David Mitchell – Utopia Avenue

Ein altes Bonmot des Musikjournalismus lautet, dass das Schreiben über Musik dem Tanzen von Architektur ähnele. Auch in David Mitchells Roman Utopia Avenue greift der britische Schriftsteller diese Sentenz auf und zeigt zugleich, dass diese grundfalsch ist. Denn Mitchell macht in seinem Roman Musik erlesbar. So liefert er in seinem jüngsten Roman die mitreißende Biografie einer fiktiven britischen Band, erweckt die 60er Jahre eindrucksvoll wieder zum Leben und schreibt nebenbei gleich noch am eigenen literarischen Kosmos weiter.


Fiktive Biografien erfreuen sich unter britischen Schriftstellern großer Beliebtheit. William Boyd etwas erfand mit Nat Tate einen fiktiven Künstler, dessen Leben er in einer Biografie präsentierte und gleich hinterher mithilfe von Größen wie David Bowie oder Gore Vidal die passende Party zu Ehren seines fiktiven Protagonisten gab, auf der viele der Anwesenden schworen, Nat Tate selber zu kennen.

Auch David Mitchell bewährt sich nun in diesem Genre, obgleich er keine Täuschungsmanöver wie sein Kollege William Boyd durchführt. Aber mit seiner Biografie einer fiktiven Band schafft er es ungemein plastisch, vom Rock ’n Roll der 60er Jahre zu erzählen und eine Band zu kreieren, deren Existenz man durchaus Glauben schenken könnte.

Die Karriere von Utopia Avenue

David Mitchell - Utopia Avenue (Cover)

Aus Sicht der vier Bandmitglieder erzählt er von der Entstehung der unvergleichlichen Band Utopia Avenue, die sich durch das Zutun des Musikmanagers Levon Frankland in London gründet. Er bringt den in Geldnöten schwebenden Bassisten Dean Holloway, den Schlagzeuger Griff Griffin, die Folksängerin Elf Holloway und den ebenso eigenwilligen wie außergewöhnlichen Gitarristen Jasper de Zoet zusammen.

Den Bandfindungsprozess, das Ringen um künstlerische Identität und den steinigen Weg zum Erfolg schildert Mitchell ausgiebig und wechselt dabei auch immer wieder zwischen den Perspektiven der einzelnen Bandmitgliedern. Intensiv beschwört sein Roman die Atmosphäre des Swinging London in den 60er Jahren herauf. Die Welt der verrauchten Kneipen und Musikstudios in Soho ist diejenige, in der sich der Roman in der ersten Hälfte bewegt, ehe sich die Welt mit weiteren Platten und Touren für die Künstler*innen über den Atlantik hinweg weitet.

Eintauchen in die Musikwelt der 60er Jahre

Utopia Avenue begutachtet die Kennzeichen einer vergangenen Musikwelt lange vor Streamingdiensten und Handymitschnitten von Konzerten. Die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Band zu sein und neidvoll auf erfolgreiche andere britische Gruppen wie die Beatles oder die Rolling Stones zu blicken, das vermittelt Mitchell eindrücklich. Das mangelnde Verständnis im heimischen Umfeld, die Skepsis gegenüber diesen langhaarigen Musikern, die Kunst des Songwriting, Korruption im Musikbusiness und halbseidene Manager – all das greift sein Roman auf.

Zwischen Orten der Musikgeschichte wie dem Chelsea Hotel und dem Troubadour in Los Angeles und Cameos von Stars wie Frank Zappa bis hin zu David Bowie lässt einen der Roman tief in die Musikgeschichte eintauchen. Mitchell kreiert mit seiner fiktiven Bandbiografie einen in höchstem Maße unterhaltsamen Roman, der darüber hinaus noch ein wichtiger Baustein im Gesamtwerk von David Mitchell ist.

Verbindungen zu anderen Werken David Mitchells

Denn natürlich lässt sich Utopia Avenue völlig unabhängig von anderen Werken David Mitchells lesen. Noch mehr Spaß macht die Lektüre allerdings, wenn man schon in den Genuss früherer Werke von David Mitchell kam. Allen voran Der Wolkenatlas und Die tausend Herbste des Jacob de Zoet sind als Titel zu nennen, auf die der jüngste Roman des Briten vielfach rekurriert.

