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Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen

Wenn die eigene Familie zur Ausgangslage eines Romans wird: Giulia Caminito erzählt in ihrem Debüt Ein Tag wird kommen vom anarchistischen Erbe ihrer Familie – und legt einen überzeugenden und in seiner Erzählweise herausfordernden Text vor. Wieder einmal eine erzählerische Entdeckung aus Italien, wie man sie vom Wagenbach-Verlag kennt.


Es sind zwei Brüder, die im Mittelpunkt von Ein Tag wird kommen stehen. Lupo und Nicola, so heißen die beiden Jungen, die als Söhne eines jähzornigen Bäckers im kleinen Dorf Serra de‘ Conti in der Nähe von Ancona an der Wende zum 20. Jahrhundert aufwachsen. Während ihre Brüder und Schwester noch im Kindbett sterben, ins Kloster geschickt oder erschossen werden, sind die beiden auf ganz unterschiedliche Art und Weise widerständig und überleben ihre Geschwister.

Zwei Brüder in den Marken

Giulia Caminito - Ein Tag wird kommen (Cover)

Lupo ist ein Wildfang, der keiner körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg geht und einen jungen Wolf mit dem funktionalen Namen Cane von Hand aufzieht. Nicola ist ein stiller und zerbrechlicher Geist, den das Intellektuelle anzieht. Der Dorfgeistliche will ihn unter seine Fittiche nehmen – doch es ist eine andere Denkschule, sich in den Marken und anderswo im Lande ausbreitet – und die auch auf die Familie Ceresa prägend einwirkt.

Denn während die Landbevölkerung in den Marken am Hungertuch nagt, unter dem Prinzip der Halbpacht ächzt und so etwas wie ein sozialer Aufstieg nicht vorgesehen ist, geht es den padrones und der reichen Oberschicht sehr gut. Bislang, denn unter dem Eindruck des aufziehenden Anarchismus wird auch die Landbevölkerung rebellisch. Lupo findet Aufnahme in der Gruppe von Gleichgesinnten, die sich im angrenzenden Ancona 1914 an der Settimana Rossa, einen Streik gegen die herrschenden Verhältnisse und geplanten Reformen der Regierung, beteiligten.

Anarchismus und Krieg

Doch nicht nur in den Marken und anderswo dreht sich der Wind und neue Verhältnisse scheinen möglich. Auch die übrige Welt steht nicht still – und bricht in Form des Ersten Weltkriegs in das Leben der Familie Ceresa in Serra de‘ Conti ein. Während Lupo als Agitator und Kämpfer bald in den Untergrund geht, bleibt Nicola vor seiner Berufung nicht verschont und muss an die Front, wo er die Kriegsgräuel des 1. Weltkriegs am eigenen Leib erfährt.

Diese Geschichte verschmilzt Giulia Caminito mit der Lebensgeschichte von Suor Clara, einer Nonne, die im nahen Kloster wirkt und die einst als Kind in Afrika geraubt wurde. Wie diese Geschichte mit der von Lupo und Nicola zusammenhängt, schält sich erst Stück für Stück heraus. Immer wieder verlässt Caminito den Pfad der Chronologie, springt in der Geschichte zurück, rückt einzelne Familienmitglieder der Ceresas in den Mittelpunkt. So gibt die Autorin den Leser*innen immer wieder neue Puzzleteile an die Hand, die schlussendlich ein Ganzes ergeben und sich stimmig fügen. Alles, was zuvor möglicherweise lose oder unverbunden erschienen mag, ergibt am Ende Sinn, wenn das Geheimnis der Herkunft der Brüder in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Besonderheit preisgegeben wird.

Fazit

Caminito schreibt mit viel Sprachgefühl (Übersetzung aus dem Italienischen durch Barbara Kleiner) und formal ambitioniert. Wie sie die einzelnen Teile zu einem Ganzen rundet, ihre Figuren psychologisch fundiert entwirft und das Dorfleben in den Marken sowie im Kloster einzufangen weiß, das ist wirklich bemerkenswert, insbesondere, da Ein Tag wird kommen das Debüt von Giulia Caminito ist.

