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Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude

Letzte Ausfahrt HomeMarket. In seinem neuen Roman Der Kaiser der Freude lässt Ocean Vuong einen jungen Amerikaner mit vietnamesischen Wurzeln im Nirgendwo stranden. Ein Diner wird zu seinem neuen Lebensmittelpunkt. Zudem findet er in der baltischen Weltkriegsüberlebenden Grazina eine verwandte Seele, die zusammen ein ungewöhnliches, aber hochfunktionales Gespann ergeben, um sich dem (Über)Leben zu stellen.


Mit bemerkenswert hohem Ton nimmt uns Ocean Vuong auf den ersten Seiten seines neuen Romans mit in eine Stadt, die so durchschnittlich wie hoffnungslos ist.

Es ist eine Stadt, in der sich Highschool-Kids, die Freitagabend nirgendwo hinkönnen, mit den Pick-Ups ihrer Stiefväter in die unbeleuchteten Ecken des Walmart-Parkplatzes verdrücken, aus Poland-Spring-Flaschen Smirnoff trinken und sich mit Weezer und Lil Wayne bedröhnen, bis sie eins Tages nach unten schauen, ein Baby in den Armen halten und sich klarmachen, dass sie in ihren Dreißigern sind und der Walmart sich nicht verändert hat, bis auf das Logo, das mittlerweile heller ist und ihren von den Jahren hager gewordenen Gesichtern einen bläulichen Schimmer verleiht.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 14

Hier kommt man nicht wirklich weg – außer durch den Tod. Ebenjenen sucht auch der junge Hai, der zu Beginn der Romanhandlung durch einen Suizid der Trostlosigkeit der Stadt und der eigenen Existenz entkommen will. Doch damit ist es nicht weit her (und der Roman hätte es höchstwahrscheinlich auch nicht auf den Umfang von über 500 Seiten gebracht). Denn bevor er sich von einer Brücke in den Tod stürzen kann, wird der junge Mann in Ocean Vuongs Roman gerettet.

Hai und Grazina

Ocean Vuong - Der Kaiser der Freude (Cover)

Sein Schutzengel ist über 80 Jahre alt, stammt aus dem Baltikum und ist dement. Diese Fakten über seine Retterin offenbaren sich Hai allerdings erst, nachdem diese ihn von der Brücke heruntergerufen hat. Denn eines kann die alte Dame auf gar keinen Fall brauchen – noch mehr Geister in ihrem Zuhause, so lässt sie es den jungen Hai wissen.

In der Folge schlüpft dieser in Grazinas – so der Name der Frau – Haus unter und freundet sich mit der betagten Dame an, die Hai aus einem akustischen Missverständnis heraus auf den litauischen Namen Labas tauft, schließlich bedeutet dieser Name in ihrer Muttersprache Hallo, also so viel wie Hi, das sie bei dessen Vorstellungen verstanden hat.

Doch nicht nur, dass Grazina Litauisch beherrscht, auch kennt sie eigenwillige Methoden, um die Dämonen und schlechten Gedanken auszutreiben. Zerstampfte Brötchen im Regen sind nur ein Ausdruck einer eigenwilligen Kur, der sich die beiden Figuren gegenseitig unterziehen. Denn allmählich kippt in Vuongs Roman das Betreuungsverhältnis, als sich Grazinas Demenz immer stärker zu Wort meldet.

Hai besorgt sich einen Job im trostlosen HomeMarket einen Job und arbeitet bei Mindestlohn Seite an Seite seines Cousins Sony Fertignahrung aufzuwärmen. Zusammen mit anderen Außenseitern erwärmen sie Nahrungsbeutel und servieren Hühnchen vom Grill – und das oftmals im Akkord. Zur Entspannung dienen ihm die Lektüren, die er in Grazinas Haus findet und ganze Bingesession der Serie The Office.

Als Grazina immer öfter den Bezug zur Realität verliert und die Erinnerungen aus der Kriegszeit wieder ans Tageslicht steigen, denkt sich Hai fantasievolle Spiele aus, um für Grazina eine eigene Welt zu erschaffen, während er selbst Mühe damit hat, seiner Mutter gegenüber ebenfalls eine Scharade aufzuführen. Denn diese wähnt ihren Sohn mitten im Medizinstudium anstelle in der Küche eines Franchiseunternehmens im Nirgendwo, wo Hoffnungen und Aufstiegsversprechen nicht existieren. Und so versucht Hai mit falschen Fassaden für die Menschen um ihn herum den Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten.

