis der Leipziger Buchmesse erringen wird. Aber vielleicht hat Güntner doch die Power, um mich zu überraschen? Am 12.03 um 16:00 Uhr wissen wir dann mehr, wenn die Jury in der Glashalle der Leipziger Buchmesse verkündet, wer den Preis der Buchmesse erringen konnte.

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