Daniela Krien – Mein drittes Leben

Wie weiterleben, wenn das eigene Kind gestorben ist? Daniela Krien erkundet es in ihrem Roman Mein drittes Leben einfühlsam und erzählt von Trauer und von der Schwere, einen Neuanfang zu wagen.


Den Entschluss seiner Frau zu einem Umzug kann Richard überhaupt nicht nachvollziehen. Ein ödes Dorf mitten im Nirgendwo der Leipziger Peripherie hat sie sich ausgesucht, um dort einen heruntergekommenen Hof zu bewohnen. Außer der Durchgangsstraße mit rauschendem Durchgangsverkehr gibt es dort nichts, was irgendwie von Aufbruch oder Vorankommen zeugt. Dort möchte man nicht begraben sein, wie Lindas Mann Richard bei der ersten Fahrt durch diese reizlose Ansammlung von Häusern bemerkte. Und auch Linda muss ihm beipflichten – und doch wohnt sie nun dort.

Den Grund für den Um- oder besser Rückzug erläutert Daniela Krien in kleinen Erinnerungsfetzen, die immer wieder den neuen Alltag von Linda durchschießen. Denn ihre Tochter Linda ist gestorben, als sie auf ihrem Rad von einem abbiegenden Laster im Leipziger Straßenverkehr übersehen wurde. Diese Tragödie verwinden Linda und ihr Mann auf unterschiedliche Art und Weise. Denn während für ihn das Leben irgendwie weitergeht, er als Künstler um seinen Ausdruck kämpft, lautet Lindas Antwort auf den Verlust – Rückzug.

Rückzug ins Durchgangsdorf

Daniela Krien - Mein drittes Leben (Cover)

Ihre Stelle in einer Kunststiftung gibt sie auf, sie zieht von zuhause aus, sucht im Durchgangsdorf einen Rückzug, um zu trauern und ihren restlichen Lebensmut gleich mitzubegraben. Doch damit wäre Mein drittes Leben ein reichlich kurzes Buch geworden – und auch das titelgebende Leben nach dem Verlust ihres Kindes und der Distanz zu ihrem Mann hätte nicht stattgefunden.

Doch beobachtet Daniela Krien im folgenden, durch die Ich-Perspektive erzählerisch ganz nah dran an ihrer Protagonistin, wie sie sich zunächst im Dorf einen neuen Alltag und neue Kontakte erschließt – und später auch in Leipzig wieder neu Fuß fasst und so vorsichtig ein neues Leben beginnt, das nicht nur Weiterleben ist.

Mein drittes Leben besticht durch seine genaue Auslotung der Seelenzustände und Verheerungen nach der tödlichen Nachricht des Todes eines eigenen Kindes. Ein Umstand, für den die deutsche Sprache gar kein Wort vorsieht, so wenig dieser Fall eigentlich eintreten soll. Und doch ist es für Linda und ihren Mann so. Wie wenig man darüber kommunizieren kann, wie eine solche Nachricht zum Auseinanderbrechen zwischen zwei Partnern führen kann, das beschreibt Krien eindrücklich.

Ein Neuanfang nach dem Ende

Ihre Sprache dabei ist nicht sentimental, sondern sehr präzise und fasst die Erkundungen der Seelenlandschaft in eine klare Prosa.

Ich blicke aus dem Fenster auf einen zur Hälfte gepflasterten, zur anderen Hälfte mit Rasen bewachsenen Hinterhof, der begrenzt wird von einer mit Efeu überwucherten Sichtschutzwand. Das alte Konzept meines Lebens habe ich endgültig aufgegeben. Schritt für Schritt gehe ich Tag für Tag ein kleines Stück weiter. Mehr ist es nicht, mehr muss es auch nicht sein.

Daniela Krien – Mein drittes Leben, S. 169

Ähnlich wie in diesem Jahr auch Adriano Sack oder Franziska Gänsler hat Daniela Krien ein Buch geschrieben, das der Trauer Raum gibt und das seiner Protagonistin beim Verarbeiten des Verlusts und dem Austesten verschiedener Pfade hin zu einem neuem Stück Lebensweg zusieht. Von Trauer und Schmerz durchsetzt ist der Winter ein starkes Bild, der im Roman nicht nur in Form eines nun anders gefeierten Weihnachtsfestes oder Schuberts Winterreise auftaucht, sondern auch immer wieder ganz konkret auf die Innenwelten Lindas bezogen wird.

