Category Archives: Historischer Roman

Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält

Vom Schlachthaus des Ersten Weltkrieges bis hinein in die Wirren des Japanisch-Chinesischen Kriegs, von Sarajevo bis nach Manila. In seinem Roman Die Welt und alles, was sie enthält wagt Aleksandar Hemon den ganz großen Wurf und schickt einen jüdischen Apotheker auf eine weltumspannende Schmerzensreise. Erträglich wird all das erfahrene Leid nur durch die Liebe zu einem Mann.


Es ist nur ein kleiner Moment, der den Apotheker Rafael Pinto hineinkatapultiert in einen der entscheidenden Momente des 20. Jahrhunderts. Eigentlich müsst er in der familieneigenen Apotheke in Sarajevo hinter dem Tresen stehen, Pulver mischen und Kunden beraten. Doch wir schreiben den 28. Juni 1914 und die ganze Stadt ist auf den Beinen und vibriert vor Erregung. Der Grund dafür ist der bevorstehende Besuch des österreichisch-ungarischen Erzherzogs Franz Ferdinand.

Rafael Pinto interessiert das allerdings überhaupt nicht. Vielmehr ist es ein Rittmeister, der sein Interesse auf sich zieht. Der im militärischen Dienst der Monarchie stehende Mann sucht den sephardischen Juden Pinto in dessen Apotheke auf, um von ihm ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen zu erhalten.

Doch es ist nicht nur ein Mittel gegen die Kopfschmerzen, das der Rittmeister vom Apotheker erhält. Es kommt zu einem Kuss zwischen Pinto und dem Rittmeister. Ein kleiner Moment, der sich fast anfühlt, als würde die Welt kurz stillstehen.

Ein Kuss, ein Schuss und der Krieg

Ganz betört vom gerade Erlebten folgt Pinto dem Rittmeister hinaus auf die Straßen der bosnischen Hauptstadt, als sich die gerade noch stillzustehende Welt geradezu explosiv beschleunigt. Denn Pinto wird unmittelbar Zeuge des Attentats auf den zu Besuch weilenden Thronfolger, das zugleich den Beginn des Ersten Weltkriegs markiert. Vom Kuss zum verheerenden Schuss in nur wenigen Momenten – und kurz darauf hinein in das, was später als Großer Krieg und noch etwas später als Erster Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Schnell geht es in Hemons Romans zur Sache – ein Merkmal, das auch die weiteren Lebensstationen Pintos kennzeichnen wird.

Aleksandar Hemon - Die Welt und alles, was sie enthält (Cover)

Als Soldat findet Pinto sich auf den Schlachtfeldern des Krieges wieder, als er in Galizien als eingezogener Soldat Dienst tut. Die Schrecken, die inkommensurable Gewalt, die Hoffnungslosigkeit in den Schützengräben erfährt er am eigenen Leib. Doch wo die Gefahr ist, da wächst auch das Rettende. Im Falle von Pinto hört jenes Rettende auf den Namen Osman Karišik . Er ein Muslim, Rafael Pinto ein sephardischer Jude, und zusammen ein Liebespaar, das in der gegenseitigen Liebe ein Mittel gegen la gran eskuridad – die große Leere – findet.

Zusammen überleben sie auf den Schlachtfeldern und schlagen sich von Galizien und der Bukowina bis nach Taschkent durch. Es ist nur eine Station auf einer wahren Schmerzensreise, die Pinto und Karišik immer weiter weg führt von Zuhause. Sie begegnen Bolschewiken, blutrünstige Banden, trennen sich in den Bergen Turkestans, Pinto schlägt sich schließlich durch die Wüste Taklamakan bis nach Schanghai durch, wo er aber, wie immer wieder auf seiner Reise, mit Krieg und Gewalt konfrontiert ist.

Die Schmerzen des 20. Jahrhunderts

Aleksandar Hemon erzählt vom allgegenwärtigen Leid des 20. Jahrhunderts, das Pinto bei so gut wie allen Lebensstationen, egal wo auf dem Erdball begegnet. Zwar kommt es immer wieder zu Umbrüchen, folgen neue Schauplätze oder neue Figuren, gleich aber bleiben stets die zugrundeliegenden Themen der Flucht, Vertreibung und des Gefühls, nie wirklich anzukommen.

