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Ron Rash – Der Friedhofswärter

Kollegen wie Richard Russo bezeichnen ihn schon als „einen der besten amerikanischen Autoren“. Nun ist der Amerikaner Ron Rash dank Übersetzerin Sigrun Arenz und dem herausgebenden Ars Vivendi-Verlags aus dem fränkischen Cadolzburg nun auch auf Deutsch zu entdecken. Sein Roman Der Friedhofswärter entführt ins ländliche North Carolina zu Beginn der 1950er Jahre und schildert eine Geschichte, die fast einem Shakespear’schen Drama entnommen sein könnte.


Die Grundidee, die Ron Rashs Roman zugrundliegt, sie könnte tatsächlich aus einem Shakespeare-Drama, einer großen Oper oder wenigstens einem bürgerlichen Trauerspiel stammen:

Nachdem sie bereits zwei Kinder auf dem Friedhof von Laurel Fork beerdigen mussten, ist Jacob das letzte lebende Kind von Cora und Daniel Hampton. Sein Leben ist allerdings auch in Gefahr, denn er wurde als Soldat eingezogen, um im Koreakrieg zu kämpfen.

Als er nun bei seinem Einsatz schwer verwundet wird, nutzen seine Eltern diesen Umstand für eine perfide Intrige. Denn eigentlich wollte Jacobs Vater seinen Sohn bereits verstoßen, da er sich mit einem für die Begriffe seiner Eltern völlig unstandesgemäßen Mädchen eingelassen hat.

Die doppelte Täuschung

Gerade einmal sechzehn war Naomi, als diese mit Jacob zusammenkam und dann den Bund der Ehe schloss. Ein Annullierungsversuch dieser Ehe durch Jacobs Eltern blieb erfolglos. Nicht einmal die schwere Arbeit im familieneigenen Sägewerk, mahnende Gespräche und Verstoßungsdrohungen konnten der Beziehung der beiden etwas anhaben. Im Gegenteil. Nun, während Jacob in Korea kämpft, harrt Naomi nun hochschwanger daheim aus. Für die Hamptons wie auch die ganze Kleinstadt Little Rock dort im ländlichen North Carolina ist dieser Umstand eine einzige Provokation.

Ron Rash - Der Friedhofswärter (cover)

Das „schamlose“ Mädchen und die Ehe ihres Sohnes, die der der puritanischen Einstellung der Eltern aus Anstand und harter Arbeit zuwiderläuft, das alles soll nun ein Ende haben. Und so täuschen sie Naomi den Tod Jacobs vor und sorgen mit viel Geld für einen Wegzug der Familie, die an anderer Stelle ein neues Leben beginnen soll, um so den vermeintlich toten Jacob zu vergessen.

Im Umkehrschluss täuschen die Hamptons Jacob nach dessen Rückkehr aus Korea den Tod von Naomi und ihrem gemeinsamen Kind vor. Sie scheuen für ihre Inszenierung weder Geld noch Mühe. Sogar eine Beerdigung samt Sarg organisieren die Hamptons, um die Illusion des Todes Naomis zu perfektionieren und um so das Band der beiden Liebenden zu zerstören.

Die Zweifel des Friedhofswärters

Während sich nun Jacob und Naomi ihrerseits in Trauer zurückziehen, gibt es ein verbindendes Element zwischen den beiden jungen Menschen, gewissermaßen der dritte Beziehungspunkt in ihrem besonderen Dreieck. Den während Jacob in Korea weilte, bat er den von einer Polio-Infektion entstellten Friedhofswärter Blackburn, sich um Naomi zu kümmern. Das tat er auf einfühlsame Weise, sodass der englische Originaltitel The caretaker hier eigentlich noch viel besser greift als die alleinige Funktionsbezeichnung, die der deutsche Titel bemüht.

Nun, da auf dem von ihm betreuten Friedhof von Laurel Fork der Sarg von Naomi bestattet wurde, mag er sich trotz allem tief in seinem Herzen nicht mit der vermeintlichen Wahrheit des Todes von Naomi abfinden. In seinem Beistand für Jacob wächst doch auch die Irritation und das Gefühl, das etwas nicht wirklich stimmt, je mehr Jacobs Eltern nicht nur auf ihren Sohn, sondern auch auf den Friedhofswärter Einfluss nehmen wollen.

