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Una Mannion – Sag mir, was ich bin

Wer bin ich und wo komme ich her? Diesen Klassiker der philosophischen Selbstbefragung verwandelt Una Mannion in einen Roman über Leerstellen im Leben, der sich spät noch zu einem Krimi mausert. Sag mir, was ich bin erzählt vom Verschwinden, vom Vermissen und von einem schlimmen Verdacht.


Mit Una Mannions neuem, von Tanja Handels übersetzten Roman ist es ein bisschen wie mit einem dieser Geschicklichkeitsspiele, mit denen man als Kind einst seine Motorik trainierte. Eine in einem flachen Kasten eingeschlossene Kugel galt es mit Drehungen und präzisem Kippen von außen durch ein Labyrinth oder eine durchlöcherte Strecke zu manövrieren. Ganz am Ende des Parcours wartete das finale Loch, in das die Kugel dann versenkt werden durfte. Liest man Sag mir, was ich bin, fühlt sich einiges wieder wie damals an, als die Kugel durch Schütteln, Rütteln und Ziehen bewegt wurde.

Una Mannion präpariert ihre erzählerische Strecke ebenfalls mit einigen Löchern und Schikanen, durch die sie ihre Leser*innen lotst, um dann auf den letzten Seiten ihren Roman zu einem eindrücklichen Ende zu führen. Mag sich auch mitten im Text manchmal ein Zweifel einstellen, ob das wirklich ein Krimi ist, wie die Shortlist-Nominierung für die diesjährigen Dagger Awards nahelegt, so lässt sich doch das Ende keinen Zweifel, wenn die literarische Kugel ins Ziel plumpst: ja, Sag mir, was ich bin ist (auch) ein Krimi. Davor ist es vor allem ein Parkour, durch den wir uns und vor allem Mannions Heldin Ruby sich bewegen müssen.

Unterwegs im erzählerischen Parkour

Una Mannion - Sag mir, was ich bin (Cover)

Zusammengesetzt aus verschiedenen Rückblenden und zeitlichen Sprüngen schält sich die Geschichte eines großen Verlusts heraus, der das Leben der Figuren in diesem Roman bestimmt. So verschwand am 8. Februar 2004 Deena, die Schwester von Nessa und Mutter von Ruby spurlos. Nach einer Schicht in einem Krankenhaus in Pennsylvania nicht mehr nachhause zurückgekehrt, verloren sich alle Spuren der jungen Frau und die Familie muss mit der fortan klaffenden Leerstelle im Familiengefüge irgendwie umgehen.

Nicht leichter wird das Ganze durch die Tatsache, dass Lucas, der Mann von Deena und Vater von Ruby beschließt, zusammen mit seiner Mutter und seinem Kind nach Vermont zu ziehen und alle Kontakte zu Deena und ihrer Familie zu unterbinden. Zuvor gab es einen Sorgerechtsstreit um das Kind, nun hat Lucas vollen Zugriff und schottet Ruby vollkommen ab.

Das verstärkt das Unwohlsein von Nessa, die schon zuvor die Beziehung ihrer Schwester mit dem extrem besitzergreifenden Lucas nicht guthieß. Mit dem jetzigen Kontaktabbruch aber erreicht das Ganze noch einmal eine neue Qualität, der bei Nessa die Alarmglocken schrillen lässt und bei Ruby den Wunsch weckt, doch irgendetwas über ihre Mutter zu erfahren, die in ihrem neuen Zuhause in Vermont totgeschwiegen wird.

Von familiären Leerstellen und der Frage der Herkunft

Una Mannion erzählt hauptsächlich aus Sicht von Rubys Tante Nessa und dem Mädchen selbst, wie es sich anfühlt, wenn da plötzlich eine Leerstelle im Leben klafft, die man weder aus kindlicher, noch aus Erwachsenenperspektive so recht zu verstehen mag. Wie Lucas seine Tochter indoktriniert und jegliches Informationsbedürfnis von Ruby zu unterdrücken versucht – und wie sich Deena nicht mit den neuen Gegebenheiten abfinden will, das ist stark gemacht.

Sag mir, was ich bin ist ein Roman, der vor allem aus seiner psychologischen Komponente seine Stärke zieht. Eindrücklich porträtiert Mannion ihre beiden weiblichen Figuren und schafft durch die achronologische, springende Erzählweise einen abwechslungsreichen Roman, der in seiner Beziehung von Ruby zu ihrem Vater in der Isolation Vermonts selbst Bezüge zu Shakespeares Der Sturm herstellt.

