Ewan Morrison – Überleben ist alles

Wem kann man noch glauben, wenn eine Pandemie die ganze Welt überzieht? Der Schotte Ewan Morrison lässt in seinem Buch Überleben ist alles ein pubertäres Mädchen zwischen der Weltsicht ihres verschwörungsgläubigen Vater und dem Misstrauen gegenüber ebenjener Perspektive taumeln. Herrscht da draußen wirklich eine allumfassende Pandemie oder hat sich die kleine Gemeinschaft, in die er seine Kinder gebracht hat, in einer eigenen Blase aus Paranoia eingeigelt? Sein Buch ist Familiendrama und Binnenschilderung einer Prepper-Community zugleich.


Die Coronapandemie der vergangenen Jahre hat eine verstärkte Risikovorsorge und ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer Infrastruktur geschaffen. Während hierzulande alte Bunker auf ihren Funktionsgrad überprüft werden und reiche Menschen diese Rückzugsorte für sich entdecken (wovon zuletzt der Spanier Isaac Rosa in seinem Roman erzählte), erfreuen sich auf dem Buchmarkt literarische Illustrationen von Katastrophen wie etwa Marc Elsbergs Blackout großer Beliebtheit. Aufmerksam werden Äußerungen des Bundesamtes für Katastrophenschutz und Bevölkerungsschutz nachverfolgt – was an sich ja eine vernünftige und umsichtige Grundhaltung ist.

Was aber, wenn vernünftige Vorsorge und Risikomanagement ins Übertriebene kippt? Was, wenn die Angst vor einem potentiellen Stromausfall zur dominanten Angst und der Schutz davor zur Obsession wird? Dann ist man schnell im Prepper-Milieu, in dem sich auch der Vater von Haley in Ewan Morrisons Roman Überleben ist alles umtut.

Rückzug in die Berge Schottlands

Ewan Morrison - Überleben ist alles (Cover)

Er hat sich in einem abgelegenen Landstrich in Schottland einen gesicherten Rückzugsort geschaffen, wo er sich mit Mitstreiter*innen auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet und vielerlei Maßnahmen ergriffen hat, um überleben zu können, wenn der Rest der Menschheit von einem Virus befallen wird. Denn das die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, das steht für ihn sicher fest, und so will er vorbereitet sein.

Was als sein Spleen durchgehen könnte und niemanden dort im bergigen Hinterland stören würde, wird allerdings schon auf den ersten Seiten des Romans zum Problem. Denn der in Scheidung lebende Mann entführt kurzerhand seine beiden Kinder, wie uns seine Tochter Haley schon auf den ersten Seiten erzählt, dargebracht im ironisierten Tonfall eines Ratgebers.

Plan A

Wie man die eigenen Kinder entführt

Willst du am Tag eins einer vermuteten Pandemie deiner Exfrau die eigenen Kinder entführen, benötigst du Folgendes:

  1. Ein robustes Geländefahrzeug, voll aufgetankt, mit Extra-Kraftstoffkanistern.
  2. Eine gut geplante und vorher getestete Route, auf der man sich schnellstmöglich aus dem Staub machen kann.
  3. Eine ausgefeilte Lügengeschichte, um vom eigentlichen Vorhaben abzulenken.
  4. Superpraktisch ist auch, die Entführung in die Nacht zu legen, in der die Kinder sowieso bei dir sind.

Das alles hatte sich mein Dad ausgedacht, der auch der Autor eines eigenen, recht bombastisch mit ÜBERLEBEN betitelten Survival-Guides zur Pandemie ist.

Ewan Morrison – Überleben ist alles, S. 15

Im in manchen Phasen durchaus anstrengenden Erzählton der Teenagerin sind wir also mit dabei, wenn der Vater sie nun in den Norden der Insel verschleppt und sie dort vor dem Rest der Welt schützen will, die der ehemalige Journalist von einer Pandemie befallen glaubt. Aber könnte es nicht auch sein, schließlich hat sich wenige Jahre zuvor ja auch schon eine Pandemie namens Corona auf der ganzen Erde ausgebreitet, wie es zuvor nur Apokalyptiker für möglich hielten?

Wem und was glauben?

Aus dieser Unsicherheit, die aus der Abgeschiedenheit des Prepper-Compounds resultiert, zieht der Roman seine Spannung. Ist die Pandemie dort draußen nur Fantasie ihres Vaters oder stimmen die Belege, die der Vater im abgeschotteten Versteck seiner Tochter präsentiert? Beständig schwankt Haley in ihrer Beurteilung der Lage, was nicht einfacher wird, als ihre Mutter als realitätsnäherere Gegenpol zusätzlich im Rückzugsort auftaucht. Wem und was ist zu trauen, wem kann man Glauben schenken?

Zu allem Überfluss schlagen in diesem emotionalen und informatorischen Chaos auch noch die Hormone zu und führen vollends zum Overload. Denn der ebenfalls im Compound wohnende Sohn eines Verbündeten ihres Vaters weckt immer stärkere Gefühle in der rebellierenden Teenagertochter, die sich doch vielleicht auch anpassen muss, um in der Gemeinschaft zu überleben.

