Der Kampf gegen Windmühlen oder Die Rebellion der Cheri Matzner

Tracy Barone schafft mit Das unglaubliche Leben der Cheri Matzner, was die Kunst des Erzählens ausmacht: Sie beschreibt die Leben ihrer Figuren auf eine Weise, die ihre Einzigartigkeit aufzeigt und dennoch über den individuellen Kontext hinausgeht und zur Identifikation einlädt. Dank der gelungenen Übersetzung von Stefanie Schäfer liest sich der deutsche Text genauso flüssig und authentisch wie das amerikanische Original, jedenfalls nachdem man über die ersten drei Kapitel hinaus gekommen ist.


Die Charaktere der Nebenpersonen wirken oft überzeichnet, was anfangs gewöhnungsbedürftig ist und etwas plump wirkt, aber immer besser funktioniert, je weiter man liest. Letztendlich werden gerade dadurch die vielen Einflüsse, die Cheris Leben zu dem machen, was es ist, deutlich sicht- und spürbar. Sie werden dann sogar übertragbar, wenn Personen ihre Motive weniger offensichtlich vor sich hertragen. Die Überzeichnung der Figuren wirkt wie ein Vergrößerungsglas, das die Anknüpfungspunkte der komplizierten gesellschaftlichen Netze, in denen wir uns als Menschen wiederfinden, sichtbar macht.

Cheris ganz persönliches gesellschaftliches und soziales Netz wiederum ist kein bisschen plump beschrieben, sondern wird intelligent und feinfühlig erfahrbar gemacht, zum Beispiel, wenn Barone schreibt, dass Cheri das „hässliche Geheimnis“, dass sie mit ihrem Vater teilt, so lange mit sich herumtrug, „bis es Teil von ihr war, wie ein deformierter Zeh, den sie vergaß, bis sie die Schuhe einer anderen anprobierte“ (145) und damit eine altbekannte Metapher auf eine neue Ebene hebt. Zu ernst wird es aber auch nicht, denn es ist oft urkomisch, wenn die ihren eigenen Verstrickungen hilflos ausgelieferten Charaktere sich hoffnungslos ineinander verhaken, oder wenn Cheri trocken feststellt, das ständige Räuspern ihres Mannes gebe ihr das Gefühl, „mit einem alten Pinguin namens Milton zusammenzuleben“ (140).

Fragwürdige Außengestaltung

Titel, Titelbild und Klappentext machen mit den Roman genau das, was die Gesellschaft mit Cheri macht und wogegen sie so hartnäckig ankämpft: Sie stecken ihn in eine Schublade. „Hier geht es um eine Frau“, schreien Titel und Titelbild. An der Frau auf dem Umschlag fallen als erstes die dunklen, vollen Lippen auf („sie ist sexy und sinnlich“). Die Figur soll wohl geheimnisvoll wirken, denn sie trägt eine Sonnenbrille und ein Tuch um den Kopf. Handelt es sich um Cheri, die Hauptfigur des Romans? Dieser Rückschluss liegt zumindest sehr nahe, auch wenn das Aussehen der Frau auf dem Titelbild wohl eher Cheris Mutter Cici entspricht, von der Cheri sich ihr ganzes Leben lang emanzipieren musste. Cheri, Mitglied in der NRA (National Rifle Association), die Frau, die ihre Vergangenheit bei der New Yorker Polizei nicht loslässt, die sich danach dennoch als internationale Wissenschaftlerin etabliert hat, von ihrer Mutter aber trotz allem immer wieder in „ein kitschiges Kostüm“ (S. 146) gezwängt wird, wie schon zu Kindertagen (und deshalb ist sie laut Klappentext auch noch „rebellisch“)? Ich erkenne sie wenig wieder.

Die Aussage ist: „dieses Buch ist ein Schmöker für Frauen“, der Klappentext sagt „Es geht um eine Frau, die eine Fehlgeburt hat, aber ohne Kind nicht leben kann“ und damit, so wie die Dinge zurzeit liegen auch „für Männer ist dieses Buch nicht interessant, es dient der Unterhaltung von Frauen, die nichts zu tun haben (nicht umsonst gibt es nach wie vor ein ganzes Genre mit Namen „Frauenunterhaltungsliteratur„).