Ruby als Miranda, ihr Vater als auf einer Insel gestrandeter Zauberer Prospero und über allem die Frage, ob die Abschirmung der Tochter dem Schutz dient oder ob man diesem Zauberer in seinem abgelegenen Königreich misstrauen sollte. Auch aus dieser Parallele zieht der Roman seinen Reiz, der trotz der begrenzten Handlung zu fesseln vermag und vor allem am Ende unter Beweis stellt, warum sich dieser Roman beim Dagger Award 2024 in der Endauswahl fand.

Fazit

Immer wieder nährt Mannion durch die springende Erzählweise einen Verdacht, schubst sie uns in die eine oder andere Richtung, bietet Raum für Misstrauen und führt das Ganze dann zu einem schlüssigen Ende. Wie schon in ihrem ersten, ebenfalls im Steidl-Verlag erschienenen Roman Das Licht zwischen den Bäumen erweist sich Mannion auch hier als Zeichnerin familiärer Entropie, kindlicher Lebenswelten und schmerzender Leerstellen.

Leser*innen, die etwa die ruhigen aber psychologisch dicht gezeichneten Krimis von Tana French schätzen, dürften auch mit Una Mannions neuem Roman glücklich werden, die uns gelungen durch ihren literarischen Parkour führt.


  • Una Mannion – Sag mir, was ich bin
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-96999-403-0 (Steidl)
  • 304 Seiten. Preis: 28,00 €
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Klaus Modick – Sunset

Ein Tag im Leben des Lion Feuchtwanger. Klaus Modick macht daraus ein berührendes Kunstwerk, das von der Freundschaft Feuchtwangers zu Bertolt Brecht erzählt, vom Leben und Schreiben der Männer – und vom Exil. Das ist Sunset.


Der Rahmen ist in Klaus Modicks Roman eng gesteckt. Vom frühmorgendlichen Aufgang der Sonne über dem gischtumnebelten Pazifik bis zum Untergang ebenjener Sonne reicht der erzählerische Bogen, der Sunset ausmacht. Diese enge Einheit eines einzigen Sommertages nutzt Modick, um wie in seinen später folgenden Romanen Keyserlings Geheimnis und Konzert ohne Dichter ein Künstlerporträt zu zeichnen.

Ähnlich wie bei letztem Roman ist es auch hier nicht nur ein einfaches, sondern eigentlich ein zweifaches Künstlerporträt. Denn bereits vier Jahre vor seinem Roman um das komplizierte Miteinander oder Gegeneinander des Worpsweder Malers Heinrich Vogler und des Dichters Rainer Maria Rilke widmete sich Modick 2011 bereits der Beziehung zweier Künstler, wie sie auf den ersten Blick gegensätzlicher eigenlich nicht sein könnten. Die Rede ist von Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht.

Da der Münchner Jude Lion Feuchtwanger, der mit großen historischen Romanen für hohe Auflagen und viel Aufmerksamkeit sorgte. Da Bertolt Brecht, Augsburger Kommunist und Verfechter des Epischen Theaters. Während Feuchtwanger nach einer kräftezehrenden Flucht in den USA an der Westküste heimisch wird, wird es Brecht in die entgegengesetzte Richtung in den Osten ziehen, wo er später auch begraben werden wird, nämlich in Ost-Berlin. Da der virile Feuchtwanger, dessen Potenz sich mittlerweile erschöpft und seine Beziehung zu seiner Marta alle Krisen überstanden hat, da Brecht mit seinen vielen Frauen und Nebenfrauen, Kindern und Bankerts.

Feuchtwanger und Brecht

Diese unwahrscheinliche Freundschaft, sie arbeitet Klaus Modick in seinem Roman noch einmal auf. Auslöser des Ganzen ist eine Todesnachricht, die Lion Feuchtwangers morgendliche Körperertüchtigung in seiner Villa am Paseo Miramar unterbricht. Niemand geringeres als Johannes Becher, der Kulturminister der neugegründeten DDR erbittet die Teilnahme Feuchtwangers an einem Staatsakt in Ost-Berlin, denn Bertolt Brecht ist tot.