Fazit

Überleben ist alles ist ein Roman, der den zwiespältigen Geist des Preppertums sehr gut einfängt. Wo hört Vorsorge auf, wo beginnt der Wahn? Was ist noch gesundes Misstrauen, was schon Verschwörungsgläubigkeit und wie funktionieren die Dynamiken in einer von der Außenwelt abgekoppelten Blase? Ewan Morrison erkundet es in seinem Roman, der weniger durch eine handlungsgetriebene Spannung, als vielmehr durch die Schilderung der diffusen (Gefühls)Lage außerhalb des Lagers und innerhalb in der Gemeinschaft, Haleys Familie und ihr selbst überzeugt.

Ein Roman, der hoffen lässt, dass die nächste Pandemie noch auf sich warten lässt. Denn das Überleben in der hier geschilderten Variante, es scheint auch kein sonderlich erstrebenswerter Weg aus der Krise zu sein.


  • Ewan Morrison – Überleben ist alles
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47465-5 (Suhrkamp)
  • 438 Seiten. Preis: 18,00 €
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Katharina Köller – Wild wuchern

Eine Alm fernab alle Heidi und Geißenpeterklischees, die zum Ort weiblicher Selbstermächtigung und der Verarbeitung von Traumata wird. Katharina Köller schickt in ihrem neuen Roman Wild wuchern eine junge Frau überstürzt dort auf den Berg hinauf, um sich auf der Alm nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch ihrer Cousine zu stellen.


Ebenso überhastet wie Köllers Heldin Marie in Wien in den Railjet in Richtung Bregenz springt, stürzen wir in den Text der 1984 geborenen Österreicherin Katharina Köller hinein. Was ist der Grund für die atemlose Flucht, wer ist diese Marie eigentlich? Noch bevor die zentralen Fragen geklärt werden können, stolpert die junge Erzählerin schon im Dunklen einen Berg in Tirol hinauf, wo ihre Cousine Johanna eine Hütte bewohnt.

Dort oben kommt sie langsam zur Ruhe. Allmählich klären sich die Hintergründe für ihre atemlose Flucht aus Wien – doch damit ist es noch lange nicht gut für Marie. Denn so einfach lässt es Johanna auch nicht zu, dass Marie in ihr gewohntes Leben dort oben am Berg einbricht. Besser heute als morgen würde die wortkarge Johanna Marie wieder los, was diese aber keinesfalls möchte. Und so beginnt dort oben auf der Alm ein Kammerspiel mit den beiden Frauen, in dem auch Stück für Stück Verdrängtes oder Verschwiegenes wieder ans Tageslicht drängt.

Ein Kammerspiel auf der Alm

Sie hebt ihren Becher und stößt gegen meinen, und nachdem wir beide einen großen Schluck genommen haben, stopft sie die Pfeife nach, zündet sie an und reicht sie mir. Ich inhaliere, so tief ich kann, und muss dann doch husten. Es kratzt.

„Nicht so gierig“, sagt sie und inhaliert wie ein Profi. Wie kann sie auf einmal so cool sein? Wer ist sie? Wer ist Johanna eigentlich?

Sie schenkt mir Tee nach, den ich verschütte, als ein neuer Hustenkrampf mich packt.

„Überall, wo ich hingeh, vergifte ich die Welt“, würg ich hervor. Sie putzt die Tischplatte, während ich nach Luft schnappe.

Katharina Köller – Wild wuchern, S. 160

Man merkt, dass Katharina Köller ähnlich wie zuletzt Suzie Miller mit Prima Facie ein von ihr geschriebenes Bühnenstück hier als Roman noch einmal neu adaptiert. Drei Jahre zuvor fand das Theaterstück 2022 unter dem Titel Windhöhe zur Uraufführung, ehe Köller draufhin das Buch noch einmal neu zu einem Roman arrangierte.

Auch im Buch vermittelt sich die Enge und die gespannte Stimmung zwischen den Schwestern dort oben auf der Alm ganz hervorragend, wie es auch auf der Vorgängerversion auf der Bühne funktioniert haben muss (in der die Theatermacherin nach eigenem Bekunden die Rolle der Marie spielte und schon damals den Beschluss fasste, den Stoff als Roman noch einmal neu zu arrangieren).

Gewitter auf der Alm

Katharina Köller - Wild wuchern (Cover)

Wild wuchern lebt von seiner Atmosphäre. Packend etwa der Showdown im Gewitter auf der Alm, wenn Marie nicht auf ihre Cousine hören will und trotz Warnung länger draußen auf der Wiese verharrt und so die Kräfte der Natur in der Bergwelt kennenlernt. Durchaus amüsant hingegen das Gegeneinander von Ziegenbock Hubsi und Marie, in dessen Stall sich die junge Frau kurzzeitig flüchtet, als ihre Cousine Marie wieder loshaben möchte. Flucht und Ruhe, Städterin und Almbewohnerin, Rettung am Berg und Sorgen drunten im Tal, Pechmarie und Goldmarie – Wild wuchern arbeitet mit vielen Dichotomien, die sich aber gut miteinander verbinden und mischen.

