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Louisa Luna – Abgetaucht

In ihrem neuen Fall bekommt es die Privatermittlerin Alice Vega mit einer Bande junger Neonazis im ländlichen Oregon zu tun. Louisa Luna beschert ihrer Heldin mit Abgetaucht einen Fall, in dem sie wieder einmal unter Beweis stellen muss, dass sie hart im Nehmen ist – und dass sie noch härter austeilen kann.


Schon einmal durfte Alice Vega zusammen mit ihrem Partner Max Caplan auf dem deutschen Buchmarkt ermitteln. Tote ohne Namen war er zweite Fall der Reihe, der nun mit Abgetaucht der dritte Fall folgt. Darin bekommt es Vega mit einem kuriosen Fall zu tun. Das betrifft sowohl den Auftraggeber als auch den Fall selbst. Denn am 17.11.1984 wurde der Footballspieler Zeb Williams zum letzten Mal gesehen, als er ein Spiel mit seiner Mannschaft bestritt. Anstelle auf dem Feld in den letzten Sekunden des Spiels wichtige Punkte zu machen, rannte Williams vom Spielfeld und blieb seitdem verschwunden.

Um dieses Verschwinden des vielversprechenden Spielers ranken sich viele Mythen, die sich mit dem zunehmenden Dauer des Verschwindens verselbstständigen. Auch Vega muss sich nun damit auseinandersetzen, denn sie wird heimlich vom jetzigen Gatten der Frau beauftragt, die damals mit Zeb Williams liiert war. Er will endlich Klarheit über das Verschwinden und so begibt sich Vega nun nach Oregon ins kleine Städtchen Ilona, wo sich die Spuren von Zeb Williams verlieren.

Ein verschwundener Footballspieler

Vor Ort stößt sie bei ihren Recherchen auf eine Lehrerin, die Alice Vega bei ihrem Fall nur weiterhelfen will, wenn auch Vega etwas für sie tut. Denn die Lehrerin und der ganze Ort werden von einer Gruppe Jugendlicher terrorisiert, die unter dem Namen Liberty Pure ihren Fantasie einer weißen Übermacht anhängen. Das, was durch die Wahl Donald Trumps und die Verrohung des Diskurses überall in den USA verstärkt zum Vorschein kommt, auch in Ilona ist es inzwischen an der Tagesordnung. Anhänger der Theorie der Übermacht der weißen Bevölkerung, die durch gute Verbindungen zu den Polizeibehörden weitestgehend ungestört ihrer Propaganda und Hetze frönen können.

Louisa Luna - Abgetaucht (Cover)

Doch mit Alice Vega haben sich die Jugendlichen die falsche Gegnerin ausgesucht. Denn wenn sich die Ermittlerin in einen Fall verbissen hat, lässt sie sich auch von Drohungen und Gewalt nicht einschüchtern. Nicht einmal, wenn diese Gewalt auch auf ihren Partner Max Caplan und dessen Tochter übergreift.

Abgetaucht erzählt von neonazistischen Strukturen und dem Gefühl der Überlegenheit, das solche Gruppe wie die im Buch beschriebenen Liberty Pure mit der kruden Mischung aus Libertalismus, Nationalismus und Rassismus inzwischen immer ungehemmter ausleben. Für den Kampf gegen solche Strukturen und Verflechtungen braucht es eine Figur wie Alice Vega, die für die Durchsetzung ihrer Ziele auch nicht vor Gewalt zurückschreckt.

Eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas

Neben dieser Eine Frau gegen das System-Erzählung ist Abgetaucht auch eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas in der Gegenwart. Eine Betandsaufnahme, die wenig Grund zur Hoffnung gibt. Denn in Lunas Oregon werden wenige Reiche immer reicher, raffen Grundbesitz und Wohlstand, während sich der Rest der Bevölkerung in Trailerparks zurückzieht, Lehrerinnen am System zu verzweifeln drohen und die Polizei korrupt bis überfordert ist.

