Angela Steidele – Ins Dunkel

Die Dietrich, die Garbo, die Mann. In ihrem neuen Roman Ins Dunkel entwirft die Historikerin und Schriftstellerin Angela Steidele einen Blick auf eine Leinwand, die uns die Dreißiger Jahre zeigt – und die Konkurrenz zweier Frauen, die am Umbruch von Stummfilm zu Tonfilm umd ihre Identität und ihr Glück ringen. Nur mit dem Schnitt in diesem Kino scheint etwas nicht zu stimmen.


Immer wieder erweist sich die in Köln lebende Historikerin Angela Steidele als lehrreiche Erzählerin, die in ihren Romanen die vorwiegend weiblichen Aspekte der Geschichte in ihren Geschichten betont. Historisch verbürgte Figuren wie etwa Anne Lister oder die unter ihrem Pseudonym Atanasius Rosenstengel tollkühne Abenteuer erlebende Catharina Linck entriss sie mit ihren Werken dem Vergessen, ehe sie sich zuletzt mit Aufklärung der weibliche Seite des Leipzigs der Aufklärungszeit widmete. Von Catharina Dorothea Bach bis hin zu Luise Gottsched reichte der Bogen, den sie in diesem großartigen historischen Roman spannte und der zu Recht im vergangenen Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war.

Für ihr neues Werk hat ihr der Suhrkamp-Verlag den Wechsel vom gefälligeren Insel-Programm hin ins literarische Spitzenprogramm des Suhrkamp-Verlags ermöglicht. Inhaltlich bleibt sich Angela Steidele dabei auch mit Ins Dunkel treu. Wieder blickt sie aus überwiegend weiblicher Perspektive auf das Geschehen, das diesmal zum großen Teil in den 30er Jahren zwischen Babelsberg und Hollywood angesiedelt ist.

Aus Klosters nach Hollywood

Angela Steidele - Ins Dunkel (Cover)

Zunächst jedoch sind wir im Schweizerischen Dorf Klosters zu Gast, nicht weit vom legendären Zauberberg entfernt. Hier logiert im Jahr 1969 Salka Viertel, die immer wieder Besuch bekommt. Es handelt sich um Besuch, der sie an die Zeit zwischen dem Berlin der 20er und dem Hollywood der 30er Jahre erinnert. Denn Slka Viertel war einst entscheidender Teil des Filmbetriebs, der besonders von den beiden Übergestalten Marlene Dietrich und Greta Garbo dominiert wurde.

Deren Karrieren zeichnet Ins Dunkel genauso nach, wie sich Angela Steidele auch insbesondere mit Erika Mann und deren Beziehung zu den Filmkreisen beschäftigte.

Immer wieder bedient sich Angela Steidele eines harten Schnitts, der von den Zeitebenen und Figur zu Figur springt. Es ist die Schnitttechnik, derer sich zuletzt Daniel Kehlmann in seinem zuvor erschienenen Buch Lichtspiel (über den in Steideles Buch ebenfalls Erwähnung findenden) Regisseur G. W. Pabst ebenfalls bediente. Immer wieder flackert die Leinwand, zeigt die erzählerische Kamera eine neue Einstellung oder findet eine neue Figur, mit der sie sich beschäftigt, ohne dass sich zwingend immer gleich ein Zusammenhang zeigt. Dennoch aber ergibt diese springende Erzählweise Stück für Stück einen Fluss, der unter Angela Steideles schriftstellerischer Behandlung wieder einmal zu einem rauschenden Strom des Wissens gerät.

Egal ob das Swinging Berlin mit den Schriftstellertöchtern Pamela Wedekind und Erika Mann nebst Bruder Klaus oder das später von den Emigranten wie Carl Laemmle oder Louis B. Mayer geprägte Hollywood: Ins Dunkel ist randvoll mit Wissen und historischen Gestalten. Neben der Dietrich, der Garbo und der Mann sind es weitere bekannten Künstlernamen wie die von Friedrich Murnau, Josef von Sternberg oder Anita Berber, die für die Schwelle des Stummfilms zum Tonfilm stehen, die aber auch mit ihren Viten den Umschwung des Zeitgeists und den Aufbruch der intellektuellen Künstlerschicht ins Exil nach Hollywood symbolisieren.