Ebendiese Mischung aus Themen, Tönen und Stimmungen, der untergründige Suspense und Köllers Gespür für die unterschiedlichen Register des Erzählens machen diesen Roman aus.

Fazit

So ist Köllers Roman ein Stück über weibliche Selbstermächtigung und Solidarität. Auch die die Ver- beziehungsweise Aufarbeitung von Traumata ist zentrales Thema in diesem Text, der sich manchmal fast überschlägt und doch in die Tiefe seiner Figur vordringt. Schnell erzählt, relevant und eindrucksvoll hat sich Katharina Köller speziell zu ihrem Erstling Was ich im Wasser sah noch einmal gesteigert, da dieser Buch in seiner ganzen Reduziertheit und Konzentration in Sachen Gestaltung das klare Gegenteil von Wild wuchern ist. Durch den klaren Fokus auf seine beiden Figuren entfaltet dieses Buch wirklich literarische Kraft!


  • Katharina Köller – Wild Wuchern
  • ISBN 978-3-328-60392-4
  • 204 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos

Die profilierte Literaturkennerin Michi Strausfeld betreibt in ihrem Sachbuch Die Kaiserin von Galapagos literarische Landeskunde in Sachen Südamerika. Sie stellt den so vielfältigen und spannenden Kontinent mit seinen vielen Facetten vor und geht dabei weit zurück in der Geschichte, um die deutsch-südamerikanischen Beziehungen zu beschreiben. Vor allem zeigt sie dabei, dass das aktuelle Desinteresse an der von dort stammenden Literatur ein großer Fehler ist und es so viel zu entdecken gäbe.


„Bitte seien Sie nachsichtig mit den Deutschen. Sie sind die letzten Entdecker Lateinamerikas“. So augenzwinkernd begrüßte Hans Magnus Enzensberger 1976 die Delegation Lateinamerikas, die im Rahmen des Gastlandauftritts der Frankfurter Buchmesse eingeladen worden war.

Knapp fünfzig Jahre später könnte man wieder auf diese Worte zurückgreifen. Denn viel ist (schon wieder) nicht mit Südamerika und dem deutschen Buchmarkt. So ist immer noch das prägende Label, das man hierzulande mit der südamerikanischen Literatur verbindet, das des Magischen Realismus, unter dem man die Werke von Autoren wie Gabriel Garcia Marquez oder Isabel Allendes zusammenfasste (obschon dieses Label in den seltensten Fällen wirklich zutraf, wie Strausfeld kritisch anmerkt).

Südamerika – mehr als Magischer Realismus

Noch heute fällt dieses Schlagwort, obschon die Generation des Magischen Realismus langsam, aber sicher ausstirbt. Mit Mario Vargas Llosa ist jüngst eine weitere markante Stimme Südamerikas für immer verstummt. Aber warum ist das Interesse an der südamerikanischen Literatur nach einem Boom dieser Erzählstimmen in den ausgehend von den 80er Jahren bis in die 90er Jahre hinein versiegt – und was verpassen wir durch dieses Desinteresse?

Um die Vielfalt und Bedeutung Südamerikas besonders für Deutschland herauszustellen, greift Michi Strausfeld weit aus. Zurückgehend bis ins 16. Jahrhundert erzählt sie vom Kaiser des Deutschen Reichs Römischer Nation, Karl V., der zugleich spanischer König war und als Reisekaiser viele Kriege führte, zu deren Finanzierung er Südamerika nutzte. Die Fugger bekamen von ihm im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung Ländereien in Chile, den Welsern wurde ein Lehen in Klein-Venedig, sprich Venezuela, zugesprochen.

So begannen Handelsbeziehungen zwischen den Kontinenten, die oftmals aber eher Ausbeutung denn Austausch auf Augenhöhe waren. Immer wieder zog es Deutsche nach Südamerika, um dort zu forschen, zu missionieren oder ihr Glück zu finden.

Deutsch-lateinamerikanische Beziehungen

Michi Strausfeld - Die Kaiserin von Galapagos (Cover)

Bis hinein in die Gegenwart reichen diese Beziehungen, etwa als deutsche Impfgegner den Coronamaßnahmen hierzulande entgehen wollte und in Südamerika von deutschen Auswanderern gegründete Städte aufsuchten, um ihren neuen Lebensmittelpunkt dorthin zu verlegen (was bei den alteingesessenen Auswanderern nicht immer auf Gegenliebe stieß).

Eines der vielen illustren Beispiele, mit dem Strausfeld zeigt, wie seit den Tagen Karls V. Deutschland von Südamerika profitierte oder profitieren wollte.