Ein Menschenleben

Dass es in dem Text um so viel mehr geht, um gesellschaftliche Konventionen, die Männer genauso betreffen und einschränken wie Frauen, um strukturellen Sexismus, um Rassismus, um Religion und die daraus resultierende Anfeindungen, um Schuldgefühle und Vergangenheitsbewältigung, dem wird diese Aufmachung nicht gerecht.

Neben der weiblichen Hauptfigur, Cheri, die unabhängig vom Geschlecht als Mensch viel Identifikationspotential bietet, begegnen wir einer Vielzahl männlicher Figuren, bei denen es nicht anders ist. Da ist ein junger Mann, der von seinem Vater darauf getrimmt wird, sportlich und tough zu sein, und der darum kämpft, seine fürsorgliche, väterliche Seite ausleben zu dürfen. Da gibt es beispielsweise eine männliche Figur, die in ihrer Rolle als Versorger so gefangen ist, dass sie es nicht schafft, ihren eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden, oder einen Mann, der beschließt, die Zeit vor seinem Tod selbstbestimmt zu gestalten. Wir erfahren, wie seine Angehörigen und seine Freunde damit umgehen. Barone schreibt über Familie, darüber, was Familie jenseits der biologischen Verwandtschaft ist. Sie wagt sich auf eine unsentimentale aber einfühlsame Weise an schwierige Themen wie Liebe und Verlust heran und sie schafft das alles auch noch, ohne Klischees zu bemühen. Und dennoch geht all das in der Umschlaggestaltung durch den Verlag unter.

Der Kampf gegen Windmühlen

Die Aufmachung ist symptomatisch für eines der Kernprobleme des Literaturbetriebs und zeigt, dass die Annahme Frauen schreiben leichte Unterhaltung (stets romantisch, immer nur romantisch) und Männer schreiben intellektuell über ernste Themen immer noch fortbesteht. Derselbe Text von einem männlichen Autor? Ich bin mir sicher, er hätte einen anderen Titel und ein anderes Titelbild bekommen. Als Autorin kämpft Barone wie so viele andere Kolleginnen gegen Windmühlen: Egal, was sie schreibt, wenn es bei einem großen Verlag erscheinen soll, muss sie in Kauf nehmen, dass es als seichte Unterhaltung abgestempelt wird.


Zur Autorin dieser Zeilen

Lena Kraus schreibt und übersetzt aus dem Englischen und Skandinavischen. Sie setzt sich für Demokratische Bildung ein und durchmisst nicht nur Erzählströme und Flüsse, sondern paddelt auch selbst in ihrer Freizeit in Deutschland und Großbritannien auf zahlreichen Gewässern.

Diesen Beitrag teilen

Daniel Mason – Der Wintersoldat

Dass zwischen Theorie und Praxis ein himmelweiter Unterschied besteht, das muss der junge Student Lucius Krzelewski in Daniel Masons Roman Der Wintersoldat auf blutige Art und Weise lernen. Dabei fängt für den jungen polnischstämmigen Österreicher alles so vielversprechend an:

Er war zweiundzwanzig Jahre alt, ruhelos und hatte eine natürliche Abneigung gegen Autorität. Voller Ungeduld sah er dem Ende seiner Ausbildung entgegen. Drei Jahre hatte er in Bibliotheken über seinen Studien zugebracht, sich mit geradezu mönchischem Ernst der Medizin gewidmet. Die Ränder seiner Bücher wimmelten von unzähligen Peküre-Papieren, dünnen Lesezeichen, die er mit der Hand eingeklebt hatte. In den großen Hörsälen hatte er auf Laternendias gesehen, was Typhus, Scharlach, Tuberkulose und Pest anrichten konnten. Er hatte sich die Symptome von Kokainismus und Hysterie eingeprägt, wusste, dass der Atem bei Blausäurevergiftungen nach Bittermandeln roch und man das Geräusch einer Aortenklappenstenose am Hals hören konnte. Mit Krawatte und frisch gebügelter Jacke hatte er stundenlang aus schwindelerregender Höhe in das Amphitheater der chirurgischen Akademie gestarrt, sich den Hals verdreht, um zwischen seinen Kommilitonen hindurchsehen zu können, über die akkurat gekämmten Köpfe der älteren Studenten, der Juniorprofessoren, der Assistenten des Chirurgen hinweg einen Blick auf das Operationstuch, die Inzision zu erhaschen.