Marlene Dietrich, Greta Garbo und Erika Mann

Angela Steidele fördert neben der Schau großer Namen aber auch viele heute so gut wie vergessener Figuren wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Die von Salka und ihrem Mann Berthold Viertel zählen dazu, Förderer der Künstlerinnen wie Mauritz Stiller oder Mercedes de Acosta, die mit Marlene Dietrich sicher und möglicherweise mit Greta Garbo eine Liebesaffäre verband, sie alle finden in Ins Dunkel Erwähnung. Ganz Steidele-typisch ist neben Zitaten, Spekulativem und Verweisen auf die Gegenwart auch der queere Aspekt ihrer Figuren und der Filmindustrie wieder ein zentraler Aspekt ihres Buchs.

Dabei ist nicht alles vollumfänglich gelungen. Die manchmal doch reichlich didaktisch wirkenden Erklärmonologe, die angesichts der Fülle von Personen und Kontexten immer wieder Hintergründe oder Beziehungen erläutern müssen, dazu der manchmal allzu wilde Schnitt, der keinen wirklichen Fokus auf eine der Figuren aufkommen lassen will, zählen in meinen Augen zu den Schwächen von Ins Dunkel. Der in die Mitte des Buchs gesetzte Erzähleinfall der plötzlich selbst als Figur auftretenden Angela Steidele will nicht recht aufgehen und erschließt sich dramatisch nicht zwingend.

Auch ist der Hereinnahme von Erika Mann zwar eingedenk des Schauplatzes der Rahmenhandlung und des diesjährigen großen medialen Fokus auf Thomas Mann und damit auch seiner Familie verständlich. Literarisch allzu gut ausgeleuchtet aber scheint dieses Kapitel im Vergleich zur Freundschaft und Rivalität zwischen Marlene Dietrich und Greta Garbo, sodass dieser Aspekt am ehesten verzichtbar ist, obschon die Geschichte der kessen Erika und die Geschichte ihres Kabaretts Die Pfeffermühle zusammen mit Therese Giehse für sich genommen hochspannend ist. Im Kontext der restlichen Erzähleinlage fügt sich das alles aber nicht immer ganz organisch ein.

Nicht ins Dunkel, sondern ins Licht der Erkenntnis

Diese stellenweise Überfrachtung an Themen und Figuren verzeiht man Angela Steidele aber gerne, ist dieses Buch doch eines, das die Zeit vor knapp hundert Jahren erkenntnisreich aufschließt und der ein ganzes Breitwandpanorama zwischen Klosters und Hollywood, Leinwandgrößen und vergessenen Gestalten gelingt. Das ist ein Buch, das klüger macht und das vielerlei Einsichten liefert und dabei Fakt und Fiktion, Kunst und Leben miteinander vermengt. Dieser Roman führt keineswegs Ins Dunkel, sondern liefert erhellende Erkenntnis über die Zeit und diejenigen, die in ihr die großen Rollen spielten. Steideles Roman erleuchtet das Leben seiner Figuren und stellt damit eine ganze Ära ins gleißend helle Scheinwerferlicht.

Oder um mit den Worten Ernst Lubitschs aus dem Roman selbst zu sprechen: „Mehrdeutig, anspielungsreich, prägnant, kurzum: große Kunst! (S. 74).


  • Angela Steidele – Ins Dunkel
  • ISBN 978-3-518-43247-1 (Suhrkamp)
  • 357 Seiten. Preis: 26,00 €

Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis

Welch absurde Züge der Versuch der Erlangung eines Reisepasses annehmen kann, das lässt sich aus dem in der Reihe Weltlese der Büchergilde Gutenberg erschienenen Roman Der letzte Ausweis von Fereidoun M. Esfandiary erfahren. Besonders verkompliziert sich die Sache durch den Staat, dessen bürokratische Landschaften Esfandiarys Held in allen Höhen und Tiefen durchwandelt. Esfandiarys Roman spielt nämlich im Iran zur Zeit der 60er Jahre.