Besonders aufsehenerregend war dabei sicherlich der Fall, der Strausfelds Buch den Titel leiht. Denn die teilweise auch im Reichsbürgermilieu verhafteten Impfgegner unserer Tage, die in Südamerika eine neue Heimat suchten, sind keineswegs ein Phänomen der Jetztzeit. Schon neunzig Jahre zuvor versuchte die österreichische Hochstaplerin Eloise Wagner de Bousquet auf der Insel Floreana im Galapagos-Archipel ein eigenes Kaiserreich auszurufen, in dem sie herrschen konnte. So sorgte die schillernde Betrügerin mit ihren Plänen für ein Luxushotel dort auf Floreana für Aufsehen, Kopfschütteln und Neugier.

Die Kaiserin von Galapagos

Aus den Fantastereien der „Baron“ als Kaiserin von Galapagos wurde ein Phänomen, das auch heutzutage noch die Fantasie vieler Menschen anregt. Denn dort auf der Insel kam es zum rätselhaften Verschwinden und möglichen Todesfällen, die bis heute im Zeitalter des True Crime-Fiebers hochgradig faszinieren.

So kam jüngst die von Ron Howard verfilmte Deutung der Ereignisse damals auf Floreana ins Kino – und mit Postlagernd Floreana legte die Büchergilde das Buch der Zeitzeugin Margaret Wittmer neu auf, die damals selbst auf der Insel unter der Herrschaft der Kaiserin von Galapagos lebte.

Solche Anekdoten um mal bekanntere und mal in Vergessenheit geratene Figuren (etwa den aus Augsburg stammenden Maler Johann Moritz Rugendas, dessen Schicksal der Chilene Carlos Franz in seinem großartigen und ebenso unbekannten Roman Das Quartett der Liebenden ausdeutet) reichern dieses in chronologisch voranschreitenden Beschau der deutsch-südamerikanischen Beziehungen an.

Neben Platz für Geist und Esprit geht Michi Strausfeld in Die Kaiserin von Galapagos aber auch den dunklen Seiten der Beziehungen nach, insbesondere dem Untertauchen von NSDAP-Funktionären und Tätern durch die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika, wo Täter wie Klaus Barbie oder Josef Mengele weiter unbehelligt leben konnten und teilweise sogar jüdische Auswanderer, die dem deutschen Terror entfliehen wollten, in deren Exil noch bedrängen konnten.

Eine kurzweilige Beschau

Die südamerikanische Begeisterung für den Faschismus, aber auch Widerstand und das Engagement für jüdisches Leben, all das findet Platz in dieser kurzweiligen Beschau einer komplizierten und dieser Tage wieder sehr brachliegenden Beziehung, in der zwar der Handel noch eine Rolle spielen mag, die Kultur aber längst schon einmal mehr aufs Abstellgleis geraten ist, sodass Enzensbergers Worte von 1976 wieder Aktualität genießen.

Dass aber auch nach den Granden der Hochzeit der südamerikanischen Literatur noch so viel zu entdecken ist, auch das zeigt Strausfeld gelungen. So macht sich ja nicht nur, aber besonders auch der Suhrkamp-Verlag stetig daran, die internationale Literatur von dort zu stärken und neben Klassikern wie Isabel Allende auch die junge südamerikanische Literatur von Samanta Schweblin über Benjamin Labatut bis hin zu Geovani Martins zu präsentieren.

Mein Wunsch: Lateinamerikaner und Deutsche mögen sich wieder mehr füreinander interessieren und mehr miteinander reden. Und Politiker den Kontinent endlich gebührend wertschätzen.

Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos, S. 238

Fazit

Dass Politik eben auch Kulturpolitik ist und eine Belebung des ehemals florierenden und aktuell so sträflich vernachlässigten Kulturaustausches wieder reiche Frucht bringen könnte, das macht Strausfelds Buch deutlich. Die Kaiserin von Galapagos ist ein wichtiger Aufschlag und ein lesenswerter wie profunder erster Schritt, um die Beziehungen wieder zu belegen – Aquí vamos!


  • Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos. Deutsche Abenteuer in Lateinamerika
  • ISBN 978-3-911327-05-3 (Berenberg)
  • 264 Seiten. Preis: 26,00 €
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Yannick Dreßen über Meravliagiosa Creatura

Fünf Jahre ist es her, dass der vom Blogger Tobias Nazemi initiierte Bloggerpreis Blogbuster das letzte Mal über die Bühne ging. 15 Blogger*innen fungierten damals als eine Vorjury, an die sich Autor*innen mit ihren bislang unpublizierten Manuskripten wenden konnten. Diese sichteten die eingegangenen Texte und schickten den aus ihrer Sicht besten Text auf die Longlist, aus der eine Fachjury, bestehend aus Verlegern, Kritikern und Literaturagenten dann einen Siegertext kürte. Dieser wiederum erhielt dann einen Platz im Programm des am jeweiligen am Preis beteiligten Verlagshäuser, wie etwa Klett-Cotta oder Eichborn.

Drei Mal ging der Preis über die Bühne – und im bislang letzten Preisjahr 2020 wurde mir die Ehre zuteil, auch Teil der Bloggerjury beim Blogbuster zu sein. Zahlreiche Einsendungen von Manuskripten fanden den Weg zu mir. Alle nahm ich in Augenschein und entschied mich schlussendlich für das Manuskript von Yannick Dreßen, das damals noch den Titel Verdichtet trug.