Themen, die nur diesen Roman bestimmen, sondern auch in der Biografie ihres Autors eingeschrieben sind. So gab dieser nach der Belagerung Sarajevos 1992 ähnlich wie sein Held Rafael Pinto gezwungenermaßen die Heimat auf, um fortan in den USA zu leben und auf Englisch zu schreiben.

Diese Erfahrung des fremdbestimmt Getriebenen merkt man Die Welt und alles, was sie enthält unmittelbar an. Genauso ist sein Roman aber auch die Geschichte einer großen Liebe. Einer Liebe, die alles erträgt, alles hoffet und die alles duldet, selbst als Osman Pinto verlassen muss und ihm die Verantwortung für sein Kind überträgt.

Schmerzen und Liebe, es ist nur eines von vielen Komplementärbeziehungen in diesem Roman, der mit seiner queeren Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwas an Alice Wills Durch das große Feuer erinnert. Dort wo sich Will allerdings auf den Großen Krieg konzentriert, geht Hemon noch deutlich weiter, indem er die Gewalterfahrungen und Vertreibung seines Helden bis ins Jahr 1949 dehnt und so das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Brutalität eindrücklich schildert.

Fazit

Die Welt und alles, was sie enthält ist die herausfordernde, wirklich globale Reise eines Helden, der über alle Grenzen hinausgeht, der Stürme überlebt und der angetrieben von seiner Liebe zu Osman und zu seinem Kind immer weiter geht. Nicht immer einfach zu lesen, mit vielen fremdsprachigen Wortfetzen, harten Schnitten und Umbrüchen gestaltet bereist dieser Roman eine Vielzahl an Schauplätzen, thematisiert die Gewalt im Chinesisch-Japanischen Krieg 1937 ebenso wie die Entbehrungen während der Durchquerung der Taklamakan-Wüste oder die Verzweiflung in den nassen und kalten Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Mag Hemons Roman auch nicht die ganze Welt enthalten, so steckt doch ein ganzes Stück der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts in diesem Roman. Eine herausfordernde Lektüre, gewiss nichts für Nebenbei, aber voller Intensität, Vielsprachigkeit und queerer Liebe (übersetzt von Henning Ahrens).


  • Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-546-10047-2 (Claassen)
  • 400 Seiten. 26,00 €
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Karel Poláček – Die Bezirksstadt

Als die Uhren noch etwas anders gingen. In Die Bezirksstadt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nimmt uns der heute schon fast völlig vergessene Karel Poláček mit und zeigt ein beschauliches böhmisches Städtchen, das von der Nachricht des Kriegs schließlich aus seinem Schlummer gerissen wird.


Irgendwo in Böhmen steht sie, Die Bezirksstadt. Von der Hautpstadt Prag ist sie ebenso weit weg wie der Alltag dort von der Hektik unserer Tage. Ein Buchhändler mit Dackel, zwei verfeindete Krämer, vor den Toren ein Armenhaus, ein Friseur und ein Apotheker, bei dem sich abends die in Capes gehüllten Stadtoberen zu einem Gläschen Likör versammeln. Das sind die Einwohner und Institutionen, die die namenlose Bezirksstadt in Poláčeks Roman aus dem Jahr 1936 kennzeichnen.

Man könnte glatt von Beschaulichkeit sprechen – aber in den Augen der Bewohner*innen wäre das mehr als falsch. Denn es tut sich einiges dort im Lauf der beschriebenen Handlung, die im Jahr 1913 einsetzt und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reicht.

Willkommen in der Bezirksstadt

Da brennt ein Etablissement vor den Toren der Stadt nieder, da wird geheiratet (und kurz darauf die Flucht vor dem eigenen Ehemann gen Prag angetreten), die Krämer intrigieren gegeneinander, wie es Goscinny und Uderzo in ihrem kleinen gallischen Dorf schöner nicht hätten in Bilder bannen können, da wird ein rauschendes Fest gegeben, wenn sich der lokale Abgeordnete ankündigt.

Karel Poláček - Die Bezirksstadt (Cover)

Karel Poláček spannt einen großen Bogen in seinem Roman auf, der zugleich einen präzisen Schnitt durch die böhmische Kleinstadtgesellschaft kurz nach der Jahrhundertwende darstellt. Vom Bettler bis zum Abgeordneten, vom Lehrer bis zum Studente reicht das Panoptikum an Figuren und Lebenswelten.