Ein Roman wie das Essen im HomeMarket

Mit dem Roman ist es ein bisschen so wie mit dem Essen, das Hai, Sony und Konsorten im HomeMarket kochen. Auf den ersten Blick sieht es appetitlich aus, macht satt – aber hohe Kochkunst ist es nicht. So ist auch der Nährwert dieses Buchs nicht unbedingt der beste. Gewiss, sprachlich ist Der Kaiser der Freude weitestgehend solide (Übersetzung durch Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl), obgleich die immer mal wieder eingeschobenen Pathosbröckchen in Form von überladenen und manchmal auch schiefen Bildern im Erzählfluss etwas irritieren:

Er trieb in einem benommenen Schockzustand dahin. In der Stille, die wie auf eine Überschwemmung zu folgen schien, beschworen Vogelrufe das schwindende Licht. Er spürte eine Veränderung, und als er einen Blick über die Highway-Böschung war, sah er flüchtig die neuen Knospen, die an Sträuchern entlang des Flussufers sprossen, während sich unter ihm das von Lichtscherben gesprenkelte Tal dahinwälzte. Ein rosafarbener Konfettischauer strudelte, in einen Wirbel der Strömung eingebettet, fort – Überreste der Kirschblüten, die eine Meile weiter flussaufwärts, am 9/11-Memorial an der Interstate 91, von einem Nordwind zerpflückt worden waren.

Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude, S. 509

Lässt der Umfang des Buchs auf einen Great American Novel hoffen, worauf auch das virtuose erste Kapitel hinweist, so stellt sich hier bald Ernüchterung ein. Viele Versprechen, die Der Kaiser der Freuden gibt, löst das Buch in meinen Augen nur bedingt ein.

Kein Great American Novel

Gewiss, Vuongs Roman blickt auf die Figuren und Orte, die in solch voluminösen Romanen sonst selten vorkommen. Auch finden sich Spuren von Gesellschaftskritik in dem Buch. Aber viel Neues oder Überraschendes erfährt man weder über das Amerika der Gegenwart, noch über die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Amerika.

Es sind Binsen, die das Buch bestätigt: Menschen wie Hai sind Außenseiter, erfahren Rassismus und müssen härter arbeiten als andere Bevölkerungsschichten. Aber auch trotz krasser Szenen wie einer Episode in einem Schlachthaus bleibt Ocean Vuong mit den erzählerischen Mitteln und den Themen, die er hier setzt, zumindest hinter meinen Erwartungen zurück. Will man das Buch als Kommentar auf die die Lage Amerikas lesen, so gibt diese Lesart nicht viel her. Es ist allein die Geschichte einer ungleichen Freundschaft zwischen den Außenseitern Grazina und Hai, die Vuong am meisten beschäftigt.

Wo sich Auf Erden sind wir kurz grandios radikal mit der eigenen Identität und damit auch Herkunft und Sexualität auseinandersetzte, ist Der Kaiser der Freude zwar deutlich länger, aber auch deutlich zahmer geraten. Natürlich umkreist das Buch auch die Frage von Homosexualität, Drogenmissbrauch und enttäuschte Hoffnungen der Eltern. Aber die erzählerische Radikalität und Tiefenbohrung des vorherigen Buchs lässt Ocean Vuongs neuester Streich leider vermissen, sodass das Buch in meinen Augen hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt.


  • Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude
  • Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-28274-2 (Hanser)
  • 528 Seiten. Preis: 27,00 €
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Louisa Luna – Abgetaucht

In ihrem neuen Fall bekommt es die Privatermittlerin Alice Vega mit einer Bande junger Neonazis im ländlichen Oregon zu tun. Louisa Luna beschert ihrer Heldin mit Abgetaucht einen Fall, in dem sie wieder einmal unter Beweis stellen muss, dass sie hart im Nehmen ist – und dass sie noch härter austeilen kann.