Mason, Daniel: Der Wintersoldat, S. 11

Als Einziger aus seiner Oberschichtenfamilie interessiert sich Lucius für die Medizin. Sein Vater ist ein hochdekorierter Kriegsheld, seine Mutter eine eiskalt kalkulierende Managerin in Sachen Familie und Familienvermögen. Da fällt Lucius aus der Reihe. Aber seine Faszination für die Lehren von Paracelsus und Co wächst immer weiter. Zusammen mit seinen Freunden steigert er sich zusehends in die verschiedenen Themen und Phänomene der Medizin hinein. Doch dann trifft sein theoretisch erlerntes Wissen auf die Realität. Denn nach dieser farbig geschilderten Vorgeschichte lässt Mason Lucius in der Realität des Krieges ankommen. Alle Theorie verliert sich dabei recht schnell gegen die Praxis, wie der junge Student feststellen muss.

Ein Arzt im Ersten Weltkrieg

Seine medizinischen Dienste werden nämlich an der Front benötigt. Der Große Krieg ist im Jahr 1915 im vollen Gange und man braucht kundige Ärzt*innen und Student*innen, die die vielen verwundeten Soldaten irgendwie versorgen können. Doch schon bald zerbrechen sämtliche Fantasien und Wunschvorstellungen Lucius‘. Er muss feststellen, dass sein Wirken an der Front keineswegs Heilung zum Ziel hat. Vielmehr soll er seine Patienten schnellstmöglich wieder fit machen, um sie einer weiteren Verwendung dieser Menschenmühle namens Weltkrieg zuzuführen.

Daniel Mason - Der Wintersoldat (Cover)

Bei einem Einsatz in einem alten Kloster in den Karpaten begegnet er dann auch dem titelgebenden Wintersoldaten. Dieser wird in das Kloster eingeliefert, in dem Lucius zusammen mit der Nonne Margarete um das Überleben der Soldaten kämpft. Ein aussichtsloser Kampf, der durch Lebensmittelknappheit, Medizinmangel und die völlige Abgeschiedenheit des Klosters erschwert wird.

Jener Wintersoldat wird zum Prüfstein von Lucius‘ bisherigen Leben. Denn ein Fehler im Umgang mit dem Soldaten und der Militärmacht wächst sich zur Katastrophe für den Medizinstudenten aus, der sich doch eigentlich dem Hippokratischen Eid verantwortlich fühlt. Der Wintersoldat wird zum unsichtbaren Brandmal, das Lucius fortan immer begleiten wird.

Licht und (zu viel) Schatten

Das Schöne an Der Wintersoldat ist, dass sich Daniel Mason einen Schauplatz ausgesucht hat, der so im Rahmen des Ersten Weltkrieges insbesondere von einem Amerikaner noch nicht häufig bearbeitet wurde. Die Karpaten und die Kämpfe an der dortigen Front, all das fängt Mason ganz gekonnt ein (gut auch übersetzt von Sky Nonhoff und Judith Schwaab).

In guten Momenten erinnert Der Wintersoldat so manches Mal an Ian McEwans Abbitte oder sogar an eine Prise russischer Erzähler á la Puschkin. Doch dann gibt es leider auch die schwachen Momente in diesem Buch (und davon nicht zu wenig). Auf dem Meer des Erzählens segelt Daniel Mason leider etwas unruhig und erleidet des Öfteren Schiffbruch an den berüchtigten Kitsch-Klippen. Den Überschwang an Pathos könnte man dem Autor noch verzeihen, aber leider ist auch der Kitsch stets präsent. In schlechten Momenten ähnelt das Buch eher Konsaliks Der Arzt von Stalingrad, der diesmal eben kurzerhand im Ersten Weltkrieg als Feldscher seinen Dienst versieht.

Den Nebenfiguren, die dieses Buch bevölkern, fehlt es an Brüchen. Ein besonders krasses Beispiel ist jener deutsche Offizier, der im Roman ohne Zwischentöne oder Nuancen als sadistisch geschildert wird. Mit ihm bricht das reine Böse in das Klosterlazarett ein. Wie aus einem Propagandafilm entsprungen wirkt dieser Mann. So lässt sich natürlich die Unschuld Margeretes und Lucius‘ gut konstrastieren. Leider wirkt das Ganze dann aber arg schematisch und mit dem dicken Pinsel gemalt.

