Andreas Pflüger – Wie Sterben geht

Der beste deutsche Thrillerautor ist zurück – und wie. In Wie Sterben geht lässt Andreas Pflüger die Hochphase des Kalten Kriegs wieder auferstehen und erzählt von toten Briefkästen, hochrahmigen Quellen und einer jungen Frau zwischen den Fronten von BND und KGB. Ganz großes Kino!


Es ist eine „hochrahmige“ Quelle, die beim Bundesnachrichtendienst große Aufregung und Hektik verursacht. Denn die Quelle namens Pilger ist ein KGB-Agent in obersten Führungskreisen, der dem Nachrichtendienst in Pullach Einblicke in den russischen Machtapparat liefern könnte. Das Problem bei der Sache: die Quelle ist führerlos und hat sich ausgerechnet die junge Nina Winter als Führungsoffizierin ausbedungen.

Nina, die bislang als Analystin in Pullach arbeitet und vor einigen Jahren mit ihrer Mutter aus der DDR flüchtete, verfügt über keine nennenswerte Geheimdiensterfahrung, geschweige denn Wissen, wie man eine derart wichtige und sensible Quelle führt und abschirmt – und doch bleibt ihr fast keine Wahl, als in Moskau den Kontakt mit Pilger aufzunehmen.

Denn der BND mit seinem Präsidenten drängt auf die weitere Führung von Pilger, der seine Unverzichtbarkeit mit einem Hinweis auf die Enttarnung Günther Guillaumes als Spion der DDR eindrücklich unter Beweis stellte. Die Quelle muss gehalten werden und so ist es an Nina, die Zusammenarbeit mit der Quelle in Moskau fortzuführen. Damit gerät sie mitten hinein in den Konflikt der Großmächte und Geheimdienste, der Spionage und Gegenspionage. Es ist ein Spiel, das keine Fehler verzeiht, will man in diesem Kampf überleben.

Eine weitere Glanztat Andreas Pflügers

Andreas Pflüger - Wie Sterben geht (Cover)

Andreas Pflüger ist der große Spezialist, was die Welt der Geheimdienste, der Spionage und der hochtourigen Action anbelangt. Das stellte er in der Trilogie um die blinde Jenny Aaron unter Beweis, das zeigte er im trotz seines Alters von knapp zwanzig Jahren immer noch lesenswerten Thriller Operation Rubikon und das bewies er auch im zuletzt erschienen historischen Roman Ritchie Girl. Wie Sterben geht setzt diese eindrucksvolle Publikationsreihe fort, wenn sie sie nicht noch einmal auf ein neues Niveau hebt.

Denn vom actionreichen Beginn mit einem im wahrsten Sinne des Wortes explosiven Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke bis zur Beschreibung des winterlichen Moskaus, in dem Nina unter der Bewachung durch KGB und Milizen irgendwie mit Pilger kommunizieren und verkehren muss, gelingt es Andreas Pflüger, große Szenen mit einer Sprache auszukleiden, die ebenso originell wie präzise, poetisch wie stimmungsgenau ist. Er zeigt Nina Werdegang von einer zielstrebigen Analystin bis hin zu einer abgebrühten Agentenführerin als durchdacht konzipierte Heldenreise. Ebenso ist es ganz Pflüger-typisch die Welt der Geheimdienste, die auch hier wieder einen Schwerpunkt bildet und die durch die Geschehnisse in Wie Sterben geht gehörig durcheinandergewirbelt wird und die Welt schlussendlich bis an den Rand einer Katastrophe bringt.

München, Moskau, Berlin

Das Ganze ist höchst abwechslungsreich gestaltet und entspinnt sich in der Handlung zwischen München, Moskau und Berlin, blickt auf die große Welt der Politik ebenso wie auf die überlebensnotwendige Symbiose zwischen Pilger und Nina, hat Raum für Romantik ebenso wie Verfolgungsjagden und besticht durch Spannung und Atmosphäre.