„Elf! Elf! ELF! Elf! Elf! ELF!“ Die Frau führte den Mund an Elfs Ohr. „Ich bin Luisa Rey vom Spyglass Magazine, aber das ist eine andere Geschichte – viel Glück und das Atmen nicht vergessen.“

Elf atmet. „Okay.“

David Mitchell – Utopia Avenue, S. 472#

Nicht nur Größen der Musikgeschichte bestreiten in Utopia Avenue Gastauftritt – auch einige Figuren aus David Mitchells anderen Werken haben hier ihre Auftritte und leben somit über frühere Bücher hinaus. Luisa Rey, die in der zitierten Szene Elf Mut zuspricht, kennt man schon aus Der Wolkenatlas, wo sie die zentrale Figur einer der sechs im Buch miteinander verknüpften Geschichten war. Dieses Prinzip spinnt Mitchell weiter, allen voran, wenn sich die Handlung aus dem historisch-fantastischen Roman Die tausend Herbste des Jacob de Zoet in diesem Buch weiterspinnt.

Denn die Vergangenheit, sie ist natürlich nie vergangen. Und wenn es im Wolkenatlas heißt, dass wir mit anderen in der Vergangenheit und der Gegenwart verbunden sind, dann gilt das natürlich nicht nur für den bekanntesten Roman von Mitchell, sondern auch für sein Gesamtwerk und damit auch für Utopia Avenue. Im Falle von Jasper ist es die Vergangenheit seiner Vorfahren in Japan zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich mit ihm verbindet und diesen Roman ganz Mitchell-typisch auch ein Stück ins Fantastische gleiten lässt.

Fazit

So zupft Utopia Avenue Handlungsbögen aus anderen Werken mal etwas direkter, mal in kaschierter Form an und fügt das Buch neben seiner solitären Lesebarkeit auch in das übrige vielgestaltige Werk David Mitchells ein, ohne dass die Lesbarkeit des Buchs in irgendeiner Form darunter leiden würde.

Utopia Avenue ist eine höchst unterhaltsame Zeitkapsel, die die 60er Jahre in Soho und an anderen zentralen Stellen der Musikkultur dicht erlebbar aufschließt und die von Mitchells Stammübersetzer Volker Oldenburg wieder einmal fabelhaft ins Deutsche übertragen wurde. Auch ohne Kenntnis anderer Werke David Mitchells ist das ein großer Lesespaß, der sich durch die Kenntnisse anderer Werke aber noch einmal verstärkt und auch das Bedürfnis weckt, (wieder) tiefer in seinen Erzählkosmos einzutauchen.

Und nicht zuletzt beweist er, dass es eben doch geht, über Musik zu schreiben und sie alleine mit Worten fast hörbar zu machen.


  • David Mitchell – Utopia Avenue
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-498-00227-5 (Rowohlt)
  • 752 Seiten. Preis: 26,00 €
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Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Bewusstseinsstrom im Takt des Big Ben. In ihrem vor hundert Jahren erschienenen Roman Mrs. Dalloway erprobt Virginia Woolf die Möglichkeiten des modernen Erzählens und erschafft so einen Roman, der dem Fluss der Gedanken, der Zeit und des Lebens Raum gibt. Literatur, deren Ästhetik auch heute noch verblüfft.


Nein, eine inhaltliche Zusammenfassung von Virginia Woolf Mrs. Dalloway muss eigentlich scheitern. Denn obschon der zeitliche Rahmen eines Tages eigentlich ganz klar umrissen ist, herrscht im Inneren dieses Rahmens ein wildes Durcheinander. So beginnt zwar alles mit Clarissa Dalloway, die sich zum Blumenkauf außer Haus begibt und durch die Straßen von London wandert. Damit lösen sich aber auch rasch sämtliche konkreten Bezüge auf. Schon nach wenigen Seiten hat Virginia Woolf die Leserinnen und Leser in einem wilden Literaturdschungel verstrickt, bei dem von den anfänglichen Gewissheiten rasch nicht mehr viel übrigbleibt.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war vorbei, außer für jemanden wie Mrs. Foxcroft gestern Abend in der Botschaft, die sich zu Tode grämte, weil dieser nette Junge umgekommen war und das alte Herrenhaus jetzt einem Cousin zufallen musste; oder Lady Bexborough, die, wie es hieß, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnet hatte mit dem Telegramm in der Hand, John, ihr Liebling, tot; aber es war vorbei; Gott sei Dank – vorbei. Es war Juni. Königin und Königin waren in ihrem Palast.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway, S 2 f.