Klaus Modick - Sunset (Cover)

Während nun Feuchtwanger rastlos durch sein Haus tigert und trotz der Abwesenheit seiner Frau so etwas wie Routine in seinen Tagesablauf zu bekommen versucht, brechen die Erinnerungen über ihn herein. Die unwahrscheinliche Freundschaft mit Brecht, dessen erste Kontaktaufnahme mit Feuchtwanger in München. Das Erlebnis nach der Lektüre von Brechts Spartakus, aus dem später die Trommeln in der Nacht werden sollten, der Baal als erstes Ausrufezeichen seines kraftgesättigten und kraftmeierischen Autors, all das scheint in kleinen Schlaglichtern in Modicks Roman wieder auf.

Aber auch Zeitgeschichtliches wie die Kommunistenehatz der McCarthy-Ära und das Verhör Brechts vor dem Tribunal wird durch die Erinnerungskaskade Feuchtwangers noch einmal greifbar. Überhaupt, die Zeitgeschichte: knapper, aber nicht minder eindringlich als in Uwe Wittstocks Marseille 1940 wird hier noch einmal an das Schicksal der Flucht und des Lebens im Exil erinnert.

Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst

Thomas Mann und seine Distanz zu Feuchtwanger, die Schwierigkeiten, in ein neues Leben hineinzufinden und in einem anderen Land mit anderer Sprache seine eigene Sprache und das Schreiben zu bewahren, all das tupft Modick grandios in diesen so kurzen, aber doch so intensiven Roman hinein.

Ihm gelingt mit Sunset das Kunststück, eine durchaus widersprüchliche Freundschaft und zwei ebenso kantige wie komplizierte Männer auf gerade einmal 190 Seiten in ein fabelhaftes Licht zu setzen. Biografisches, Werk der beiden Autoren und sprachliche Eleganz verbinden sich in diesem Roman zu einem großartigen Leseerlebnis, sodass man förmlich meint, selbst mit Feuchtwanger durch seine Villa über dem schimmernden Pazifik und sein wechselhaftes Leben zu spazieren.

Sunset ist ein reduzierter und gerade deswegen so starker historischer und zuvorderst Künstler-Roman. Er zeigt Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst. Es ist eine Höhe, die spätere Werke, allen voran Keyserlings Geheimnis nicht mehr so recht erreichen wollten.

Weitere Meinungen zu Sunset gibt es unter anderem bei Literaturkritik.de und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Klaus Modick – Sunset
  • ISBN 978-3-492-27418-0 (Piper)
  • 192 Seiten. Preis: 11,00 €
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Jesmyn Ward – So gehn wir denn hinab

Hinab in den Süden, hinein in die eigene Geschichte und hinein den Überlebenskampf. In ihrem neuen Roman So gehn wir denn hinab präsentiert Jesmyn Ward einen nachtschwarzen Gospel, der eindrücklich vom Schicksal einer jungen Sklavin erzählt. Es ist eine Lektüre, die eine der großen Wunden der amerikanischen Gesellschaft betrachtet, die bis heute nicht verheilt ist.


Es geht auf ganz unterschiedlichen Wegen hinab für die junge Annis in Jesmyn Wards neuem Roman. Denn sie ist eine Sklavin, die wie ihre Mutter schon auf der Plantage ihres Besitzers in South Carolina arbeiten muss. Sie selbst ist gewissermaßen aus Gewalt geboren, entstammt sie doch einer Vergewaltigung ihrer Mutter durch den Plantagenbesitzer.

Nachts übt sie mit ihrer Mutter den Stockkampf, um wenigstens halbwegs für die Brutalität des Alltags gewirdmet zu sein. Einst wurde ihrer Mutter von ihren Ahnen jene Technik gelehrt, die sie nun wiederum an ihre Tochter weitergibt. Eigentlich stammen Annis Vorfahren aus Afrika, wo sie einst verkauft und über das Meer nach Amerika gebracht wurden.

Du bist mein Kind, Kind von meiner Mama. Von meiner Mutter, der Kämpferin – Azagueni hieß sie, aber ich hab sie Mama Aza genannt.

Jesmyn Ward – So gehn wir denn hinab, S. 10

Annis und die Ahnen

Doch mit der Einführung in die eigene Familiengeschichte und die Orientierung in dieser Welt ist es nicht weit her. Denn der relative Schutz im Haus durch ihre Mutter und ihre Abstammung vom Plantagenbesitzer währt nicht lange. Zunächst erwacht das sexuelle Interesse des Mannes an Annis, dann wird ihre Mutter verkauft – und wenig später findet auch Annis selbst sich in Fesseln wieder.