Die Sehnsucht nach Sommer ist mir abhandengekommen. Mein innerer Winter lässt sich nicht mit der Leichtigkeit der hellen, warmen Tage in Einklang bringen.

Daniela Krien – Mein drittes Leben. S. 118 f.

Und doch bleibt es auch bei Linda nicht bei einem ewigen Winter. Symbolhaft ist der Garten, in dessen Bewirtschaftung sie einen neuen Lebenssinn findet und der mit seinem Vergehen und Werden auch nach dem scheinbaren Tod im Winter immer wieder die Kraft für einen Wiederbeginn im Frühling findet.

Fazit

Mein drittes Leben zeigt, wie schwer dieser Weg ist – aber dass es ihn gibt, wie verzweifelt und nachtschwarz das Leben auch in Phasen sein mag. Dass das Ganze über Kalendersprüche und banale Binsen hinausgeht, das ist der Verdienst von Daniela Krien, den sie mit diesem Buch leistet. Mit einer stimmigen Dreiklang aus Inhalt, Form und Sprache reiht sich das Buch ein in die Riege bereits genannter Seelenerkundungen, dessen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 durchaus gerechtfertigt ist.


  • Daniela Krien – Mein drittes Leben
  • Artikelnummer 175851 (Buechergilde)
  • 296 Seiten. Preis: 24,00 €
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Anthony Trollope – Weihnachten in Kirkby Cottage

Dem Zauber der Weihnacht erliegt ein jeder – insbesondere, wenn die Liebe eine entscheidende Rolle spielt. So zumindest in Anthony Trollopes viktorianischer Erzählung Weihnachten in Kirkby Cottage, die dieses Jahr mit Illustrationen von Irmela Schautz versehen als Nummer 1542 in der Insel-Bücherei zu entdecken ist.


Nach Weihnachten auf Thompson Hall liegt nun mit Weihnachten in Kirkby Cottage eine weitere Weihnachtserzählung von Anthony Trollope vor, die ursprünglich 1870 als Erzählung in Routledge’s Christmas Annual erschien.

Darin spürt er in bester Tradition viktorianischer Romane der Liebe zwischen zwei jungen Menschen nach. Diese Liebe steht zu Beginn des Romans allerdings vor einer großen Zerreißprobe. Es ist eine Meinungsäußerung, die das Miteinander der Pfarrerstochter Isabel und Maurice auf eine harte Probe stellt.

Weihnachten – ein langweiliges Fest?

Denn im Gespräch mit Isabel trifft Maurice Archer eine Aussage, die die junge Frau auf gar keinen Fall stehen lassen kann. Sein Urteil, dass Weihnachten ein langweiliges Fest sei, trifft bei Isabel auf keinerlei Verständnis, sondern nur große Empörung. Die nachgeschobene Erklärung, dass an diesem Fest nur haufenweise Rindfleisch gebraten und haufenweise Plumpudding gegessen werde, bis die Menschen müde seien und eine Stunde früher als üblich ins Bett gingen, kann und will die Pfarrerstochter nicht folgen.

Anthony Trollope - Weihnachten in Kirkby Cottage (Cover)

Dabei hatte eigentlich alles recht gut begonnen. Mr. Archer soll die Weihnachten im Pfarrhaus in Kirkby Cliffe inmitten von Yorkshire verbringen. Er selbst ist Waise und begütert, hat einen mittelmäßigen Abschluss in Oxford vorzuweisen und verbringt seine Zeit im Ausblick auf ein Erbe, das seinen Besitz mehrensollte. Eine gute Partie eigentlich für Isabel, die als ältere der beiden Pfarrerstöchter noch ledig und durchaus angetan von Maurice Archer ist. Die Zeichen stehen also durchaus gut für ein späteres Glück der beiden.