Die anfänglich genauen Koordinaten leiten schon wenige Seiten später nicht mehr zielführend durch das Buch. Denn Virginia Woolf experimentiert unerschrocken mit Satzperioden, Perspektiven, wörtlicher und indirekter Rede, verschneidet innerer mit äußerer Handlung. So webt sie einen herausfordernden Sprachteppich, den Melanie Walz mindestens ebenso unerschrocken ins Deutsche übertragen hat.

Sie strich die Ecken der Papiere glatt, legte sie zusammen und verschnürte das Päckchen, fast ohne hinzusehen, saß nah bei ihm, neben ihm, als wären all ihre Blütenblätter um sie herum, dachte er. Sie war ein Baum in voller Blüte; und aus ihren Zweigen blickte das Gesicht eines Gesetzgebers, der eine Zuflucht gefunden hatte, wo sie niemanden fürchtete, weder Holmes noch Bradshaw – ein Wunder, ein Triumph, der letzte und größte.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Ein Tag im Juni in London

Virginia Woolf - Mrs. Dalloway (Cover)

Das Personal bildet einen Reigen, der von Clarissa Dalloway als Mitglied der gehobenen englischen Mittelschicht angeführt wird. Sie durchmisst Straßen und Plätze von Westminster und plant in Gedanken den abendlichen Empfang, zu dem sich kein geringerer als der Premierminister angesagt hat. Dann wiederum springt Virginia Woolf zu Peter Walsh, der Clarissa einst anbetete und es eigentlich noch immer tut.

Ärzte, Kriegsheimkehrer, Eheleute, alles wechselt sich ab, geht ineinander über und bildet das assoziative Grundrauschen dieses Romans, bei dem schnell nur noch die kontinuierlichen Schläge des Big Ben Indiz für das Verstreichen des Tages sind, den Woolf schildert. Diese Schläge sind einer der wenigen verlässlichen Bezüge auf die Außenwelt, die hier zugunsten der reichen Gedankenwelt von Woolfs Figuren in den Hintergrund tritt (und aufgrund derer der eigentlich geplante Titel The hours der treffendere gewesen wäre, ist doch der Personenreigen im Stundentakt das eigentliche Thema).

Ähnlich wie ihr irischer Schriftstellerkollege James Joyce nutzt auch Virginia Woolf in ihrem Roman ausgiebig die Erzähltechnik des Gedankenstroms, der durch den Roman leitet und in dem immer wieder einzelne Motive wie der Suizid oder die unerfüllte Liebe auftauchen und Figuren miteinander verbinden.

Ein Paradebeispiel der literarischen Moderne

Mrs. Dalloway fügt sich passgenau in die Moderne ein, die auf ganz unterschiedlichen Kunstfeldern vor hundert Jahren Blüten trieb. In Deutschland etwa verfasste Alexander Döblin sein bahnbrechendes Werk Berlin Alexanderplatz, das eine Ahnung vom Durcheinander im modernen Berlin der Zwischenkriegszeit gab. In der Kunst experimentierten Lyonel Feininger, Georges Braque oder Ernst Ludwig Kirchner mit Formen und deren Auflösung, Verfremdung und malerischem Ausdruck. In Wien brachen Arnold Schönberg und seine Schüler wie etwa Alexander von Zemlinsky das herkömmliche Tonsystem auf und entwickelten die Zwölftontechnik, die die bisher eingeübte harmonische Praxis vollends auf den Kopf stellte.