Zart und gerade dadurch so wuchtig kommt Ron Rashs Roman daher. Ebenso wichtig wie die Landschaft der Kleinstadt und der Weite North Carolinas ist auch die Seelenlandschaft seiner Held*innen.

Der Friedhofswärter spürt Verletzungen und Verwundungen in vielfacher Form nach. Von den erlebten Kriegsgräuel am eigenen Körper und den Verheerungen in der Seele, vom psychologischen Druck der eigenen Eltern, die wiederum den Verlust ihrer anderen beiden Kinder auch durch die Manipulation und Lenkung Jacobs erzielen wollen. Von der Ausgrenzung des jungen Paares in der Kleinstadt Blowing Rock oder das Mobbing Blackburns, der als Friedhofswärter und Poliokranker gleich zweifach stigmatisiert ist, erzählt Ron Rash anschaulich und fühlt sich mühelos in die Figuren ein, denen er ihre Vielschichtigkeit und Widersprüche lässt.

So ist Ron Rash selbst auch gewissermaßen ein Caretaker, der sich um seine Figuren kümmert, ihre Bedrüfnisse ernst nimmt und gerade daraus die Qalität seiner Prosa schöpft, die aufbauend auf der starken Grundidee des Plots auch die psychologische Ebene seines Romans sauber grundiert und dadurch auf Effekthascherei oder große Volten in der Erzählung verzichten kann.

Fazit

Übersetzt von Sigrun Arenz ist so ein ruhiger, glaubwürdiger und erinnerungswürdiger Roman entstanden, der das Lob von Richard Russo und Konsorten für Ron Rashs Schreiben eindrücklich beweist und untermauert. Verwundungen, Intrigen und die allesüberdauernde Kraft der Liebe auch gegen Widerstände sind die Themen, die Der Friedhofswärter behandelt. Entstanden ist in Rashs Bearbeitung daraus ein unsentimentaler und unkitischiger Roman, der mit wenigen Strichen das Leben und die Moralvorstellung der 50er Jahre in einer amerikanischen Kleinstadt plastisch wiederauferstehen lässt.


  • Ron Rash – Der Friedhofswärter
  • Aus dem Englischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0607-2 (Ars Vivendi)
  • 240 Seiten- Preis: 24,00 €
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Rónán Hession – Leonard und Paul

Soulfood in Buchform. In Leonard und Paul stellt der Ire Rónán Hession die Freundschaft zweiter introvertierter Männer in den Mittelpunkt. Zwar haben sie es aufgrund ihrer zurückhaltenden Charakteranlage nicht so leicht, finden aber dennoch oder gerade wegen ihrer Unangepasstheit zu ihrem Glück.


Dass wir die Geschichte der Freunde Leonard und Paul hierzulande zu lesen bekommen, verdanken wir der Hartnäckigkeit einer anderen Zweierbeziehung. So beschlossen Torsten Woywod und seine Partnerin Wiebke Meurer nach einem zufälligen Fund des englischen Originals, das Buch auch den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich machen zu wollen. Kurzerhand gründeten sie einen eigenen Verlag, um das Buch in die Buchläden des Landes zu bringen, beauftragten Andrea O’Brien mit der Übersetzung und brachten das Buch in Eigenregie auf den Markt (mehr zu dieser ungewöhnlichen Geschichte gibt es auch im Interview mit Torsten auf dem Blog Klappentexterin zu erfahren).

Nun liegt das Buch auch in der Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg vor und ist – ich kann es nach der Lektüre nicht besser in Worte fassen – Soulfood zum Lesen.

Vorweg: wer gesellschaftliche Analysen, politisch verhandelte Themen oder sprachlich herausfordernde Problembegehungen sucht, der wird mit Leonard und Paul nicht wirklich glücklich werden. Wer aber gute Unterhaltung schätzt, die einfach mal wieder in eine Geschichte abtauchen lässt, die liebenswerte Charaktere auf ihrem Weg durchs Leben begleitet und wer in diesen schwierigen Zeiten Ablenkung sucht, der wird mit Rónán Hessions Buch sicherlich glücklich werden.

Die Geschichte zweier Außenseiter

Denn seine Geschichte zweier Außenseiter ist eine, die den Wert der Freundschaft feiert und die zeigt, wie sich auch Trauer und Schmerz durch Zuwendung und Mitmenschlichkeit überwinden lassen.