Nein, wirklich positiv kann man auf die zukünftige Entwicklung Amerikas aufgrund dieser Lektüre nicht schauen – und die politische Realität sieht auch nicht unbedingt vielversprechender aus.

Eine Idee weniger überzeugend als der erste bei Suhrkamp erschienene Roman ist dieser von Karin Diemerling ins Deutsche übertragene Krimi. Denn die Balance zwischen den Ermittlungsfiguren Alice Vega und Max Caplan gerät hier in Schieflage. Während Max in Depressionen und Angst um seine Tochter versunken ist, kämpft Vega weitestgehend alleine gegen das Schweigen über den Verbleib Zeb Williams‘ und die Atmosphäre von Einschüchterung und Angst, die die junge Neonazi-Bande verbreitet. Somit kann von einem Ermittlungsduo hier nur eingeschränkt die Rede sein.

Das ist insgesamt freilich immer noch deutlich besser und überzeugender als das Gros sonstiger amerikanischer Serienkiller-Produktion, die den deutschen Markt überschwemmen. Legt man aber den formidablen ersten, auf Deutsch erschienenen Krimi Tote ohne Namen für einen Vergleich zugrunde, so hat Abgetaucht hier das Nachsehen und fällt etwas gegen jenen Band ab. Dennoch ist auch dieses Buch ein starker Krimi, der im Kleinen der Provinz das findet, was sich im Großen in den USA auch gerade abzeichnet.


  • Louisa Luna – Abgetaucht
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling
  • ISBN 978-3-518-47377-1 (Suhrkamp)
  • 456 Seiten. Preis: 18,95 €
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Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island

In dieser Familie ist wohl wirklich der Dibbuk drin. Taffy Brodesser Akner schildert nach Fleischmann steckt in Schwierigkeiten in ihrem zweiten auf Deutsch vorliegenden Roman Die Fletchers von Long Island das Unglück, das sämtliche Mitglieder der Familie Fletcher erfasst, nachdem das Familienoberhaupt entführt wurde. Ein jüdischer Familienroman in der Tradition des Great American Novel.


Seit der Entführung des Familienoberhaupts Carl Fletcher vor der Haustür seines Anwesens in Middle Rock, einem Vorort von Long Island, scheint irgendwie der Wurm in der Familie drin zu sein – oder besser gesagt der Dibbuk.

Nach der Überlieferung ist ein Dibbuk eine elende Seele, die nicht in den Himmel aufsteigen kann, um Ruhe zu finden, sondern auf der Erde wandelt und in den Körper eines anderen Menschen schlüpft, dessen Seele sie verdrängt, um ihre letzten Aufgaben zu verrichten. Wenn in der Fabrik ein Kessel ausfiel, sagte Zelig, es sei ein Dibbuk im Getriebe. Wenn mehrere Kabel in kurzem Abstand rissen, war ein Dibbuk im Getriebe.

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 40 f.

Dabei scheint von derlei Ungemach zunächst noch jegliche Spur zu fehlen. Denn die Entführung des Patriarchen geht einigermaßen glimpflich aus. Zwar ist das Lösegeld verschwunden, dafür kehrt Carl Fletcher wieder in die Arme seiner Frau Ruth und der drei Kinder heim. Doch dass so ein Dibbuk auch seine Zeit braucht, bis er sich bemerkbar macht, das beobachtet Taffy Brodesser Akner im Folgenden dieses von Sophie Zeitz übersetzen Romans ausgiebig.

Ein Dibbuk im familiären Getriebe

Taffy Brodesser Akner - Die Fletchers von Long Island (Cover)

Denn nach dem vorangestellten Prolog mit der Entführung von Carl steigt Brodesser Akner mit einem Zeitsprung von gut vierzig Jahren in die erzählte Gegenwart ein. Carls Mutter Phyllis ist tot – und langsam beginnen die Fliehkräfte im Familiengefüge zu wirken, das eigentlich nur durch das Geld aus den Einnahmen der im Familienbesitz befindlichen Polystyrolfabrik zusammengehalten wird, das den Familienmitgliedern ein einigermaßen sorgenfreies Auskommen ermöglicht.