Der 1892 geborene Poláček zeigt in Die Bezirksstadt den grassierenden Antisemitismus, die Fortschrittsfeindlichkeit alter Eliten genauso wie die sich wandelnde Mode und den Aufbruchsgeist junger Menschen, was des Öfteren zu explosiven Szenen führt, etwa wenn der Kaufmann Štědrý seinen Sohn, der in der fernen Stadt studiert, für dessen geckenhafte Auftreten nach jüngster Mode maßregelt.

Es sind Szenen von großer Komik, mit der Poláček sein etwas hinterwäldlerisches Dorfpersonal liebevoll karikiert. Familien, in der die Lektüre von Jules Vernes Fünf Wochen im Ballon zu sinnstiftenden Angelegenheit wird, die Streitereien und rituellen Beleidigung der Männer, die eigenwilligen Bettler*innen, die dann immer wieder vom jähzornigen Verwalter Wagenknecht gepiesackt werden, und so weiter und so fort.

Humorvoller Roman, trauriges Schicksal seines Verfassers

Es ist ein großer Spaß, Die Bezirksstadt mit ihrem Clash of Cultures und ihrem Clash of Minds zu lesen. Der Spaß bekommt allerdings eine bittere Note, wenn man vom Schicksal Karl Poláčeks erfährt, das der Übersetzer und Herausgeber Antonín Brousek im Nachwort des Romans schildert.

Er erfuhr den Antisemitismus, den er in seinem Buch so kongenial demaskiert, am eigenen Leibe. Als jüdischer Redakteur würde er während des Zweiten Weltkriegs mit einem Schreibverbot belegt. Später kam er ins Konzentrationslager in Theresienstadt, wo er sich mit dem Schreiben von Sketchen und einem Fortsetzungswerk eines seiner großen Romanerfolge hervortat. Doch die Zeit dort unter jüdischer Selbstverwaltung im Lager fand sein Ende, als Poláček und seine Frau ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Seine Frau wurde unmittelbar nach der Musterung an der Rampe dort ermordet, Poláček selbst wurde im Jahr 1945 dann auf einem Todesmarsch erschossen.

Das Jüdische in seinem Schreiben, seine literarischen Erfolge und seinen Nachruhm beleuchtet Brousek in seinem Nachwort genau. Er erzählt vom vielfältigen literarischen Schaffen des tschechischen Autors, in dem Die Bezirksstadt eine herausragende Rolle einnimmt. Die biographischen Ursprünge und der Berührungspunkte in diesem Werk arbeitet der Übersetzer genauso heraus, wie er das fiktive Städtchen und dessen angebliche Kulturlosigkeit noch einmal unter eine genaue Leselupe nimmt.

Fazit

Mit Die Bezirksstadt holen der Reclamverlag und der Herausgeber Antonín Brousek einen hierzulande völlig unbekannten Autor aus unserem tschechischen Nachbarland zurück ans Licht der Öffentlichkeit. Es ist mit Karel Poláček ein Autor mit einem großen Gespür für Land und Leute zu entdecken, der in Die Bezirksstadt gekonnt von den kleinen und großen Dramen des Lebens, von Bettlern, Abgeordneten und Kaufleuten erzählt – eben dem, was das Leben dort in dem verschlafenen Städtchen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs so ausmachte. Eine wirkliche Entdeckung und ein grandioser Kleinstadtroman!


Hinweis: das Buch ist leider nur noch antiquarisch erhältlich. Die hier angegebene ISBN bezieht sich auf die E-Book-Ausgabe des Titels.

  • Karel Poláček – Die Bezirksstadt
  • Herausgegeben und aus dem Tschechischen übersetzt von Antonín Brousek
  • ISBN 978-3-15-961396-3 (Reclam)
  • 384 Seiten. Preis: 20,99 €
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Daniel Kehlmann – Lichtspiel

In seinem neuen Roman Lichtspiel holt Daniel Kehlmann den heute weitestgehend in Vergessenheit geratenen Regisseur G. W. Pabst zurück ins Licht – und blickt auch auf die dunklen Seiten in dessen Leben. Kehlmann gelingt ein Roman, der sich literarisch das abschaut, wofür Pabst einst berühmt war: die Schnittkunst.