Virginia Woolfs Text ist das literarische Gegenstück zu diesen Entwicklungen in den anderen Kunstsparten. Ihr gelingt es mit Worten, herkömmliche Perspektiven und Lesegewohnheiten aufzubrechen und Leserinnen und Leser vor eine literarische Herausforderung zu stellen. Ihr fiebriges, unermüdlich in den Gedanken ihrer Figuren herumirrendes Werk ist eines, von dem auch heute noch Kreative zehren.

Wie dies aussehen kann, das zeigt auch die vorliegende Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die mit dem diesjährigen Gestalterpreis der Buchgenossenschaft ausgezeichnet wurde. So lieferten 26 Studierende und Alumni der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Illustrationen zu diesem Werk, die ebenso polyphon und vielgestaltig sind, wie es die Prosa von Virginia Woolf ist.

Leicht unterschiedliche Schrifttypen und eine Uhr anstelle von herkömmlichen Seitenzählungen unterstreichen den Fluss des Textes, der durch die Schläge des Big Ben strukturiert wird. Zahlreiche Fußnoten mit hilfreichen Erläuterungen zu Bezügen und Anspielungen in Woolfs Text runden das Lese- und Kunsterlebnis dieser Ausgabe ab. So zeigt sich wieder einmal, welche Kraft noch immer von dieser Mrs. Dalloway ausgeht und wie sie Kunst und Künstler inspiriert. Ein eindrucksvoller Beweis für die Modernität dieses Werks!


  • Virginia Woolf – Mrs. Dalloway
  • Aus dem Englischen von Melanie Walz
  • Artikelnummer 174707 (Büchergilde Gutenberg)
  • 368 Seiten. Preis: 32,00 €
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Gian Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos

Es ist ein Plan, der an Absurdität kaum zu überbieten ist. Der junge Francesco „Cesco“ Magetti soll im beschaulichen Asti nichts weniger als eine Karte zeichnen, die Die Eisenbahnen Mexikos verzeichnet – auf Befehl von ganz oben. Und so macht sich der junge Mann darin, inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs eine solche gewünschte Karte zu zeichnen, ohne jemals in Mexiko gewesen zu sein. Gian Marco Griffi macht aus dieser Ausgangslage einen Roman, der das Absurde, aber auch das Brutale und Gewalttätige in Zeiten des Faschismus grell ausleuchtet.


Asti ist eine Stadt im Norden Italiens, die man hierzulande sicherlich am ehesten für ihren Rot- und vor allem für ihren Schaumwein kennt. Im Piemont gelegen ist die Stadt nicht nur der Wohnort von Gian Marco Griffi – auch seinen Roman Die Eisenbahnen Mexikos siedelt er in dieser Stadt an.

Man tritt Asti nicht zu nahe, wenn man die Stadt nicht unbedingt als den Nabel der Welt bezeichnet. Regional gewiss von Bedeutung, weltpolitisch aber eher zu vernachlässigen ist die Stadt, die heute gut 73.000 Einwohner zählt. Bei Gian Marco Griffi konzentriert sich das ganze Schicksal allerdings auf jenen Ort, an dem der junge Cesco Magetti im Jahr 1944 beim Kommando der Republikanischen Nationalgarde der Eisenbahnen seinen Dienst tut.

Zahnweh und Zweiter Weltkrieg

Die Republik liegt in Schutt und Asche, die Nazis haben das Land besetzt, die Männer wurden zum Militärdienst eingezogen und um Cesco herum lösen sich alle Gewissheiten auf. Das ist für den jungen Mann dabei noch nicht einmal das Schlimmste. Denn zu allem Überfluss peinigt ihn Zahnweh, das ihn den Großteil des Romans über beschäftigen wird.

Es war eine üble Zeit. Ennio war desertiert, Luigi Bocca hatten sie versehentlich ins Ohrläppchen geschossen, Lehrer Pozzi hatte drei Finger seiner rechten Hand verloren und fluchte jedes Mal, wenn er zum Schreiben mit der linken herumfuhrwerken musste. Der König hatte Reißaus genommen, in den Zügen kamen Fahrgäste abhanden, der Barbier Gianni hatte ebenfalls Reißaus genommen, war auf irgendeinen Hügel gestiegen, um die Republik zu bekriegen, und im Viertel liefen alle mit ungemachtem Bart herum. Auch Pietro war desertiert, das Kino Gran Cinema Vittoria war geschlossen worden, mein Zahnarzt Grandi saß wegen Verrats im Gefängnis Le Nuove in Turin, und ich hatte seit drei Tagen Zahnweh.