Es ist wohl eine der meistzitiersten Szenen aus den Asterixfilmen: die Rede ist vom Passierschein B38, den Asterix und Oblix im Film „Asterix erobert Roman“ erhalten müssen, um damit eine der vielen Aufgaben zu meistern, die ihnen im Auftrag Cäsars gestellt werden, um ihren ganz eigenen Marsch auf Rom zu unterbinden.

Dazu suchen die beiden Gallier eine römische Behörde auf, die sie nicht nur auf eine aberwitzige Odyssee auf der Suche nach Zuständigen für den ominösen Schrieb schickt, sondern auch schon bald die Behördenmitarbeiter*innen selbst in den Wahnsinn treibt. Die Absurdität und Sinnlosigkeit mancher Behördengänge und der vielgescholtenen Bürokratie wurde selten so prägnant zusammengefasst, sodass sich dieser Clip noch immer großer Beliebtheit erfreut und die Suche nach dem Passierschein schon fast zum geflügelten Wort geworden ist.

Ein Mann in den Mühlen der Bürokratie

Fereidoun M. Esfandiary - Der letzte Ausweis (Cover)

Liest man den ursprünglich in den 60er Jahren und 1999 unter dem Titel Identity Card (wieder)veröffentlichten Roman des iranischen Autors Fereidoun M. Esfandiary, erkennt man schnell, dass nicht nur in Zeichentrickfilme die Mühlen der Bürokratie langsam mahlen, sondern dazu beitragen können, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Und das kommt im Falle von Esfandiarys Roman so:

Der Lehrer Dariusch Aryana kehrt nach einem langen Aufenthalt in seine Heimat Iran heim. Lange aufhalten will er sich dort aber nicht, im Gegenteil. In sich trägt er den Wunsch, schnell wieder sein Heimatland zu verlassen. Doch dafür braucht er einen Ausweis – und diesen im Iran der 60er Jahre zu erlangen, das stellt sich als schier unüberwindliche Aufgabe heraus.

So wird er von Mitarbeiter zu Mitarbeiter verwiesen, Kompetenzen scheinen ungeklärt oder widersprechen sich, oftmals sind die Zuständigen nicht am Platz anzutreffen. Selbst Bestechung oder die Hinwendung zu höhergestellten Kräften zeitigen keinen Erfolg. Höhepunkt der kafkaesken Odyssee durch Vorzimmer und Büros ist die Anzweifelung von Aryanas Status als „echter“ Iraner. Und so irrt er weiter von Büro zu Büro und wird zunehmend verzweifelt.

Am nächsten Tag ging er frühmorgens zu Herrn Bastans Büro im Standesamt. Er erklärte, warum er gekommen war, und Herr Bastan,der aufmerksam zugehört hatte, schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Herr Aryana, niemand hat Ihren Brief an mich weitergeleitet.oder mit mir über IHren Antrag gesprochen.“

„Ich war gestern in Herrn Dr. Schayans Büro, und er sagte, er würde meinen Brief an Sie weiterleiten, und Sie würden ihn Herrn Firuz übergeben. Er riet mir, heute zuerst bei Ihnen vorbeizuschauen.

Herr Bastan breitete die Arme aus und schwor, er habe weder irgendwelche Briefe noch Anweisungen betreffs Herrn Aryana erhalten. „Jede Menge Briefe und Dokuente sind heute bereits eingetroffen, aber Ihr Schreiben habe ich nicht erblickt. Warten Sie, ich sehe nochmals nach.“ Er durchforstete den Papierstapel, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, und suchte auch in der obersten Schublade. „Nein, es ist nicht hier, ganz bestimmt nicht, dessen können Sie sich sicher sein.“

Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis, S. 25

Trauriger Ernst

Das, was in seiner ganzen Absurdität eher einer Satire gleicht, hat dabei einen durchaus ernsten Hintergrund, wie Esfandiarys dem Roman vorangesetzten Worten zu entnehmen sind

Dieses Buch wurde in Teheran geschrieben. Das Manuskript wurde im Teheraner Postamt abgefangen und konfisziert. Ein zweites Exemplar wurde eilig abgetippt und mit der Hilfe zweier Amerikaner ins Ausland gebracht.