Schon einmal durfte Alice Vega zusammen mit ihrem Partner Max Caplan auf dem deutschen Buchmarkt ermitteln. Tote ohne Namen war er zweite Fall der Reihe, der nun mit Abgetaucht der dritte Fall folgt. Darin bekommt es Vega mit einem kuriosen Fall zu tun. Das betrifft sowohl den Auftraggeber als auch den Fall selbst. Denn am 17.11.1984 wurde der Footballspieler Zeb Williams zum letzten Mal gesehen, als er ein Spiel mit seiner Mannschaft bestritt. Anstelle auf dem Feld in den letzten Sekunden des Spiels wichtige Punkte zu machen, rannte Williams vom Spielfeld und blieb seitdem verschwunden.

Um dieses Verschwinden des vielversprechenden Spielers ranken sich viele Mythen, die sich mit dem zunehmenden Dauer des Verschwindens verselbstständigen. Auch Vega muss sich nun damit auseinandersetzen, denn sie wird heimlich vom jetzigen Gatten der Frau beauftragt, die damals mit Zeb Williams liiert war. Er will endlich Klarheit über das Verschwinden und so begibt sich Vega nun nach Oregon ins kleine Städtchen Ilona, wo sich die Spuren von Zeb Williams verlieren.

Ein verschwundener Footballspieler

Vor Ort stößt sie bei ihren Recherchen auf eine Lehrerin, die Alice Vega bei ihrem Fall nur weiterhelfen will, wenn auch Vega etwas für sie tut. Denn die Lehrerin und der ganze Ort werden von einer Gruppe Jugendlicher terrorisiert, die unter dem Namen Liberty Pure ihren Fantasie einer weißen Übermacht anhängen. Das, was durch die Wahl Donald Trumps und die Verrohung des Diskurses überall in den USA verstärkt zum Vorschein kommt, auch in Ilona ist es inzwischen an der Tagesordnung. Anhänger der Theorie der Übermacht der weißen Bevölkerung, die durch gute Verbindungen zu den Polizeibehörden weitestgehend ungestört ihrer Propaganda und Hetze frönen können.

Louisa Luna - Abgetaucht (Cover)

Doch mit Alice Vega haben sich die Jugendlichen die falsche Gegnerin ausgesucht. Denn wenn sich die Ermittlerin in einen Fall verbissen hat, lässt sie sich auch von Drohungen und Gewalt nicht einschüchtern. Nicht einmal, wenn diese Gewalt auch auf ihren Partner Max Caplan und dessen Tochter übergreift.

Abgetaucht erzählt von neonazistischen Strukturen und dem Gefühl der Überlegenheit, das solche Gruppe wie die im Buch beschriebenen Liberty Pure mit der kruden Mischung aus Libertalismus, Nationalismus und Rassismus inzwischen immer ungehemmter ausleben. Für den Kampf gegen solche Strukturen und Verflechtungen braucht es eine Figur wie Alice Vega, die für die Durchsetzung ihrer Ziele auch nicht vor Gewalt zurückschreckt.

Eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas

Neben dieser Eine Frau gegen das System-Erzählung ist Abgetaucht auch eine Bestandsaufnahme des ländlichen Amerikas in der Gegenwart. Eine Betandsaufnahme, die wenig Grund zur Hoffnung gibt. Denn in Lunas Oregon werden wenige Reiche immer reicher, raffen Grundbesitz und Wohlstand, während sich der Rest der Bevölkerung in Trailerparks zurückzieht, Lehrerinnen am System zu verzweifeln drohen und die Polizei korrupt bis überfordert ist.

Nein, wirklich positiv kann man auf die zukünftige Entwicklung Amerikas aufgrund dieser Lektüre nicht schauen – und die politische Realität sieht auch nicht unbedingt vielversprechender aus.

Eine Idee weniger überzeugend als der erste bei Suhrkamp erschienene Roman ist dieser von Karin Diemerling ins Deutsche übertragene Krimi. Denn die Balance zwischen den Ermittlungsfiguren Alice Vega und Max Caplan gerät hier in Schieflage. Während Max in Depressionen und Angst um seine Tochter versunken ist, kämpft Vega weitestgehend alleine gegen das Schweigen über den Verbleib Zeb Williams‘ und die Atmosphäre von Einschüchterung und Angst, die die junge Neonazi-Bande verbreitet. Somit kann von einem Ermittlungsduo hier nur eingeschränkt die Rede sein.