Im Nachwort gibt Caminito Auskunft über ihr Schreiben und die Berührungspunkte mit ihrer eigenen Familiengeschichte, die hier als Inspirationsquelle für ihren Roman diente. Ein beeindruckendes Buch über Familie, Widerstand, die Gräuel des Ersten Weltkriegs und die Frage, was uns prägt und welche Macht die Familienbande hat. Wieder einmal eine jener Entdeckungen aus Italien, die den Wagenbach-Verlag auszeichnen.


  • Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen
  • Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
  • ISBN 978-3-8031-3325-0 (Wagenbach)
  • 272 Seiten. Preis: 23,00 €
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Selene Mariani – Ellis

Schon das Cover von Selene Marianis Debüt Ellis macht klar: hier geht es um Teilung, Hälften, aber auch das Verbindende, das unsere Persönlichkeiten ausmacht. In ihrem Debüt erkundet die 1994 geborene Autorin tastend und springend das Leben ihrer Protagonistin Ellis und deren Freundin Grace. Ein interessant montiertes Porträt einer prägenden Freundschaft.


„Das beste Lied der Welt“, sagt Grace.

„Oh ja“, sage ich, und ihr Lächeln spiegelt sich in meinem Gesicht.

„Du magst sie auch?“ Grace hält mir begeistert das Cover hin.

„Klar“, sage ich und schaue darauf. „Kim“, lese ich laut.

„Langsam wird das unheimlich“, sagt Grace begeistert. „Wir sind ja ein und dieselbe Person.“

Selene Mariani – Ellis. S. 87

Sind sie das wirklich, ein- und diesselbe Person, die sich da in ihren Gesichtern spiegeln? Oder sind Grace und Ellis in Wahrheit nicht zwei ganz unterschiedliche Hälfte, die doch einander bedingen und brauchen? Um diese Frage kreist Selene Mariani in ihre Roman, der die Zerrissenheit der Ich-Erzählerin Ellis schon in der Struktur des Buchs selbst findet. Denn Mariani springt wild durch die Lebensjahre von Ellis – und wechselt auch zwischen dem Schauplatz Deutschland und Italien hin und her. So findet man sich nach knappen eineinhalb Seiten in Deutschland 2015 auf den nächsten Seiten schon wieder im Italien des Jahres 2019. Kurze Kapitel mit deutlichen Sprüngen markieren den Rhythmus des Textes.

Zwischen Vater und Mutter, Italien und Deutschland

Nachdem sie mit ihrer Mutter nach Deutschland gezogen ist, besucht sie zu Anfang der 2000er Jahre die Schule. Während die No Angels tausende von jungen Mädchen faszinieren und träumen lassen – darunter auch Ellis – ist die Schule alles andere als ein Ort für Träume. Ellis wird gemobbt und ausgegrenzt – bis eines Tages ein neues Mädchen das Klassenzimmer betritt und gleich darauf Freundschaft mit Ellis schließt. Ihr Name ist Greta – genannt Grace – die zudem im gleichen Haus wie Ellis und ihre Mutter wohnt.

Selene Mariani - Ellis (Cover)

Im Jahr 2019 nun läuft Grace fast in Ellis hinein, als diese auf offener Straße für ein Unternehmen Unterschriften einwerben soll. Nach Jahren des Schweigens und der Distanz begegnen sich die beiden Frauen so wieder, was Selene Mariani als Rahmenhandlung die Möglichkeit gibt, in hingetupften Erinnerungsfragmenten der Beziehung der ehemaligen Freundinnen nachzuspüren. So erhält man Stück für Stück Einblick in die komplizierte Bindung der beiden Frauen, die von Schulzeiten über einen Urlaub in Italien bei Ellis‘ Großeltern bis hinein in die erzählte Gegenwart reicht, als sie sich beide langsam wieder annähern.