Leonard erfährt dies nach dem Tod seiner Mutter. Bequem hatte er sich eingerichtet im Leben mit ihr, man gab aufeinander acht und Leonard war das, was man ein behütetes Kind nennt, auch wenn er formal dem Kindesalter schon längst erwachsen war. Doch nun, nach dem Tod der Mutter, verliert er, der an Kinokassen infolge von Entschlussschwäche schon mal lieber nach Hause eilt, statt einen Film zu sehen, fast vollständigen den Halt.

Rónán Hession - Leonard und Paul (Cover)

Nur sein Freund Paul ist für ihn da, mit dem er tiefgründige Gespräche über das All führt, mit dem er sich regelmäßig zum Spielen von Klassikern wie Scrabble trifft – und dessen Leben gerade auch vor einem (weitaus kleineren) Umbruch steht. So heiratet seine Schwester, womit sich diese auch ein Stück weit aus dem familiären Verbund löst und nun Paul mit seinen Eltern allein zuhause zurücklässt.

Diese Situation von erfahrenen Lebensumbrüchen lässt sich aber durch die Freundschaft der beiden introvertierten Männer aber gut regeln. Denn sie finden beide zu neuem Glück, wie Hession im Laufe des Buchs zeigt. Leonard, der als Ghostwriter und Redakteur von Kinderbüchern sein täglich Brot verdient, und Paul, der zusammen mit seiner Mutter Menschen im Krankenhaus besucht und zweimal im Monat als Aushilfsbriefträger im kleinen Heimatdorf unterwegs ist, finden zu neuen Umgangsformen, gar eine aufkeimende Liebe steht einem der beiden Männer bevor.

Leonard & Paul & Grace & Shelley

Leonard und Paul ist ein Buch, das die Stille, die Zurückhaltung und das Absagen an Hektik und Oberflächlichkeit feiert. Rónán Hession entdeckt Unbeholfenheit als eine liebenswerte Eigenschaft, verzichtet auf eine Bloßstellung seiner Helden und ist in seinem ganzen Schreiben mitfühlend und mitmenschlich. Es ist eine Lektüre, die gute Laune macht, auch wenn nichts Großes oder Spektakuläres in diesem Roman geschieht – und es ist Lektüre, die mich von ihrer Zugewandtheit und ihrem Sinn für Humor auch an die Schreibe von Freya Sampson erinnerte.

Sie wissen schon, sie wollte absichtlich depressiv klingen, weil sie dachte, dann würde sie sich literarischer anhören, aber ich bin sicher, Sie haben das auch schon bemerkt, es gibt Menschen, die so sehr mit dem Schreiben beschäftigt sind, dass sie darüber vergessen, eine Geschichte zu erzählen. Das macht mich wahnsinnig!

Rónán Hession – Leonard und Paul, S. 291

Diese literarische Weisheit, die Leonard auf der Hochzeit von Pauls Schwester Grace im Gespräch mit einem anderen Hochzeitsgast erfährt, hat Rónán Hession auch für sein Buch beherzigt. Leonard und Paul ist einfach das, was bekanntlich mit am schwersten ist: im besten Sinne „leicht“, da gut gemachte, empathische und eine wärmende Lektüre – genau das Richtige also für kalte Tage, für das Weihnachtsfest und darüber hinaus auch für unsere Zeit.

Fazit

Dass dieses Buch zum auserwählten Kreis der für den Preis „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ nominierten Titel des Jahres 2023 zählt, ist kein Wunder.

Ebenso wie die Entdeckungsgeschichte des Buchs macht auch die Lektüre von Leonard und Paul selbst viel Freude, lässt an das Gute im Menschen glauben, unterhält vorzüglich und leistet Ablenkung in Zeiten, in denen der Blick auf die Nachrichtenlage wenig Grund für Hoffnung stiftet. Insofern ein wunderbares Buch für alle, denen der Sinn nach einer „schönen“ und erbauenden Geschichte steht, nicht nur in diesen dunklen Wintertagen.