Neben der genau getakteten Action und dem vielschichtigen Spiel um Verrat und Vertrauen sind es auch diverse Geheimnisschichten, die Pflüger in Wie Sterben geht langsam entblättert. So sind Geheimnisse eines fiktiven Bildnisses von Anna Achmatova und in Gedichten versteckte Hinweise nur eine Facette dieses Romans, der bis zu potentiellen Verflechtungen von RAF, KGB und der Machtclique um Helmut Kohl reicht. Die Geschichte der Nachrichtendienste in der Zeit des Kalten Kriegs bekommt man hier ebenso erklärt wie das Spionage-Handwerk und die geheimdienstliche Paranoia, die den Kalten Krieg prägte und die Nina am eigenen Leib erfahren muss.

Besonders frappant sind dabei natürlich auch die Parallelen zwischen der Vergangenheit und der scheinbar nahezu identischen Lage, in der wir uns nach dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine befinden. Dass Nina Winter als Analystin mit dem sogenannten „Erdgas-Röhrengeschäft“ befasst ist, dass die BRD im Jahr 1982 gegen den Willen der Alliierten mit der Sowjetunion abschloss und die den Grundstein für die heutige Abhängigkeit von russischem Erdgas darstellt, ist nur eine Pointe dieses trotz seines historischen Sujets erschreckend aktuellem Roman.

Fazit

Hervorragend komponiert zwischen Rückblenden auf den Werdegang und die aktuelle Situation nach dem gescheiterten Gefangenenaustausch auf der Glienicker Brücke gibt dieser Roman zu keinem Zeitpunkt Ruhe, jagt hochtourig vor sich hin und verstrickt seine Hauptfigur Nina immer tiefer in das Geheimdienstgeflecht zwischen Zarizyno, Pullach, Boxkämpfen, Elvishits und Patriarchenteich.

Ein großer Wurf, der weder vor Komplexität noch vor spannungstechnischem Anspruch und Ambition zurückschreckt und alle Versprechen einlösen kann. Wieder einmal stellt Andreas Pflüger seine ganze kriminalliterarische Klasse unter Beweis und liefert mit Wie Sterben geht einen der besten Thriller des Bücherherbstes, wenn nicht des ganzen Jahres ab!


Weitere Infos zum Tagebuch Andreas Pflügers, geografischen, inhaltlichen und historischen Informationen gibt es auf der Spezialseite, die der Suhrkamp-Verlag für den Roman eingerichtet hat. Man findet ihn an dieser Stelle. Und auch das Interview, das Alf Mayer mit Andreas Pflüger führte, sollte an dieser Stelle noch Erwähnung finden.


  • Andreas Pflüger – Wie Sterben geht
  • ISBN 978-3-518-43150-4 (Suhrkamp)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
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Anne Serre – Die Gouvernanten

Ein Herrenhaus und dessen illustre Bewohnerinnen, Die Gouvernanten, sie stehen im Mittelpunkt von Anne Serres kurzem, aber eindrücklichen Text, der sich irgendwo zwischen Märchen, Erotik und schwebend feministischer Fantasie verortet.


Da ist dieses Herrenhaus, das wie einem Märchen entsprungen scheint. Hinter einem abgeschlossenen Zaun liegt es, eine Allee führt zum Haus, Wiesen, Wälder, ein Park und ein Teich umgeben das Heim, das etwas der Zeit Enthobenes versprüht. Und auch seine Bewohner wandeln auf dem Grat zwischen Traumwelt und Wirklichkeit.

Die Gouvernanten im Herrenhaus

Denn neben einer ganzen Riege von Kindern und den Hausherren, dem Ehepaar Austeur, sind es vor allem die Gouvernanten, die in Anne Serres Roman im Mittelpunkt stehen. Mal gelb, mal rot gekleidet, geistern sie im Haus und der Umgebung umher und erweisen sich als wahre Sirenen. Ab und an erliegt ein Mann den Reizen der drei Frauen Laura, Éléonore und Inès und kann dem Locken nicht widerstehen. Wie eine Fliege, die sich zu nah an eine fleischfressende Pflanze heranwagt, so klappt dann auch das Tor hinter dem Fremden zu, der von den drei Frauen in einem Akt der Wollust dann – metaphorisch gesprochen – ebenso verschlungen wird wie die Fliege von der fleischfressenden Pflanze.

Heute Abend kommt Inès. Sie werden eine Patience legen. Sie werden über Männer reden. Und morgen, in einem Monat, in einem Jahr vielleicht wird ein anderer Fremder in ihre Sphäre treten, in diese nachtsüße Falle hinter dem goldenen Tor, das sich plötzlich wie durch Zauberhand auftut.

