Erzählte Annika Büsing in ihrem Debüt Nordstadt eine widerborstige Romanze am Beckenrand eines Hallenbads, so schickt sie in ihrem zweiten Roman Koller zwei junge Männer auf einen Roadtrip von Leipzig bis ins Ahrtal.
„Ich bin Koller“, hattest du gesagt, als hinter den Bäumen die Sonne unterging.
Auf dem Bild an der Wand sahst du aus wie der, der du gewesen warst, bevor dir jemand deinen Spitznamen gabe. Während ich dich betrachtete, standst du plötzlich hinter mir.
„Das war an der Ostsee“, sagtest du.
Dein Atem streifte meinen Nacken. Wir sahen beide auf das Bild an der Wand. Ein glücklicher, junger Mann, lachend auf einem Gartenstuhl in einer Pose zwischen Zurücklehnen und Aufstehen. Ich drehte mich zu dir um. Du küsstest mich. Ich kann das nur hart und klar, doch dein Kuss war weich und trüb. Er ließ keine klaren Absichten erkennen, er floss über vor Gefühl. Mit dem Daumen strichst du über die Falte zwischen meinen Augen. Dann zimmerten wir ein Frühstück hin: Eier, Brot, eine Kanne Kaffee. Du sahst verschlafen aus, trugst noch immer das T-Shirt vom Abend zuvor.
„Ich muss dich mal was Ernsthaftes fragen“, sagtest du kauend. „Wie dringend willst du ans Meer?“.
„Sehr dringend“, sagte ich.
„Dann sollten wir das angehen“, sagtest du. „Meiner Oma, die, von der ich dir erzählt habe, gehört ein Haus in Klütz. Wir können dahin, wenn du willst.“
Annika Büsing – Koller, S. 14 f.
Gesagt, getan. so schnell kann es gehen. Am Nachmittag zuvor haben sich Chris und Kolja alias Koller noch in einem Park in Leipzig kennengelernt, am nächsten Tag soll es schon auf eine Fahrt an die Ostsee gehen. Doch so leicht, wie der Plan auf den ersten Seiten von Annika Büsings neuem Roman erscheint, so leicht ist es dann doch nicht.
Von Leipzig nach Klütz (eigentlich)
Das beginnt schon mit dem Reisevehikel, einem nahezu prähistorischen Polo II mit vier Gängen, vierzig PS und einer losen Beifahrertür. Mit diesem Gefährt soll es nach Klütz gehen, doch schon am ersten Tag des Roadtrips geht es für Chris und Koller statt in den Norden erst einmal in den Südwesten der Bundesrepublik. Denn Koller steckt voller Überraschungen. So hat er nicht nur eine Partnerin namens Ella, auch eine Schwester namens Birte gibt es. Diese lebt in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung in Ludwigsburg, wohin sich die beiden Männer nun als erstes aufmachen.
Doch nicht nur mit der Enthüllung der Existenz einer Schwester überrascht Koller Chris vollkommen. Auch ist Koller Vater eines vierjährigen Kindes, das bei seinen Großeltern wohnt, und das ausgerechnet im Ahrtal, das zum Zeitpunkt der Handlung im Sommer 2021 überschwemmt wurde und nun kaum betretbar ist.
So machen sich Chris und Koller nach der Stippvisite bei seiner Schwester auf, Kollers Kind dort im Ahrtal zu besuchen und sich zu versichern, dass es Hannah gutgeht. Es wird nicht das letzte überraschende Moment dieses Roadtrips sein, dessen Ziel und Umfang zu Beginn des Romans noch ganz überschaubar erschien.
Ein Roadtrip in sieben Tagen
Doch so verschlungen wie die Wege des Lebens der Protagonisten in Annika Büsings Geschichte sind eben auch die Wege, auf denen die beiden Männer wandeln beziehungsweise mit dem schrottreifen Auto zuckeln. Da führt der Weg zum Ziel dann eben auch einmal über einen Forstweg oder endet in einer Verfolgungsjagd.