Ich bin dem iranischen Freund dankbar, der unter großen Risiken das Manuskript zweimal abgetippt hat, ebenso den beiden amerikanischen Freunden.

Für jene, die den Iran nicht kennen, mag die Anmerkung hilfreich sein, dass es sich bei diesem Werk um keine Satire handelt.

Vorwort zu „Der letzte Ausweis“ von F. M Esfandiary

Die außer Landes geschmuggelte Geschichte beschreibt einen Iran, der sich durch undurchsichtige Regeln, Korruption und Willkür auszeichnet. Der weltgewandte Dariusch kollidiert dabei nicht nur in Sachen Sprache mit den Gepflogenheiten seines Heimatlandes.

Fremd im eigenen Land

Unsicher auf dem Spielfeld, auf dem nach für ihn unerklärlichen Regeln gespielt wird, taumelt er durch das Land, eckt auf Parties mit seinen Ansichten an und gerät schließlich sogar noch in eine Revolution gegen den Schah, bei dem das abfällige Wort der „Jubelperser“ noch einmal eine ganz eigene Bedeutung erhält.

Der letzte Ausweis besticht mit seiner Beschreibung der Absurdität eines eigentlich unkomplizierten Vorganges und zeigt einen Mann, der fremd im eigenen Land geworden ist und der nicht weiß, wie er sich dem Mahlwerk der Bürkokratie erwehren soll, das ihn immer tiefer in seine Abgründe hineinzieht. Zudem bieten sich Einblicke in ein Land, dessen Bewohner*innen mit den herrschenden Regeln und Ungleichheiten auch nicht länger leben wollen – zum Schrecken der herrschenden Kaste, die nichts unversucht lassen, um die öffentliche Meinung zu drehen und eine gehorsame Welt durchzusetzen.

Fazit

Der 1930 in Brüssel als Sohn iranischer Diplomaten in Brüssel geborene Fereidoun M. Esfandiary schafft es mit seinem Roman, die Bürokratie als Machtinstrument und Unterdrückungsapparat mitsamt seiner ganzen absurden Auswüchse zu zeichnen. Dem Zermahlenwerden seines weltläufigen und verzweifelnden Helden wohnt man gerne bei und bekommt nebenbei einen plastischen Eindruck, wie es sich angefühlt haben muss im Iran der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Mit Der letzte Ausweis ist Herausgeber und Übersetzer Ilja Trojanow (in Zusammenarbeit mit Susann Urban) eine echte Entdeckung gelungen, die den Blick dorthin lenkt, wo auch heute noch die Gegenwartsliteratur kaum hin vorstößt. Ursprünglich in den 60er Jahren verfasst zeigt der Roman keine Abnutzungserscheinungen. Mit klarer Sprache geschrieben und mit zeitlosen Themen besetzt verdient dieser Blick ins Innere des Maschinenraums des Iran auch heute noch eine Empfehlung!


  • Fereidoun M. Esfandiary – Der letzte Ausweis
  • Herausgegeben und übersetzt von Ilija Trojanow
  • Übersetzt von Susann Urban
  • Erschienen in der Edition „Büchergilde Weltlese“
  • 221 Seiten. Preis: 17,90 €

Lina Schwenk – Blinde Geister

Fluchtraum Bunker: in ihrem Debüt Blinde Geister betrachtet Lina Schwenk einmal mehr die Traumata der Nachkriegsgeneration und wie sich diese durch die Generationen ziehen und wirken. Daraus entsteht ein dichter und dunkler Text, der nun auch für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 nominiert wurde.