Dabei ist die Dichotomie stetes Erzählprinzip. Angefangen beim Cover reicht die Spiegelung der Dinge von Offensichtlichem bis hinein in kleinste Details. So lebt Ellis zwischen Vater und Mutter, Italien und Deutschland hin- und hergerissen, hat mit Grace eine zweite für sie spiegelgleiche Hälfte entdeckt, besucht mit dieser Verona (mit seinem berühmten Balkon und Liebespaar) und darf ganz knapp vor Ende des Buchs auf Seite 147 dann noch Mulino Bianco-Kekse futtern. Es sind jene Kekse, die mit einer je einer hellen und einer kakaofarbenen Hälfte dann doch wieder einen Kreis ergeben. Immer wieder finden sich solche Stellen, die Interpretationen erlauben und vielgestaltig gelesen werden können.

Zerrissenheit und nicht gesagte Dinge

Ellis ist aber auch ein Roman, der vom Schweigen, von den nicht gesagten Dingen handelt, die man verdrängt oder die sich in der Rückschau verformen. Durch die spartanische und pointillistische Erzählweise Selene Marianis eröffnen sich genau dafür Freiräume, da sie die Ausdeutungen und Wertungen den Leserinnen und Lesern überlässt.

Das ist ein spannendes Erzählkonzept, das bei mir leider nicht in Gänze verfangen hat. Denn mir waren die Interpretationsräume etwas zu groß und das Erzählte zu wenig, als dass dieses Debüt in meinem Kopf Luftwurzeln geschlagen hätte, wie es im Buch an einer Stelle heißt (womit Mariani en passant dem Geburtstagskind Novalis die Ehre erweist).

Die Idee, die Zerrissenheit der Protagonistin durch die Struktur des Textes abzubilden, ist durchaus lobenswert, erwies sich für mich aber auch als kleiner Schwachpunkt des Ganzen.

Persönlich hätte ich mir noch etwas mehr Tiefe in der Schilderung der Beziehung gewünscht, noch intensivere Blicke in das Seelenleben von Ellis, das an allen Stellen, an denen es interessant werden könnte, gleich wieder abbricht, um an einem anderen Ort und anderen Jahr wieder neu anzusetzen. Auch das Ende in seiner Abruptheit ließ mich etwas überrascht zurück – aber im erzählerischen Mut ist das Buch natürlich zu loben.

Fazit

Von persönlichen Einwänden und Geschmacksurteilen abgesehen ist Ellis ein in seiner Knappheit und seiner Affinität zu interpretatorischer Vielgestaltigkeit interessantes Debüt, das der Wallstein-Verlag hier präsentiert. Selene Mariani überzeugt mit Zurückhaltung, Mut zu erzählerischen Leerstellen und gibt Einblick in das Seelenleben einer Deutsch-Italienierin, die sich selbst nicht immer gewiss ist.


  • Selene Mariani – Ellis
  • ISBN 978-3-8353-5152-3 (Wallstein)
  • 147 Seiten. Preis: 20,00 €
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Maaza Mengiste – Der Schattenkönig

Er kann sich aber nicht vorstellen, was die Italiener den Menschen antun, seinem Volk, seinen Untertanen, den Kindern einer Generation, die geboren wurden, um sein Land aufzubauen. Bald werden die Kaiserin, seine Kinder und seine Berater sich um dieses Radio versammeln, sich zu den Nachrichten neigen und ihnen lauschen, als könnten sie jedes knisternde Detail mit dem Körper aufnehmen. Er hingegen, der Kaiser, Jan Hoy, Haile Selassie, Terefi Mekonnen, hat nur den Wunsch, aufzustehen und einen anderen Raum zu betreten, um den Ozean zu überqueren, in seinen Hafen einzulaufen und sich in das Hochland zu schleichen, um seinem Volk zu verkünden, dass er für den Kampf heimgekehrt ist. Stattdessen ist er hier, wo es keine Sonne gibt, wo alles, was atmet, im Schatten überlebt.