Gian Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos, S. 9

Eigentlich aber sind die Zahnschmerzen das kleinste Problem des Nationalgardisten. Denn der bedauernswerte Magetti ist das Ende einer Befehlskette, die ihren Anfang in den obersten Kreisen der nationalsozialistischen Führung nahm. Schwer in die Defensive geraten meinen die Nazis nun aufgrund einer der vielen kuriosen und absurden Unwahrscheinlichkeiten in diesem Buch, das ausgerechnet im von Italien maximalweit entfernten Mexiko eine Wunderwaffe liegen soll. Ein geheimnisvoller Ort birgt sie, auf Karten findet er sich nicht. Ein Problem, das Cesco Magetti für die Machthaber lösen soll.

Eine Karte für die Eisenbahnen Mexikos

Gian Marco Griffi - Die Eisenbahnen Mexikos (Cover)

Die Anfertigung einer Karte, die diesen Ort ebenso wie die Eisenbahnen Mexikos beschreibt, endet bei ihm in so unmexikanischen Städtchen Asti. Als letzter Empfehlsempfänger in der Delegationskette macht er sich nun daran. die gewünschte Karte zu zeichnen. Über die Stadtgrenzen von Asti ist er allerdings nie wirklich hinausgekommen. Südamerikanischen Boden hat er erst recht nie betreten. Und so versucht er nun händeringend in der Provinz das zu beschaffen, was seine Vorgesetzten von ihm erwarten. Die Jagd nach hilfreichen Hinweisen gerät dabei aber zu einer Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten, die ihn zu Eisenbahndepots, Buchsammlern, in die Bibliothek und auf den Friedhof von San Rocco führt.

Dies bleibt beileibe nicht die einzige Verkettung von Ungemach und Schicksal. Die Eisenbahnen Mexikos ist voll von derlei wechselweise komischen und tragischen Verstrickungen, die die Figuren umfangen. Egal ob die Hintergründe für den absurden Plan der mexikanischen Eisenbahnkarte, die Jagd nach einem hilfreichen Buch oder die Befehlsketten der Nationalsozialisten – Gian Marco Griffi spürt mit viel Platz, Zeit und Detailfreude diesen Ketten nach.

Ausführlich erzählt er vom Wahnsinn, der mit dem Krieg einhergeht. Neben Himmelfahrtskommandos wie Cesco Auftrag als Kartograph sind es auch die Nazis, deren Gebaren der Roman auf komische, aber keineswegs lustige Art und Weise beschreibt, Immer schimmert durch alle Absurditäten, Fantastik und komische Momente auch die Brutalität des Kriegs durch. Egal ob in einer besondere Nazi-Entwicklungsabteilung in einer abgelegenen Villa im Elbtal oder dem Disput zweier golfspielender Soldaten auf dem Golfplatz.

Eine Mischung aus Absurdität, Verzweiflung, Komik, Gewalt und Slapstick

Es ist diese eigenwillige Mischung aus Absurdität, Komik, Verzweiflung, Gewalt und Slapstick, die Die Eisenbahnen Mexikos kennzeichnet. Immer wieder nimmt der Roman neue erzählerische Anläufe, nimmt unterschiedliche Perspektiven ein und lässt Originale wie einen Kornett spielenden Totengräber ihren Auftritt.

Ein stringentes und glaubwürdiges Leseerlebnis ist dieser 2023 für den Premio Strega nominierter Roman nicht immer. Vielmehr sind es die Grenzbereiche von Absurditäten und Wahnsinn, die Gian Marco Griffi hier in seinem fast barocken und sprachlich höchst vielfältigen (und von Verena von Koskull hervorragend aus dem Italienischen übersetzten) Roman ausführlich erkundet. Halb Odysseus, halb Sisyphos schickt er seinen zahnschmerzgeplagten Helden Cesco Magetti auf eine Reise, die man so schnell nicht vergisst.