Fazit

Krieg und Liebe, Verlust, Trauer und die Frage der Heilung sind zweifelsohne höchst interessante Themen. Hier wird daraus allerdings ein zu belangloser Roman, der für mich schnell wieder vergessen war. Eine ordentliche Prise Kostümdrama, viel Weltkrieg, einige belanglose Liebesgeschichten – diese Elemente wollen sich nicht so richtig verbinden und berühren daher auch nicht sonderlich. Der Wintersoldat ist wieder einmal ein Fall von „Nicht wirklich schlecht, aber auch nicht ganz gut“. Als Buch über den Ersten Weltkrieg empfehle ich aber dennoch eher die Erinnerungen von Vera Brittain. Als Krankenschwester erlebte sie den Großen Krieg direkt mit und weckt in ihren Memoiren etwas, das ich bei Daniel Mason vermisste: Mitgefühl, Emotionen und Eindrücklichkeit.


  • Daniel Mason – Der Wintersoldat
  • Aus dem Englischen von Sky Nonhoff und Judith Schwaab
  • ISBN: 978-3-406-73961-3 (C. H. Beck)
  • 430 Seiten, Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Mathias Menegoz – Karpathia

Ein Buch wie aus der Zeit gefallen: zwischen Räuberpistole und k.u.k.-Monarchie beschwört der Franzose Mathias Menegoz noch einmal eine lang vergange Zeit herauf, die doch Schatten auf die Gegenwart wirft. Und er geht der Frage nach, wer in den Karpaten die wirklichen Blutsauger waren.


Die Karpaten: legendenumwobenes Hochgebirge, Heimat von Vlad, dem Pfähler, alias Dracula, Schmelztiegel der verschiedenen Ethnien. In Mathias MenegozKarpathia verschlägt es den jungen Offizier Alexander Korvanyi mit seiner Ehefrau Cara in dieses Gebiet. Seit einem brutalen Massaker an seinen Vorfahren im Jahr 1784 hat keiner der Korvanyis mehr dieses Gebiet betreten – bis jetzt. Denn Alexander Korvanyi hat die Vision, die familiären Güter, Burg inklusive, wieder unter seine Herrschaft zu stellen.

Mathias Menegoz - Karpathia (Cover)

Und so reist das junge Paar im Jahr 1833 aus dem kaiserlichen Wien ab, um in den Karpaten das Glück in die eigene Hand zu nehmen. Ein zuvor stattgefundenes Duell mit tödlichem Ausgang für die Gegenseit macht den Entschluss der beiden noch leichter. Doch so einfach, wie sich die beiden ihr Leben in den Karpaten vorgestellt haben, soll des dann doch nicht werden. Denn die große Armut der Bevölkerung, Leibeigene und verschiedene ethnische Einflüsse machen die Karpaten zum Pulverfass, auf dem nun auch noch ein eigenwilliger und herrischer Lehnsherr namens Korvanyi herumtrampelt.

Der Kampf um die Karpaten

Seine Ländereien, Korvanya genannt, werden von Walachen, Magyaren und Östereichern bewohnt. Ein explosives Gemisch, dessen Miteinander nur scheinbar funktioniert, denn unter der Oberfläche brodelt es. Und einige der Karpatenbewohner haben ein vitales Interesse daran, für die eigenen Vorteile diese Mischung zur Explosion zu bringen. Ein nervenaufreibender Kampf um die Vorherrschaft der Karpaten beginnt, der sich wie eine Blaupause für andere ethnische Konflikte bis in die Gegenwart hinein liest.

Ambivalent zeigt Matthias Menegoz die Herrschaft des wankelmütigen Alexander Korvanyi über seine Ländereien. Gewollte und ungewollte Provokationen durch den Lehnsherr, große Armut und schwärender Revolutionswillen beim eigenen Volk, militärische Interessen der k.u.k.-Monarchie, die die Karpaten als letzten Außenposten des Reichs gewahrt wissen wollen – irgendwie möchte jeder sein Stück vom Kuchen der Karpaten abhaben. Dass das nicht ohne Folgen bleiben kann, das inszeniert Matthias Menegoz im Stile eines alten Abenteuerromans.