Darin erzählt er die Geschichte eines Autors, der sich in zwei unterschiedlichen Welten wiederfindet. Realität und Wahn fließen ineinander über, sodass man beständig in seiner Beurteilung der Lage schwankt. Liegt der Mann delirierend in einem Krankenhausbett oder ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, der in Italien urlaubt und der sich bei seiner Arbeit in die Welt des Delirierenden imaginiert? Ein reizvolles Wechselspiel nimmt seinen Ausgang, das ich gerne in der Endrunde des Preises schicken wollte.

Auch wenn das Buch damals nicht den Sieg errang, so war ich dennoch gespannt, wie es weitergehen würde mit dem Text, schließlich schafften es immer wieder Teilnehmer*innen aus dem Umfeld des Preises in ganz unterschiedliche Verlagsprogramme.

Jahre und einen Podcast später überbrachte mir Yannick auf der Frankfurter Buchmesse im vergangene Jahr die frohe Kunde, dass es auch bei ihm geklappt hatte und ein Verlag für sein Buch gefunden war. Nun ist das damalige Manuskript tatsächlich zu einem echten Buch geworden.

Grund genug, mich mit Yannick über die Geschichte und den Werdegang seines Romans Meravigliosa Creatura zu unterhalten!


Lieber Yannick, nimm uns doch einmal mit zur Entstehung deines Romans. Wie hat das mit dir und deinem Roman angefangen? Welche Überlegungen und Gedanken haben dich dazu verleitet, einen Roman zu schreiben?

Da müssen wir wirklich sehr weit zurückgehen, und zwar ins Jahr 2007. Ich habe schon in jungen Jahren viel und gerne geschrieben, aber in der Jugend rückten dann für lange Zeit erst einmal andere Interessen in den Fokus. Erst mit Anfang 20 wurde die Leidenschaft für Literatur und auch fürs Schreiben neu entfacht. Nach einigen Gedichten und Kurzgeschichten hatte ich schließlich die Idee zu diesem Roman, in dem es um zwei entgegengesetzte aber vermeintlich reale Welten gehen sollte, die ich dann auf circa 50 Seiten ausführte. In den folgenden Jahren habe ich die Geschichte immer wieder bearbeitet, weitergesponnen und umgeschrieben, auch wenn das Grundgerüst bis heute dasselbe blieb.

2012 habe ich die Geschichte mit damals rund 100 Seiten sogar zeitweise in einem Selbstverlag publiziert. Danach habe ich sie lange ruhen lassen und erst zum Blogbuster Preis 2019 wiederhervorgeholt. Uwe Kalkowski, dem ich das Manuskript damals zugeschickt hatte, schrieb mir netterweise seine Gedanken dazu, woraufhin ich intensiv daran weiter feilte. Ein Jahr später ging die Geschichte dann in gänzlich neuem Gewand zu dir in die Runde.

Ich selbst bin dann auf dein Manuskript im Rahmen des „Blogbuster“-Preises gestoßen, bei dem Autor*innen dazu aufgerufen waren, unveröffentlichte Manuskripte an teilnehmende Literaturblogger zu schicken, die sich dann für eines der Manuskripte entschieden, das sich dann der letztendlichen Auswahl einer Fachjury stellen sollte. Nun liegt der Wettbewerb ja schon wieder ein paar Jahre zurück – wie ist es dir seither ergangen und welche Wege hat das Manuskript dann genommen, ehe wir alles es nun lesen können? Und vor allem – wie fühlt es sich an, sein Buch erstmals in Händen zu halten?

Das Gefühl, dieses Buch endlich in den Händen zu halten, nach beinahe 18 Jahren, nach so vielen Fassungen und Überarbeitungen, nach so vielen Rückschlägen und Enttäuschungen … das kann ich nicht beschreiben. Das ist einfach nur unglaublich. Ich habe immer an die Geschichte geglaubt und war einfach davon überzeugt, dass auch andere es mit Freude lesen würden. Leider sahen das viele Verlage erst einmal nicht so. Nachdem du mein Manuskript auf die Longlist des Blogbuster Preises gesetzt hattest, begab ich mich intensiv auf Verlagssuche, erhielt aber eine Absage nach der anderen.

Das war natürlich enttäuschend, aber irgendwie habe ich mich nicht entmutigen lassen, habe nochmal viel Zeit in die stilistische Überarbeitung investiert und ganz nebenbei noch ein neues Ende gefunden. Als ich es dann schließlich fertig wähnte, habe ich mich nochmal auf die Suche nach Verlagen begeben und kul-ja! publishing gefunden, die sofort von der Story begeistert waren und die Geschichte unbedingt veröffentlichen wollten. Vom Verlagsvertrag bis zur Veröffentlichung vergingen aber nochmal mehr als anderthalb Jahre.