Maaza Mengiste – Der Schattenkönig, S. 363

Ein hierzulande reichlich unbekanntes Kapitel äthiopisch-italienischer Geschichte bringt die 1971 in Addis Abeba geborene Autorin Maaza Mengiste aufs Tapet. Sie schildert in Der Schattenkönig den Abessinienkrieg 1935 und den Kampf der Äthiopier*innen gegen die Besatzer. Fordernde Lektüre.


Verfolgt man nicht gerade ganz genau die aktuelle Nachrichtenlage oder liest beste italienische Literatur, dann kommt einem das Thema Äthiopien und das des Abessinienkriegs heute nicht mehr häufig unter. Das Bestreben Benito Mussolinis nach Expansion, die Überrumpelung des Gegners und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen sind hier in Deutschland ein Kapitel, das wir auch eingedenk der eigenen Geschichte, nicht wirklich präsent haben. Maaza Mengiste holt dieses Kapitel mit voller Wucht wieder hervor und macht den Krieg und das damit verbundene Leid wieder erfahrbar.

Hirut und Ettore

Hierzu stellt sie zwei Figuren in den Mittelpunkt: Hirut, die im Haus von Aster und deren Mann Kidane als eine Art Leibeigene lebt. Und später wird dann noch Ettore Navarra in den Fokus rücken. Er ist ein venezianischer Soldat, der unter seinem Befehlshaber Fucelli das Land Hiruts besetzt.

Maaza Mengiste - Der Schattenkönig (Cover)

Doch zunächst lernen wir Hirut kennen, der einzig ein wuijgara von ihren Eltern geblieben ist. Dieses Gewehr soll sie nur in höchster Not abfeuern, so brachte es ihr Vater bei. Doch nun behält es Kidane ein. Er ist der Abkömmling großer Krieger und sieht sich in der Verantwortung, nach der Besatzung seines Landes durch die faschistischen Italiener Gegenwehr zu leisten. Er schart eine Gruppe lokaler Bauern um sich, um den Truppen Mussolinis (oder Mussolonis, wie er in Äthiopien geheißen wird) Paroli zu bieten. Seine Frau Aster und Hirut werden trotz eines mehr als komplizierten Verhältnisses zueinander zu Unterstützerinnen in diesem Kampf.

Derweil ficht Ettore seinen ganz eigenen Kampf aus. Er hadert ebenfalls mit seiner Herkunft, auch sein Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht einfach. Diese Herkunft erweist sich zudem als Gefahr für ihn, da er, wenngleich nicht praktizierend, Jude qua Abstammung, ist. Und Mussolini treibt die antisemitischen Säuberungen im Militär voran, sodass Navarra permanent unter Beobachtung steht. Für seinen brutalen Vorgesetzten Fucelli dokumentiert er derweil mit der Kamera den Eroberungsfeldzug und die unglaublichen Gräuel, die die Schwarzhemden vor Ort verursachen.

Die Herkunft beziehungsweise die Aufgabe der beiden Charaktere formen auch über die beiden Erzählstränge hinweg die Struktur des Buchs. Denn immer wieder unterbrechen Fotobeschreibungen und Chor-Einschübe die Handlung und rhythmisieren so das Ganze. Und zu guter Letzt flicht Maaza Mengiste auch immer wieder Passagen ein, in denen sie sich in den Kaiser Haile Selassie einfühlt, wie etwa im Eingangszitat. Der Herrscher, der ins Exil nach England flieht und mit seinen eigenen Entscheidungen hadert, bildet so etwas wie die dritte Hauptfigur.