Doch die Sorgen nehmen zu. Denn Bernard, genannt Beamer, hat sich zum erfolglosen Drehbuchautor gemausert, der in seinen Werken stets das Thema der Entführung umkreist und nach einigen wenigen B-Movies mit immer weniger Erfolg nun im Stadium der völligen Antriebslosigkeit angelangt ist. Von Dominas lässt er sich malträtieren, balanciert aber auch haarscharf am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

Seiner Schwester Jenny und seinem Bruder Nathan geht es da nicht unbedingt besser. Letzterer hat sich infolge der Entführung vollends zum Kontrollfreak und Versicherungsfetischisten gemausert, dem die Ruhe und Übersichtlichkeit seiner eigenen Existenz über alles geht. Und Jenny, die in Studienzeiten durch schiere Abwesenheit zur Revolutionärin wird und deren Schulaufsatz über das Schicksal eines Mastkalbs Ruth die passende Analogie zur Betrachtung ihrer Kinder liefert.

Plötzlich wurde Ruth klar, dass ihre Kinder wie dieses Kalb waren.

Sie waren ihr Leben lang gemästet worden, aber sie waren nie zu voll entwickelten Erwachsenen gereift. Sie hatten die Schwelle des Lebens erreicht, aber sie konnten nicht laufen. Und Ruth hasste sie dafür – sie hasste ihre Kinder auf eine Art, wie sie sie nur hassen konnte, weil sie sie liebte -, und jetzt erkannte sie, wie unausweichlich alles war. Nein, schlimmer: Sie erkannte, dass sie selbst die Urheberin ihrer Inkompetenz war.

Als Ruth im Wagen vor dem Brownstone saß, starrte sie ins Nichts.

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 480

Ein jüdischer Familienroman

Die Fletchers von Long Island ist ein klassischer amerikanischer Familienroman, der im Fahrwasser von Jonathan Franzens Die Korrekturen, Paul Murrays Der Stich der Biene oder Ann Napolitanos Hallo, du Schöne schwimmt. Diese jüdisch-amerikanische Familie bestätigt zum wiederholten Male das klassische Tolstoi’sche Verdikt der Familie, die auf ihre eigene Art traurig ist.

Nacheinander beobachtet Bordesser Akner das Taumeln und Fallen ihrer Figuren, verbunden durch das mehrmals ans Kapitelende gesetzte, fragende Mantra: Was willst du machen? So sind die Reichen eben.

Besonders erkenntnisstark ist das freilich nicht und reicht kaum über eine Binse hinaus. Auch sind nicht alle Teile gleich gut geraten und sind qualitativ etwas unproportional. An manchen Stellen ruckelt es auch etwas vor sich hin – eben wie ein Dibbuk im Kessel. Dennoch folgt man dem Niedergang der Familie gerne und wohnt dem Wüten des Dibbuks bei, der hier recht unterhaltsam in der Familie Fletcher sein Unwesen treibt.


  • Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz
  • ISBN 978-3-8479-0211-9 (Eichborn)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €
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Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies

Fernab der Heimat – und doch die Sorgen um Deutschland stets präsent. In Heimweh im Paradies porträtiert Martin Mittelmeier Thomas Mann während seines Exils in Kaliforniern – und zeichnet nebenbei auch noch ein Bild des exilierten deutschen Geisteslebens, von Adorno bis Schönberg.


Liest man Martin Mittelmeiers erzählendes Sachbuch Heimweh im Paradies, so muss man doch auch unwillkürlich zurückdenken an die Zeiten Anfang des Jahres, als die Waldbrände rund um Los Angeles loderten. Lange sah es so aus, als würden auch die Mann-Villa in Pacific Palisades und die Villa Aurora, in der Lion Feuchtwanger Zuflucht vor den Nazis fand, ein Raub der Flammen. Ein Unglück, das gerade so noch einmal vermieden werden konnte.