Doch nun diese Äußerung, die das Miteinander und die Harmonie der Festtage im Kirkby Cottage auf eine Belastungsprobe stellt. Da geraten alle Pläne zum festlichen Schmuck in der Kirche ins Hintertreffen, da geraten alle Gewissheiten bei Isabel Lownd ins Trudeln. In der Folge wächst die Verzweiflung, Maurice spielt gar mit dem Gedanken, per Kutsche nach Afrika zu reisen, um der Schmach des Disputs und der womöglich unmöglichen Liebe zu entkommen. Doch wir sind ja in einer weihnachtlichen Kurzgeschichte zuhause, sodass sich – so viel sei verraten – nach einigen Volten sich alles wieder weihnachtlich harmonisch fügt.

Alles fügt sich im Pfarrhaus Kirkby Cottage

Einen Anteil daran hat auch der Vater, der als lebensweiser und auch geistlicher Ratgeber über allem weltlichen Begehren steht. Mit seinen Worten rückt er alles wieder ins ins rechte Lot, auf dass die Dinge in Kirkby Cliffe ihren Lauf nehmen, der für sie vorgesehen ist.

Man braucht wohl kaum zu erwähnen, dass der Pfarrer viel älter war als Maurice und daher viel mehr von der Welt verstand. Und er war auch nicht verliebt. Zudem war er insofern im Vorteil als er vom Wesen der jungen Damen weit bessere Kenntnis hatte, als ihr Verehrer sie haben konnte.

Anthony Trollope – Weihnachten in Kirkby Cottage, S. 56

Und so löst sich die Apathie Maurice‘ gegen Weihnachten in Wohlgefallen auf, gibt es gar noch kleinere und größere Weihnachtswunder zu bestaunen, an der dann auch Rindfleisch und Plumpudding ihren Anteil haben. Und so geht noch vor dem Abend des Weihnachtsfestes alles so seinen Gang, wie es die Konventionen der Zeit um 1870 und nicht zuletzt auch das Genre der romantischen Kurzgeschichte vorsehen.

Fazit

So ist Weihnachten in Kirkby Cottage ein vorhersehbare, möglicherweise auch kitschige Erzählung, die aber im Angesicht der Weihnachtszeit und ihrer Festtage einen nostalgischen, viktorianischen Glanz verströmt, in den man sich sehr gerne begibt. Die Gestaltung von Irmela Schautz und die Übersetzung von Andrea Ott hat daran auch ihren Anteil, sodass diese kleine weihnachtliche Geschichte nicht nur Freunden viktorianischer Romanzen besonders zur Weihnachtszeit gerne empfohlen sei.


  • Anthony Trollope – Weihnachten in Kirkby Cottage
  • Aus dem Englischen von Andrea Ott
  • Mit Illustrationen von Irmela Schautz
  • ISBN 978-3-458-19542-9 (Insel-Bücherei)
  • 78 Seiten. Preis: 15,00 €
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Scott Preston – Über dem Tal

Als hätten Daniel Woodrell, Ian McGuire und James Rebanks gemeinsame Sache gemacht: der Brite Scott Preston überrascht in seinem Debüt Über dem Tal mit einem sprachmächtigen Noir mit Nature Writing-Anteilen, der die Landschaft Cumbrias feiert und der von Übersetzer Bernhard Robben in ein klangreiches Deutsch übertragen wurde. Eine echte Entdeckung!


Es grenzt an Schottland und England, passt aber zu keinem der beiden Länder wirklich – zumindest der Einschätzung des Erzählers Steve Elliman nach: die Rede ist von Cumbria, das mitsamt seiner rauen Natur und den verschlossenen Bewohnern den Schauplatz des Debütromans von Scott Preston bildet.

Hier lebt der Schafzüchter Steve zusammen mit seinem Vater. Andere Höfe sind weit weg, die einzige Gesellschaft bilden die Herdwick-Schafe, die er zusammen mit seinem Vater züchtet und die die Hügel Cumbrias abweiden. Doch diese jahrhundertealte Praxis gerät schon am Beginn von Über dem Tal aus dem Takt. Denn wir schreiben das Jahr 2001 und die Maul- und Klauenseuche grassiert auch in diesem abgelegenen Teil Englands.