Lichtspiel ist ein Roman über einen Menschen, dessen Leben alleine schon genug Material für einen spannenden Roman bietet. Wie etwa Hans Pleschinski in Wiesenstein zeigt auch Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman einen Künstler zur Zeit des Nationalsozialsmus, dessen Hadern mit den Machthabern, aber auch seine Anpassung an ein System, das für den einst „roter Pabst“ genannten Regisseur eine wichtige Rolle vorsah.

Ein linker Regisseur – gefördert von den Nationalsozialisten

1925 machte G. W. Pabst erstmals mit seinem Film Die freudlose Gasse von sich Reden. Dieser Stummfilm sorgte für den Durchbruch von Greta Garbo, die neben Stars wie Asta Nielsen in der Verfilmung des Buchs von Hugo Bettauer zu sehen war. Ungeschönt zeigte der Filme die soziale Kluft und die grassierende Armut in einem Wiener Armenviertel, was zum Ruf Pabsts als sozialrealistischer und dezidiert linker Regisseur beitrug, was dieser wiederum mit Filmen wie seiner Adaption der Dreigroschenoper oder den Antikriegsfilm Westfront 1918 verstärkte.

Filme mit dem Hollywoodstar Louise Brooks folgten – und auch in Hollywood versuchte Pabst Fuß zu fassen, scheiterte damit aber auf ganzer Linie. Teils vom maladen Zustand seiner Mutter, teils mit dem Versprechen völliger Kunstfreiheit heimgelockt begab sich Georg Wilhelm Pabst dann wieder zurück nach Deutschland, wo inzwischen die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Dort drehte er mit Förderung durch das Propagandaministerium unter anderem mit dem Schauspieler Werner Krauß, den er in seinem Film Paracelsus besetzte. Sein letzter Film dieser reichsdeutschen Phase, Der Fall Molander, gilt als verschollen.

Auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus blieb Pabst dem Medium Film verbunden, drehte weitere Werke, ehe der Österreicher 1956 mit Durch die Wälder, durch die Auen den letzten seiner rund 40 Filme drehte. 1967 schließlich verstarb Pabst in Wien und geriet als Zeitgenosse von anderen Regiestars wie Fritz Lang oder Leni Riefenstahl etwas ins Vergessen.

G. W. Pabst – der Meister des Schnitts

Daniel Kehlmann holt den einst als „Meister des Schnitts“ gerühmten Regisseur wieder zurück ins öffentlich Bewusstsein – und bedient sich für die Montage seines Romans ebenjener Schnittkunst, die auch Pabst zum gefeierten Stummfilm- und später Tonfilmregisseur machte.

Daniel Kehlmann - Lichtspiel (Cover)

So beginnt der Roman auch alles andere als erwartet. Denn nicht Pabst steht im Mittelpunkt, sondern ein inzwischen schon reichlich dementer ehemaliger Assistent des Meisters, der in der Nachkriegszeit im österreichischen Fernsehen interviewt wird. Extra aus seinem Altersheim abgeholt soll er vor laufender Kamera über seine Zusammenarbeit mit Pabst und die gedrehten Filme, darunter Der Fall Molander, Auskunft geben.

Dies spannt die erzählerische Klammer des Romans auf, der mit den tatsächlichen Dreharbeiten des Films in Tschechien unmittelbar vor Kriegsende seinen Ausklang finden wird. Dazwischen montiert Kehlmann weitestgehend chronologisch entscheidende Szenen aus Pabsts Leben, die er fiktional anreichert und aneinanderreiht. Trotz eines anfänglichen Gefühls der Unverbundenheit fügen sich diese in der Gesamtheit des Buchs doch, obgleich die Schnitte sehr hart sind.

Licht und Schatten eines Lebens

So nimmt Kehlmann Pabsts Frau Trude oder den Sohn in den erzählerischen Fokus, erzählt von Hollywoodstars, denen er begegnet. Auch Nazi-Funktionäre oder ein Hausmeister haben ihre Auftritte, bei denen Pabst so manches Mal auf den ersten Blick kaum auftaucht – aber er ist doch immer präsent.

Aus all den Figuren und Momenten formt sich das Bild eines Menschen, der für den Film lebte, dafür aber auch immer wieder Kompromisse einging und sich anpasste.