Was es bedeutet hätte, wenn diese Häuser mitsamt ihrer bewegten Geschichte in Flammen aufgegangen wären, das führt Mittelmeiers Buch vor Augen. Denn ihm gelingt es, ein Bild der deutschsprachigen Exil-Gemeinde während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen, deren Schicksal eng mit den Häusern verbunden war, die sie in Kalifornien bewohnten.

Katia und Thomas Mann sind im Frühjahr 1941 endgültig von Princeton an die Westküste gezogen, zunächst in ein Mietshaus im Ranch Style am Amalfi Drive, ganz in der Nähe von Huxleys Haus.

Im Februar 1942 beziehen sie das Haus, das sie sich nach langem Hin und Her, nach ständigem Zweifel und mehreren Kostensteigerungen selbst bauen haben lassen, eine halbe Stunde zu Fuß von der Wohnung am Amalfi Drive entfernt, wenn man sich vom Meer wegbewegt. Wo man dann aber, weil man auf diesem Weg immer bergauf geht, einen guten Blick auf den Pazifik hat. Die Villa, von deren Arbeitszimmer der Dichter einen weiten Ausblick über den Pazifischen Ozean hat, wird nach einer Gruppe hoher Palmen den Namen „Seven Palms“ führen“, heißt es in der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“ in einem kurzen Artikel.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 56

Thomas Mann – angetan von der eigenen Bedeutung

Während sich die dank des literarischen Erfolgs seiner Werke auch im Ausland finanziell unabhängigen Manns eine Villa erbauen können, ist Theodor Wiesengrund, genannt Adorno, in keiner solchen luxuriösen Situation. Er muss zusammen mit seiner Frau in einem wesentlich bescheideneren Heim leben, wo ihn Mann besucht. Aber dessen ungeachtet kann man natürlich auch nach Höherem streben, so wie es Mann bei seiner Gönner Agnes E. Meyer tut.

Martin Mittelmeier - Heimweh im Paradies (Cover)

Diese hat ihm zwar eine Stelle als Berater bei der Library of Congress sowie eine Gastprofessur in verschafft, so ganz zufrieden ist Thomas Mann damit aber nicht. Gegenüber seiner Gönnerin merkt Mann an, dass Hermann Hesse im Gegensatz zu ihm seine Zuhause in Kalifornien von seinem Mäzen finanziert bekommen habe. Luxusprobleme in der luxuriösen Umgebung von Pacific Palisades – aber auch eine bezeichnende Anekdote für den Geistesarbeiter Mann, der sich in seiner Rolle als moralisches Gewissen der Deutschen durchaus gefiel.

In Heimweh im Paradies bietet Mittelmeier viele solcher Vignetten auf, die das Bild von Thomas Mann als von der eigenen Bedeutung angetanen Mann zeigen. Als fleißiger Redenschreiber will er mit seinen Schriften von Kalifornien aus demokratiefördernd und fordernd auf die Deutschen einwirken, die derweil den Zweiten Weltkrieg führen.

Neben seiner Arbeit für die Demokratie schielt Mann auch stets mit seinem Schreiben auf die Wirkung seines Werks. Die Auszeichnung als Book of the month wird gerne entgegengenommen, nach der Vollendung seiner Josephs-Tetralogie ist es nun der Doktor Faustus, an dem er arbeitet und bei dem er Unterstützung vom schon erwähnten Theodor Wiesengrund erhält. Der in Musiktheorie wie philosophischem Denkwerk firme Adorno „inspiriert“ Mann zu seiner Arbeit am Roman über Adrian Leverkühn und dessen Pakt mit dem Teufel.