Begibt man sich in die Welt – oder besser die Welten – von Meravigliosa Creatura, stellt man schnell fest, dass Realität und Fantasie sowie deren Grenzbereiche eine große Rolle spielen. Denn die Welt des Autors Friedrich könnte fragiler sein, als es zunächst den Anschein hat. Er wird sich – ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten – in einer anderen Welt wiederfinden als in der Toskana, in der er sich eigentlich mit seiner Familie befindet. Was hat dich am Spiel mit den zwei Realitätsebenen gereizt? Und wie bist du bei der Konstruktion dieser Welten vorgegangen?

Gereizt hat mich schon immer dieses Konstrukt der Realität, das wir auf unserer Wahrnehmung aufbauen und als unverrückbar erachten, das aber vielleicht nicht so stabil ist, wie wir annehmen. Denn was ist eigentlich Realität? Woraus besteht sie? Gibt es womöglich verschiedene Realitäten? Und welche Rolle spielen Erinnerungen dabei, die letztlich zu Bausteinen unseres Lebens werden? Ist ihnen zu trauen? Können Menschen dieselben Ereignisse erleben und trotzdem anders wahrnehmen? Was ist dann eigentlich wirklich wahr? Schmieden wir uns alle also wirklich nur eine Geschichte, die wir als wahr erachten, obwohl ein anderer Fokus oder Blickwinkel eine ganz andere Geschichte kreieren würden? Das sind Themen, die mich seit jeher reizen.

In Texten tritt noch eine völlig neue Dimension hinzu, nämlich die der Fiktion. Obwohl jeder weiß, dass man nur einen Text liest, akzeptiert man keine Unklarheiten. Der Kopf fordert auch hier eine klare Kausalität, eine Erzählstimme, die einen führt und leitet. Und das war für mich die Idee, anhand fiktionaler Welten Gegensätzliches zum Leben zu erwecken, also zwei verschiedene Realitäten zu erschaffen, die der Kopf nicht akzeptieren kann.

Durch lebendige Personen und Welten, besonders durch Perspektivwechsel habe ich versucht, beiden Welten den Anstrich von Realität zu verleihen. Da man als Leser aber auf Bestimmtheit pocht, will man wissen, welche Welt denn nun die „reale“ ist. Dieses Geheimnis zu lüften, bleibt jedoch dem Leser überlassen. Wenn man über den Schluss hinaus noch über diese Welten nachdenkt, habe ich erreicht, was ich wollte.

Nun spielt ein großer Teil deines Buchs ja auch in der Literaturbranche. Friedrich hat den Deutschen Buchpreis gewonnen und versenkt sich mit großer Wonne in Büchern und deren Sprache. Du selbst beschäftigst dich als Autor, Podcaster und Kritiker auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit der Welt der Literatur. Was macht diese in deinen Augen so faszinierend, dass du auch deinen Roman in dieser Welt spielen lässt?

Die Welt der Literatur ist eine ganz besondere. Hier sind der Freiheit beinahe keine Grenzen gesetzt. Genauso wie Friedrich finde ich es erst einmal erstaunlich, wie aus nur 26 Buchstaben tausende Wörter entstehen können und aus diesen tausenden Wörtern unzählige eigenständige Welten, obwohl das alles ja nur Striche und Punkte sind, die wir mit Bedeutung aufgeladen haben. Wenn man aber diese Zeichen zu deuten weiß, hebt man einen unermesslichen Schatz. Denn man kann in tausende andere Leben eintauchen, sieht andere Kulturen und Meinungen, entwickelt Empathie und Verständnis für das, was man vielleicht vorher nicht gesehen hat.

Wenn man liest, begibt man sich auf eine Reise, bei der man Erfahrungen und Erlebnisse abseits der eigenen kennenlernt, eine Reise, bei der man andere Lebenswege beschreiten darf, neue Blickwinkel erhascht und in Umstände schlüpft, die den eigenen Horizont erweitern. Literatur zeigt uns fremde Wirklichkeiten, unterschiedliche Kulturen und Traditionen, aber auch untergegangene, phantastische und mögliche Welten und lässt uns so die Vielfältigkeit des Lebens erkunden. Durch die Literatur hinterfragen wir schließlich das Leben, das wir führen und als so selbstverständlich erachten. Durch sie hinterfragen wir letztlich uns selbst.

„Sprache war alles und alles war Sprache“ heißt es an einer Stelle in deinem Roman, der ja auch selbst durch Sprache und viele Bilder besticht. Wie bist du vorgegangen, um eine Sprache für deinen Roman zu finden und zu entwickeln?

Die richtige Sprache für den Roman zu finden, hat mich 15 Jahre gekostet. Die Geschichte war von Anfang an dieselbe, die Sprache hat sich im Laufe der Zeit jedoch stark geändert. Mit der Sprache steht und fällt alles, denn Sprache ist nunmal wirklich alles, besonders natürlich in einem Roman, der nur aus Sprache besteht. Mit Sprache erschaffe ich Leben. Mit Sprache erschaffe ich Realität, übrigens nicht nur im Roman, sondern auch außerhalb, also in unserem Denken, das unsere Realität kreiert. Ich bin der Überzeugung, dass Sprache die außersprachliche Wirklichkeit determiniert, also maßgeblich unsere Realität erschafft, in der wir leben.