„Drehen kann fast jeder“ , sagte Pabst. „Beim Schneiden macht man erst wirklich einen Film“

Daniel Kehlmann – Lichtspiel, S. 398

Doch nicht nur die Schnitte und die Montage sind in diesem Buch herausragend. Auch spielt Kehlmann mit der Unzuverlässigkeit des Erzählens, etwa wenn man Zweifel an Pabst und seinem Blick auf die Realität bekommt. So gleicht ein Antrittsbesuch bei Propagandaminister Goebbels einem halluzinierendem Trip, bei dem nicht wirklich klar ist, was sich nun abspielt. Auch der Tathergang eines Unfall mit einer Leiter in der heimischen Bibliothek im österreichischen Dorf Dreiturm provoziert zumindest Fragen. Immer wieder gibt es solche Szenen, die sich nicht wirklich auflösen lassen und in ihrer Ambiguität fortbestehen.

Diese Doppelbödigkeit flicht Kehlmann auch an anderen Stellen immer wieder geschickt ein. Großartig beispielsweise die Szene, in der Pabsts Frau Trude ob ihrer Passgenauigkeit zu einem literarischen Zirkel von Frauen einflussreicher Nazis geprüft wird und in dem sich alle gegenseitig belauern und darüber die erschreckend schlechte Prosa des NS-Autoren Alfred Karrasch in den Himmel loben (die ihr Mann dann trotzdem für die Machthaber verfilmen wird).

Dieser Sinn für Zwischentöne, für Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit macht aus einem Künstlerporträt eines interessanten Menschen einen auch literarisch überzeugenden Roman, der die Erinnerung an G. W. Pabst wachhält.

Fazit

Lichtspiel ist ein Text, bei dem sich das ganze Bild erst zeigt, wenn man die einzelnen hart geschnittenen Szenen miteinander ins Bild setzt und einen Schritt zurücktritt. Dadurch entsteht das Bild eines Künstlers und Menschenlenkers, der trotz seinem Sinn für Schnitt, die Montage und den genauen Blick gerne auch die Augen verschloss vor den Ungerechtigkeiten und dem Terror der Nazis (etwa auch in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Leni Riefenstahl oder eigenen Dreharbeiten, bei denen auch Kriegsgefangene und Insassen von Arbeitslagern zum Einsatz kamen).

Kehlmann gelingt ein schwebendes, spannend erzähltes und literarisch ebenso interessant gestaltetes Künstlerporträt, das Licht und Schatten im Leben eines Menschen zu einem tatsächlichen Lichtspiel miteinander vereint.

Auf den Seiten des Rowohlt-Verlages gibt es auch ein einsichtsreiches Interview zu Kehlmanns Perspektive auf Pabst und die Themen des Romans.


  • Daniel Kehlmann – Lichtspiel
  • ISBN 978-3-498-00387-6 (Rowohlt)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Inger-Maria Mahlke – Unsereins

Zu Gast im kleinsten Staat des Königreichs. Inger-Maria Mahlke lässt in ihrem Roman Unsereins die Kaiserzeit um die Jahrhundertwende im kleinen Stadtstaat Lübeck wieder auferstehen, „der Pfau“ alias Tomy Mann inklusive. Leider gerät das Ganze dabei etwas zu arg hanseatisch-trocken.


Schon der Blick in das vorangesetzte Personenverzeichnis des neuen Romans von Inger-Maria Mahlke macht klar, dass hier mit großem Besteck operiert wird. So führt das Verzeichnis allein acht Kinder des im Mittelpunkt stehenden Senators Friedrich Lindhorst auf. Daneben Hausmädchen, Ratsdiener, Lohndiener, Senatoren, Wasserbaudirektoren und dergleichen mehr. Sie alle bewohnen den „Kleinsten Staat“ des Kaiserreichs, der eigentlich gar nicht der kleinste ist, zieht man in Bezug auf die Fläche Bremen oder in Bezug auf die Einwohnerzahl den noch kleineren Staat Köstritz heran. Aber wie es so ist mit der Fassade dort im vom Großbürgertum dominierten Stadtstaat – man möchte etwas sein, und so wird man eben kurzerhand zum kleinsten Staat, um mit irgendetwas herausstechen zu können.

Generell geht es viel um das Sein und Nicht-Sein in Unsereins. Denn Inger-Maria Mahlke beschreibt den Zustand der Entropie, der im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur das Kaiserreich, sondern eben auch den Stadtstaat und im Innersten auch die Familie Friedrich Lindhorsts erfasst.