Anne Serre – Die Gouvernanten, S. 23

Von Fasan in Aspik und manchmal von Männern ernähren sich die Gouvernanten, wie es an einer Stelle des Romans heißt. Das tun sich auch zur großen Freude des gegenüber des Herrenhaus wohnenden Alten. Dieser beobachtet das wollüstigen Treiben der Frauen im Park dort durch sein Fernrohr aus dem Haus gegenüber und sinkt abends beglückt ins Bett danieder, wenn sich die Gouvernanten wieder einmal ganz schambefreit im Garten vergnügt haben.

Tun und Treiben rund um das Herrenhaus

Anne Serre - Die Gouvernanten (Cover)

Ähnlich wie der Alte dürfen auch wir über ein Jahr lang das Tun und Treiben dort rund um das Herrenhaus verfolgen. Anne Serre gesteht uns weit über den anfänglichen Sommer hinaus zu, Gast dort zu sein und das Miteinander der Gouvernanten sowie des übrigen Romanpersonals zu verfolgen.

Der Winter kommt, die Frauen verwandeln sich, es gibt einen Empfang und es kommt sogar zu einer Geburt – aber so etwas wie ein „normales“ Leben kommt für die Gouvernanten nicht in Frage. Sie leben ein Leben, das von ihrem Begehren und dem Gang der Natur gesteuert wird, nicht von den Regeln einer Gesellschaft, die in Anne Serres Buch sowieso mit Abwesenheit glänzt.

Vielmehr konzentriert sich die französische Autorin auf die atmosphärischen Schilderungen des verzauberten Anwesens, dessen genaue Verortung zeitlich und räumlich unterbleibt. Vielmehr zeigt sie die Gouvernanten als irgendwo zwischen Sirenen, Hekaten, Erinnyen und Evelyn de Morgans berühmten Gemälde The Sea Maidens. Mal schrumpfen sie, mal scheinen sie älter, dann wieder jünger. Sie entziehen sich einer eindeutigen Bestimmung – ebenso wie Anne Serres Roman selbst.

Ein Roman, der sich einer Einordnung entzieht

Wollte man den mit nicht einmal hundert Seiten recht knappen, aber umso eindrücklicheren Text in ein klares Genre pressen, stellt sich dieses Unterfangen als schwierige Aufgabe heraus. Das hedonistische und selbstbestimmte Leben der Frauen dort lässt sich als feministische Utopie ebenso wie als modernes Märchen deuten. Die Stimmung und Setzung dort im Haus sortieren sich irgendwo zwischen Neo-Romantik und Nicholson Bakers Das Haus der Löcher ein. Der Eros ist stets zugegen, der Leser, er ist ratlos – und folgt doch gebannt dem Treiben dort.

Patricia Klobusiczky übertrug diesen Text ebenso wie den ersten, ebenfalls im Berenberg-Verlag erschienen Roman Im Herzen eines goldenen Sommers aus dem Französischen ins Deutsche. Prickelnd, märchenhaft, feministisch, erotisch und mit einem starken naturrealistischen Einschlag kommt dieses kleine Buch daher – davon kann man sich gerne auch einmal verschlingen lassen!


  • Anne Serre – Die Gouvernanten
  • Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
  • ISBN 978-3-949203-67-1 (Berenberg)
  • 96 Seiten. Preis: 22,00 €
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Deniz Utlu – Vaters Meer

Wie dem eigenen Vater nahekommen, wenn dieser nur noch mit dem Lid eines seiner beiden Augen kommunizieren kann? Der Erzähler Yunus versucht in Deniz Utlus Roman Vaters Meer ganz einzutauchen in den Lebensstrom seines Vaters, der diesen einst aus Mardin in der Türkei bis nach Hannover führte.


Ich bleibe bei dem, was ich weiß, vertraue den Bildern, die mir mein Vater geschenkt hat, von denen ich dachte, es seien wenige, aber dann war da ein Meer der Bilder und Momente: Geschenke meines Vaters an mich, der Ursprung.