Die Frage der transgenerationalen Traumata ist eine, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur schon seit längerem beschäftigt. So stehen die Bücher von Antonia Baum oder Rabea Edel stellvertretend für die Fülle an Büchern, die das Fortwirken von Traumata insbesondere seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs innerhalb familiärer Gefüge untersuchen. Wie vererben sich Verletzungen, psychische Erkrankungen oder das Schweigen über Erlebtes? Warum bricht Generationen später das wieder auf, was die Generationen zuvor doch erlebt und einfach beschwiegen wähnten?

Während mit Jehona Kicaj neben Lina Schwenk eine weitere Debütantin auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, die in ë diesen Komplex in Bezug auf den Kosovokrieg untersucht, steht bei Lina Schwenk eine schon fast bilderbuchhafte BRD-Familie im Mittelpunkt. Vater Karl, Mutter Rita, Oma Fritzchen, dazu die zwei Kinder Martha und Olivia, sie bilden die Familie, auf die wir Leser*innen hauptsächlich aus Olivias Augen blicken.

Vom Fortwirken des Kriegs

Der Krieg ist lange her, sagt man. Schon über zwanzig Jahre. Wir leben jetzt in Frieden.

Lina Schwenk – Blinde Geister, S. 35

Es ist die Nachkriegszeit, aus dem Radio dringen die Beatles, man fährt mit dem Bulli ans Meer – und doch ist die Idylle und Sorglosigkeit nur Fassade. Denn im Inneren wirken die Kräfte fort, die sich zwanzig Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg zeigten. Oma Fritzchen bekommt immer wieder Angstattacken und will sich im Dunklen verstecken, um einer Entdeckung zu entgehen. Vater Karl kämpft ebenfalls mit den Dämonen und sieht im Bunker, den er als Schutzraum für die Familie angelegt hat, die Rettung. Immer wieder müssen Martha und Olivia mit ihm dort hinabsteigen, akribisch kontrolliert er die Vorratspackungen.

Lina Schwenk - Blinde Geister (Cover)

Doch das kann seine Tochter auch nicht behüten – denn kaum zuhause ausgezogen treten auch bei ihr besondere Verhaltensweisen auf.

So erweist sie sich als radikale Anhängerin des Minimalismus und veräußert immer mehr Besitz aus ihrer Wohnung. Aufs Heizen verzichtet sie ebenfalls und regrediert zusehends, ehe sie in eine Psychiatrie eingewiesen wird (womit sich Blinde Geister in eine weitere bemerkenswerte Riege an jüngst erschienenen deutschsprachigen Romanen einreiht, die in Psychiatrien spielen und um psychische Erkrankungen kreisen, von Leon Englers Botanik des Wahnsinns angefangen über Anna Prizkaus Frauen im Sanatorium bis hin zu Svealena Kutschkes Gespensterfische).

Die Gefahr im Augenwinkel

Die Ängste vor dem Krieg und Unsicherheiten, sie manifestieren sich in den verschiedenen Generationen und beeinträchtigen das Leben über Jahrzehnte hinweg, mag auch auf den ersten Blick Frieden herrschen. Die Angst vor dem Krieg, man wird sie nicht so leicht los, insbesondere da der Krieg zumindest in der Wahrnehmung von Schwenks Familie ja immer da war und sich immer wieder wandelt. Vom Zweiten Weltkrieg hinein in den Kalten Krieg bis in unsere Tage, in denen der russische Präsident durch Angriffskriege und beständige Drohgesten auffällt – die Gefahr ist stets präsent, wenn man einen so wachen Blick auf die schlafenden Geister hat, wie es in dieser Familie der Fall ist.

Von diesem Blick auf die stets im Augenwinkel lauernde Gefahr und die psychischen Abgründe in der Familie erzählt Lina Schwenk sprachlich reduziert und unauffällig, dafür aber sehr pointiert und auf ihr Figurenensemble konzentriert. Alle Traumata und Versehrungen lassen sich im Inneren dieser Familie ablesen, was das Buch auch gut in diese Zeit einfügt, in der das Sprechen und der Blick auf blinde Flecken zunehmend auf Nachfrage und Interesse stößt.