Beginnt alles noch recht überschaubar mit einem Duell, dem die Frage der Ehrverletzung einer jungen Frau vorausgeht, so wird in den Karpaten dann alles recht kompliziert. Lokale Schmuggler, die das Chaos in den karpatischen Bergen wollen, ein Burgherr, der wieder den alten Glanz zurückmöchte, k.u.k-Militärbefehlshaber, lokale Fürsten – wie in einem Historiengemälde malt der Franzose Menegoz sein Bild von skizzenhaften Anfängen ausgehend immer dichter und düsterer.

Herrlich altmodisch

Dabei liest sich Karpathia herrlich altmodisch. Szenen werden detailliert aufgebaut, manchmal wird seitenlang getafelt oder Hof gehalten. Das muss man mögen – aber als entschleunigter Abenteuerroman alter Schule ist dieses Buch wirklich großartig. Dass solche Bücher heutezutage noch in einer derartigen Qualität und Akribie geschrieben werden, das finde ich wunderbar. Hier lässt es sich wirklich wieder einmal in eine alte Welt abtauchen, seitenlange Burgerstürmungen und epische Kämpfe in den Bergen der Karpaten inklusive. Schön, dass es sowas noch gibt (und von Sina de Malafosse so gut übersetzt wurde)!


  • Mathias Menegoz – Karpathia
  • Aus dem Französischen von Sina de Malafosse
  • ISBN 9783627002381 (Frankfurter Verlagsanstalt)
  • 680 Seiten, 28,00 €

Diesen Beitrag teilen

R. O. Kwon – Die Brandstifter

Was passiert, wenn sich zwei labile Menschen zu einer Partnerschaft zusammenfinden? Und was, wenn zu dem fragilen Doppel auch noch eine dritte, toxische Partei dazustößt? Das erkundet R. O. Kwon in ihrem Debüt Die Brandstifter (Liebeskind-Verlag, Deutsch von Anke Caroline Burger).


Beziehungen können Ruhepol und Kraftorte sein. Inkubatoren des Verständnisses oder auch Wohlfühloasen. Dann gibt es aber auch Beziehungen, die durch das genaue Gegenteil gekennzeichnet sind. Ständige Streitereien, knallende Türen, Beziehungsgefälle. Statt Kraft bedeuten solche Beziehungen ständiges Aufreiben. Wenn sie schon nicht auf der Tagesordnung stehen, dann sind Kämpfe aber mindestens an der Monatsordnung.

Erstere Art der Beziehungen mag harmonischer und konfliktfreier sein – die andere Sorte bietet aber literarisch deutlich mehr Potential. Das hat auch R. O. Kwon erkannt, die zwei völlig gegensätzliche Personen in den Mittelpunkt ihres Romans stellt. Abwechselnd erzählen immer Will und Phoebe von ihrem Leben und ihrer Sicht auf die Beziehung, die sie beide so Vieles kostet. Phoebe hatte in jungen Jahren den Plan, Starpianistin zu werden, woraufhin sie sich einem drakonischen Übungsplan unterwarf und alles ihrem Ziel unterordnete, eine herausragende Pianistin zu werden.

Und dann ist da Will, der das Gegenteil von Phoebe verkörpert. Ein armer Student, Slacker, der antriebslos zwischen Kellnerjob und Studentendasein oszilliert. An der Universität des fiktiven Städtchens Noxhurst lernen sich die beiden kennen und lieben. Die etwas abgegriffene Binsenweisheit der Gegensätze, die sich gegenseitig anziehen, trifft auch hier einmal mehr zu.

Phoebe, Will und ein Sektenführer

Doch dazu kommt dann noch ein weitaus stärkerer Magnet, der in das Anziehungsfeld der beiden eingreift. Dies geschieht in Form des mysteriösen John Leal, eines charismatischen Anführers, der die Sekte Jejah gegründet hat. Beide geraten ins Strömungsfeld dieses Mannes, der angebliche für sein missionarisches Wirken schon in einem nordkoreanischen Gulag saß.