Das ist insgesamt freilich immer noch deutlich besser und überzeugender als das Gros sonstiger amerikanischer Serienkiller-Produktion, die den deutschen Markt überschwemmen. Legt man aber den formidablen ersten, auf Deutsch erschienenen Krimi Tote ohne Namen für einen Vergleich zugrunde, so hat Abgetaucht hier das Nachsehen und fällt etwas gegen jenen Band ab. Dennoch ist auch dieses Buch ein starker Krimi, der im Kleinen der Provinz das findet, was sich im Großen in den USA auch gerade abzeichnet.


  • Louisa Luna – Abgetaucht
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling
  • ISBN 978-3-518-47377-1 (Suhrkamp)
  • 456 Seiten. Preis: 18,95 €
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Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island

In dieser Familie ist wohl wirklich der Dibbuk drin. Taffy Brodesser Akner schildert nach Fleischmann steckt in Schwierigkeiten in ihrem zweiten auf Deutsch vorliegenden Roman Die Fletchers von Long Island das Unglück, das sämtliche Mitglieder der Familie Fletcher erfasst, nachdem das Familienoberhaupt entführt wurde. Ein jüdischer Familienroman in der Tradition des Great American Novel.


Seit der Entführung des Familienoberhaupts Carl Fletcher vor der Haustür seines Anwesens in Middle Rock, einem Vorort von Long Island, scheint irgendwie der Wurm in der Familie drin zu sein – oder besser gesagt der Dibbuk.

Nach der Überlieferung ist ein Dibbuk eine elende Seele, die nicht in den Himmel aufsteigen kann, um Ruhe zu finden, sondern auf der Erde wandelt und in den Körper eines anderen Menschen schlüpft, dessen Seele sie verdrängt, um ihre letzten Aufgaben zu verrichten. Wenn in der Fabrik ein Kessel ausfiel, sagte Zelig, es sei ein Dibbuk im Getriebe. Wenn mehrere Kabel in kurzem Abstand rissen, war ein Dibbuk im Getriebe.

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 40 f.

Dabei scheint von derlei Ungemach zunächst noch jegliche Spur zu fehlen. Denn die Entführung des Patriarchen geht einigermaßen glimpflich aus. Zwar ist das Lösegeld verschwunden, dafür kehrt Carl Fletcher wieder in die Arme seiner Frau Ruth und der drei Kinder heim. Doch dass so ein Dibbuk auch seine Zeit braucht, bis er sich bemerkbar macht, das beobachtet Taffy Brodesser Akner im Folgenden dieses von Sophie Zeitz übersetzen Romans ausgiebig.

Ein Dibbuk im familiären Getriebe

Taffy Brodesser Akner - Die Fletchers von Long Island (Cover)

Denn nach dem vorangestellten Prolog mit der Entführung von Carl steigt Brodesser Akner mit einem Zeitsprung von gut vierzig Jahren in die erzählte Gegenwart ein. Carls Mutter Phyllis ist tot – und langsam beginnen die Fliehkräfte im Familiengefüge zu wirken, das eigentlich nur durch das Geld aus den Einnahmen der im Familienbesitz befindlichen Polystyrolfabrik zusammengehalten wird, das den Familienmitgliedern ein einigermaßen sorgenfreies Auskommen ermöglicht.

Doch die Sorgen nehmen zu. Denn Bernard, genannt Beamer, hat sich zum erfolglosen Drehbuchautor gemausert, der in seinen Werken stets das Thema der Entführung umkreist und nach einigen wenigen B-Movies mit immer weniger Erfolg nun im Stadium der völligen Antriebslosigkeit angelangt ist. Von Dominas lässt er sich malträtieren, balanciert aber auch haarscharf am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

Seiner Schwester Jenny und seinem Bruder Nathan geht es da nicht unbedingt besser. Letzterer hat sich infolge der Entführung vollends zum Kontrollfreak und Versicherungsfetischisten gemausert, dem die Ruhe und Übersichtlichkeit seiner eigenen Existenz über alles geht. Und Jenny, die in Studienzeiten durch schiere Abwesenheit zur Revolutionärin wird und deren Schulaufsatz über das Schicksal eines Mastkalbs Ruth die passende Analogie zur Betrachtung ihrer Kinder liefert.