Geschichten aus dem kleinsten Staat des Kaiserreichs

Inger-Maria Mahlke - Unsereins (Cover)

Während im Stadtstaat der Sozialdemokrat Theodor Schwartz der elitenzentrierten Politik der alteingesessenen Senatoren und Konsuln entgegenwirkt und sich um den einzigen Platz als Abgeordneter des Stadtstaates bewirbt, geht es auch in der Familie Lindhorst hoch her. Zwischen Ausbildung, Verlobung, Schule, Erwartungen der Eltern, Yokohama, London und Bad Kissing treibt die ganze Familie Lindhorst auseinander. Der finanzielle Status verschlechtert sich zunehmend, man muss Immobilien beleihen, der nach London entsandte Sohn Cord düpiert mit seinen Spekulationen nicht nur die Firma, sondern die eigene Familie. Auflösungserscheinungen aller Orten, den althergebrachte Ständeordnung gerät durcheinander – und nicht einmal ein Kaiserbesuch im kleinsten Staat des Landes kann da etwas retten.

Um diese vielköpfige Familie Lindhorst herum gruppiert Inger-Maria Mahlke weitere Figuren, die den Stadtstaat bevölkern und deren Schicksal immer mal wieder angerissen wird. So verliebt sich der Ratsdiener Isenhagen in seine Nachbarin, deren Pelargonium triste zunächst seine Aufmerksamkeit und sie wenig später sein Herz gewinnt. Homosexuelle und damit verbotene Avancen, geheime Fechtclubs in der Schule, deren Ursprung der der Schüler Georg Presswitz in seinem Geheimversteck auf der Primanertoilette ergründen will – und dann auch noch Presswitz‘ Mitschüler, der „Pfau“ geheißene Mitschüler Tomy mit schriftstellerischen Ambitionen und Sohn der Senatorenwitwe Mann, die bald aus Lübeck nach München ziehen wird.

Leider viel Langeweile

Viele Figuren und Erzählstränge für einen Roman – der dabei doch erstaunlich langweilig ist, um dieses wenig analysescharfe und recht undifferenzierte Erkenntnis gleich vornewegzusetzen. Das hat aber auch seine Gründe.

Wie schon in ihrem rückwärts erzählten Familienroman Archipel, für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, handelt auch Unsereins wieder von den Umbrüchen in Ländern und Leben, erzählt vom Verfall und dem Niedergang des familiären Status einer großbürgerlichen Familie (hier aber eben im Stadtstaat Lübeck statt auf der Insel Teneriffa).

Nur ist in dieser neuen Geschichte Mahlkes nicht nur der Pelargonium trist – auch ihr Erzählen schleppt sich über die Jahre nur voran, statt eine Bindung zum Leser (zumindest in meinem Falle) aufzubauen. Dabei wäre der sich abzeichnenden Abstieg der Senatorenfamilie Lindhorst ja durchaus ein valider Grunde, die Leserschaft mitfiebern zu lassen, ob die Sanierung der Senatorenfamilie noch gelingen kann. Daraus wird aber nichts.

Die Jahre schreiten ins Land, die Schauplätze wechseln – trotz aller äußeren Bewegung fehlt allerdings die innere Bewegung. Die Familie verfällt, während man sich gegenseitig über die wahren Seelen- und Kontozustände täuscht. Man bleibt als unbeteiligter Beobachter dabei außen vor, stellt sich Fragen über den Verbleib mancher Figuren, die für Jahre und damit dutzende von Seiten aus der Geschichte fallen, ehe ihr weiteres Schicksal kurz wieder angeschnitten oder indirekt weitererzählt wird.

Das übergroße Personaltableau erweist sich als zentraler Mühlstein des Erzählens. Nicht einmal Schauplätze wie Kobe und Yokohama in der zweiten Hälfte des Romans können darüber hinwegtäuschen, dass das Buch erzählerisch stagniert und trotz aller Raffinesse der erzählerischen Mittel, die Inger-Maria Mahlke zweifelsohne zur Verfügung stehen, nicht vom Fleck kommt.

Das ist besonders schade, da diese Personenfülle auch das lobenswerte erzählerische Vorhaben zu erdrücken droht.