  • Rónán Hession – Leonard und Paul
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • Artikelnummer 17491X (Büchergilde Gutenberg)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen

Vor vier Jahren sorgte die Nachricht der damals frischberufenen Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar für Aufsehen, als diese verkündete, man wolle künftig auch Computerspiele sammeln und bewahren. Eine überfällige Entscheidung, wie es die SZ nannte, sind Computerspiele doch längst Kulturgut, die in unserer Gegenwart eine größere Breitenwirkung entfalten als so manches Buch. Dass nicht nur die Computerspiele selbst Geschichten zu erzählen haben, sondern auch die dahinterstehenden Entwickler*innen, das zeigt Gabrielle Zevin in ihrem neuen Roman Morgen, morgen und wieder morgen. Dieser erzählt von der Entstehung eines Spieleentwicklerstudios und den kreativen Köpfen dahinter, deren Verhältnis sich sehr komplex gestaltet.


Alles beginnt mit einem ikonischen Videospiel, nämlich Super Mario Brothers. Dieses Spiel zockt der junge Sam Masur in einem Krankenhaus in Los Angeles, als er dort auf Sadie Green trifft, deren Schwester dort ebenfalls im Krankenhaus zur Behandlung ist. Beide Kinder freunden sich über das Videospiel an, da sich Sam als Virtuose an den Controllern erweist. Ihm gelingt es, seine Super Mario-Figur auf der Spitze der Fahnenstange landen zu lassen. Ein Trick, den Sadie bislang noch nirgends beobachtet hat – und der zum Ausgangspunkt der Beziehung der beiden wird.

Sam befindet sich aufgrund eines schweren Autounfalls im Krankenhaus. In den Hügeln Hollywoods kam es zu diesem Unglück, bei dem seine Mutter starb und Sam eine schwere Verletzung am Fuß davontrug. Verletzungen, die ihn zeit seines Lebens zeichnen und belasten werden.

Pflegerinnen und Ärzte fanden bislang kaum Zugang zu ihm – doch im gemeinsamen Spiel mit Sadie kann sich Sam öffnen. Und auch Sadie profitiert, bekommt sie doch für die gemeinsame Zeit mit Sam für ihr soziales Engagement im Rahmen ihrer Bat Mizwat Punkte gutgeschrieben.

Komplexe Dynamiken

Gabrielle Zevin - Morgen, morgen und wieder morgen (Cover)

Doch schon in dieser Frühphase der beiden Kinder an der Schwelle zum Erwachsenenwerden zeigen sich komplexe Dynamiken. Denn nachdem Sam herausfindet, dass das gemeinsame Videospielen Sadie auch zur Auffüllung ihres Punktekontos für die Bat Mizwat diente, erleidet das Verhältnis der beiden einen Riss und wird erst später wieder vom anfänglichen Vertrauen geprägt sein.

Auch das Verhältnis Sadies mit einem verheirateten Dozenten im Rahmen ihres Studiums der Spieleentwicklung in Harvard ist nicht dazu angetan, das Zusammenwirken der beiden jungen Menschen zu vereinfachen, im Gegenteil. Von ihrem Geliebten kommt die junge Studentin auch im Folgenden nicht wirklich los. Spätestens, als die beiden im Rahmen der Entwicklung ihres ersten gemeinsamen Computerspiels Ichigo diesen als Entwickler und Zulieferer für ihre Grafikengine einbinden, entsteht hier eine komplexe Gemengelage, in der im Folgenden auch noch Marx mitmischen wird, der vom verständnisvollen Mitbewohner Sams zum Unterstützer und Manager des Entwicklerduos werden wird.

Während Sam und Sadie Spiele entwickeln, sich stets um die künstlerische Ausrichtung streiten ist es im Folgenden Marx, der die beiden zusammenhält und als Produzent Unfair Games, so der Name der Spieleschmiede, für das Funktionieren des komplexen Trios sorgt, bis ein Zwischenfall das bisher gekannte Miteinander völlig auf den Kopf stellt.

Ein Roman aus der Welt der Entwicklerstudios

Gabrielle Zevin, die bislang in Deutschland eher mit Jugendbüchern und (zumindest in der deutschen Aufmachung) recht kitschig aufgemachten Romanen in Erscheinung trat, gelingt hier ein spannendes Buch, das sowohl in der beschriebenen Thematik als auch in seinem Personal durchaus überzeugen kann.

So gibt es Romane über Videospiele inzwischen häufig – aber ein Roman, der die Welt der Entwicklerstudios spielt und die Arbeit des Spieleerfindens und die Realisation der digitalen Welten beschreibt, das ist doch (zumindest für mich) neu.