Jesmyn Ward - So gehn wir denn hinab (Cover)

So geht es für sie von South Carolina nun hinab in den Süden. Angetrieben von den unerbittlichen Sklaventreibern hoch zu Ross, Georgia-Männer genannt, wird Annis in den tiefsten amerikanischen Süden nach New Orleans gebracht. Eine lebensgefährliche Odyssee beginnt, die sie weit weg von ihrer Heimat und der dortigen Erfahrungswelt bringt.

Im sumpfigen Süden der USA wird sie wiederum verkauft und findet sich nun auf einer neuen Farm, die von einem ebenso unbarmherzigen Plantagenbesitzer geleitet wird.

Hunger, Gewalt und Schmerz dominieren auch hier die Tage, obschon es Annis eigentlich noch verhältnismäßig gut erwischt hat, da sie in der Küche ihren Dienst tun darf. Doch der Besitzer und seine argusäugige Frau kennen keine Gnade mit den versklavten Schwarzen. So müssen Frauen, Kinder und Erwachsene bei der Zuckerrohrernte auf der Farm mithelfen und sich bis zur Erschöpfung aufarbeiten.

Von South Carolina hinab nach New Orleans

Unbequeme Sklavinnen und Sklaven werden brutal kujoniert, indem sie tagelang ins „Loch“ gesperrt werden, ein unterirdisches Gefängnis mit spitzen Palisaden als Wände. Auch Annis selbst wird im Lauf dieses Romans dieses Schicksal ereilen.

Doch stets scheinen in dieser Welt aus Schmerz und Erniedrigung auch Momente der Hoffnung auf. Denn nicht nur, dass Annis Momente der Liebe in vielfacher Form erfahren darf. Auch ihre Ahnen sind in Form des Geistes Aza immer wieder präsent. Dieser wird zu Annis‘ Rettungsleine, ist der Geist doch auch in hoffnungslosen Momenten präsent oder zeigt sich nach eindringlichen Beschwörungen der jungen Sklavin. Die Verbindung zu ihren eigenen Ahnen ist ebenso stark wie Annis‘ Wille, sich einen eigenen Platz in der von Unterdrückung dominierten Gesellschaft zu erobern.

Jesmyn Ward verknüpft Spiritismus und Sklavereigeschichte aus Betroffenenperspektive zu einem eindringlichen Roman, der sich im Spannungsfeld zwischen Colson Whiteheads Underground Railroad und Percival Everetts James bewegt. Die brutale Herrschaft der Weißen, der Mangel an Nahrung und Perspektive, die allumfassende Hoffnungslosigkeit, das alles ist auf jeder Seite dieses Buchs zu greifen. Hinauf geht es für Annis eigentlich überhaupt nicht, ihr Schicksal kennt fast ausschließlich den Weg hinab.

Eine eindringliche Lektüre, die Resilienz der Leser*innen erfordert

Das macht aus So gehn wir denn hinab eine starke Lektüre, die allerdings auch einiges an Resilienz von den Leser*innen einfordert. Man muss den Mut und den Durchhaltewillen haben, sich auf diese Erzählung einzulassen und all die Gewalt auf den Plantagen und die schwer erträgliche Abwertung von Annis und ihrer Ahnen zu ertragen.

Hypnotisch und vorwärtsdrängend gleicht dieser Roman einem nachtschwarzen Gospel, der den Schmerz der Sklaverei und die bis heute nicht wirklich überwundene Benachteiligung Schwarzer in den USA in höchst poetische Worte fasst, die all der geschilderten Gewalt und Brutalität entgegenstehen.

Ganz auf die Schwarze Perspektive konzentriert zeigt Jesmyn Ward wie schon in ihrem Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt die Benachteiligung von Menschen im Süden der USA, diesmal durch das historische Setting noch einmal dringlicher, plakativ und kaum zu vergessen.

Weitere Meinungen zu So gehn wir denn hinab gibt es bei Bookster HRO und auf dem Blog von Frank-Michael Preuss.