Die Grausamkeiten des Abessinienkriegs

Durch diese drei Figuren entsteht ein Panorama des Abessinienkriegs, das von Leid, Unterdrückung und unfassbarer Gewalt erzählt. So schildert Mengiste plastisch den Tod, den Mussolinis Schwarzhemden über die Menschen bringen. Sie setzten Gas gegen die lokale Bevölkerung ein. Navarras Vorgesetzter Fucelli errichtet im Hochland ein Lager, in das er Gefangene interniert und hundertfach in den Tod schickt. Während Ettore Navarra mit der Kamera das Geschehen dokumentiert, lässt Fucelli die Äthiopier über Klippen in der Nähe des Lagers in den Tod springen.

Hier wird der Krieg mit seiner ganzen Härte erfahrbar. Aber auch Hiruts Kampf und Verzweiflung zeichnet Maaza Mengiste plastisch nach. Zusammen mit Aster wird sie zur Leibgarde des Schattenkönigs, einer Finte ihres Mannes Kidane. Dieser macht einen Musiker zum Wiedergänger des geflohenen Präsidenten, der langsam in seine Rolle als Schattenkönig hineinfindet und die Äthiopier zum Durchhalten motiviert und unter den Italienern für Ablenkung sorgt.

So zoomt die Autorin auf die persönlichen Erfahrungen und stellt den Kampf in seiner ganzen Unmittelbarkeit dar. In dieser erzählerischen Mikroebene bleibt Maaza Mengiste ganz eng an ihren Figuren, Empfindungen, Gedanken und Reflexionen überwiegen. Persönlich hätte ich mir angesichts des hochspannenden und komplexen Themas noch etwas mehr Makroebene gegenüber der dominierenden Introspektive gewünscht. Der geschichtliche Rahmen, der politische Überblick und die Einordnung des Ganzen bleiben hinter dem subjektiven Blick zurück und fehlten mir persönlich. Viele Informationen zum Geschehen musste ich mir über Sekundärliteratur verschaffen.

Auch wäre mir eine etwas stärkere erzählerische Ausbalancierung zwischen den Figuren zupassgekommen. So bleibt Ettore zunächst blass und kaum greifbar, während Hirut stark im Vordergrund steht. Eine besser getaktete Engführung zwischen diesen beiden Figuren hätte mir persönlich gefallen.

Wie sie aber von ihnen erzählt, für Hirut, Ettore und Selassie eine eigene Sprache findet, das beeindruckt doch und rechtfertigt auch die Berufung in die finale Auswahl des Booker Prizes 2020. Zudem kommt hier mit Hirut eine Figur zu Wort, die in den herkömmlichen Chroniken sicher vergessen worden wäre. Sie steht symbolisch für den Krieg aus weiblicher Perspektive. Ihre Erfahrungen, ihr Kampf mit eigenen Mitteln und ihre Verarbeitung des Kriegs stehen als Sinnbild für viele tausende andere Abessinier*innen, die sonst nicht einmal als Fußnote in der Geschichtsschreibung auftauchen.

Fazit

In Der Schattenkönig beschwört Maaza Mengiste ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel italienisch-äthiopischer Geschichte herauf. Das Buch nur als Schilderung des Abessinienkriegs aus einer sonst eher marginalisierten Perspektive auszugeben, würde Mengistes Buch allerdings Unrecht tun. Die Erfahrungen, die der Krieg bedeutete, das unmittelbare Leid und der parallele Blick auf Unterdrücker und Unterdrückte machen aus diesem Buch eine eindringliche Lektüre, die zu weitergehenden Beschäftigung mit dieser Materie einlädt. Übersetzt von Patricia Klobusiczky und Brigitte Jakobeit.