Zevin zeigt, wie sich seit den Anfangstagen die Spiele fortentwickeln, die Grafiken, Spielmechaniken und Ansprüche der Spiele ausgefeilter werden, Gewissensentscheidungen und komplexe Abwägungen in die Titel hineinfinden – was sich auch im Verhältnis von Sadie, Sam und Marx spiegelt, das im Lauf des Buchs in dem Maße an Wucht und Dramatik gewinnt, wie auch ihre entwickelten Spiele ambitionierter und populärer werden.

Dabei gelingt es der Autorin auch, mit Erzähleinfällen zu überraschen und neue Blickwinkel zu eröffnen.

Ist es zu Beginn der Dozent und Liebhaber von Sadie, der erbarmungslos alle von den Student*innen vorgestellten Titel verreißt und aburteilt, wenn sie ihn nicht überraschen und Neues bieten, so sieht sich das Buch selbst zunächst diesem Vorwurf der linearen Vorhersehbarkeit ausgesetzt.

Aber spätestens ab der Hälfte des Buch gelingt es Gabrielle Zevin dieses Forderungen auch für ihr Buch selbst umzusetzten und die Leser*innen emotional einzubinden (obgleich so manche der vielfach geschilderten Anziehung und Abstoßung, Depressionen und körperliche Pein des Schmerzenmanns Sam und der Schmerzenfrau Sadie dann doch auch etwas an exzessive Prosa Hanya Yanagiharas erinnern).

Bis zur Mitte schnurrt dieser geschmeidig erzählte Roman durchaus vor sich hin, bietet aber wenig Überraschendes oder Neues – was sich dann spätestens ab dem oben erwähnten Zwischenfall ändert. Ab hier kann Gabrielle Zevin mit eigenen Erzähleinfällen überzeugen, wagt ungeahnte Perspektivwechseln und probiert sich am Ende sogar an der Erzählform eines Computerspiels aus, das sie organisch in die Rahmenhandlung einbettet.

Ein bisschen von diesem inszenatorischen Mut der zweiten Hälfte hätte man auch dem ersten Teil von Morgen, morgen und wieder morgen gewünscht.

Aber auch so ist dieser Roman über die erzählten Inhalte hinaus eine gelungene Reflektion über die eigene Vergänglichkeit und die Möglichkeiten, die ein Computerspiel bieten kann und das, was Spiele mit uns machen.

„Was ist ein Spiel“ fragte Marx. „Es ist morgen, morgen, und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.“

Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen, S. 471

Denn dass die Endlichkeit schneller auf uns wartet, als es ein Computerspiel mit seiner Illusion der Unsterblichkeit vorgaukelt, dass weiß nicht nur Banquos Geist in Shakespeares Hamlet (dem auch der Buchtitel entlehnt ist). Das weiß auch die Dichterin Emily Dickinson, die zur Inspirationsquelle für Sadie wird und das weiß und zeigt auch Gabrielle Zevin in ihrem Roman mit der Wucht jener großen Welle des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai, die nicht nur das Cover des Buchs ziert, sondern auch Sadie und Sam Anregungen für die Entwicklung ihrer ersten Spiele gibt.

Fazit

Mit Morgen, morgen und wieder morgen gelingt Gabrielle Zevin ein souverän erzählter Roman, der von den Illusionen der Unsterblichkeit, von komplexen Beziehungen und von den Mühen der Spieleentwicklung erzählt. Sie stellt ein komplexes Figurendreieck in den Mittelpunkt ihres Romans und weiß vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit originellen und überraschenden Erzähleinfällen zu punkten, was aus Morgen, morgen und wieder morgen somit eine empfehlenswerte Lektüre macht!


  • Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen
  • Aus dem Englischen von Sonia Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0129-7 (Eichborn)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €
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Eckhart Nickel – Spitzweg

Nein, Spitzweg von Eckhart Nickel ist keine poppige Biographie des Malers, auch wenn es Aufmachung und Titel nahelegen. Das Leben des Künstlers, der ikonische Bilder wie Der Bücherwurm oder Der arme Poet schuf, es steht nicht im Mittelpunkt des Buchs.

Vielmehr erzählt der 1966 geborene Eckhart Nickel in seinem neuen Roman von drei Schüler*innen, die sich durch Kastaniengolf, Kunst-Deutungen und Spitzwegverehrung finden und gegenseitig bilden. Stilistisch ambitionierte Unterhaltung, die ganz auf Sprache und Ästhetik setzt.