Deniz Utlu – Vaters Meer, S. 251

Dieses Meer an Bildern und Momenten, Yunus taucht darin ganz tief ein. Er, dessen Namen im Türkischen Delfin bedeutet, und der damit das Meer schon im Namen trägt, spürt in Deniz Utlus Roman seinem Vater nach und dem, was diesen zu jenem Mann machte, der heute zurückgeworfen auf eine minimale Mitteilungsmöglichkeit durch Blinzeln im Pflegeheim ans Bett gefesselt liegt.

Er will ihm nahekommen und seinen Weg von Mardin inmitten der türkischen Provinz bis nach Deutschland nachzeichnen, der ihn – natürlich – mit einem Schiff übers Meer nach Hamburg und von dort später nach Hannover brachte. Die Ehe mit Yunus‘ Mutter, die acht Jahre Einsamkeit vor der Begegnung mit ihr, Jugend, Ankommen in Deutschland, eine erste Ehe, das Studium, Krisen und andere entscheidende Momente lässt der Erzähler im Laufe dieses Buch achronologisch passieren. Unterbrochen wird der Text von Reflektionen über das Verhältnis von Sohn und Vater – und Gutachten und Korrespondenzen, die den bürokratischen Kampf um das medizinische Wohl des kranken Vaters dokumentieren.

Der zweimalige Fall des Vaters

Deniz Utlu - Vaters Meer (Cover)

Er, der einst im Gespräch mit seinem Sohn schon die Gewissheit äußerte, wenn es um den Eingang ins Paradies ginge, würde er von der haudünnen Linie stürzen, über die man den Zutritt dorthin erhalte, er ist nun wirklich gefallen – und das gleich zweimal. Ein erster Infarkt in seiner Heimat in der Türkei folgte dann ein zweiter Fall, der ihn nun als das körperliche Wrack zurücklässt, der nur noch mit einem Augenlid kommunizieren kann. Ähnlich wie der auch im Buch Erwähnung findende Jean-Dominique Bauby, der in Schmetterling und Taucherglocke ebenfalls seine Lebenserinnerungen als Locked-In-Patient per Morsecode über das Augenlid diktierte, kann sich der Vater nun nur noch per Buchstabentafel in kleinen Sätzen und Anweisungen äußern.

Und so ist Utlus Text der Versuch, den Verfall des Vaters des Erzählers mit dessen Leben zu verbinden, all die kleinen und großen Abzweigungen nachzuvollziehen, die ihn aus der Türkei nach Deutschland und nun bis ins Krankenbett brachten – und um ihm nahezukommen, das eigene Leben und Werden mit dem des Vaters zu vergleichen.

Ich will mich nur an das erinnern, was mir mein Vater mitgegeben hat, wenn ich über ihn nachdenke. Mein Vater, als Erzähler, der er war , beschrieb die Dinge, wie sie sich angefühlt haben, und nicht zwingend, wie sie geschehen waren – gerade darin fühlte ich mich ihm nah, im Erzählen und Erinnern.

Deniz Utlu – Vaters Meer, S. 248

Das Meer als treffende Metapher

Das Meer ist dabei eine großartige Metapher, kann es doch verbinden und trennen. Kostbar sind Yunus Momente wie etwa ein gemeinsamer Urlaub in Vaters Heimat in Kizkalesi, in dem das gemeinsame Schwimmen im Meer zum verbindenden Element zwischen Vater und Sohn wird. Ebenso wie das Meer aber auch Menschen Kontinente und Menschen trennt, so sind es immer wieder auch Szenen der Distanz und der Fremdheit, sowohl im Leben des Vaters in der Fremde in Hannover als auch Distanz zwischen Vater und Sohn.

Deniz Utlu gelingt es, dieses Verbindende und Trennende gut herauszuarbeiten. Vaters Meer steht dabei in der Traditionslinie gleich zweier Genres oder literarischer Formen, die in den letzten Jahren zunehmend populär wurden. Da ist zum Einen die Tradition des migrantischen Blicks auf das Leben in Deutschland, in die sich neben großartigen Erzählungen wie Fatma Aydemirs Dschinns jüngst auch durch den Büchnerpreis an Emine Sevgi Özdamar und den Preis der Leipziger Buchmesse an Dinçer Güçyeter für dessen Deutschlandmärchen nun auch Deniz Utlus Erzählung einfügt. Den gesellschaftlichen Neuanfang in der Fremde in Hannover, die Verbindung mit der türkischen Heimat, die stete Sehnsucht und Verbundenheit mit dem eigenen Erbe, sie ist Vaters Meer eingeschrieben.