Geistesblüten im kalifornischen Exil

Nicht die einzige Geistesblüte, die die in Kalifornien zusammengewürfelte Notgemeinschaft treibt. Wie schon in seinem 2021 erschienenen Werk Freiheit und Finsternis nimmt Martin Mittelmeier auch hier die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Denker im kalifornischen Exil in den Blick.

Zusammen mit Manns direktem Nachbar Max Horkheimer arbeitet Theodor W. Adorno nicht nur im Institut für Sozialforschung zusammen und entwickelt zentrale philosophische Ideen weiter. Adornos Name Wiesengrund floss ebenso wie dessen Analyse von Beethovens Klaviersonate op. 111 wiederum in Manns Doktor Faustus ein. Auch prägen die Begegnungen mit exilierten Komponisten wie Hanns Eisler oder Arnold Schönberg und deren musiktheoretischen Ansätzen wiederum Manns Werk.

Um das Gravitationszentrum Thomas Mann herum entsteht ein Panorama von Geistesgeschichte dort in den Hügeln von Beverly Hills und Kalifornien, das Martin Mittelmeier in eine Sprache kleidet, die auch von ihrem Gegenstand gelernt hat.

Adorno ist von allen dreien am wenigsten an der politischen Sphäre interessiert. Er ist einerseits von allen der größte Revolutionär: Die Welt, so, wie sie ist, muss zersprengt werden. Aber mithilfe der Gedankenfiguren seines Freundes und Lehrers Walter Benjamin arbeitet er am stärksten von allen daran, diese Sprengung rein ins Gedankliche und Ästhetische zu verflüchtigen. Deswegen freut er sich, als Thomas Mann wieder zum Roman zurückkommt und den musiktheoretischen Vortrag des stotternden Organisten Wendell Kretzschmar vorliest mit der neu hinzukommenden Note, die das Tröstlichste der Welt ist.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 115

Das ist nicht immer ganz einfach zu lesen, schließlich steigt Martin Mittelmeier auch tief in das Denken seiner Geistesarbeiter ein und konzentriert sich nicht nur auf die Literatur, sondern eben auch in großem Maße auf die Philosophie, deren zentralen in Kalifornien entstandenen Gedanken und Ideen das Buch nachspürt.

Das macht Heimweh im Paradies nicht nur für literaturgeschichtlich interessierte Leser der Werke von Volker Weidermann oder Uwe Wittstocks interessant, sondern ist auch für Anhänger von biographisch grundierter Philosophiegeschichte ein Gewinn, wie sie gegenwärtig etwa Wolfram Eilenberger verfasst.

Fazit

Auch wenn der Untertitel von Heimweh im Paradies allein Thomas Mann in den Mittelpunkt stellt, so ist Martin Mittelmeiers Buch doch mehr. Dokumentation der Wechselwirkungen, die die Denkerinnen und Denker in ihrem Exil in Kalifornien erzeugten, Einstieg die Werkgeschichte Manns ebenso wie in die Entstehung der Frankfurter Schule, theoriegesättigter Sprachprunk, der dabei doch auch leichtfüßig und erkenntnisreich ist. Das alles vermag Martin Mittelmeiers Buch zu leisten.


  • Martin Mittelmeier – Heimweh in Paradies
  • ISBN 978-3-7558-0033-0 (Dumont)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen

Menschen im Abwärtsstrudel, eine Zehe zu viel, seltsame Gestalten im Schrank oder der unerwartet komplizierte Kauf einer Mausefalle. In seinem Kurzgeschichtenband Es werden schöne Tage kommen präsentiert der US-amerikanische Autor Zach Williams ganz unterschiedliche Erzählungen, die im Tonfall mitunter realistisch, oft aber auch skurril und fast immer leicht neben die Realität gesetzt sind.


Mitunter fühlt man sich ein wenig wie einer Traumwelt, wenn man sich in die Geschichten von Zach Williams hineinbegibt. Mal umfassen sie über 50 Seiten, mal sind sie nur sieben Seiten kurz wie die von Gedichtzeilen des Kinderbuchautors Richard Scarry inspirierte Geschichte Der neue Zeh. Diese Geschichte erzählt von einem Vater, der an den Füßen seines Sohns eine zusätzliche Zehe ausmacht – und diese kurzerhand amputiert.