Plötzlich wurde Ruth klar, dass ihre Kinder wie dieses Kalb waren.

Sie waren ihr Leben lang gemästet worden, aber sie waren nie zu voll entwickelten Erwachsenen gereift. Sie hatten die Schwelle des Lebens erreicht, aber sie konnten nicht laufen. Und Ruth hasste sie dafür – sie hasste ihre Kinder auf eine Art, wie sie sie nur hassen konnte, weil sie sie liebte -, und jetzt erkannte sie, wie unausweichlich alles war. Nein, schlimmer: Sie erkannte, dass sie selbst die Urheberin ihrer Inkompetenz war.

Als Ruth im Wagen vor dem Brownstone saß, starrte sie ins Nichts.

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 480

Ein jüdischer Familienroman

Die Fletchers von Long Island ist ein klassischer amerikanischer Familienroman, der im Fahrwasser von Jonathan Franzens Die Korrekturen, Paul Murrays Der Stich der Biene oder Ann Napolitanos Hallo, du Schöne schwimmt. Diese jüdisch-amerikanische Familie bestätigt zum wiederholten Male das klassische Tolstoi’sche Verdikt der Familie, die auf ihre eigene Art traurig ist.

Nacheinander beobachtet Bordesser Akner das Taumeln und Fallen ihrer Figuren, verbunden durch das mehrmals ans Kapitelende gesetzte, fragende Mantra: Was willst du machen? So sind die Reichen eben.

Besonders erkenntnisstark ist das freilich nicht und reicht kaum über eine Binse hinaus. Auch sind nicht alle Teile gleich gut geraten und sind qualitativ etwas unproportional. An manchen Stellen ruckelt es auch etwas vor sich hin – eben wie ein Dibbuk im Kessel. Dennoch folgt man dem Niedergang der Familie gerne und wohnt dem Wüten des Dibbuks bei, der hier recht unterhaltsam in der Familie Fletcher sein Unwesen treibt.


  • Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz
  • ISBN 978-3-8479-0211-9 (Eichborn)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €
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Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies

Fernab der Heimat – und doch die Sorgen um Deutschland stets präsent. In Heimweh im Paradies porträtiert Martin Mittelmeier Thomas Mann während seines Exils in Kaliforniern – und zeichnet nebenbei auch noch ein Bild des exilierten deutschen Geisteslebens, von Adorno bis Schönberg.


Liest man Martin Mittelmeiers erzählendes Sachbuch Heimweh im Paradies, so muss man doch auch unwillkürlich zurückdenken an die Zeiten Anfang des Jahres, als die Waldbrände rund um Los Angeles loderten. Lange sah es so aus, als würden auch die Mann-Villa in Pacific Palisades und die Villa Aurora, in der Lion Feuchtwanger Zuflucht vor den Nazis fand, ein Raub der Flammen. Ein Unglück, das gerade so noch einmal vermieden werden konnte.

Was es bedeutet hätte, wenn diese Häuser mitsamt ihrer bewegten Geschichte in Flammen aufgegangen wären, das führt Mittelmeiers Buch vor Augen. Denn ihm gelingt es, ein Bild der deutschsprachigen Exil-Gemeinde während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen, deren Schicksal eng mit den Häusern verbunden war, die sie in Kalifornien bewohnten.

Katia und Thomas Mann sind im Frühjahr 1941 endgültig von Princeton an die Westküste gezogen, zunächst in ein Mietshaus im Ranch Style am Amalfi Drive, ganz in der Nähe von Huxleys Haus.