Fazit

Den Traumata kann man auch nicht im Bulli davonfahren – aber man kann davon erzählen. Das lehrt Lina Schwenks Debüt, das genau hineinblickt ins Gefüge dieser so durchschnittlichen und damit auch recht repräsentativen Familie, in der alle mit den blinden Geistern kämpfen müssen. Gerade einmal 180 Seiten benötigt sie für ihren präzisen Blick, der in ebenfalls genau gesetzten Sprache dargeboten wird. Gesellschaftlich relevant, verdichtet und vielfach übertragbar, greift dieses stimmige Debüt viele aktuelle Themen auf und ist damit ganz folgerichtig für den Deutschen Buchpreis sowie für den Debütpreis des Harbourfront-Festivals und den ZDF Aspekte-Literaturpreis nominiert.


  • Lina Schwenk – Blinde Geister
  • ISBN 978-3-406-83704-3 (C. H. Beck)
  • 190 Seiten. Preis: 24,00 €

Hannah Lühmann – Heimat

Raus aus der Stadt, rein ins Grüne. Das Einfamilienhaus mit genug Platz für die Kinder und keinem Raum mehr für die Anonymität der Stadt, dafür nachbarschaftliche Verbundenheit und den Wald vor der Haustür. So sieht auch der Traum von Jana aus, die zusammen mit ihrem Mann Noah und den zwei Kindern den Traum eines Eigenheims auf dem Land in die Tat umgesetzt hat. Doch eine neue Heimat findet die junge Frau in Hannah Lühmanns gleichnamigen Roman auf andere Weise als gedacht.


Während die AfD weiter in schwindelerregende Zustimmungsregionen emporklettert (zumindest den Prognosen der Demoskopen nach), steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur dem Phänomen weiter recht hilflos gegenüber. Die Journalistin Hannah Lühmann unternimmt nun einen literarischen Versuch, um die Anschlussfähigkeit an das Gedankengut der in Teilen rechtsextremen Partei zu beleuchten. In ihrem Roman Heimat ist es aber zunächst weniger der Partei, als die neue Nachbarin Karolin, die eine Faszination auf ihre Heldin Jana ausübt.

Zusammen mit ihrem Mann Noah lebt Jana in einem Neubaugebiet fern der Stadt. Zwei Kinder hat Jana bereits und ein drittes ist auf dem Weg. Grund zur Freude bietet das allerdings weniger. Die Schulden für das neue Heim drücken, ihr Mann, Lehrer, glänzt durch Abwesenheit und ist bis abends in der Schule, während Jana ihren Job in einer Agentur für die Kinder aufgegeben hat. Die von ihr zu leistende Care-Arbeit sorgt bei Jana für regelmäßige Überlastung – und so ist die Begegnung mit Karolin eine Wohltat. Sie, ebenfalls Mutter, zieht Jana schon beim ersten Treffen in ihren Bann.

Das Tradwife nebenan

Hannah Lühmann - Heimat (Cover)

Ebenfalls Mutter erkennt sie Janas Schwangerschaft mit einem Blick und ist so anders im Umgang mit ihren Kindern als Jana, die sich oft überfordert fühlt. Die Faszination Janas für sie und ihre Familie ist mit Händen zu greifen. Erst folgt sie Karolins erfolgreichem Auftritt auf Instagram – und sucht auch im echten Leben immer mehr Karolins Nähe. Sie, die mit ihrem Mann Clemens und den Kindern einen so ganz anderen Umgang pflegt, die Jana zum Mütter-Lesezirkel einlädt und der alles scheinbar mühelos zu gelingen scheint, sie wird zum Vorbild für Jana.

Auch seltsame Ansichten zu Themen wie Kindergarten, Impfung oder Überfremdung irritieren Jana nicht. Immer mehr lässt sie sich in den Dunstkreis von Karolin ziehen und entwickelt fast so etwas wie eine Abhängigkeit zu dieser Frau, deren Ansicht unmerklich auch Janas eigene Wahrnehmung und Verhaltensweisen ändern.