Fortan beobachtet R.O. Kwon die Entwicklungen und Turbulenzen in diesem Gefüge, wobei sie immer abwechselnd aus Phoebes und Will Perspektive erzählt. Und auch von John Leal wird immer wieder berichtet. Dabei treibt R. O. Kwon ein interessantes Spiel mit den Perspektiven. Das Wirken John Leals wird auktorial erzählt, Will ist ein klassischer Ich-Erzähler. Nur bei Phoebe ist alles nicht ganz so klar, wer hier erzählt. Zwar ist der Großteil in der Ich-Perspektive geschildert, die Einleitung der Kapitel macht allerdings klar, dass sich hier jemand anderes in sie einzufühlen versucht. Ist es Will, der hier Phoebe zu verstehen such? Möglich ist es, Zweifel bleiben.

Generell blieben während der Lektüre viele Fragen. Das liegt daran, dass R. O. Kwon nicht erzählt, indem sie eine durchgängige Handlung schildert, sondern immer wieder kleine Miniskizzen von John, Will und Phoebe anfertigt und diese hintereinandermontiert. Dass das Ganze kein gutes Ende nimmt, das ist ja schon nach der ersten Seite klar. Aber wie es zu den Entwicklungen kam, das muss man sich auch selbst ein Stück weit erschließen.

Es fehlt das Fleisch auf den Rippen

Für mich las sich Die Brandstifter eigentlich wie ein Skelett einer Geschichte, bei dem mir dann aber das Fleisch auf den Rippen fehlte. Denn das Buch umfasst gerade einmal 240 Seiten – und dafür ist zu viel anerzählt, als was dann auserzählt wird. Dabei böte die Geschichte viele Chancen, gerade der migrantische Blick einer Koreanerin auf das (Campus)Leben in den USA und die Dynamiken in Sekten sind hochspannende Themen. Nur macht R. O. Kwon für mein Empfinden zu wenig daraus.

Schlecht ist das Buch sicher nicht, aber die vielen Lobeshymnen, das großartige Cover und die Bewerbung des Buchs weckten viele Erwartungen in mir, die der Titel dann aber nur unzureichend erfüllen konnte. Schade!

Etwas anders sieht das im Übrigen Christian Buß, der auf Spiegel Online ebenfalls eine Besprechung zu dem Buch verfasst hat.

Diesen Beitrag teilen

Transfers im Krimigeschäft

Alan Carter – Marlborough Man

Nicht nur im Fußballbereich gibt es Transfers – auch im Buchgeschäft ist das Ganze gang und gäbe. Schauen wir uns einmal beispielsweise den Suhrkamp-Verlag an. Er hat einige Krimiautor*innen bei uns bekannt gemacht. Halten konnte er sie nicht immer. Bestes Beispiel ist Don Winslow, der mit seinen Surferkrimis um Boone Daniels oder das Drogen-Epos Tage der Toten bekannt wurde und viel Lob vonseiten der Kritiker*innen und Leser*innen einheimste. Irgendwann kam dann der Droemer-Knaur-Verlag, der Winslow zu sich lockte, wo der Amerikaner nun veröffentlicht und seitdem in regelmäßigen Abständen auf der Bestsellerliste zu finden ist.

Nun droht sich dieses Beispiel zu wiederholen. Adrian McKinty, der in meinen Augen beste nordirische Krimischriftsteller unserer Tage, veröffentlicht mit bestechend konstanter Flughöhe seine Krimis um den katholischen Bullen Sean Duffy in Carrickferrgus der 80er und 90er Jahre, die vom IRA-Terror gekennzeichnet waren. Nur, der große Durchbruch blieb dem Iren bislang verwehrt (zumindest in meiner Wahrnehmung). Das könnte sich im Herbst nun ändern, da erscheint dann nämlich mit The Chain ein Thriller von ihm, der deutlich mehr am Mainstream angesiedelt ist, wenn man dem Klappentext und der Bewerbung Glauben schenken darf. Wo erscheint dieses Buch? Auch hier hat Droemer-Knaur wieder zugeschlagen und sich die Rechte gesichert. Auszuschließen ist es nicht, dass damit McKinty der Durchbruch gelingt und er sich fortan größeres Publikum erschließen kann. Ihm ist es natürlich zu gönnen, Suhrkamp wird sich aber verständlicherweise ärgern.