Schafzucht in Caldhithe

Genauso wie andere Höfe in der Nachbarschaft ihres Zuhauses müssen auch die Ellimans ihre gesamte Schafherde keulen. Eindrücklich erzählt Preston von dem brutalen Geschäft, bei dem die Züchter vom Militär „unterstützt“ werden. Scheiterhaufen mit Tieren brennen die ganze Nacht hindurch, die Lebensgrundlage der Züchter löst sich mit den Kadavern der Tiere in öligem, schwarzem Rauch auf.

Scott Preston - Über dem Tal (Cover)

Nicht lange nach diesem einschneidenden Erlebnis stirbt Steves Vater. Der im Vergleich zu den maulfaulen Nachbarin äußerst redebedürftige Mann findet Anschluss auf Caldhithe, dem Hof von William Herne. Dort verdingt er sich erneut als Schafzüchter.

Doch zunächst wollen neue Tiere für die Herde gewonnen werden, womit der Roman in die Gefilde eines Noir-Romans aus dem Hinterland abbiegt, wie man sie aus US-amerikanischer Produktion, beispielsweise von Daniel Woodrell oder Eli Cranor kennt. Denn um in den Besitz neuer Tiere zu gelangen, begeben sich William und Steve auf eine nächtlichen Diebestour, um eine fremde Herde zu stehlen. Dabei leisten ihnen Colin Tinley und dessen Subalterne Schützenhilfe. Damit ist der Weg in die Illegalität markiert, denn alle, die sich im Umfeld von Colin bewegen, werden durch den Kontakt mit ihm auf die falsche Seite des Gesetzes gelockt.

Auch Steve muss das im Lauf des Buchs lernen, wie er in seinem aus der Rückschau heraus erzählten Bericht feststellt. Doch trotz aller Klarsicht gelingt es ihm nicht, sich von Caldhithe zu lösen. Für seinen Verbleib vor Ort gibt es aber auch gute Gründe, die Preston in seinem souverän erzählten Roman an späterer Stelle noch nachführt.

Nature Writing trifft auf Cumbria Noir

Über dem Tal kombiniert das Nature Writing eines Robert MacFarlane, Einsichten in die Welt der Schafzucht, wie sie beispielsweise auch der ebenfalls in Großbritannien Herdwick-Schafe züchtende James Rebanks in seinem Sachbuch Mein Leben als Schäfer schildert. Dabei schreckt Preston auch nicht vor Brutalität zurück, beschreibt detailliert die Keulung der Schafe oder die verhängnisvollen Konsequenzen, die ein Umgang mit Menschen wie Colin Tinley hat.

Abgebunden wird all das aber durch die Sprachmacht Scott Prestons, die im Übersetzer Bernhard Robben einen kongenialen Spielpartner gefunden hat. Über dem Tal ist voll mit Neologismen und urwüchsigen Sprachbildern, die der Vielfalt der Natur dort hoch oben im Norden Englands Rechnung tragen, sodass man selbst durch die Hügelketten und Berghänge zu stapfen meint:

Die Sonne schoss über einem Durcheinander weit entfernter Hügel auf, als wäre sie am Grunde eines Tals gefangen gewesen. Ich versuchte nicht zu blinzeln, als ihr Licht die Breitseite der Fells aufleuchten ließ. Der Höchste war Shinmara, dessen Gipfel oft bis weit in den Frühling hinein weiß blieb. Die Ostflanke war von Steinbrüchen durchrecht, mit Schieferminen, längst erschöpft, der Stein verkauft, für Dachpfannen oder Billardtische verbraucht. Nord- und Südhang fielen zu den Rippenbögen von Brimlaw Haws und Niskr Crag ab, bis sie in den Felsgrund der Irischen See übergingen.

Es hatte Augenblicke gegeben, in denen ich wollte, dass sich all das in Luft auflöste – die Berge, die Wanderwege, die Schafe, die Wandervögel, die Eremiten, der Regen, jetzt aber, in diesem Moment, hätte ich hier sitzen bleiben und meine Knochen zu Steinmandeln werden lassen können.