Ein Gegenentwurf zu den Buddenbrooks

Inger-Maria Mahlke positioniert sich mit ihrem Roman als Gegenentwurf zu Tomy alias Thomas Manns Debüt Buddenbrooks, in dessen Lübecker Bürgertumsporträt für Frauen und Dienerinnen allenfalls ein Platz am erzählerischen Seitenrand war. Was als Vorhaben in Teilen funktioniert, trägt leider aber nicht über die Länge des Buchs. Denn um eine Bindung beispielsweise zum Schicksal des Dienstmädchens Ida aufzubauen, müsste das Erzählen stärker auf sie fokussiert sein, anstatt immer wieder zu anderen Figuren und neuen Handlungssträngen abzuschweifen, ehe sich die Autorin wieder ihrer besinnt.

Dort wo die Gebrüder Mann einst die Kaiserzeit Form ihrer Romane Der Untertan und Buddenbrooks in staunenswerte Literatur gossen, bleibt hier alles leider nur Staffage und Kulisse, in der kein lebendiges Schauspiel stattfindet, trotz des unbestreitbaren Talents Inger-Maria Mahlke. Die Erzählung verharrt, das Personal bleibt (zumindest mir als Leser) fern und echten Drive entfaltet Unsereins leider auch nicht. Insofern bleibe ich etwas enttäuscht zurück, obschon ich mich wirklich auf den Roman gefreut hatte.


  • Inger-Maria Mahlke – Unsereins
  • ISBN: 978-3-498-00181-0 (Rowohlt)
  • 495 Seiten. Preis: 26,00 €
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Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones

Ein Titel so lang wie die Lebensreise, die der britische Journalist und Werbetexter Owen Booth in seinem Debütroman schildert: Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones erzählt von der Mannwerdung, der Heldenreise und den kuriosen Begegnungen des jungen Daniel Bones, der Ende des 18. Jahrhunderts von seiner englischen Heimat bis nach Südfrankreich und Italien gelangt.


Es ist ein seltsamer Anblick, der sich dem jungen Daniel Bones bietet, als er eines Abends um das Jahr 188- herum mal wieder durch die Marschlandschaft seiner Heimat streift. Ein Mann in einem schwarzen Anzug entsteigt dem Wasser, um sich bei Daniel über den richtigen Weg zum Fluss W. zu erkundigen. Auch wenn er den falschen Abzweig im Wasser genommen hat – Daniel ist von der Erscheinung des Mannes so eingenommen, dass er ihm wenig später auf dessen abenteuerlichen Reise folgen wird.

Als das Etwas näher kommt, erkenne ich, dass es tatsächlich ein Mensch ist, aber er schwimmt nicht, sondern gleitet wie in einem sehr niedrigen Eskimokajak dahin. Er liegt flach auf dem Rücken im Wasser in einer Art aufgepumptem Anzug, hat nur den Kopf angehoben und bewegt sich mithilfe eines kurzen Doppelpaddels vorwärts. Dabei zieht er eine kleine Trage aus Segeltuch, in der vermutlich seine Habseligkeiten oder seine Ausrüstung verstaut sind, an einem mehrere Meter langen Tau hinter sich her.

Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones, S. 20

Die Mutter tot, der Vater ein Schläger und Alkoholiker, der dem kleinen Bruder schon einmal den Arm bricht, wenig Perspektiven außerhalb einer Nachfolge im Austernzucht- und Schmuggelgewerbe – so begibt sich Daniel statt eines ebenso vorhersehbaren wie deprimierenden Lebens auf die Reise mit diesem seltsamen Mann, der aus dem Wasser kam und auf den Marktplätzen des Landes für seine Erfindung, den aufblasbaren Taucheranzug, wirbt.

Aufgemuntert durch die Gemeinschaft seines Heimatdorfs, die durch eine patriotische Rede des tollkühnen Captain Clarke B. in Euphorie versetzt wurde, wird er zum Assistenten des schillernden Captain, der ihn auf seiner Reise begleitet und fortan als dessen Adlatus fungiert.

Mit dem Froschmann von England bis nach Italien

Im Gefolge des tollkühnen Froschmanns reist er durch kleine englische Städte und Weiler, hilft dem Captain bei der Vorführung von dessen Tauchanzug, sammelt Geld ein und lernt das Leben in seiner ganzen Fülle kennen. Per Schlauchboot geht es über den Ärmelkanal, Stationen in Frankreich und Italien werden auf der Reise folgen. Immer zieht der Captain eine Melange aus neugieriger Bevölkerung, Organisierter Kriminalität, faszinierten Würdenträgern und äußerst hingebungsvollen Frauen an.