  • Maaza Mengiste – Der Schattenkönig
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky
  • ISBN 978-3-423-28292-5 (dtv Literatur)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €
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Elena Ferrante und ich – eine Kapitulation

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

Schon ein Jahr lang schaute mich das Leseexemplar von Elena Ferrantes neuestem Roman Das lügenhafte Leben der Erwachsenen vorwurfsvoll aus dem Regal heraus an. Irgendwie gab es immer etwas anderes zu lesen, neue Bücher , beruflich zu Lesendes, scheinbar Interessanteres – kurz, ich schob die Lektüre des Romans wieder und wieder vor mir her. Doch genug damit. Nun im Juli griff ich zu Ferrantes Buch. Italien beziehungsweise Sizilien als Schauplatz des Buchs schien mir als Sehnsuchtsort für diesen alles andere als sommerlichen Sommer die richtige Wahl. Doch leider musste ich dann schon nach gut der Hälfte des Romans kapitulieren. Das mit Elena Ferrante und mir wurde nichts. Aber warum?


Elena Ferrante - Das lügenhafte Leben der Erwachsenen (Cover)

Mit dem Erscheinen von Ferrantes Neapolitanischem Quartett war ich in Neugier versetzt. Jedes große Feuilleton schrieb über die vierbändige Saga um Lila und Lenu, angeheizt durch eine kluge Marketingkampagne setzt das #ferrantefieber in Deutschland ein. Sogar als Serie wurde das Quartett in der Folge adaptiert.

Auch ich las die Werke mit Interesse und fand mich wieder in einem Neapel, das wenig mit Pizza und Funiculì Funiculà-Folklore gemein hatte. Stattdessen dominierten Gewalt, unzufriedene und fluchende Figuren und wenig Aufstiegschancen die Welt der Freundinnen. Kinder, später Frauen, die mit ihrem Schicksal haderten, in großer Armut, enttäuscht von den Männern lebten, sich auch gerne einmal beschimpften und hinter dem Rücken schlecht redeten. Wenig Glück, dafür umso mehr Düsternis, Dumpfheit und Elend. Das war das Neapel, das ich in Elena Ferrantes Büchern vorfand.

Frauen im Dunkeln, wenig Hoffnung und Freude

In der Folge machte sich der Suhrkamp daran, die Backlist der Autorin zu erschließen. Zumeist in der Übersetzung von Karin Krieger erschienen nach und nach ältere und vergriffene Werke der Autorin, darunter auch der Roman Frau im Dunkeln. Auch hier stand wieder eine Frau Mittelpunkt, deren Leben wirklich im Dunkeln stattfand. Sie stiehlt am Strand die Puppe eines kleinen Mädchens und beobachtet, was diese Tat mit dem Kind und seiner Mutter macht.

Damals schrieb ich in meiner Besprechung von überspannten Frauenfiguren, wahren Furien, deren Handlungsmotivation unklar bleibt. Ein Einfühlen in den geschilderten Kosmos wollte mir so gar nicht gelingen, sodass ich konstatierte:

Von Strand, la dolce vita und Entspannung ist bei Elena Ferrante nicht viel übrig. Auf ihre Welten muss man sich einlassen – mir ist das hier leider überhaupt nicht gelungen. Die Faszination für die Frau im Dunkeln liegt für mich im Dunkeln.

Meine Rezension vom 11. Februar 2019

Zurück in Neapel

Seit jener Besprechung waren zwei Jahre ins Land gegangen, Zeit also für einen abermaligen Versuch mit Elena Ferrante und mir. Und schon nach wenigen Seiten fühlt man sich wieder heimisch in dieser Welt. Abermals ist die Erzählung in Neapel angesiedelt, diesmal erzählt die junge Giovanna, die sich am Beginn der Pubertät befindet. Ein Schlüsselsatz prägt sich bei ihr ein, der ihre Welt erschüttern soll.

Zwei Jahre, bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben.

Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen, S. 9

Ihr Vater, ein bewunderter Intellektueller, vergleicht in jenem Gespräch das Aussehen Giovannas mit dem seiner Schwester, die in der Familie totgeschwiegen wird. Das weckt das Interesse des Mädchens, die sich nun für die familiären Wurzeln zu interessieren beginnt. Sie lernt ihre Tante kennen, eine ausgesprochen vulgäre Erscheinung, die Giovanna fasziniert. Immer mehr pflegt sie den Kontakt mit ihrer Tante und muss erkennen, dass auch ihre eigenen Eltern Lügen leben und obschon besserer Umgangsformen und Manieren durchaus auch schlechte Seiten haben.