Scott Preston – Über dem Tal, S. 111

Dazu kommt ein Gefühl für Rhythmus, Sprache, Lakonie und stimmige Vergleiche, die sich in die übrige Welt des Romans großartig einbetten. Den Versuch, nachtschlaffe Schafe zu bewegen, vergleicht Preston etwa mit dem Vergleich, der das Verrücken von Nierensteine zu einer leichteren Aufgabe macht, als diese starren Tiere zu bewegen. Hier schreibt ein Autor, dessen souveränen Umgang mit Sprache auch durch seine vormalige Tätigkeit als Werbetexter und Student für Kreatives Schreiben bedingt sein dürfte.

Souveräne Registerwechsel

Auch als der Roman einen leichten Registerwechsel vollzieht und sich zu einem hochtourigen Thriller entwickelt, behält Scott Preston die erzählerischen Fäden souverän der Hand. Wie er die Natur in die Handlung einbettet und umgekehrt, dann auch noch das Tempo anzieht bis, sich das Ganze in einen atemlosen Thriller kehrt, der in Passagen wie der folgenden gipfelt, das ist schriftstellerisches Können:

Ich ließ das Steuer nach links fliegen, um Boden zu gewinnen, kurvte blindlings, schoss durch die spacken Gassen. Malte die Zäune silbrig, flog haarscharf dran vorbei. Sah auf die Uhr – wir hatten eine Stunde gebraucht. Wäre Noah bei uns gewesen, hätte er jedes verdammte Tier der Welt in seine Arche verfrachten können. Sah einen halben Lorbeerstrauch aus den Kotflügeln ragen, aber wir hatten es geschafft, waren wieder auf der richtigen Straße. Bog donnerte direkt hinter uns her.

Scott Preston – Über dem Tal, S. 153

Es ist eine solche Sprachmacht, wie man sie hierzulande vielleicht am ehesten von Andreas Pflüger kennen dürfte. Prestons Talent für Bilder und Stimmungen verbindet sich mit einem Gefühl für stimmige Charaktere und Landschaften, das mich wirklich beeindruckt hat. Dass es sich bei Über dem Tal um ein Debüt handelt, ist umso bemerkenswerter!


  • Scott Preston – Über dem Tal
  • Aus dem Englischen von Bernhard Robben
  • ISBN 978-3-10-397600-7 (S. Fischer)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter

Dass Weihnachten nicht unbedingt immer ein Fest der Liebe und der Harmonie ist, das beweisen viele Familienfeste landauf, landab. Bei den Edgeworths in Ivy Compton-Burnetts Roman Ein Haus und seine Hüter ist das nicht anders. Doch hier stellt das wenig besinnliche Weihnachtsfest nur der Auftakt zu einem ganzen Reigen aus Konflikten, Ehen und Toden dar, der sich im Laufe des Romans entspinnt und der der Autorin dem Vergleich mit Jane Austen auf Drogen eingetragen hat, wie das Magazin Harpers Bazar einmal schrieb. In der vorliegenden Ausgabe der Anderen Bibliothek kann man sich davon überzeugen, dass der Vergleich durchaus zutrifft.


Nein, dieses Weihnachtsfest lässt sich wirklich nicht gut an. Schon alleine, dass sich die Kinder und der Neffe nicht rechtzeitig zum Frühstück einfinden wollen, erzürnt den Patriarchen Duncan Edgeworth. Dann noch eine kritikwürdige Predigt in der Kirche, eine Nachbarin, die die Familie heimsucht, um persönlich noch einmal die Weihnachtsbotschaft und die Erwartungen eines Besuchs der Mette vorzutragen. Und zu allem Überfluss ist da auch noch ein – zumindest in den Augen des Familienvorstandes – unziemliches Buch, das sein Neffe Grant als Geschenk erhalten soll, welches Duncan Edgeworth aber lieber in den prasselnden Kamin wirft, anstelle es dem jungen Mann zu überlassen.

Ein wenig besinnliches Weihnachtsfest

Die Zeichen in Ivy Compton-Burnett ursprünglich 1935 erschienenen Roman Ein Haus und seine Hüter stehen wahrlich nicht auf Harmonie und Besinnlichkeit. Dass die gereizte Stimmung der ersten Seiten weit über die Festtage hinaus andauern wird, das zeigt sich dann auch recht rasch im Lauf des Romans. Denn im Laufe der knapp 370 Seiten Romanhandlung kommt es zu einem ganzen Reigen an Konflikten und Reibereien, die den eingangs zitierten Vergleich mit Jane Austen auf Drogen gar nicht so abwegig erscheinen lassen.