Im Februar 1942 beziehen sie das Haus, das sie sich nach langem Hin und Her, nach ständigem Zweifel und mehreren Kostensteigerungen selbst bauen haben lassen, eine halbe Stunde zu Fuß von der Wohnung am Amalfi Drive entfernt, wenn man sich vom Meer wegbewegt. Wo man dann aber, weil man auf diesem Weg immer bergauf geht, einen guten Blick auf den Pazifik hat. Die Villa, von deren Arbeitszimmer der Dichter einen weiten Ausblick über den Pazifischen Ozean hat, wird nach einer Gruppe hoher Palmen den Namen „Seven Palms“ führen“, heißt es in der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“ in einem kurzen Artikel.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 56

Thomas Mann – angetan von der eigenen Bedeutung

Während sich die dank des literarischen Erfolgs seiner Werke auch im Ausland finanziell unabhängigen Manns eine Villa erbauen können, ist Theodor Wiesengrund, genannt Adorno, in keiner solchen luxuriösen Situation. Er muss zusammen mit seiner Frau in einem wesentlich bescheideneren Heim leben, wo ihn Mann besucht. Aber dessen ungeachtet kann man natürlich auch nach Höherem streben, so wie es Mann bei seiner Gönner Agnes E. Meyer tut.

Martin Mittelmeier - Heimweh im Paradies (Cover)

Diese hat ihm zwar eine Stelle als Berater bei der Library of Congress sowie eine Gastprofessur in verschafft, so ganz zufrieden ist Thomas Mann damit aber nicht. Gegenüber seiner Gönnerin merkt Mann an, dass Hermann Hesse im Gegensatz zu ihm seine Zuhause in Kalifornien von seinem Mäzen finanziert bekommen habe. Luxusprobleme in der luxuriösen Umgebung von Pacific Palisades – aber auch eine bezeichnende Anekdote für den Geistesarbeiter Mann, der sich in seiner Rolle als moralisches Gewissen der Deutschen durchaus gefiel.

In Heimweh im Paradies bietet Mittelmeier viele solcher Vignetten auf, die das Bild von Thomas Mann als von der eigenen Bedeutung angetanen Mann zeigen. Als fleißiger Redenschreiber will er mit seinen Schriften von Kalifornien aus demokratiefördernd und fordernd auf die Deutschen einwirken, die derweil den Zweiten Weltkrieg führen.

Neben seiner Arbeit für die Demokratie schielt Mann auch stets mit seinem Schreiben auf die Wirkung seines Werks. Die Auszeichnung als Book of the month wird gerne entgegengenommen, nach der Vollendung seiner Josephs-Tetralogie ist es nun der Doktor Faustus, an dem er arbeitet und bei dem er Unterstützung vom schon erwähnten Theodor Wiesengrund erhält. Der in Musiktheorie wie philosophischem Denkwerk firme Adorno „inspiriert“ Mann zu seiner Arbeit am Roman über Adrian Leverkühn und dessen Pakt mit dem Teufel.

Geistesblüten im kalifornischen Exil

Nicht die einzige Geistesblüte, die die in Kalifornien zusammengewürfelte Notgemeinschaft treibt. Wie schon in seinem 2021 erschienenen Werk Freiheit und Finsternis nimmt Martin Mittelmeier auch hier die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Denker im kalifornischen Exil in den Blick.

Zusammen mit Manns direktem Nachbar Max Horkheimer arbeitet Theodor W. Adorno nicht nur im Institut für Sozialforschung zusammen und entwickelt zentrale philosophische Ideen weiter. Adornos Name Wiesengrund floss ebenso wie dessen Analyse von Beethovens Klaviersonate op. 111 wiederum in Manns Doktor Faustus ein. Auch prägen die Begegnungen mit exilierten Komponisten wie Hanns Eisler oder Arnold Schönberg und deren musiktheoretischen Ansätzen wiederum Manns Werk.

Um das Gravitationszentrum Thomas Mann herum entsteht ein Panorama von Geistesgeschichte dort in den Hügeln von Beverly Hills und Kalifornien, das Martin Mittelmeier in eine Sprache kleidet, die auch von ihrem Gegenstand gelernt hat.