  • Jesmyn Ward – So gehn wir denn hinab
  • Aus dem Englischen von Ulrike Becker
  • ISBN 978-3-95614-600-8 (Verlag Antje Kunstmann)
  • 304 Seiten. Preis: 26,00 €
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Eli Cranor – Bis aufs Blut

Mitten hinein in den Bible Belt schleudert uns der Roman Bis aufs Blut, in dem der frühere Footballspieler Eli Cranor von Gewalt, Hoffnungslosigkeit, Ernest Hemingway und dem Reiz des Footballspiels erzählt. Hoffnungslose und hoffnungsfrohe Lektüre, die tief hineinblickt in das religiös geprägte Milieu in den Ozarks.


White Trash, so despektierlich bezeichnet man das Milieu der weißen Unterschicht im Hinterland der USA, das zumeist mit Armut und Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch zwischen Meth und Alkohol und prekären Wohnverhältnissen in Trailern assoziiert wird. Zumeist zerrüttete Familienverhältnisse und wenig Aufstiegchancen sind Marker jener sozialen Schicht, die gerne belächelt und durch den geradezu entmenschlichenden Begriff verächtlich gemacht wird.

Immer wieder blickt die US-amerikanische (Kriminal-)Literatur auf dieses Milieu. Daniel Woodrell tat es in Winters Knochen, als er das von Armut gekennzeichente Leben im Hinterland von Missouri beschrieb. Jüngst tauchte John Galligan mit Bad Axe County in einen fiktiven Landstrich zwischen Abfalldeponie und heruntergekommenen Scheunen ein oder Barbara Kingsolver versetzte mit Demon Copperhead gar Charles Dickens Romanklassiker David Copperfield in das Milieu des White Trash in den Appalachen.

Einblick ins White Trash-Milieu

Und auch Eli Cranor siedelt seinen Roman zum Teil in diesem Milieu an. Schauplatz der Geschichte ist der Bundesstaat Arkansas, in dem sich das fiktive Städtchen Denton befindet. „Das Tor zu den Ozarks“ verkündet das Ortsschild, in Wahrheit aber ist Denton 30 Meilen von allem anderen entfernt, wie der Schulleiter Bradshaw in einem seiner ersten Gespräche mit dem neuen Footballcoach Trent bemerkt.

Eli Cranor - Bis aufs Blut (Cover)

Dieser ist mit seiner Familie frisch zugezogen und soll die schuleigene Footballmannschaft, die Denton Pirates, zu sportlichem Erfolg führen. Doch nicht nur aufgrund seines Prius, den der Coach fährt, wird er von den Einheimischen misstrauisch beäugt. Denton ist auch 30 Meilen hinter dem gesellschaftlichen Fortschritt zurückgeblieben und scheint alle rückständigen Klischees des Bible Belt zu erfüllen. Latenter Rassismus, omnipräsente Kreuze und die Huldigung möglichst schwerer Verbrennermotoren sind hier der gesellschaftliche Klebstoff, der die Gesellschaft des Städtchens zusammenhält.

Folglicherweise fremdelt Trent sehr mit dieser neuen Welt, in die er überstürzt aufgebrochen ist. Vertraut ist ihm nur die Welt des Footballfeldes, auf dem er sich mit seiner Mannschaft unbedingt beweisen will. Entscheidendes Puzzleteil in seinem Plan von sportlichem Erfolg ist der junge Billy Lowe, der zu den größten Talenten und Hoffnungsträgern seiner Schule zählt. Doch ebenso groß wie das sportliche Talent des Jungen ist auch die Wut, die in ihm brennt.

Pulsierendes Blut, pulsierendes Erzählen

Warum dem so ist, das schildert uns Billy Lowe als Ich-Erzähler in einer geradezu hektischen, aggressiven Sprache, die Eli Cranor seiner zentralen Hauptfigur mitgegeben hat und die von Cornelius Hartz ins Deutsche übertragen wurde:

Diesmal ist da mehr Blut. Mein Blut. Sein Blut. Das Blut vom Kleinen. Das Blut, das uns verbindet. Ich spüre, wie Bull an meinem Trikot zerrt. Hab mal gesehen, wie ein Polizist versucht hat, einen Pitbull von einem Labrador zu trennen. Der musste ihm das Maul mit einem Gummiknüppel aufstemmen. Verpasse dem Jungen eine Kopfnuss. Drücke seine Arme auf den Boden, er kriegt eine Kopfnuss nach der anderen, bis Bull mich wegreißt.