Hagestolz, wie das klingt. Ein völlig aus der Zeit gefallener Begriff, heute kaum mehr en vogue, genauso wie die Bilder Carl Spitzwegs mit seiner zwischen Biedermeier und Romantik stehenden Bildsprache. Und dennoch übt der Hagestolz auf Carl und seinen namenlosen Freund, den Ich-Erzähler des Romans, einen großen Reiz aus:

„Kennst du das Bild? Allein der Name ist hinreißend: „Der Hagestolz“. Was für ein herrlicher Begriff! Das Wort an sich ist eine Wonne, weil es einen so zielsicher vom A über das E zum O führt, so schön, dass man es sich nicht oft genug laut vorsagen kann. Versuch es mal, schon mit dem langen H am Anfang, das einen so verheißungsvoll anatmet, dann geht es mit dem verschluckten kleinen G sofort in das mächtig gewaltige STOLZ über, und das Ausrufezeichen ist eigentlich schon mit dem finalen Buchstaben des Schlusswortes unsichtbar gesetzt. Einer meiner Lieblingsschriftsteller hat in seinem ersten Roman den entscheidenden Satz gesagt: Mein Glück, dass es das Wort HAGESTOLZ nicht mehr gibt. So kann ich in aller Ruhe einer werden, und trotzdem kann mich keiner einen schimpfen.

Eckhart Nickel, Spitzweg, S. 162

Schon in diesem kleinen Ausschnitt eines Gesprächs über Spitzwegs Bild des Hagestolzes wird klar, welchen Geist Eckart Nickels Roman atmet. Da unterhalten sich zwei Schüler, kunstsinnig und hochgebildet, Carl dabei gerne in erlesene Stoffe und Kombinationen gewandet, zusammengeschweißt durch eine Begegnung am Getränkeautomaten der Schule, die Carl wie folgt kommentierte:

„Ich frequentiere Milch. Und daran fehlt es hier offensichtlich, wie an vielem anderen mehr“.

Eckhart Nickel – Spitzweg, S. 11

Der Bund der zwei Jungen in der anonymen Schule in der anonymen Stadt wird bald um eine Dritte erweitert. Es ist Kirsten, die nach einem traumatischen Erlebnis im Kunstunterricht zur Gesellschaft der beiden Freunde dazustößt. Zu dritt parlieren sie über Kunst und Kunstwerke, wie eben etwa über Spitzwegs Hagestolz, Readymades oder die Genese und Ausdeutung von John Everett Millais‘ Gemälde Ophelia. Doch dann beschließt Kirsten, zu verschwinden und löst damit viel Verwirrung aus.

L’art pour l’art und eine Feier des Dandytums

Spitzweg ist ein Roman, der das Motto der L’art pour l’art und das Dandytum feiert. Artifiziell ohne Ende ist die Sprache des Buchs und artifiziell ist die Sprache der Freunde untereinander, die eigens ein neues Buchstabieralphabet ersonnen haben. Bei diesem ist das N anstelle des Nordpols etwa durch Nabokov belegt.

Eckhart Nickel - Spitzweg (Cover)

Überhaupt – die Literatur. Sie spielt eine zentrale Rolle in diesem Roman, hat der Erzähler doch das Bildungsideal ausgiebig beherzigt und ist firm in der Literaturgeschichte, was von Ludwig Tieck über die Buddenbrooks bis Michael Ondaatje reicht. So parliert der Erzähler zitat- und kenntnisreich mit seinem Lehrer, der ihn in den dunklen Literaturbunker unterhalb seines Haus einlädt oder weiß auch ansonsten im Gespräch mit Carl immer wieder mit Bonmots zu brillieren, wohingegen sich dieser auch einmal in einem seitenlangen Referat über Anonymität und Kunst verliert.

Auch der Text selbst steckt voller ausgesuchter Wörter. So ist das Buch in einem gehobenen, bildungssprachlichen Duktus verfasst, bei dem sich Nickel nicht vor der Verwendung entlegener Begriffe wie Proömium, Gleiskörper oder epherm scheut sondern diese vielmehr zelebriert. Dinge in diesem Roman sind gerne einmal fein ziseliert oder ornamentiert. Nachgerade auffallend ist Nickels Begeisterung für ebenjenes Adverb, das der Autor häufig im Text verstreut.