Adorno ist von allen dreien am wenigsten an der politischen Sphäre interessiert. Er ist einerseits von allen der größte Revolutionär: Die Welt, so, wie sie ist, muss zersprengt werden. Aber mithilfe der Gedankenfiguren seines Freundes und Lehrers Walter Benjamin arbeitet er am stärksten von allen daran, diese Sprengung rein ins Gedankliche und Ästhetische zu verflüchtigen. Deswegen freut er sich, als Thomas Mann wieder zum Roman zurückkommt und den musiktheoretischen Vortrag des stotternden Organisten Wendell Kretzschmar vorliest mit der neu hinzukommenden Note, die das Tröstlichste der Welt ist.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 115

Das ist nicht immer ganz einfach zu lesen, schließlich steigt Martin Mittelmeier auch tief in das Denken seiner Geistesarbeiter ein und konzentriert sich nicht nur auf die Literatur, sondern eben auch in großem Maße auf die Philosophie, deren zentralen in Kalifornien entstandenen Gedanken und Ideen das Buch nachspürt.

Das macht Heimweh im Paradies nicht nur für literaturgeschichtlich interessierte Leser der Werke von Volker Weidermann oder Uwe Wittstocks interessant, sondern ist auch für Anhänger von biographisch grundierter Philosophiegeschichte ein Gewinn, wie sie gegenwärtig etwa Wolfram Eilenberger verfasst.

Fazit

Auch wenn der Untertitel von Heimweh im Paradies allein Thomas Mann in den Mittelpunkt stellt, so ist Martin Mittelmeiers Buch doch mehr. Dokumentation der Wechselwirkungen, die die Denkerinnen und Denker in ihrem Exil in Kalifornien erzeugten, Einstieg die Werkgeschichte Manns ebenso wie in die Entstehung der Frankfurter Schule, theoriegesättigter Sprachprunk, der dabei doch auch leichtfüßig und erkenntnisreich ist. Das alles vermag Martin Mittelmeiers Buch zu leisten.


  • Martin Mittelmeier – Heimweh in Paradies
  • ISBN 978-3-7558-0033-0 (Dumont)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen

Menschen im Abwärtsstrudel, eine Zehe zu viel, seltsame Gestalten im Schrank oder der unerwartet komplizierte Kauf einer Mausefalle. In seinem Kurzgeschichtenband Es werden schöne Tage kommen präsentiert der US-amerikanische Autor Zach Williams ganz unterschiedliche Erzählungen, die im Tonfall mitunter realistisch, oft aber auch skurril und fast immer leicht neben die Realität gesetzt sind.


Mitunter fühlt man sich ein wenig wie einer Traumwelt, wenn man sich in die Geschichten von Zach Williams hineinbegibt. Mal umfassen sie über 50 Seiten, mal sind sie nur sieben Seiten kurz wie die von Gedichtzeilen des Kinderbuchautors Richard Scarry inspirierte Geschichte Der neue Zeh. Diese Geschichte erzählt von einem Vater, der an den Füßen seines Sohns eine zusätzliche Zehe ausmacht – und diese kurzerhand amputiert.

So ein neuer Zeh – wie ließ er sich erklären? Es war wichtig, da zu irgendeinem Verständnis zu gelangen. Schließlich würde ich es anderen sagen müssen – dem Kinderarzt, der Kita -, und dann würde man von mir verlangen, dass ich Rechenschaft über diesen neuen Zeh ablegte. Ich würde dafür verantwortlich gemacht werden, so wie ich für jeden Aspekt seines Lebens verantwortlich war, als Sachwalter seines Wachstums und seiner Gesundheit und seines allgemeinen Gedeihens als Organismus. Und der Zeh war gerade erst aufgetaucht, aus heiterem Himmel; ich wusste so gut wie nichts über ihn.

Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen, S. 214

Doch wie sicher der Boden der Realität ist, auf dem sich diese Geschichte bewegt, bleibt fraglich. So ist es auch mit anderen Geschichten in diesem Erzählungsband. Luzider Traum oder Wirklichkeit? Das ist hier die Frage.

Alles in der Schwebe, uneindeutige Stimmung allerorten

Zach Williams - Es werden schöne Tage kommen (Cover)

Schon die Geschichte, der der Titel des Buchs entlehnt ist, wirft da Fragen auf. In der Erzählung Das Sauerkleehaus schickt Zach Williams von einem Paar mit Kind in ein leicht heruntergekommenes Sommerhaus, irgendwo in der Natur an einem Berghang. Wie in einer Zeitschleife durchlebt das Paar die neuen Routinen, die der Mann durch exzessiver werdende Ausflüge in die umgebende Natur von den Bergen bis zum Fluss durchbricht. Seine Frau bleibt zunächst mit dem Kind im Haus, muss dann aber auch eine bestürzende Entdeckung machen.