Ein Transfer für den Suhrkampverlag

Dass es auch umgekehrt gehen kann, das zeigt der Fall von Alan Carter. Dieser hat zwei handwerklich brillante Krimis um den australischen Detektive Cato Kwong veröffentlicht. Doch auch hier schlägt das Schicksal der hochklassigen Kriminalliteratur zu: kaum einer hat es mitbekommen. Zwar standen auch diese Krimis oben auf der Krimiweltbestenliste, die breite Masse hat dies aber gekonnt ignoriert. Beispielsweise weist der zweite Krimi eine einzige mittelmäßige Bewertung auf Amazon auf, der erste Krimi bringt es immerhin auf sieben Rezensionen. Das ist schade, da der der kleine Indie-Verlag Nautilus mal wieder den richtigen Riecher für gute Krimis bewiesen hat.

Diesen Riecher hatten aber offenbar auch Thomas Wörtche und der Suhrkamp-Verlag. Denn wurde das Spiel anders herum gespielt und Suhrkamp konnte einem anderen Verlag den Autoren wegschnappen. Mit Marlborough Man veröffentlicht Alan Carter nun seinen ersten Krimi im neuen Haus. Dafür hat er auch das Setting gewechselt.

Ermittlungen in den Marlborough Sounds

Statt in Australien spielt sein Krimi nun in Neuseeland, genauer gesagt in der Küstenlandschaft der Marlborough Sounds. Den Schauplatz des Krimis dürften auch Kinogänger rasch vor Augen haben, wenn man an Peter Jacksons Verfilmung des Hobbits denkt. Die Flüsse, die die Marlborough Sound durchziehen, dienten unter anderem auch für die Inszenierung der Fass-Verfolgung von Bilbo Beutlin und den Zwergen.

Alan Carter - Marlborough Man (Cover)

In dieser beeindruckenden Naturkulisse, die ganz vom Maori-Erbe durchdrungen ist, ermittelt Nick Chester, der eigentlich gar nicht so heißt. Auch aus Neuseeland stammt er ursprünglich nicht. Er ist hier untergetaucht, da in England eine verdeckte Ermittlung schief lieg und er aufflog. Nun ist er also der Polizei in den Marlborough Sounds zu Diensten und lebt mit seiner Familie abgeschieden in der Umgebung der Marlborough Sounds.

Er bekommt es nun mit einem Mörder zu tun, der es auf kleine Jungs abgesehen hat. Die Ermittlungen werden dadurch erschwert, dass Nick eigentlich immer permanent unter dem Radar fliegen muss. Denn die Anzeichen mehren sich, dass auch im fernen England jemand die Spur des Marlborough Man aufgenommen hat, der noch eine Rechnung mit ihm offen hat. Double Trouble also in Neuseeland für Nick Chester und seine Kolleg*innen.

Ein klassischer Reihenauftakt von Alan Carter

Formal bietet der Krimi wenig Neues. Da ist der obligatorische Prolog, der uns den Mörder schon einmal in Aktion zeigt. Und auch ansonsten tritt der Mörder anonym immer wieder in Erscheinung, ehe in einem Showdown die ausgelegten Fährten zusammengeführt werden. Dass der kurz vor Ende präsentierte Verdächtige natürlich nicht der gesuchte Mörder sein kann, das ist jedem einschlägigen Krimileser und jeder Krimileserin schon im Vorfeld klar. Und auch ansonsten setzt Alan Carter eher auf kriminalliterarische Hausmannskost, die er aber sehr gut zubereitet.

Die Dialoge sitzen, die Szenerie in Neuseeland wird toll eingefangen und auch Nick ist ein tragfähiger Charakter. Wenngleich dieses Buch wie eine klassische Einführung dieses Ermittlers gestaltet ist und noch etwas überfrachtet wirkt- spätestens in ein oder zwei Büchern wird Alan Carter mit ihm zu altbekannter Form gefunden haben. Auf weitere Bücher mit dem Marlborough Man bin ich gespannt. In meinen Augen hat sich der Transfer für Suhrkamp durchaus gelohnt!


  • Alan Carter – Marlborough Man
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN: 978-3-518-46932-3 (Suhrkamp)
  • 383 Seiten, 14,95 €
Diesen Beitrag teilen