Neben der artifiziellen Sprache sind es auch die Dialoge, bei denen durchaus bildungsgesättigte und benennungsstarke Sätze wie dieser fallen:

„Eigentlich kann man es auf den ersten Blick kaum erkennen, Siehst du den Architrav dort unter dem Balkon? (…). Der Mezzanin schließt sich in der Regel eher dem Erdgeschoss an, aber zu meinem Glück gehört er hier zum zweiten Stock, in dem wir wohnen“ (S. 27).

Da gerät die Frage, ob neben den ganzen wort- und dialogreichen Zurschaustellung der eigenen Bildung und des ganzen Wortgeklingels auch Raum für eine genuin entwickelte Handlung bleibt, fast ins Hintertreffen. Ich würde sie aber sowieso verneinen.

Zwar gibt es Handlungsmomente im Roman, im Großen und Ganzen zerfällt Spitzweg aber in viele Einzelepisoden und Begebenheiten, die allmählich ein Bild der Dreier-Freundschaft zwischen Park, Museum und Villen zeichnet. Zu einem wirklichen Handlungsbogen oder einer größeren Erzählabsicht reicht es nicht – die ist Nickel in meiner Lesart aber nicht wichtig. Eher ist es hier die L’art pour l’art, die hier im Mittelpunkt steht und mit der es Nickel auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Fazit

Bildbetrachtungen, Interpretationen, bildungsgesättigtes Parlando – all das hält Spitzweg bereit und ist damit in der deutschen Gegenwartsliteratur eine wirkliche Erscheinung, die das Dandytum feiert und wortreich und geradezu arabesk besingt. Dass die Buchgestaltung der Büchergilde sich da dem Inhalt anschließt und durch kunstvolle Außengestaltung überzeugt, das passt ins Bild.

Eine weitere, hervorragende Besprechung gibt es bei Aufklappen . Und auch im Deutschlandfunk wurde das Buch von Jan Drees bereits besprochen.


  • Eckhart Nickel – Spitzweg
  • Edition Büchergilde
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Vendela Vida – Die Gezeiten gehören uns

Zwei Strände an der Küste San Franciscos, getrennt durch vorspringende Klippen. Zwei unterschiedliche Mädchen, die diese geschickt überwinden. Und zwei ganz verschiedene Leben zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Realität. Sie stehen im Mittelpunkt des Romans Die Gezeiten gehören uns der amerikanischen Autorin Vendela Vida.


Vendela Vida wurde 1971 geboren und hat bislang sechs Romane veröffentlicht, darunter zuletzt den 2016 im Aufbau-Verlag erschienen Flucht- und Identitätsroman Des Tauchers leere Kleider. Mit Die Gezeiten gehören uns liegt nun der erste Roman im Hanser Berlin-Verlag vor, der von Monika Baark ins Deutsche übertragen wurde.

Während Vida bei uns noch keine allzu große Bekanntheit erlangt hat, ist es bislang eher der Name ihres Mannes, der aufhorchen lässt. Vida ist die Partnerin von Dave Eggers, der spätestens seit seinem Bestseller Der Circle auch hierzulande zu den großen amerikanischen Autorennamen zählt. Doch sollte man nicht den Fehler machen, Vida als schreibendes Anhängsel von Eggers zu betrachten. Denn Vida schreibt eine ganz eigenständige Prosa, die deutlich nuancierter und tiefgreifender ist, als die doch oftmals etwas unterkomplexen und auf Effekt zielenden Romane ihres Mannes.

Familien in Sea Cliff

Vendela Vida - Die Zeiten gehören uns (Cover)

Zusammen mit ihm und den Kindern lebt Vendela Vida in der San Francisco Bay Area, in der auch ihr neuer Roman angesiedelt ist, genauer gesamt im Stadtviertel Sea Cliff. Dort geht die Erzählerin Eulabee zusammen mit anderen aus wohlbehüteten und privilegierten Haushalten stammenden Mädchen auf die Privatschule Spragg. Ihre beste Freundin ist Maria Fabiola, die Eulabee bewundert und mit der sie sich am nahegelegenen China Beach in der Kunst des Klippenrennens übt.