Was die Familie dorthin gebracht hat, was die Hintergründe für den Aufenthalt dort sind, ob es sich gar um eine Neudeutung des Adam und Eva Mythos im Preppermilieu mit einer Schnappschildkröte anstelle einer Schlange handelt, alles bleibt fraglich und in der Schwebe.

Überhaupt, die Schwebe und die uneindeutige Stimmung, sie sind Motiv in einigen Geschichten. Schon die Erzählung Probelauf, mit der Williams seine Storysammlung eröffnet, ist da ein gutes Beispiel. Ein Mann begibt sich trotz Sturm in sein Großraumbüro. Daheim ist der Strom ausgefallen, und so sitzt er nun im sturmumtosten Gebäude im vierzehnten Stock, wo ihm nur ein eigenwilliger Wachmann und ein ebenso rätselhafter Kollege Gesellschaft leisten – und Spam-Mails unklarer Provenienz.

Oft schwingt etwas Untergründiges in diesen Geschichten mit, in denen mal ein Mann die Wohnung seiner verstorbenen Nachbarin betritt und dort auf eine mysteriöse Gestalt trifft, mit der sich während seines Anrufs bei der Polizei ein Pas-de-deux entwickelt. Mal gerät der Fall eines trauernden Vaters zu einem luziden Fiebertraum auf einem Schiff (Lucca Castle), mal zeichnet seine Erzählung berührend den Abstieg eines Vaters nach, der von seiner Anstellung am American Visionary Art Museum in Baltimore und eigenen künstlerischen Versuchen bis zur Vagabundentum im Auto regrediert. Stets umfangen von der Sehnsucht nach seinem Sohn findet diese Geschichte mit einem gedrehten und gefalteten Zeitbezug statt (Ghost Image).

Die Methode der Realitätskontrolle

Wenn Zach Williams in Lucca Castle, der wohl abgedrehtesten Geschichte des Bandes, eine der Figuren betonen lässt, dass die Gruppe von Menschen, mit denen die Hauptfigur in Kontakt kommt, keine Terroristen seien, aber die Methode der Realitätskontrolle praktizierten, dann lässt sich das ein Stück weit auch auf Williams‘ Schreiben selbst übertragen. So spielt und kontrolliert auch er die Realitäten, die er uns präsentiert. Alles ist schwankend, nicht ganz verlässlich, rätselhaft und bisweilen luzide, im Deutschen übertragen und freigelegt von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz.

Das Talent für besondere Stimmungen zeichnet dieses literarische Debüt aus, bei dem sich Zach Williams auch etwas als writer’s writer zeigt, der von Percival Everett bis zu Jonathan Safran Foer viele Fürsprecher vorweisen kann. In seiner Danksagung zeigt er sich als gutvernetzter Autor (so studierte Zach Williams Creative Writing in New York und nennt in seiner Danksagung unter anderem Hari Kunzru, Joyce Carol Oates, Jeffrey Eugenides und Katie Kitamura als Mentoren und Unterstützer, die seine Entwicklungen als Autor gefördert hätten).

Fazit

Auch fand Es werden schöne Tage kommen Aufnahme in die letztjährige Sommer-Empfehlungsliste von Barack Obama. Es sind Geschichten, die über einen Zeitraum von insgesamt acht Jahre entstanden und die das Talent Zach Williams für Stimmungen und Realitätsschwankungen zeigen. Über allem liegt ein mal dickerer, mal feinerer Schleier, der Williams als wahren Meister der Realitätskontrolle zeigt. Von surrealer Traumlandschaft bis zum Albtraum ist hier alles enthalten, was durchaus neugierig macht auf das Debüt in der großen Form, das von Zach Williams vielleicht dereinst zu erwarten ist.


  • Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen
  • Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz
  • ISBN 978-3-423-28461-5 (dtv)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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