  • Francesco Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos
  • Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
  • ISBN 978-3-546-10084-7 (Claassen)
  • 800 Seiten. Preis: 36,00 €
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Klaus Modick – Sunset

Ein Tag im Leben des Lion Feuchtwanger. Klaus Modick macht daraus ein berührendes Kunstwerk, das von der Freundschaft Feuchtwangers zu Bertolt Brecht erzählt, vom Leben und Schreiben der Männer – und vom Exil. Das ist Sunset.


Der Rahmen ist in Klaus Modicks Roman eng gesteckt. Vom frühmorgendlichen Aufgang der Sonne über dem gischtumnebelten Pazifik bis zum Untergang ebenjener Sonne reicht der erzählerische Bogen, der Sunset ausmacht. Diese enge Einheit eines einzigen Sommertages nutzt Modick, um wie in seinen später folgenden Romanen Keyserlings Geheimnis und Konzert ohne Dichter ein Künstlerporträt zu zeichnen.

Ähnlich wie bei letztem Roman ist es auch hier nicht nur ein einfaches, sondern eigentlich ein zweifaches Künstlerporträt. Denn bereits vier Jahre vor seinem Roman um das komplizierte Miteinander oder Gegeneinander des Worpsweder Malers Heinrich Vogler und des Dichters Rainer Maria Rilke widmete sich Modick 2011 bereits der Beziehung zweier Künstler, wie sie auf den ersten Blick gegensätzlicher eigenlich nicht sein könnten. Die Rede ist von Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht.

Da der Münchner Jude Lion Feuchtwanger, der mit großen historischen Romanen für hohe Auflagen und viel Aufmerksamkeit sorgte. Da Bertolt Brecht, Augsburger Kommunist und Verfechter des Epischen Theaters. Während Feuchtwanger nach einer kräftezehrenden Flucht in den USA an der Westküste heimisch wird, wird es Brecht in die entgegengesetzte Richtung in den Osten ziehen, wo er später auch begraben werden wird, nämlich in Ost-Berlin. Da der virile Feuchtwanger, dessen Potenz sich mittlerweile erschöpft und seine Beziehung zu seiner Marta alle Krisen überstanden hat, da Brecht mit seinen vielen Frauen und Nebenfrauen, Kindern und Bankerts.

Feuchtwanger und Brecht

Diese unwahrscheinliche Freundschaft, sie arbeitet Klaus Modick in seinem Roman noch einmal auf. Auslöser des Ganzen ist eine Todesnachricht, die Lion Feuchtwangers morgendliche Körperertüchtigung in seiner Villa am Paseo Miramar unterbricht. Niemand geringeres als Johannes Becher, der Kulturminister der neugegründeten DDR erbittet die Teilnahme Feuchtwangers an einem Staatsakt in Ost-Berlin, denn Bertolt Brecht ist tot.

Klaus Modick - Sunset (Cover)

Während nun Feuchtwanger rastlos durch sein Haus tigert und trotz der Abwesenheit seiner Frau so etwas wie Routine in seinen Tagesablauf zu bekommen versucht, brechen die Erinnerungen über ihn herein. Die unwahrscheinliche Freundschaft mit Brecht, dessen erste Kontaktaufnahme mit Feuchtwanger in München. Das Erlebnis nach der Lektüre von Brechts Spartakus, aus dem später die Trommeln in der Nacht werden sollten, der Baal als erstes Ausrufezeichen seines kraftgesättigten und kraftmeierischen Autors, all das scheint in kleinen Schlaglichtern in Modicks Roman wieder auf.

Aber auch Zeitgeschichtliches wie die Kommunistenehatz der McCarthy-Ära und das Verhör Brechts vor dem Tribunal wird durch die Erinnerungskaskade Feuchtwangers noch einmal greifbar. Überhaupt, die Zeitgeschichte: knapper, aber nicht minder eindringlich als in Uwe Wittstocks Marseille 1940 wird hier noch einmal an das Schicksal der Flucht und des Lebens im Exil erinnert.

Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst

Thomas Mann und seine Distanz zu Feuchtwanger, die Schwierigkeiten, in ein neues Leben hineinzufinden und in einem anderen Land mit anderer Sprache seine eigene Sprache und das Schreiben zu bewahren, all das tupft Modick grandios in diesen so kurzen, aber doch so intensiven Roman hinein.

Ihm gelingt mit Sunset das Kunststück, eine durchaus widersprüchliche Freundschaft und zwei ebenso kantige wie komplizierte Männer auf gerade einmal 190 Seiten in ein fabelhaftes Licht zu setzen. Biografisches, Werk der beiden Autoren und sprachliche Eleganz verbinden sich in diesem Roman zu einem großartigen Leseerlebnis, sodass man förmlich meint, selbst mit Feuchtwanger durch seine Villa über dem schimmernden Pazifik und sein wechselhaftes Leben zu spazieren.

Sunset ist ein reduzierter und gerade deswegen so starker historischer und zuvorderst Künstler-Roman. Er zeigt Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst. Es ist eine Höhe, die spätere Werke, allen voran Keyserlings Geheimnis nicht mehr so recht erreichen wollten.

Weitere Meinungen zu Sunset gibt es unter anderem bei Literaturkritik.de und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Klaus Modick – Sunset
  • ISBN 978-3-492-27418-0 (Piper)
  • 192 Seiten. Preis: 11,00 €
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Bora Chung – Der Fluch des Hasen

Wenn plötzlich sprechende Köpfe in der Toilette auftauchen, Der Fluch des Hasen zuschlägt oder ein junger Mensch in einer archaischen Umgebung Prometheus-gleich malträtiert wird, dann befinden wir uns in der Welt von Bora Chung. Der Kurzgeschichtenband der südkoreanischen Autorin versammelt kurze Episoden, die von Horror bis Science Fiction reichen und von Schattenkindern, invertierten Schwangerschaften und mehr Kreativ-Monströsem erzählen.


Völlig baff und glückstränenüberströmt stand sie plötzlich auf der Bühne unter der Glaskuppel der Messe Leipzig, Ky-Hyang Lee. Soeben war am Nachmittag des 21. März ihr Name gefallen, als es um den Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ging.

Eine Rede habe sie nicht vorbereitet, so Ky-Hyang Lee, die sich in einer sponaten Danksagung dann für den Preis auch als Zeichen ihrer langjährigen Arbeit im Hintergrund der Texte bedankte.

Übersetzerin Ki-Hyang Lee bei ihrer Dankesrede.
Quelle: Leipziger Messe GmbH / Stefan Hoyer

Das Unheimliche und Monströse laufen bei der gesellschaftskritisch versierten Koreanerin Bora Chung zu großer Form auf. Ki-Hyang Lee ist es zu verdanken, dass ihre Geschichten auch auf Deutsch abgründig funkeln. In der pointierten und leicht neben die Norm gesetzten Sprache, die Ki-Hyang Lee den Texten von Bora Chung verleiht, haben sie eine zitternde Offenheit für das Neue und Unerwartete. Das Niedliche und das Widerliche kommen uns daraus entgegen.

Jurybegründung zum Preis der Leizpziger Buchmesse an Ki-Hyang Lee

Damit war an diesem Nachmittag in Leipzig der Auftakt gemacht zu einer Preisverleihung, bei der allesamt Bücher ausgezeichnet wurden, die den Horror und das Finstere im ganz normalen Alltag beleuchten. Auch der Blogger Thomas Hummitzsch fasst das auf seinem Blog Intellecutres noch einmal treffend zusammen:

Nun aber Der Fluch des Hasen. Was kennzeichnet das Buch? Es sind allesamt disparate Erzählungen, was Länge, Setting und die Themen anbelangt. Und doch kristallisiert sich im Lauf des Buchs ein genauer Blick auf das Abseitige, den Schrecken im Alltag heraus, der sich auf oftmals aus dem Zusammenleben zwischen Paaren speist. So eröffnet Bora Chung ihren Reigen des kleineren und größeren Horrors mit der Erzählung einer Frau, der nach dem Gang auf die Toilette an ebenjenem Ort ein sprechender Kopf entgegenblickt. Dieser verfertigt sich einem Golem gleich zwar nicht aus Lehm, dafür aus den Ausscheidungen der Frau zunehmend zu einem Körper.