Davon erzählt Elena Ferrante ausführlich, indem sie durch Giovanna auf diese lügenreiche Welt der Erwachsenen blickt, die voller Widersprüche und Heuchelei steckt. Die vulgäre Tante wird damit zum Gegenpol, da sie all das in ihrem derben Dialekt thematisiert und Giovanna damit auch ein Stück weit die Augen öffnet.

Monothematisch und voller überspannter Figuren

Alleine, mir war das irgendwann zu viele. Diese Monothematik von fluchenden und bigotten Figuren, einem Neapel, in dem scheinbar nie die Sonne scheint, die völlige Abwesenheit von Hoffnung und Freude, all das war mir nun im sechsten Buch der Autorin zu viel. Was im vierbändigen Freundinnen-Quartett schon manchmal kaum erträglich war, hat mir hier endgültig die Freude an der Lektüre vermiest, sodass ich dieses Buch wider meinen eigentlichen Gewohnheiten abbrach.

Nun muss es natürlich nicht die oben angesprochene Neapel-Pizza-Romantik mit jodelnden Pizzaoilo, stundenlangem Bad im Meer und Schlendern durch die engen Gassen im Abendlicht sein. Aber ein klein wenig mehr mediterranen Charme, eine nuancen- und kontrastreichere Welt und wenigstens ein bisschen Zufriedenheit oder ausgeglichenere Figuren anstelle von Überspanntheit, Schimpfen und Betrügen, das hätte mir gefallen, besonders in diesem so trostlosen Sommer, in dem ich zum Buch griff.

So muss ich leider konstatieren, dass das mit Elena Ferrante und mir wohl nichts mehr wird, habe ich doch das Gefühl, stets das gleiche Buch in leicht variiertem Setting zu lesen. Elena Ferrante seien die vielen euphorischen Leserinnen und Leser gegönnt, ich zähle mich nun nach diesem Lektüreabbruch nicht mehr dazu.


  • Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
  • Aus dem Italienischen von Karin Krieger
  • ISBN: 978-3-518-42952-5 (Suhrkamp)
  • 414 Seiten. Preis: 24,00 €
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Francesca Melandri – Alle, außer mir

Es war eine Nachricht aus Italien, die im August aufhorchen ließ. Der häufigste Name in Mailand lautet nämlich seither Hu. Nicht mehr typisch italienische Namen wie Ferrari oder Rossi dominieren, sondern der chinesische Nachname Hu. Zwar handelt es sich bei den meisten Hus um chinesischstämmige Italiener*innen der vierten oder fünften Generation, die schon lange in Italien leben. Allerdings zeigt sich hier phänotypisch schon, dass auch Italien ein Land ist, in dem sich vieles wandelt. Über diesen Wandel hat Francesca Melandri ein gnadenloses Buch geschrieben. Es trägt den Titel Alle, außer mir und ist ein Familienepos, das wie ein Scheinwerfer mit hoher Wattzahlen auch die nicht so hellen Seiten des gestrigen und heutigen Italiens beleuchtet. Große Literatur, die – wie es großer Literatur oftmals zueigen ist – auch durchaus schmerzen kann.


Ausgangspunkt der Handlung ist ein schwarzer junger Mann, der plötzlich im Treppenhaus der Lehrerin Ilaria Profeti steht. Er behauptet, mit Ilaria verwandt zu sein. In seinem Pass steht der Name ihres Vaters. Von drei Geschwistern weiß Ilaria – doch wer ist dieser Mann, der ihr eine unglaubliche Geschichte erzählt? Und warum sollte ihr Vater ein Kind in Äthiopien haben? Attilio selbst kann keine Auskunft mehr geben. Über 90 Jahre alt ist er in seinen Erinnerungen an die Welt von gestern versunken.