Eli Cranor – Bis aufs Blut, S. 16

Die Gewalt resultiert aus den Lebensverhältnissen, in denen Billy groß wird. So lebt er mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder in einem Trailer. Der aktuelle Lebens- und vor allem Trinkgefährte seiner Mutter neigt zu häuslicher Gewalt, drückt schon mal eine glühende Zigarette in Billys Nacken aus oder sperrt dessen kleinen Bruder in einen Hundezwinger, wo ihn Billy mit Essensresten zu füttern hat.

Dies führt zu einer Impulsivität und Gewalt, über die Billy selbst nicht mehr Herr ist. Da Trent aber nicht auf seinen wichtigsten Spieler verzichten kann, holt er ihn in selbst in sein Zuhause, wo er leben soll, nachdem Billys Ziehvater tot im Trailer aufgefunden wurde.

Viel Verzweiflung und wenig Hoffnung im Bible Belt

Die genauen Umstände des Todesfalles und die Dynamiken, die sich aus dem unverhofften Familienzuwachs des Footballtrainers ergeben stehen im Mittelpunkt der Geschichte, die Eli Cranor aus dieser Ausgangslage entwickelt. So fremdelt Billy mit der neuen Lebenssituation ebenso wie Trent mit Denton – und beide sind in ihrer verzweifelten Lage ein Stück weit aufeinander angewiesen in dieser Welt, in der zwar das Kruzifix omnipräsent ist, es aber dennoch kaum so etwas wie Hoffnung oder Gnade gibt.

Allein eine aufkeimende Liebesgeschichte verheißt dem Jungen einen Ausweg, geht mit dieser Annäherung auch Bildung und die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Aufstiegschance einher, die ihm in seinem bisherigen Lebensumfeld versagt bliebt.

Am Ende bleibt aber auch die Frage bestehen, ob dieses Bemühen ein sinnloses ist und am sein Streben ähnlich unergiebig wie das des Fischers in Ernest Hemingways existenzialistischen Klassiker Der alte Mann und das Meer bleibt. Denn dieses Buch entdeckt Billy während seines Auszugs aus dem heimischen Trailer zum ersten Mal – und findet darin auch Anknüpfungspunkte an die eigene Hoffnungslosigkeit.

Fazit

Mit seinem mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Roman gelingt Eli Cranor ein starkes Debüt, das durch einen genauen Blick in das White Trash-Milieu und die Schilderung des Kleinstadtlebens dort im Bible Belt ebenso überzeugt wie durch seine pulsierende Sprache, die den Plot um Billy Lowe und seinen Trainer Trent stets nach vorne treibt.


  • Eli Cranor – Bis aufs Blut
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-85535-179-4 (Atrium)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €
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Chris Whitaker – In den Farben des Dunkels

Eine Gefangenschaft von 307 Tagen und eine Suche, die Jahrzehnt dauern wird. Sie beschreibt der britische Autor Chris Whitaker in seinem neuen Roman In den Farben des Dunkels und liefert damit einen Roman ab, der unter die Kategorie Epos fällt.


Mit Chris Whitaker hat der Piper-Verlag einen wirklichen Überraschungserfolg eingekauft. So schaffte es sein deutsches Debüt Von hier an bis zum Anfang auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste und sammelte begeisterte Leser*innen und fast 7000 Rezensionen auf der Bewertungsseite eines großen Buchhändlers. ein

Vor zwei Jahren folgte dann Was auf das Ende folgt, bei dem das Echo dann allerdings verhaltener ausfiel. Das erklärte sich mit der nicht ganz so überzeugenden Qualität des Buchs, das eigentlich aus Whitakers literarischer Frühphase stammte. Erschienen war es im Original vor Von hier bis zum Anfang erschienen war, das seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte – und das merkte man dem Buch auch an.

Ein neuer Roman aus der Feder Chris Whitakers

Nun gibt es mit In den Farben des Dunkels wieder einen frischen Roman aus der Feder Whitakers zu lesen. Mit diesem legt er die Messlatte seines eigenen Schreibens noch einmal ein ganze Stück höher. Wieder spielt der Roman des britischen Autors in den USA, wieder kehrt er in eine Kleinstadt zurück, die diesmal auf den Namen Monta Clare hört.