Es ist schon unglaublich, was in diesem Haus vor sich geht!

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 249

Der erzählerische Motor, der diesen Roman beständig antreibt, sind seine Dialoge. Sie sind es, die über allem stehen und auch die äußere Handlung in den Hintergrund treten lassen, obschon auch hier eine ganze Menge in Compton-Burnetts Roman passiert. Diese Gespräche und Dispute dominieren alle Szenen und stehen auch in ihrer Anmutung in der der Tradition des viktorianischen Romans einer Jane Austen. Man debattiert, verlobt sich, lästert, streitet, pflegt Gerüchte, hütet Geheimnisse und redet aneinander vorbei.

Ivy Compton-Burnett in der Tradition von Jane Austen

Ivy Compton-Burnett - Ein Haus und seine Hüter (Cover)

Doch wo es etwa in Jane Austens stilprägendem Roman Stolz und Vorurteil mit dem Tête-a-tête von Elizabeth Bennet und Mr. Darcy noch relativ gemächlich zugeht, geht Ivy Compton-Burnett in die Vollen. Die 1884 in Middlesex geborene Autorin schafft es, im Laufe des Romans ganze drei Ehen des Familienpatriarchen Duncan Edgeworth durchzuexerzieren. Dazu kommen diverse Todesfälle, ein Mordverdacht, ein potentiell uneheliches Kind und noch einiges mehr, was in den Dialogen der Figuren zutage tritt.

Verschmähte Liebe, enttäuschte Hoffnungen und nicht immer glaubwürdige erzählerische Volten stehen im Mittelpunkt von Ein Haus und seine Hüter, das den Zerbröckelungsprozess einer Familie zeigt, die auch einmal über drei Seiten hinweg debattieren kann, wo nun das Porträt der verstorbenen Hausherrin zu platzieren ist.

„Ich bezweifle, dass es hilfreich ist, sich der Familie gegenüber taub zu stellen.“

„Der Familie“, sagte Duncan tonlos. „Wir sind überhaupt keine richtige Familie mehr. Es fehlt die Kraft, die uns miteinander verbunden hat.“ Er seufzte schwer. „Du machst es mir nicht gerade leicht, diesen Tag zu beginnen.“

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 112

Die Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Zwar trifft der englische Titel A house and it’s head den Kern des Romans noch etwas genauer, da der herrische Hausvorstand Duncan Edgeworth mitsamt seiner immer neu ansetzenden Eheversuche das Gravitationszentrum dieses Romans bildet. Aber auch die deutlich offenere Variante der Haushüter im Deutschen hat seine Berechtigung, schließlich hat bewachen alle Mitglieder der Familie Edgeworth das Haus in unterschiedlichen Formen und hüten so ziemlich alles, außer ihre Zungen.

Das Haus wird hier zur Bühne des Misstrauens, des Verschweigens, der Geheimnisse und der Konflikte, was die drückende Enge dieses Romans immer wieder unterstreicht.

Mit Ein Haus und seine Hüter hat Ivy Compton-Burnett ein Werk geschrieben, das sich stark an die Tradition der viktorianischen Gesellschaftsromane anlehnt. Dieses Werk bildet den Auftakt zu einer erstaunlich produktiven Karriere, wie Hilary Mantel im Vorwort zu diesem Roman schreibt. Ganze achtzehn weitere Werke aus der Feder der 1969 verstorbenen Autorin sollten folgen, „die immer stimmiger und kraftvoller wurden, zugleich aber „den Gefahren einer allzu großen Leserschaft nicht ausgesetzt“ waren, wie ihr Freunde sagten. Ihr britischer Verleger schien ihre Arbeit nicht zu verstehen oder zu schätzen und unternahm nur wenig, um sie zu fördern“, so Mantel.