Heimat zeichnet die schleichende Übernahme von reaktionärem Gedankengut bei Jana nach. Karolins traditionelles, um nicht zu sagen erzreaktionäres Familienbild, demnach etwa der Wald ein deutlich besserer Lehrer für die Kinder als ein Kindergarten sei oder die Frau dem Mann untertan sein sollte, sie fallen bei Jana in ihrer Überforderung und Suche nach Orientierung auf fruchtbaren Boden.

Vom Lesekreis zum Standdienst für die AfD

Was mit einem Lesekreis beginnt, setzt sich bei Hannah Lühmann bis hin zum Standdienst für die AfD fort, bei der Clemens und Karolin aktiv sind. Morde von Tätern mit Migrationshintergrund und die geplante Asylbewerber-Unterbringung im Dorf stacheln die Menschen auf – und Jana wird zunehmend zur Verfechterin der Werte, die Karolin mit ihren digitalen Auftritten und im echten Leben propagiert.

Dabei ist es manchmal vielleicht etwas arg plakativ, wenn der Aufstieg der AfD immer wieder mit Bildern wie der vom Titelblatt lächelnden „kaltblonden“ Parteivorsitzenden ins Bild geschoben werden oder passenderweise in einem Kapitel die Titelseite mit den neuesten Umfragewerten aus einer Tasche herausblugt. Stilistisch ist das Buch doch eher schlicht gehalten und ist auf der sprachlichen Ebene das Äquivalent zum biederen Einfamilienhaus (auch wenn Emily Dickinsons Poesie eine Rolle im Buch spielt).

Aber Heimat zeigt eben auch, wie vermeintlich harmlos eine Radikalisierung erfolgen kann. Über Vorbilder wie die Tradwife Karolin und deren Einfluss auch auf Gebildete und emanzipierte Frauen wie Jana, die doch empfänglich sind für das Gedankengut, das langsam aber stetig in die Gesellschaft und in die Köpfe einsickert – dazu eine klare und ungeschönte Beschreibung familiärer Überforderung, die die Suche nach Halt und die Orientierung an fragwürdigen Vorbildern schlüssig erklärt.

Fazit

Die großen Erkläransätze für die Faszination AfD für Teile der Bevölkerung kann Heimat freilich nicht liefern – und will es auch nicht. Aber gerade weil Hannah Lühmann hier eher aufs Privatleben denn die große Politik blickt, zudem keine einfachen Wahrheiten anbietet und lieber den schleichenden Weg Janas in die Radikalisierung zeigt, ohne sich wertend einzumischen, hat Heimat für mich Qualitäten. Das Buch ist mit dem klaren Blick auf familiäre Dynamiken und Verschiebungen im Kleinen auch Sinnbild für das Große, das sich in diesem Land verändert, befeuert durch mediales Dauerfeuer und vermeintlich harmlose Gesichter wie die Karolins, deren Ziel Rückschritt anstelle von echtem Fortschritt ist.


  • Hanna Lühmann – Heimat
  • ISBN 978-3-446-28282-7 (Hanser Blau)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns

Was tun, wenn es in der ganzen Familie psychologische Erkrankungen und wahnhaftes Verhalten gibt? Der Erzähler in Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns tut das Konsequente: er geht in die Psychiatrie. Das allerdings als Arzt und nicht als Patient.


Viel ist es nicht, das vom Leben übrigbleibt. War es bei Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt nur das Klingelschild, das nach der Wohnungsauflösung den sichtbaren Hinweis auf die Existenz der eigenen Großmutter lieferte, so ist der Erzähler in Leon Englers Debüt nun mit einigen Kisten an Hinterlassenschaften beschäftigt, die sich ihm sieben Jahre nach ihrer Einlagerung wie eine Zeitkapsel präsentieren. Beim Öffnen wird er mit der eigenen Familiengeschichte und deren Besonderheiten konfrontiert.

Am Ende bleiben sieben Kartons. In diesen Kartons, gestapelt in einem dunklen Lagerabteil in Wien, befinden sich ausgerechnet die Dinge, die meine Mutter aussortiert hatte: alte Rechnungen, Steuererklärungen, Müll.