Chris Whitaker - In den Farben des Dunkels (Cover)

Dort lebt der junge Joseph Macauley, der von allen nur Patch gerufen wird. Da er nur ein Auge besitzt, verdeckt eine Augenklappe seine leere Augenhöhle, was nicht nur bei Betrachtern Assoziationen zu Piraten weckt. Auch Patch ist von diesen Outlaws der Meere begeistert und hat sich etwas davon für sein eigenes Verhalten abgeschaut. So stromert er auf eigene Faust durch die Umgebung der Kleinstadt und bemächtigt sich gerne auf illegale Weise fremder Besitztümer.

Bei einem dieser Ausflüge in den nahegelegenen Wald stolpert er zufällig in eine gefährliche Szene, als er den Schreien im Wald folgt. Er überrascht einen maskierten Mann, der Misty Meyer, Ballkönigin und Tochter gut betuchter Einwohner von Monta Clare, in einen Transporter zerren will. Mit einem echten Piraten ist so etwas allerdings nicht zu machen und so greift Patch in die Szene ein.

Misty Meyer kann so entkommen, doch nun befindet sich Patch in den Händen des Entführers. Ein Umstand, der 307 Tage lang dauern soll und erst durch seine Kindheitsfreundin Saint beendet werden soll. Denn diese erweist sich als hartnäckige und erfolgreiche Ermittlerin, die das Versteck und die Identität von Patchs Entführer auf eigene Faust aufklärt. Womit alles nun sein Ende haben könnte, ist allerdings nur der Beginn von Whitakers opulenter Geschichte.

Eine Entführung mit Folgen

Denn bei seinem Aufenthalt im dunklen Versteck des Entführers erhielt Patch Beistand von einem Mädchen namens Grace, das mit seinen Erzählungen und Geschichten dafür sorgte, dass Patch nicht den Verstand verlor. Als nun nach Saints Intervenieren das Versteck des Entführers auffliegt, fehlt sowohl vom Entführer als auch von Grace jede Spur. Existiert dieses Mädchen außerhalb von Patchs Erinnerungen überhaupt?

Die Suche nach ihr wird zum Motor, der die Geschichte von Saint, Patch und Misty Meyer jahrelang antreiben wird. Denn durch die Entführung wurde der Grundstein für komplexes Miteinander gelegt, das das Leben der Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein prägen wird. Mal sind sie sich näher, mal stehen sie sich diametral gegenüber, mal sind sie tausende von Kilometer voneinander entfernt – die Schicksalsgemeinschaft können sie aber nicht lösen.

Patch steigert sich in eine Obsession hinein und versucht mit den Mitteln der Kunst, der Erinnerung und der Kriminalität das Geheimnis um Grace zu lösen, während Saint auf der anderen Seite des Gesetzes den Spuren von Grace und ihrem Entführer nachgeht. Beide Wege bringen sie immer näher an den Entführer von einst heran – doch auch die Jahre vergehen rasant und verlangen von Saint, Patch und Misty einen hohen Tribut.

Ein Roman im Cinemascope-Format

Mit In den Farben des Dunkels dürfte Chris Whitaker die Begehrlichkeiten von vielen Filmagenturen geweckt haben. Denn sein Roman liest sich wie eine Vorlage für einen Kinoblockbuster oder mindestens eine Serie im Cinemascope-Format. Verschiedene Schauplätze in den USA, eine spannende Krimihandlung mit Anklängen an Entführungsdramen wie Raum , die mit einem großen Entwicklungsbogen einhergeht machen aus diesem Buch ein Epos in bester Tradition von Dennis Lehane und Co.

Wer Freude an Serien wie True Detective oder Stephen Kings Stand by me hatte, der dürfte sich bei Chris Whitaker gut aufgehoben fühlen.

Es ist derart unbändig viel Handlung und Zeit, Volten und Schicksal in diesem Buch enthalten, dass die Lektüre trotz der knapp 600 Seiten zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen lässt. Immer wieder neue Fährten und Erkenntnisse begleiten Patchs und Saints Suche nach der Wahrheit – und das an dutzend Schauplätzen, von Florida bis einmal Missouri einmal quer durch die USA.

Diese hohen Schauwerte, der stimmige Plot und das ergreifende Schicksal von Whitakers Protagonisten machen aus In den Farben des Dunkels einen Roman, der in diesem Jahr in Sachen Unterhaltung schwerlich zu schlagen sein dürfte.


  • Chris Whitaker – In den Farben des Dunkels
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-11-105308-0 (Piper)
  • 592 Seiten. Preis: 24,00 €
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