Fazit

Der herausgebenden Anderen Bibliothek unter Leitung von Nele Holdack und Rainer Wieland sowie Übersetzer Gregor Hens ist es nun zu verdanken, dass diese Gefahr der allzu großen Leserschaft jetzt deutlich zunimmt. Denn ihre deutsche Neuveröffentlichung macht es möglich, diese hierzulande reichlich unbekannte Autorin (noch einmal) neu zu entdecken und tief in diesen dialogstarken, nicht immer völlig plausiblen, aber doch in der Unterhaltungstradition von Jane Austen und Co. stehenden Roman einzutauchen. Die schlechte Laune und den Zwist an den Weihnachtstagen kann man dann einfach den Edgeworths überlassen, um nach der Lektüre selbst deutlich frohgemuter in die Feiertage zu gehen.


  • Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter
  • Aus dem Englischen von Gregor Hens
  • 978-3-8477-0469-0 (Die Andere Bibliothek, Band 479)
  • 372 Seiten. Preis: 48,00 €
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Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs

Ein Leben, wie es schon der eigene Vater und der Großvater geführt haben. Und doch ist so einiges anders in Simons Leben, das Gerbrand Bakker in seinem Roman Der Sohn des Friseurs beschreibt. Denn das Verschwinden und das Begehren sorgen für viel Aufruhr in diesem sonst so gleichförmigen Alltag, den Bakker mit Sinn für Kauzigkeit und das Schicksal erzählt.


Es ist ein Leben, wie es übersichtlicher nicht sein könnte. Im Friseursalon, in dem schon sein eigener Vater und dessen Vater ihren Dienst taten, arbeitet nun Simon. Die zwei oberen Etagen des Hauses bewohnt er, im Erdgeschoss geht er seinem Tagewerk als Friseur nach. Eingerichtet ist dort noch immer alles wie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhundert, wie Bakker in seinem Roman erzählt.

Den einzigen Hauch von weiter Welt in diesem sonst so überschaubaren und reglementierten Kosmos verbreitet der Name des Salons, den Simons eigener Großvater Jan einst ob einiger in der Nachbarschaft eröffneter Bistrots Chez Jean getauft hat. Das Türschild verkündet mit den Begriffen Ouvert und Fermé die Schließzeiten, damit hat es sich aber auch in Sachen Weltläufigkeit. Vielmehr ist Simons ganze Lebenswelt von Regeln und Routinen bestimmt.

Gerbrand Bakker - Der Sohn des Friseurs (Cover)

Dreimal die Woche schließt er seinen Laden um halb sieben zu, um eine Stunde lang Baden zu gehen. Es ist ein pedantisches Leben, das Bakker schildert und das eigentlich wenig Material für eine interessante Erzählung gäbe. Da ist aber auch ein blinder Fleck in Simons Vergangenheit, der im Lauf der wenigen Handlungstage sehr zentral wird.

Denn sein Vater gilt als tot, nachdem er im Jahr 1977 bei einem tragischen Flugzeugunglück auf Teneriffa ums Leben kam. Was bislang als schieres Faktum in der Familiengeschichte galt, wird nun zur drängenden Frage, mit der sich Simon in zunehmendem Umfang beschäftigt. Denn ein Schriftsteller, der zum Stammkundenkreis von Simons Friseurladen zählt, beginnt sich mit der Familiengeschichte seines Coiffeurs zu beschäftigen – und damit auch Simon, der von seinem eigenen Großvater erstaunliche Einblicke erhält. Und dann ist da auch noch ein Junge, den er kennenlernt, als er seiner resoluten Mutter im Schwimmunterricht für Jugendliche mit Behinderung aushilft. Dieser löst in ihm so starke Gefühle aus, wie er sie bislang kaum von sich kannte…

Ein kleiner Roman – mit eigenwilligem Personal

Der Sohn des Friseurs ist im besten Sinne ein kleiner Roman. Es passiert nichts Spektakuläres, der Schauplatz zwischen Friseursalon und Kneipe ist ebenso überschaubar wie unkonkret, das Personal des Romans verfügt über keine hervorstechenden Merkmale. Eigentlich ist das ganze Setting von Bakkers Romane eine einzige Alltäglichkeit.