So ein neuer Zeh – wie ließ er sich erklären? Es war wichtig, da zu irgendeinem Verständnis zu gelangen. Schließlich würde ich es anderen sagen müssen – dem Kinderarzt, der Kita -, und dann würde man von mir verlangen, dass ich Rechenschaft über diesen neuen Zeh ablegte. Ich würde dafür verantwortlich gemacht werden, so wie ich für jeden Aspekt seines Lebens verantwortlich war, als Sachwalter seines Wachstums und seiner Gesundheit und seines allgemeinen Gedeihens als Organismus. Und der Zeh war gerade erst aufgetaucht, aus heiterem Himmel; ich wusste so gut wie nichts über ihn.

Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen, S. 214

Doch wie sicher der Boden der Realität ist, auf dem sich diese Geschichte bewegt, bleibt fraglich. So ist es auch mit anderen Geschichten in diesem Erzählungsband. Luzider Traum oder Wirklichkeit? Das ist hier die Frage.

Alles in der Schwebe, uneindeutige Stimmung allerorten

Zach Williams - Es werden schöne Tage kommen (Cover)

Schon die Geschichte, der der Titel des Buchs entlehnt ist, wirft da Fragen auf. In der Erzählung Das Sauerkleehaus schickt Zach Williams von einem Paar mit Kind in ein leicht heruntergekommenes Sommerhaus, irgendwo in der Natur an einem Berghang. Wie in einer Zeitschleife durchlebt das Paar die neuen Routinen, die der Mann durch exzessiver werdende Ausflüge in die umgebende Natur von den Bergen bis zum Fluss durchbricht. Seine Frau bleibt zunächst mit dem Kind im Haus, muss dann aber auch eine bestürzende Entdeckung machen.

Was die Familie dorthin gebracht hat, was die Hintergründe für den Aufenthalt dort sind, ob es sich gar um eine Neudeutung des Adam und Eva Mythos im Preppermilieu mit einer Schnappschildkröte anstelle einer Schlange handelt, alles bleibt fraglich und in der Schwebe.

Überhaupt, die Schwebe und die uneindeutige Stimmung, sie sind Motiv in einigen Geschichten. Schon die Erzählung Probelauf, mit der Williams seine Storysammlung eröffnet, ist da ein gutes Beispiel. Ein Mann begibt sich trotz Sturm in sein Großraumbüro. Daheim ist der Strom ausgefallen, und so sitzt er nun im sturmumtosten Gebäude im vierzehnten Stock, wo ihm nur ein eigenwilliger Wachmann und ein ebenso rätselhafter Kollege Gesellschaft leisten – und Spam-Mails unklarer Provenienz.

Oft schwingt etwas Untergründiges in diesen Geschichten mit, in denen mal ein Mann die Wohnung seiner verstorbenen Nachbarin betritt und dort auf eine mysteriöse Gestalt trifft, mit der sich während seines Anrufs bei der Polizei ein Pas-de-deux entwickelt. Mal gerät der Fall eines trauernden Vaters zu einem luziden Fiebertraum auf einem Schiff (Lucca Castle), mal zeichnet seine Erzählung berührend den Abstieg eines Vaters nach, der von seiner Anstellung am American Visionary Art Museum in Baltimore und eigenen künstlerischen Versuchen bis zur Vagabundentum im Auto regrediert. Stets umfangen von der Sehnsucht nach seinem Sohn findet diese Geschichte mit einem gedrehten und gefalteten Zeitbezug statt (Ghost Image).