Denn die beiden Mädchen sind Meisterin in dieser Kunst. Genau abgestimmt mit den Gezeiten und gefährlichen Wellen überwinden sie die rutschigen Klippen, um von einem Strand an den nächsten zu wechseln, ohne Umwege in Kauf nehmen zu müssen. Maria Fabiola und Eulabee sind genau aufeinander abgestimmt und ergänzen sich so gut miteinander, dass sie sogar all den Nachbar*innen in Sea View weismachen, dass Maria Fabiola ein neues Familienmitglied von Eulabee ist.

Doch die Freundschaft und Harmonie erleidet schon bald tiefe Risse. Denn als Maria Fabiola und weitere Spragg-Schülerinnen behaupten, von einem Exhibitionisten angesprochen worden zu sein, stützt Eulabee diese These nicht, da sich ihre Wahrnehmung von der ihrer Freundin unterscheidet. Es setzen die typischen sozialen Ausgrenzungen in Schule und Freizeit ein, die man seit den 80ern, in denen das Buch angesiedelt ist, bis heute kennt. Kleine Botschaften im Spind, Ausladungen bei Feten – so weit, so bekannt.

Dieses hinlänglich bekannte Teenagerdrama steigert sich allerdings, nachdem Maria Fabiola dann tatsächlich verschwindet und eine öffentliche Suche einsetzt. Zwar taucht sie nach ein paar Tagen wieder auf, sie erzählt aber von einer Entführung, die sie durchlebt habe. Eulabee will ihr so recht nicht glauben, findet sich dann aber auch bald in einer ähnlichen Situation wieder.

Freundschaften und Neid, Lügen und Inszenierungen

Die Zeiten gehören uns ist ein Buch, das von einer Teenagerfreundschaft am Rande zum Erwachsenenwerden erzählt, angesiedelt in den 80er Jahren. Der typische Coming of Age-Stoff wird bei Vendela Vida aber dankenswerterweise um weitere Fragen und Themen ergänzt. So spielt ihr Buch immer wieder mit der Dualität und Dichotomien. Maria Fabiola mit ihrer reichen Herkunft und ihrem Willen zum Drama, Eulabee mit ihrer Mittelschichtfamilie und dem Neid auf Maria. Die kleinen und großen Lügen, die offenen und verdeckten Kämpfe um Gunst und Anerkennung, sie werden von Vida immer wieder durchdekliniert und tauchen in verschiedenen Abwandlungen auf, sogar auf dem abstrakt gehaltenen Cover, das die zwei getrennten Strände zeigt.

Models inszenieren sich in der Öffentlichkeit, Eulabees Vater, ein Auktionator hat Zweifel an der Echtheit eines seiner im Laden ausgestellten Gemälde, Eulabee versucht ihrem nachbarschaftlichen Umfeld falsche Aussagen über Maria unterzujubeln. Und wenn vom familieneigenen Haus die Golden Gate Bridge immer wieder im Nebel verschwunden zu sein scheint, ehe der Nebel dann später wieder aufreißt und ihren Anblick preisgibt, dann ist das nur eine Vorausdeutung des gesamten Erzählkonzeptes dieses Buchs. Es geht in Die Gezeiten gehören uns um Schein und Sein, um Lüge und Wahrheit, Inszenierung des Ichs und Glaubwürdigkeit. Das wird spätestens dann im Epilog klar, der im Jahr 2019 spielt und in dem Maria und Eulabee als erwachsene Frauen ein letztes Mal aufeinandertreffen.

Fazit

In kurzen Kapiteln nimmt schildert Vendela Vida diese Beziehung komplex und ambivalent, nimmt uns mit nach Sea Cliff und und an den Strand von China Beach, lässt uns Lügen lauschen und die Kämpfe der Pubertät noch einmal nacherleben. Sie stellt eine humorbegabte, originelle junge Erzählerin in den Mittelpunkt ihres Buch und beweist mit diesem Buch, dass sie mehr ist als Die Frau von und dass sie über eine genuin eigene Erzählstimme verfügt. Eine Buch voller Nostalgie, das die Jugend und ein heute gar nicht mehr existentes San Francisco heraufbeschwört, fernab von Social Media-Beschleunigung und Tech-Gentrifizierung.

Ein Buch, das aber auch trotz des rückblickenden Settings zeitgemäß und aktuell ist. Da verzeiht man dem Buch und dem Verlag auch die Tatsache, dass Die Gezeiten gehören uns als Titel bei Weitem nicht so stark ist wie das Original: We run the tides.


  • Vendela Vida – Die Gezeiten gehören uns
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27226-2 (Hanser Berlin)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €

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