Und doch bricht der niederländische Autor die althergebrachte Ordnung auf, indem er mit dem Begehren für den behinderten Jungen und dem Verschwinden des Vaters zwei Bruchstellen in den Alltag hineinsetzt. Es sind Bruchstellen, die sich auch im Text fortsetzen, in dem plötzlich im zweiten Teil des Romans das Schicksal von Cornelis, Simons Vater, zum Thema wird und dessen Lebensgeschichte zeitweise die Schilderungen seines Sohnes verdrängt.

Hier scheint das Thema der Flucht aus dem eigenen Alltag, das Fremdeln mit der Vorhersehbarkeit der eigenen Existenz und der Wunsch nach Neuem auf, wie ihn auch beispielsweise Anthony Doerr in seinem Roman Winklers Traum vom Wasser verhandelte.

Zu viele Brüche

Allerdings übertreibt es Gerbrand Bakker in Sachen Brüche auch etwas. So mögen sich die Geschichte um das queere Begehren des Friseurs für den Jungen mit Behinderung, die Schilderung des Flugzeugabsturzes und damit auch die Geschichte um Simons Vater Cornelis und der alltägliche Trott im Friseursalon nicht wirklich runden.

Zudem stehen einige Passagen wie etwa wie ein Gehversuch im Kurznachrichtendienst, der zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans Twitter hieß, reichlich unverbunden und unmotiviert in diesem Text herum. Simon, der nun plötzlich Obszönitäten als Verballhornung des Titellieds der holländischen Kinderserie Beertje Colargol in die Weiten des digitalen Raums schleudert, um den Schriftsteller auf sich aufmerksam zu machen, ließ mich nicht nur hier rätselnd zurück. Am Ende holpert die Erzählung für meinen Geschmack dann doch etwas zu sehr, als dass man Bakker die Vermengung an Themen und Tonlagen verbunden mit einer etwas erratischen Struktur rundheraus abnimmt.

„Aber das Allerschönste beim Schreiben“, sagt der Schriftsteller, als hätte Oscar danach gefragt, „bleibt doch, dass alles möglich ist. Alles ist möglich! Man kann sich die verrücktesten Sachen ausdenken, solange man sie glaubwürdig darstellt, ist das in Ordnung.(…)“

Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs, S. 254

Und genau hier mangelt es im Gegensatz zum Schaffen von Bakkers fiktivem Schriftsteller deutlich: an Glaubwürdigkeit. Für sich genommen, sind die einzelnen Elemente des Romans durchaus glaubwürdig – nur finden sie in der Gesamtkomposition nicht stimmig zueinander und bleiben eher ein Erzählprojekt mit Unwuchten denn überzeugend in sich geschlossenes Werk.

Fazit

Überzeugt die Schilderung des Alltags, des in seinen Routinen lebenden Friseurs Simon, bleibt der Rest des Romanpersonals in diesem etwas holpernden Roman blass, obgleich die Eigenwilligkeit des Bakker’schen Ensembles auf der Habenseite des Buchs steht. Dass sich diese Kauzigkeit bis zum Nachwort fortsetzt, in dem sich Bakker Gedanken macht, wem er danken könnte und wie es um die Fußnoten und Quellen seiner Geschichte bestellt ist, das ist durchaus amüsant. Für einen rundum überzeugenden Roman reicht das leider nicht.

So ist Der Sohn des Friseurs ein Roman, der das Kleine und damit aber auch das Große beobachtet, der ein eigenwilliger und doch auch universeller Roman über Begehren, Familie und die Leerstellen, die uns im Leben begleiten, sein könnte. Die Betonung bleibt aber leider auf dem Konjunktiv. Denn für ein überzeugenden Roman weist Bakker Buch aber leider ein paar Brüche zu viel auf und gleicht insgesamt leider eher der zerschellten KLM-Maschine auf der Rollbahn in Teneriffa denn einem überzeugenden Haarschnitt.

Eine weitere Stimme zu Gerbrand Bakkers Roman kommt von Paul Jandl in der NZZ.


  • Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs
  • Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
  • ISBN 978-3-518-43158-0 (Suhrkamp)
  • 285 Seiten. Preis: 25,00 €
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