Die Methode der Realitätskontrolle

Wenn Zach Williams in Lucca Castle, der wohl abgedrehtesten Geschichte des Bandes, eine der Figuren betonen lässt, dass die Gruppe von Menschen, mit denen die Hauptfigur in Kontakt kommt, keine Terroristen seien, aber die Methode der Realitätskontrolle praktizierten, dann lässt sich das ein Stück weit auch auf Williams‘ Schreiben selbst übertragen. So spielt und kontrolliert auch er die Realitäten, die er uns präsentiert. Alles ist schwankend, nicht ganz verlässlich, rätselhaft und bisweilen luzide, im Deutschen übertragen und freigelegt von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz.

Das Talent für besondere Stimmungen zeichnet dieses literarische Debüt aus, bei dem sich Zach Williams auch etwas als writer’s writer zeigt, der von Percival Everett bis zu Jonathan Safran Foer viele Fürsprecher vorweisen kann. In seiner Danksagung zeigt er sich als gutvernetzter Autor (so studierte Zach Williams Creative Writing in New York und nennt in seiner Danksagung unter anderem Hari Kunzru, Joyce Carol Oates, Jeffrey Eugenides und Katie Kitamura als Mentoren und Unterstützer, die seine Entwicklungen als Autor gefördert hätten).

Fazit

Auch fand Es werden schöne Tage kommen Aufnahme in die letztjährige Sommer-Empfehlungsliste von Barack Obama. Es sind Geschichten, die über einen Zeitraum von insgesamt acht Jahre entstanden und die das Talent Zach Williams für Stimmungen und Realitätsschwankungen zeigen. Über allem liegt ein mal dickerer, mal feinerer Schleier, der Williams als wahren Meister der Realitätskontrolle zeigt. Von surrealer Traumlandschaft bis zum Albtraum ist hier alles enthalten, was durchaus neugierig macht auf das Debüt in der großen Form, das von Zach Williams vielleicht dereinst zu erwarten ist.


  • Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen
  • Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz
  • ISBN 978-3-423-28461-5 (dtv)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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Una Mannion – Sag mir, was ich bin

Wer bin ich und wo komme ich her? Diesen Klassiker der philosophischen Selbstbefragung verwandelt Una Mannion in einen Roman über Leerstellen im Leben, der sich spät noch zu einem Krimi mausert. Sag mir, was ich bin erzählt vom Verschwinden, vom Vermissen und von einem schlimmen Verdacht.


Mit Una Mannions neuem, von Tanja Handels übersetzten Roman ist es ein bisschen wie mit einem dieser Geschicklichkeitsspiele, mit denen man als Kind einst seine Motorik trainierte. Eine in einem flachen Kasten eingeschlossene Kugel galt es mit Drehungen und präzisem Kippen von außen durch ein Labyrinth oder eine durchlöcherte Strecke zu manövrieren. Ganz am Ende des Parcours wartete das finale Loch, in das die Kugel dann versenkt werden durfte. Liest man Sag mir, was ich bin, fühlt sich einiges wieder wie damals an, als die Kugel durch Schütteln, Rütteln und Ziehen bewegt wurde.

Una Mannion präpariert ihre erzählerische Strecke ebenfalls mit einigen Löchern und Schikanen, durch die sie ihre Leser*innen lotst, um dann auf den letzten Seiten ihren Roman zu einem eindrücklichen Ende zu führen. Mag sich auch mitten im Text manchmal ein Zweifel einstellen, ob das wirklich ein Krimi ist, wie die Shortlist-Nominierung für die diesjährigen Dagger Awards nahelegt, so lässt sich doch das Ende keinen Zweifel, wenn die literarische Kugel ins Ziel plumpst: ja, Sag mir, was ich bin ist (auch) ein Krimi. Davor ist es vor allem ein Parkour, durch den wir uns und vor allem Mannions Heldin Ruby sich bewegen müssen.

