In dieser Familie ist wohl wirklich der Dibbuk drin. Taffy Brodesser Akner schildert nach Fleischmann steckt in Schwierigkeiten in ihrem zweiten auf Deutsch vorliegenden Roman Die Fletchers von Long Island das Unglück, das sämtliche Mitglieder der Familie Fletcher erfasst, nachdem das Familienoberhaupt entführt wurde. Ein jüdischer Familienroman in der Tradition des Great American Novel.
Seit der Entführung des Familienoberhaupts Carl Fletcher vor der Haustür seines Anwesens in Middle Rock, einem Vorort von Long Island, scheint irgendwie der Wurm in der Familie drin zu sein – oder besser gesagt der Dibbuk.
Nach der Überlieferung ist ein Dibbuk eine elende Seele, die nicht in den Himmel aufsteigen kann, um Ruhe zu finden, sondern auf der Erde wandelt und in den Körper eines anderen Menschen schlüpft, dessen Seele sie verdrängt, um ihre letzten Aufgaben zu verrichten. Wenn in der Fabrik ein Kessel ausfiel, sagte Zelig, es sei ein Dibbuk im Getriebe. Wenn mehrere Kabel in kurzem Abstand rissen, war ein Dibbuk im Getriebe.
Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 40 f.
Dabei scheint von derlei Ungemach zunächst noch jegliche Spur zu fehlen. Denn die Entführung des Patriarchen geht einigermaßen glimpflich aus. Zwar ist das Lösegeld verschwunden, dafür kehrt Carl Fletcher wieder in die Arme seiner Frau Ruth und der drei Kinder heim. Doch dass so ein Dibbuk auch seine Zeit braucht, bis er sich bemerkbar macht, das beobachtet Taffy Brodesser Akner im Folgenden dieses von Sophie Zeitz übersetzen Romans ausgiebig.
Ein Dibbuk im familiären Getriebe
Denn nach dem vorangestellten Prolog mit der Entführung von Carl steigt Brodesser Akner mit einem Zeitsprung von gut vierzig Jahren in die erzählte Gegenwart ein. Carls Mutter Phyllis ist tot – und langsam beginnen die Fliehkräfte im Familiengefüge zu wirken, das eigentlich nur durch das Geld aus den Einnahmen der im Familienbesitz befindlichen Polystyrolfabrik zusammengehalten wird, das den Familienmitgliedern ein einigermaßen sorgenfreies Auskommen ermöglicht.
Doch die Sorgen nehmen zu. Denn Bernard, genannt Beamer, hat sich zum erfolglosen Drehbuchautor gemausert, der in seinen Werken stets das Thema der Entführung umkreist und nach einigen wenigen B-Movies mit immer weniger Erfolg nun im Stadium der völligen Antriebslosigkeit angelangt ist. Von Dominas lässt er sich malträtieren, balanciert aber auch haarscharf am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Seiner Schwester Jenny und seinem Bruder Nathan geht es da nicht unbedingt besser. Letzterer hat sich infolge der Entführung vollends zum Kontrollfreak und Versicherungsfetischisten gemausert, dem die Ruhe und Übersichtlichkeit seiner eigenen Existenz über alles geht. Und Jenny, die in Studienzeiten durch schiere Abwesenheit zur Revolutionärin wird und deren Schulaufsatz über das Schicksal eines Mastkalbs Ruth die passende Analogie zur Betrachtung ihrer Kinder liefert.
Plötzlich wurde Ruth klar, dass ihre Kinder wie dieses Kalb waren.
Sie waren ihr Leben lang gemästet worden, aber sie waren nie zu voll entwickelten Erwachsenen gereift. Sie hatten die Schwelle des Lebens erreicht, aber sie konnten nicht laufen. Und Ruth hasste sie dafür – sie hasste ihre Kinder auf eine Art, wie sie sie nur hassen konnte, weil sie sie liebte -, und jetzt erkannte sie, wie unausweichlich alles war. Nein, schlimmer: Sie erkannte, dass sie selbst die Urheberin ihrer Inkompetenz war.
Als Ruth im Wagen vor dem Brownstone saß, starrte sie ins Nichts.
Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 480
Ein jüdischer Familienroman
Die Fletchers von Long Island ist ein klassischer amerikanischer Familienroman, der im Fahrwasser von Jonathan Franzens Die Korrekturen, Paul Murrays Der Stich der Biene oder Ann Napolitanos Hallo, du Schöne schwimmt. Diese jüdisch-amerikanische Familie bestätigt zum wiederholten Male das klassische Tolstoi’sche Verdikt der Familie, die auf ihre eigene Art traurig ist.
Nacheinander beobachtet Bordesser Akner das Taumeln und Fallen ihrer Figuren, verbunden durch das mehrmals ans Kapitelende gesetzte, fragende Mantra: Was willst du machen? So sind die Reichen eben.
Besonders erkenntnisstark ist das freilich nicht und reicht kaum über eine Binse hinaus. Auch sind nicht alle Teile gleich gut geraten und sind qualitativ etwas unproportional. An manchen Stellen ruckelt es auch etwas vor sich hin – eben wie ein Dibbuk im Kessel. Dennoch folgt man dem Niedergang der Familie gerne und wohnt dem Wüten des Dibbuks bei, der hier recht unterhaltsam in der Familie Fletcher sein Unwesen treibt.
- Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island
- Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz
- ISBN 978-3-8479-0211-9 (Eichborn)
- 576 Seiten. Preis: 25,00 €