Die Abgründe der italienischen Geschichte

Ausgehend von dieser unerhörten Begebenheit spannt Francesca Melandri in ihrer Erzählung einen Bogen über drei Generationen und ein ganzes Jahrhundert italienischer Geschichte. In Episoden erzählt sie sich zurück bis in Attilio Profetis Kindheit. Seinen Weg vom Sohn eines Eisenbahners bis hin zum einflussreichen und finanziell mehr als gut gestellten Vater von vier (oder fünf?) Kindern, schildert Melandri, sodass immer mehr Puzzlestücke im Laufe dieses voluminösen Romans (über 600 Seiten) zueinander finden und ein Bild ergeben. Ein rundes Bild zwar, aber kein schönes. Denn es sind viele Adjektive, die Attilio im Laufe seines Jahrhundertlebens gesammelt hat: korrupt, rassistisch, bigamistisch, faschistisch, um nur ein paar zu nennen.

Francesca Melandri - Alle, außer mir (Cover)

So nimmt Attilio als Schwarzhemd am Abessinienkrieg teil, wirkt willfährig am faschistischen Regime des Duce Benito Mussolini mit. Für den Rassenforscher Lidio Cipriani beteiligt er sich in Äthiopien und Eritrea an rassistischen Forschungen, nutzt später sein Wissen und seine Verbindungen, um im Nachkriegsitalien seine Machtansprüche und seinen Willen durchzusetzen. Bis in die Gegenwart reichen die Auswirkungen der Geschichte, etwa wenn der libysche Diktator Muammar Gadaffi nun 2010 zum Staatsempfang bei Silvio Berlusconi erscheint. Flucht, Rassismus und faschistisches Denken sind Themen, die Francesca Melandri in ihrem Buch mehr als eindrucksvoll behandelt.

Die etwaige Kontinuität der Geschichte ist genauso eine Frage, wie die, was man eigentlich von seinen Eltern und deren Geschichte weiß. Dass das oftmals gar nicht so viel ist, beweist Alle, außer mir auf literarisch hintersinnige Art und Weise. Dass sich das Buch dabei in Deutschland weitaus besser als in Italien verkaufte (nur knapp 10.000 Exemplare davon wurden in Melandris Heimat abgesetzt), das überrascht nicht.

Die Wunden der Vergangenheit

Denn es ist kein Finger, den Melandri in die Wunden der italienischen Vergangenheit legt. Es ist eine ganze Faust.

Es sind nicht nur die Verbrechen des Kolonialismus und die Kriegsverbrechen in Libyen, Eritrea oder Äthiopien, die die italienische Autorin schmerzhaft und teilweise äußert brutal illustriert. Sie zeigt auch die Korruption und die Verlogenheit der aktuellen italienischen Politik (Stichwort Bunga Bunga). Den Rechtsdrift, die grassierende Korruption, die Verlogenheit im Umgang mit Migrant*innen und der Wandel der italienischen Gesellschaft – all das sind Themen in Alle, außer mir. Dass das in Italien nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß, das verwundert bei der Gnadenlosigkeit und der Präzision dieses Buchs nicht.

Fazit

Die Verbrechen des Kolonialismus, die Abgründe der eigenen Familiengeschichte, die Bigotterie unserer heutigen Flüchtlingspolitik. All das verhandelt Alle, außer mir auf mehr als ansprechende und geschickt montierte Art und Weise. Ein Buch, dass eine andere Geschichte Italiens erzählt, fernab von Dolce vita und Pastaseligkeit. Großartig gemacht und toll von Esther Hansen übersetzt. Ein verdienter Bestsellererfolg!


  • Francesca Melandri – Alle, außer mir
  • Übersetzt aus dem Italienischen von Esther Hansen
  • ISBN: 978-3-442-71686-9 (Wagenbach, Taschenbuch bei btb)
  • 608 Seiten. Preis: 12,00 €

Titelbild: Von Niccolò Caranti – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70002512

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