Zum anderen steht Utlus Buch auch in der Tradition der zahlreichen Vaterschaftsbücher, die von Christian Dittloff über André Hille bis zu – thematisch ähnlich gelagert und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stehend – Necati Öziri, der in Vatermal einen ähnlichen Komplex auf etwas reduzierte Art und Weise bearbeitet. Die Prägung durch den Vater, die Kontinuitäten oder die Emanzipation von tradierten Rollenbildern und Verhaltensweisen, all das sind Themen von Vaters Meer, ebenso wie diese Buch natürlich auch die neue Beziehung zwischen Mutter und Sohn ohne die Gestalt des Vaters zeigt.

Divergierende Wertungen

Ebenso wie man diese zwei Traditionslinien ausmachen kann, so gibt es auch in der Bewertung des Romans zwei Richtungen in Form sehr divergierende Pole, die mich noch einmal neugieriger auf das Buch gemacht haben. So nahm Deniz Utlu mit einem Romanauszug am Bachmannpreises 2023 teil, bei der er als letzter Teilnehmer aus seinem Manuskript zum Buch las. Die Urteile der Jury waren dabei überwiegend ablehnend, die Sprachlosigkeit des Vaters würde nicht auf sprachlicher Ebene sondern nur auf inhaltlicher Ebene verhandelt, die Konventionalität des Erzählens und die Monotonie waren dort geäußerten Vorwürfe an den Text, die den Romanauszug damit aus dem Feld der Wettbewerber schlugen.

Ganz anders nun die Bewertung angesichts des abgeschlossenen Textes, der viel Lob in den Feuilletons hervorruft und sogar für den Bayerischen Buchpreis nominiert wurde. Und auch ich neige in meinem Urteil über Vaters Meer deutlich letzterer Position zu. In meinen Augen ein wirklich gelungener Roman, der deutsch-türkische Biografien ebenso wie das Zusammenkommen und Auseinanderdriften einer Familienkonstellation neben der Sprachlosigkeit und dem Abschied einer prägenden Vaterfigur verhandelt – und das auf literarisch überzeugende Weise, indem Deniz Utlu immer wieder starke Bilder für seine Erzählung findet und seinen Roman in verschiedenen Erzähltraditionen verortet.


  • Deniz Utlu – Vaters Meer
  • ISBN 978-3-518-43144-3 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €
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Rachel Yoder – Nightbitch

Zwischen Bücherbabys, künstlerischer Selbstverwirklichung und ungewöhnliche Erziehungsansätze. Rachel Yoder schreibt in Nightbitch über die Anforderungen an eine junge Mutter – und ihre Metamorphose zu einer Hündin.


Alles beginnt zunächst noch recht gewöhnlich mit ein paar Haaren. Diese finden sich allerdings an Stellen, an denen sie nicht hingehören. Zudem macht das Volumen ebenjener Haare der namenlosen Protagonistin in Rachel Yoders Roman Sorgen, denn so ganz normal scheint diese neue Haarpracht nicht zu sein:

Zugegebenermaßen wirkte sie haariger als sonst. Ihre widerspenstige Mähne stand ihr um Kopf und Schultern wie ein Wespenschwarm, die Brauen schoben sich in ungehemmten Wachstum über ihre Stirn wie Raupen. Am Kinn hatte sie sogar zwei schwarze Bosten entdeckt, und im entsprechenden Licht – ehrlich gesagt, in jedem Licht – schimmerte dort auf ihrer Oberlippe, wo die Haare nach der letzten Laserbehandlung nachwuchsen, ein Bartschatten. Waren ihre Unterarme immer schon so buschig gewesen? Hatte der Haaransatz immer schon bis an ihren Kiefer gereicht? Und waren dunkle Büschel auf den Zehen eigentlich normal?

Rachel Yoder – Nightbitch, S. 10

Von einer Mutter zur Hündin

Von ihrem Mann belächelt nimmt die nur als „Die Mutter“ bezeichnete Frau immer mehr Veränderungen an sich wahr. Die Zähne werden spitzer und länger, es wächst ihr plötzlich Fell – nur ihr Mann will es nicht wahrhaben. Er tut sämtliche Veränderungen ab und pflegt weiterhin seine Haltung der Ignoranz, die er gegenüber seiner Frau und ihrer Rolle als Mutter an den Tag einnimmt.