Anhand der Sprache versetzen wir uns in diese Welt hinein, fühlen und erleben sie. Wir benennen die Dinge und begreifen sie durch Begriffe. Sprache ist also der wichtigste Bauteil beim Kreieren einer vermeintlichen Realität. Da es im Roman selbst um ebenjene Themen geht, also um einen Dichter, der sich mit dem Verhältnis von Sprache und Realität auseinandersetzt, musste auch die Sprache des Romans diesen Konflikt abbilden. Aus diesem Grund ist sie aufgeladen, doppelbödig, träumerisch, voller Bilder und Metaphern.

Meravigliosa Creatura steckt ja voller Anspielungen und Bezüge. Von Ludwig Wittgenstein bis hin zu E.T. A. Hoffmann reicht der Bogen an Zitaten und Verweisen, die sich im Roman finden lassen. Welche Werke oder Autorinnen hatten für dich persönlich den größten Einfluss auf die Geschichte?

Ich selbst empfinde die größte Freude beim Lesen, wenn ich Anspielungen, Verweise und Zitate, intertextuelle oder auch autoreferentielle Bezüge erkenne. Literatur ist ein großer Flickenteppich, alles ist miteinander verwoben und daher voller Zeichen, die mehr als das Gesagte bedeuten können, Zeichen, die auf etwas anderes deuten und verweisen, also eine Metaebene beinhalten. Ähnlich wie William von Baskerville in Umbertos Ecos Der Name der Rose muss man die Zeichen deuten und sich auf Spurensuche machen, um das Ganze zu erfassen. In der Tat habe ich mich deswegen viel mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie auseinandergesetzt, mehr und weniger verdeckte Zitate und Anspielungen eingebaut.

Zudem wird natürlich auf einige literarische Werke referiert. Dabei haben mich besonders Leo Perutz und seine Werke geprägt, in denen stets ein unzuverlässiger Erzählerauftritt und man nie genau weiß, was da eigentlich „wirklich“ geschieht und ob man dem Erzählten trauen kann. Den größten Einfluss auf mich hatte aber wohl von Anfang an die tragische Liebesgeschichte von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard, auf die hier, natürlich in großer literarischer Freiheit, angespielt wird. Letztlich ist es ein Spiel mit dem Leser, der nichts von all den Anspielungen und Zitaten erkennen muss, um die Geschichte mit Freude lesen zu können, dem aber vielleicht ein Lächeln über die Lippen huscht, wenn er etwas erkennt.

Nun, da das Buch nun in der Welt ist, gibt es etwas, das du deinem Buch wünschst oder das du dir als Schriftsteller wünschst?

Dieses Buch allein in den Händen zu halten, ist der größte Erfolg, den ich feiern darf. Das habe ich mirmehr als 17 Jahre lang ausgemalt. Natürlich wünscht man sich als Autor, dass die Werke auch gelesen werden, dass sie Gefallen finden und Aufmerksamkeit erregen. Aber darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Ich habe dieses Kind nach 17 Jahren Schwangerschaft zur Welt gebracht, mehr kann ich nicht verlangen – außer natürlich wie Friedrich den Deutschen Buchpreis zu gewinnen und mir dann ein Strandhaus in der Toskana zu kaufen, um mich voll und ganz dem Schreiben zu widmen. Das natürlich schon, aber mehr nicht 🙂

Als Schriftsteller wünsche ich mir die Zeit und Freiheit, weiterschreiben zu können. Im meist hektischen Alltag ist Zeit zu einem kostbaren Gut geworden und vom Schreiben leben zu können, ist ein Privileg, in dessen Genuss nur sehr wenige gelangen. Da mache ich mir keine Illusionen. Deswegen hoffe ich, dass es nicht wieder 17 Jahre zum nächsten Roman dauern wird. Aber glücklicherweise habe ich bereits vor 14 Jahren einen zweiten Roman geschrieben. Blieben also noch 3-4 Jahre übrig, bis er komplett überarbeitet und geschliffen in den Buchhandlungen steht. Das wäre doch toll!

Yannick Dreßen - Meravigliosa Creatura (Cover)

Dafür drücke ich die Daumen und bedanke mich für das Interview! Dir viel Erfolg mit deinem Buch und allem, was da noch so kommt. Ich bedanke mich auch für das Vertrauen, mir das Manuskript einst zuzusenden und freue mich über alle Entdeckungen, die die Literaturwelt noch für dich bereithält!