Ich gehe die Kartons durch. Einer davon ist randvoll mit ungeöffneten Briefen. Schreiben von Inkassobüros und Anwälten, Vollstreckungsbescheiden und fristlose Kündigungen. Ihre Bedrohlichkeit haben die Briefe längst verloren. Die Poststempel darauf sind sieben Jahre alt. Ich setze mich auf den Boden, öffne den ersten Brief. Das Licht geht aus. Ich hebe meinen Arm. Das Licht geht wieder an.

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 7

Alle Plagen aus den Bibeln der Psychiatrie

Die eingelagerten Kisten sind Spuren eins zunehmend aus den Fugen geratenen Lebens, das nicht das einzige in der Familie des Erzählers ist. Denn in Botanik des Wahnsinns spürt der Erzähler den einzelnen Figuren seiner Familie bis in die Großelterngeneration hinein nach – und allem, was sie dabei verband. Denn psychologischen Krankheiten und auffälligen Symptome ziehen sich durch die Generationen. Die Aufzählung der psychologischen Auffälligkeiten, die der Erzähler seinem Wiener Nachbarn offenbart, gerät so mehr als eindrücklich:

Eines Tages erzähle ich ihm von meiner Furcht, verrückt zu werden. Der Nachbar lacht nur. Wir zeichnen einen Stammbaum und überschlagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mich welches Schicksal ereilen könnte: Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 22

Doch nicht nur die Familie ist schon längst zerfallen, auch sein kurzer Text springt von Vergangenem zur Gegenwart, vom eigenem Erleben des Erzählers hin zu den Erinnerungen an seine Familie. Dadurch zerfällt der Text zwar strukturell, bildet aber dennoch ein Ganzes.

Depressionen, Schizophrenie und suizidale Tendenzen

Leon Engler - Botanik des Wahnsinns (Cover)

In seinen kurzen Kapiteln widmet sich der Erzähler all den familiären Figuren und nimmt ihre Eigenheiten und ihre jeweiligen Wesen und Kämpfe mit ihren Krankheiten in den Blick.

Die Mutter, die als Journalistin reüssierte, ein mondänes Leben führte und dann doch in einer zwangsgeräumten Wohnung in Wien endet, der Vater, der sich von der Mutter trennt und Zeit seines Lebens mit den eigenen Dämonen der Depression kämpft, all diese Figuren aus dem familiären Kosmos stellt der Erzähler in seinem Buch vor, blickt dabei aber auch auf seine eigene Position in diesem Kosmos und seine Befürchtungen, den psychologischen Dispositionen ebenfalls zu erliegen.

Sein Lebenswandel hin zu einem Studium der Psychologie (was den Erzähler mit dem Autor Leon Engler selbst verbindet), der dann folgende Alltag als Therapeut in einer psychiatrischen Einrichtung (was wiederum an Joachim Meyerhoffs Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war erinnert), verbunden mit allgemeinen Reflektionen über das „Normale“ und das „Verrückte“, all das fügt sich zu den Porträts seiner Familie und gibt einen Eindruck vom breiten Spektrum psychischer Verfasstheit, auf dem sich Englers Figuren an ganz unterschiedlichen Stellen einsortieren.

Die Überwindung der Sprachlosigkeit

In seinem manchmal fast ein wenig zu sehr auf Pointe oder eine markante Punchline geschriebenen Text gelingt dem Erzähler das, was er am Ende des Buchs als sein erzählerisches Anliegen formuliert. Die Sprachlosigkeit, in der sich die Mitglieder seiner Familie immer wiederfanden, er überwindet sie mit seinem Erzählen und verschafft ihr so eine Geschichte, weit über bloße sieben Kisten in einem Abstellraum in Wien hinaus.

Botanik des Wahnsinns ist der Blick auf eine besondere Familie und ihre Kämpfe und Probleme – und der Beweis, wie Literatur Stigmata überwinden, Verständnis schaffen und ein literarisches Familienalbum schaffen kann, das für die dunklem Töne ebenso Raum vorsieht wie für das Helle.


  • Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
  • ISBN 978-3-7558-0053-8
  • 206 Seiten. Preis: 23,00 €