Unterwegs im erzählerischen Parkour

Una Mannion - Sag mir, was ich bin (Cover)

Zusammengesetzt aus verschiedenen Rückblenden und zeitlichen Sprüngen schält sich die Geschichte eines großen Verlusts heraus, der das Leben der Figuren in diesem Roman bestimmt. So verschwand am 8. Februar 2004 Deena, die Schwester von Nessa und Mutter von Ruby spurlos. Nach einer Schicht in einem Krankenhaus in Pennsylvania nicht mehr nachhause zurückgekehrt, verloren sich alle Spuren der jungen Frau und die Familie muss mit der fortan klaffenden Leerstelle im Familiengefüge irgendwie umgehen.

Nicht leichter wird das Ganze durch die Tatsache, dass Lucas, der Mann von Deena und Vater von Ruby beschließt, zusammen mit seiner Mutter und seinem Kind nach Vermont zu ziehen und alle Kontakte zu Deena und ihrer Familie zu unterbinden. Zuvor gab es einen Sorgerechtsstreit um das Kind, nun hat Lucas vollen Zugriff und schottet Ruby vollkommen ab.

Das verstärkt das Unwohlsein von Nessa, die schon zuvor die Beziehung ihrer Schwester mit dem extrem besitzergreifenden Lucas nicht guthieß. Mit dem jetzigen Kontaktabbruch aber erreicht das Ganze noch einmal eine neue Qualität, der bei Nessa die Alarmglocken schrillen lässt und bei Ruby den Wunsch weckt, doch irgendetwas über ihre Mutter zu erfahren, die in ihrem neuen Zuhause in Vermont totgeschwiegen wird.

Von familiären Leerstellen und der Frage der Herkunft

Una Mannion erzählt hauptsächlich aus Sicht von Rubys Tante Nessa und dem Mädchen selbst, wie es sich anfühlt, wenn da plötzlich eine Leerstelle im Leben klafft, die man weder aus kindlicher, noch aus Erwachsenenperspektive so recht zu verstehen mag. Wie Lucas seine Tochter indoktriniert und jegliches Informationsbedürfnis von Ruby zu unterdrücken versucht – und wie sich Deena nicht mit den neuen Gegebenheiten abfinden will, das ist stark gemacht.

Sag mir, was ich bin ist ein Roman, der vor allem aus seiner psychologischen Komponente seine Stärke zieht. Eindrücklich porträtiert Mannion ihre beiden weiblichen Figuren und schafft durch die achronologische, springende Erzählweise einen abwechslungsreichen Roman, der in seiner Beziehung von Ruby zu ihrem Vater in der Isolation Vermonts selbst Bezüge zu Shakespeares Der Sturm herstellt.

Ruby als Miranda, ihr Vater als auf einer Insel gestrandeter Zauberer Prospero und über allem die Frage, ob die Abschirmung der Tochter dem Schutz dient oder ob man diesem Zauberer in seinem abgelegenen Königreich misstrauen sollte. Auch aus dieser Parallele zieht der Roman seinen Reiz, der trotz der begrenzten Handlung zu fesseln vermag und vor allem am Ende unter Beweis stellt, warum sich dieser Roman beim Dagger Award 2024 in der Endauswahl fand.

Fazit

Immer wieder nährt Mannion durch die springende Erzählweise einen Verdacht, schubst sie uns in die eine oder andere Richtung, bietet Raum für Misstrauen und führt das Ganze dann zu einem schlüssigen Ende. Wie schon in ihrem ersten, ebenfalls im Steidl-Verlag erschienenen Roman Das Licht zwischen den Bäumen erweist sich Mannion auch hier als Zeichnerin familiärer Entropie, kindlicher Lebenswelten und schmerzender Leerstellen.

Leser*innen, die etwa die ruhigen aber psychologisch dicht gezeichneten Krimis von Tana French schätzen, dürften auch mit Una Mannions neuem Roman glücklich werden, die uns gelungen durch ihren literarischen Parkour führt.


  • Una Mannion – Sag mir, was ich bin
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-96999-403-0 (Steidl)
  • 304 Seiten. Preis: 28,00 €
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