All das inszeniert Annika Büsing im biblischen Schöpfungszeitraum der sieben Tagen. Neben der manchmal etwas springenden Chronologie der Tage fügt sie noch kursiv gesetzte Kurzbiografien von drei indirekt an der Handlung beteiligten Frauen ein, die durch ihre kurz angerissenen Lebensgeschichten einen etwas klareren Blick auf Chris und Koller erlauben. So werden die biografischen Hintergründe und Beziehungen der beiden jungen Männer klarer und zeigen die Erfahrungen und Brüche im Leben, die sie erfahren haben.
Annika Büsing gelingt wieder ein komprimierter und schneller Roman mit ebenso schnellen Dialogen und kurzen, aber in markantem Sound gesetzten Sätzen, die die Handlung vorwärtstreiben. Kennenlernen im Park, erstaunliche Enthüllungen aus dem Leben Kollers, Abstecher von Leipzig nach Ludwigsburg, ins Ahrtal und nach Klütz – und das alles in gerade einmal gut 170 Seiten. Annika Büsing verliert hier keine Zeit und drückt aufs erzählerische Gaspedal
Lebenswelten junger Erwachsener
Mit Koller erweist sie sich nach Nordstadt wieder einmal als genaue Beobachterin der Lebenswelten junger Erwachsener, in der nicht mehr alleine binäres Geschlechterdenken die Wahl des Partners beeinflusst und in der noch vieles möglich erscheint.
Ihr gelingt eine queere Lovestory und ein Roadtrip, der natürlich in der Tradition von Tschick steht, und das nicht nur, weil beide Titel auf der onomatopoeischen Vereinfachung der Vornamen der jeweiligen Protagonisten gründen. Der Aufbruch im Sommer mit einem schrottreifen Auto, das schrittweise Eintauchen in die Tiefe ihrer Charaktere, prägende Liebesgeschichten und der Geist von Aufbruch und Abenteuern, der beiden Werken zueigen ist. All das lässt eine gewisse thematische und stilistische Nähe der beiden Roadtrip-Romane erkennen.
Wo man in niedrigeren Klassenstufen Wolfgang Herrndorfs zeitgenössischen Klassiker liest, da kann in höheren Klassenstufen der Lektüreabgleich mit Koller sicherlich reizvolle Unterrichtsstunden und Diskussionen ergeben. Am spannendsten wäre es sicherlich, würde Annika Büsing selbst gleich eine solche Stunde gestalten, ist sie doch als Autorin und gleichzeit Deutsch- und Religionslehrerin an einem Gymnasium in Bochum eigentlich die perfekte Wahl für einen solchen Abgleich beider Werke und der Erfahrungswelt der Schüler*innen.
Fazit
Hier in Koller erweist sie sich abermals als ebenso gute Beobachterin wie Beschreibende der Leben junger Menschen. War es in Nordstadt die Enge des Schwimmbads, das sie für eine konzentrierte Liebesgeschichte als Kammerspiel nutzte, so setzt sie nun in ihrem zweiten Roman auf das genaue Gegenteil und erzählt von Entgrenzung, Weite und den nahezu unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten eines Roadtrips in der Tradition von Wolfgang Herrndorfs Tschick.
Ihr gelingt ein überraschender, schneller Roman zur Zeit der Ahrtalflut und des Coronasommers 2021, der zwei junge Männer immerhin sieben Tage ihres Lebens begleitet und das in einer ebenso prägnanten wie treffenden Sprache. Rau, aber ehrlich. So fühlt sich dieser Roadnovel mit Chris und Koller an.
Eine weitere Meinung zu Koller gibt es im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur mit Rainer Moritz, er schlug Annika Büsings Debüt Nordstadt im vergangenen Jahr für den Bayerischen Buchpreis vor. Zwar erhielt das Buch diese Auszeichnung nicht, dafür wurde Annika Büsing mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Mara Cassens-Preis ausgezeichnet.
- Annika Büsing – Koller
- ISBN 978-3-96999-196-1 (Steidl)
- 176 Seiten. Preis: 20,00 €