Owen Booth - Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones (Cover)

Denn dieser Captain, den wir durch die Beschreibungen seines Lehrjungen kennenlernen, er ist vieles: ein Scharlatan, ein Abenteurer, ein Erotomane, eine Glücksspieler und noch so viel mehr. Immer wieder erzählt er fantastische Märchen, will mit der Vorführung seines Anzugs mal Seeleute retten, mal die maritimen Streitkräfte unterstützen – immer aber irgendwie einen eigenen Vorteil herausschlagen, der ihn in Kontakt mit den Reichen und Mächtigen bringt und für eine gefüllte Börse sorgt.

Bis zum König von Italien bringt es der Captain auf seiner Tour, den er mit Daniel im Gefolge in Neapel am Fuße des Vesuvs kennenlernt und der schließlich durch ein Komplott sterben soll, in welchem Daniel eine entscheidende Rolle spielt.

Es sind tolldreiste Episoden wie diese, die den Reiz von Owen Booths Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones ausmachen.

Vom Rheinfall bis zum König von Italien

Dieses Buch ist als großer Bilderbogen angelegt, der voller Begegnungen und außergewöhnlicher Momente steckt. Kleinen Prinzessinnen, Mönchen, Räuberbanden oder reiche Witwen, Daniel Bones lernt sie alle kennen. Eine lebensgefährliche Fahrt den Rheinfall hinab, die Explosion eines Schiffs mit anschließender Rettung oder spätrömisch-dekadente Orgien sind nur einige Episoden in diesem an Geschichten und Figuren reichen Roman.

Das ist nicht frei von Komik und Sinn für Skurrilität, die mich persönlich manchmal an den lakonischen Witz Wes Andersons erinnerte. Als Referenzpunkte kann aber auch ebenso Esi Edugyans Washington Black herangezogen werden, mit dem sich Booths Buch in meinen Augen die Anklänge an Jules Vernes technologieoffene Reiseliteratur á la In 80 Tagen um die Welt teilt.

Doch nicht nur an diese Erzähltradition knüpft Booths Roman an. Wenn man wollte, könnte man Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones auch in der Erzähltradition des Barock verorten, und das nicht nur des Titels wegen.

Reiseliteratur mit Anklängen an die Barockliteratur

Aventüre und Heldenreise sind das Motto, das über den drei Büchern steht, die den Roman unterteilen (und die selbst wiederum jede Menge kleine Kapitel mit sprechenden Titeln aufbieten). Ähnlich wie Grimmelshausens Simplicissimus oder Swifts Gulliver ist auch Daniel Bones ein ständig Reisender, der die Lande durchmisst und dem die unglaublichsten Dinge auf seiner Reise widerfahren, wovon er in diesem Buch Zeugnis ablegt.

Bei diesem Fokus auf Vorankommen, Erleben und Staunen ist es die charakterliche Entwicklung und die im Vergleich zu diesem immensen Schilderungswillen manchmal etwas Zeichnung der Figuren, die bei Booths Debüt ins Hintertreffen gerät und manchmal etwas flach ausfällt. Auch sprachlich geht Booth den einfachen Weg, indem er Daniel als manchmal etwas naiven und nicht allzu gebildeten Jungen zeigt, dessen Sprache frei von historisierenden Burlesken ist und den Blick auf die Handlung wirklich nicht verstellt. Als Unterhaltungsroman mit rasantem Plot funktionieren diese wirklich wahren Abenteuer aber hervorragend. Stets treibt die Handlung voran, immer wieder warten neue Figuren und Episoden am Wegesrand. Langweilig wird es hier nie!

Fazit

Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones ist ein Abenteuerroman alter Schule, der die Retro-Anmutung des Covers auch im Inneren einlöst. Originell und von großer Handlungsfülle ist die Welt an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert, in die uns Owen Booth in seinem Abenteuer mitnimmt. Mit Daniel Bones und Captain Clarke B. kann man wirklich in diese historischen Welten eines wirklich ausgezeichnet, nämlich abtauchen!


  • Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-86648-663-8 (Mare)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €
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