Wer jetzt neugierig geworden ist auf Yannicks doppelbödige Geschichte – hier die Daten zum Buch:

  • Yannick Dreßen – Meraviligiosa Creatura
  • ISBN 978-3-949260-39-1 (kul-ja! Publishing)
  • 220 Seiten. Preis: 17,00 €
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Geovani Martins – Via Apia

Gibt es Hoffnung in den Favelas? Liest man Via Apia, den Romanerstling des brasilianischen Schriftstellers Geovani Martins, dann ist man geneigt, diese Frage mit Nein zu beantworten. Denn mögen sich auch die Herrschaftsverhältnisse ändern, die Polizei in den Slums in Rio einrücken – viel Veränderung oder gar Besserung bringt all das nicht. Mag zwar die Versorgung mit bewusstseinserweiternden Substanzen reibungslos funktionieren, so mangelt es aber entscheidend an Hoffnung. Starke Lektüre, die Elemente des Kriminalromans und der Gesellschaftsanalyse vereint und in der Tradition der Romane eines Richard Price steht.


Bei Via Apia handelt es sich um eines jener Bücher, bei denen man während der Lektüre nicht zu tief einatmen sollte. Denn die Gefahr von passivem Kiffen oder anderweitigem Drogenkonsum ist hier durchaus gegeben. Martins Protagonisten rauchen den Tag Cannabis oder konsumieren Kokain. Die Drogen sind überall und allezeit verfügbar. Das ist aber auch schon so ziemlich das einzige, was in den Favelas reibungslos funktioniert. Deutlich schlechter sieht es aus, wenn es um die Frage von Perspektiven und Hoffnungen für die Bewohner von Rocinha geht.

Perspektivlosigkeit in Rocinha

Geovani Martins - Via Ápia (Cover)

Diese in Rio de Janeiro gelegene Favela ist die größte ihrer Art in ganz Lateinamerika, wie es in einer Stelle im Roman heißt. Sie bildet den Hintergrund (oder vielmehr fast den Vordergrund) von Martins Geschichte, mit der er sich nach seiner Kurzgeschichtensammlung erstmals an die Langform eines Romans wagt.

Mehrere Figuren stehen im Mittelpunkt seines Romans, die sich in Rocinha immer wieder über den Weg laufen und miteinander interagieren. Sie machen gemeinsam Party, konsumieren haufenweise Drogen leben überwiegend in den Tag hinein. Denn so etwas wie wirkliche Perspektiven für die jungen Männer gibt es kaum. Man verdingt sich im Betreuungsservice für Kindergeburtstage von Oberschichtenkids, dient im Militär, versucht sich als Tätowierer oder findet eine Anstellung im Service eines Restaurants. Solche Momente zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation sind aber rar gesät.

Denn auch wenn der Roman im Sommer 2011 spielt und die Stadtregierung darum bemüht ist, das Treiben in Rocinha und den anderen Favelas der Stadt angesichts der bevorstehenden olympischen Spiele zu disziplinieren, um ein positives Bild der Stadt zu zeichnen – es mag alles nicht fruchten. Zwar ziehen sich die eigentlichen Machthaber im Viertel zurück, das Militär rückt ein, um die Favela zu „säubern“ – die Hoffnungslosigkeit bleibt, allzu tief ist doch sie doch auch schon in die jungen Menschen dort eingeschrieben. Seine Herkunft kann man nicht verleugnen, egal wie viel Haschisch oder Kokain man auch konsumieren mag.

Drogen als verbindendes Element der Favela-Gesellschaft

Ähnlich wie in seinen zuvor erschienenen Kurzgeschichten oder Martins Landmann José Falero in seinem Roman Supermarkt zeigt auch Martins in Via Ápia wieder die Drogen als verbindendes Element der Gesellschaft, gegen die jeglicher Kampf aussichtslos scheint. Die Drogen als Währung und System, das vom organisierten Verbrechen schon längst auf die Zivilbevölkerung übergegriffen hat und die Favela durchsetzt hat, das erinnert auch stark an die Romane von Ryan Gattis und insbesondere an die Werke von Richard Price, die wiederum stark die Entstehung von Serien wie The Wire beeinflussten.

Liest man Geovani Martins Roman, so wirkt dieser an vielen Stellen wie die brasilianische Entsprechung dieser Art großstädtischer Milieustudie, nur dass es hier eben die schmutzigen Gassen der Favela sind, vor deren Hintergrund sich die großen und kleinen Deals des Lebens abspielen. Und ebenso mitreißend wie gutes Serienfernsehen ist auch die Erzählweise Martins, der immer wieder von einem der jungen brasilianischen Männer zum nächsten wechselt und so die Handlung in Via Ápia vorantreibt.

Fazit

Konnten mich seine Kurzgeschichten nicht wirklich für sich einnehmen, kommt Martins Talent für Milieuschilderungen und Hoffnungslosigkeit hier deutlich besser zum Tragen. Sein Roman drängt voran, schildert glaubhaft die Ausweglosigkeit des Lebens dort in Rocinha ebenso wie die ubiquitären Drogen, gegen die kein Kampf zu fruchten scheint.

Übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner ist Via Ápia ein starkes Buch, das hineinblickt in die Favelas und so neben Zuckerhut-Klischees und den politischen Volten einem Teil des täglichen Lebens in der brasilianischen Hauptstadt mit viel literarischem Drive Raum gibt.


  • Geovani Martins – Via Ápia
  • Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-518-43142-9 (Suhrkamp)
  • 333 Seiten. Preis: 25,00 €
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