Eine bemerkenswerte Koinzidenz zur Chungs Landsfrau Cho-Nam Joo, die bereits ebenfalls von Ki-Hyang Lee übersetzt wurde und die in ihrem letzten Werk ebenfalls das Wohlbefinden einer Frau entscheidend mit der sanitären Situation der heimischen Toilette korrelieren ließ.

Ekel und Abstoßung

Bora Chung - Der Fluch des Hasen (Cover)

Das Thema des Ekels und der Abstoßung setzt sich auch in den folgenden Geschichten fort. Eine verfluchte Hasenlampe sorgt für den Niedergang mehrerer Menschen. Ein Junge wird in der umfangreichsten Erzählung in einer archaischen Umgebung in einer Höhle gefangen gehalten, wo ihm ein mythologisches Flugwesen immer wieder Stücke aus seinem Körper reißt, ehe ihm die Flucht gelingt. Eine Prinzessin in einer Wüstenwelt soll statt der Märchenhochzeit mit ihrem Prinzen den Tod oder eine junge Frau nach der plötzlichen Schwangerschaft durch die Einnahme einer Antibabypille einen Partner finden, der das Ergebnis der Jungfrauengeburt akzeptiert.

Immer wieder scheint feministische Kritik an Gesellschafts- und Herrschaftssystemen in den Geschichten auf, die zwischen Fantasy und Horror, Ekel und Komik pendeln. Insofern liegt die Jury richtig, wenn sie die Ambivalenz zwischen Niedlichem und Widerlichen in der Laudatio als besonderes Merkmal rühmt.

Eine preiswürdige Übersetzung?

Einzig die Übersetzungsleistung wird außerhalb der Floskeln von der leicht neben die Norm gesetzten Sprache und der Offenheit für das Neue nicht unbedingt klar. Fast scheint es mir so, als wurde der Preis der Leipziger Buchmesse eher für Ki-Hyangs Lee übersetzerisches Lebenswerk denn genau für diesen Band zugesprochen. Die unbedingte Notwendigkeit, dieses Buch aus translatorischer Sicht auszuzeichnen, konnte ich beim Lesen nicht unbedingt nachvollziehen.

Sicher, alles ist rund übersetzt, es stört wenig, alles wirkt solide und sauber – aber es ist doch in meinen Augen eine recht konventionelle Sprache, die Der Fluch des Hasen kennzeichnet. Macht es das gleich preiswürdig?

Dass mein laienhafter Leseeindruck dahingehend doch etwas zu einfach und unpräzise ist, das zeigt nicht nur die Auszeichnung durch die Fachjury des Preises der Leipziger Buchmesse, auch der auf Übersetzungsarbeit spezialisierte Blog Tralalit seziert die Übersetzungsarbeit Ki-Hyang Lees und die Unterschiede in der deutschen und englischen Übersetzung des Buchs genauer, weshalb ich gerne auf die Analyse von Theresa Rüger verweise.

Fazit

So ist Bora Chungs Buch eines, das mit viel Verve und Freude auch am Monströsen und Ekel in den insgesamt zehn Geschichten zumeist Frauen zeigt, die mit den herrschenden männlich geprägten System hadern. Es sind Menschen, denen schier Unglaubliches passiert und die irgendwie in den Welten überleben müssen, in die sie Bora Chung stürzt. Horror aus Südkorea, in kleinen, aber durchaus heftigen Dosen, dazu noch in einer preisgekrönten Übersetzung, das ist Der Fluch des Hasen, der nun nach der Originalausgabe bei Culturbooks in der Reihe Büchergilde Weltempfänger vorliegt.


  • Bora Chung – Der Fluch des Hasen
  • Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
  • Büchergilde Weltempfänger, Artikelnummer 175215
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €
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