Rachel Yoder - Nightbitch (Cover)

Obwohl er zusammen mit der Protagonistin einen jungen Sohn hat, glänzt er tagelang mit Abwesenheit und überlässt sämtliche Erziehungsaufgaben und Care-Arbeit seiner Frau. Verständnis für seine Partnerin gibt es bei ihm nicht, weder für ihre Erschöpfung noch für die Schwierigkeiten, die das Hineinfinden in die neue Rolle als Mutter bedeutet.

Derweil droht die junge Mutter zunehmend an ihrer neuen Rolle als Mutter zu verzweifeln. Eine Karriere als Künstlerin hat sie trotz vielversprechender Ansätze aufgegeben, stattdessen bestimmen nun Muttermilch und eintönige Tage zuhause das Leben der jungen Frau. Durch Zufall besucht sie in der lokalen Stadtbücherei die Gruppe der Bücherbabys – mit den anderen Müttern dort aber fremdelt die Künstlerin sehr. Sie sucht sich einen anderen Weg aus der neuen Isolation, die das Dasein als Mutter für sie bedeutet. Nightbitch heißt ihr Alter Ego, das sie sich erschafft – und das sich bald auf haarige Weise verselbstständigt.

Mein hündisches Herz

Ähnlich wie bei einem Werwolf wird auch in der Mutter der animalische Trieb immer stärker. So übt das rot glänzende Fleisch in der Kühltheke plötzlich einen immer stärker werdenden Reiz auf die junge Frau aus. Gierig schleppt sie es kiloweise nach Hause. Vor der Haustür tauchen nächtens Hunde aus der Nachbarschaft auf. Sie selbst verwandelt sich auch in Tier, reißt plötzlich Kaninchen und übt mit ihrem Sohn den Gang auf allen vieren und lässt diesen dann schon mal in einer Hundehütte übernachten.

Nightbitch erzählt von der Verwandlung in eine Hündin und vom Animalischen, das wir in unserem Alltag zu unterdrücken versuchen. Rachel Yoder erzählt plakativ, manchmal geradezu grell, von überforderten Müttern, Selbsthilfekursen und diesem unersättlichen Verlangen nach Fleisch und Tod. Das klingt in seiner theoretischen Anlage zunächst reichlich plump, entwickelt dann aber einen Sog, der auch viele Einsichten über Mutterschaft und Überforderung beschert.

Fazit

Mit Nightbitch sortiert sich die Autorin irgendwo zwischen Sarah MossSchlaflos, Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Doireann Ní Ghríofas Ein Geist in der Kehle ein. Yoder gelingt ein Roman, der von den Schwierigkeiten erzählt, die es bedeutet, Mutter zu werden und seine eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Partnerschaftliches Unverständnis, überhandnehmende Anforderungen und die Potentiale, die plötzlich in einer tierischen Metamorphose lauern.

Das beleuchtet ihr Buch auf unterhaltsame Art und Weise, das sich von der Komik bis zum Horror unterschiedlichster Stilelemente bedient, die Yoder tatsächlich zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführt.


  • Rachel Yoder – Nightbitch
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-608-98687-7 (Klett-Cotta)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Wolf Haas – Eigentum

Was bleibt vom Leben nach dem Tod? Und wie ist das mit dem alten Versprechen, jeder könne sich ein Eigentum verschaffen, wenn er sich nur anstrengt und spart? Wolf Haas macht in autofiktionale Manier Inventur und betrachtet das Leben seiner Mutter – und das was am Ende bleibt.


Sie ist an ihrem eigenen Ende angekommen, die Mutter des Erzählers, der auf den Namen Haas hört. Er hat sich ins Altersheim zu ihr begeben, um ihr auf den letzten Metern Gesellschaft zu leisten. Sie, die sie sich in ihren eigenen Erinnerungen verirrt, ihrem Leben und ihrer Lebensleistung will Haas nachspüren, oder wie er es in seinem typischen Stil schildert, den man so auch von seinen Brenner-Romanen oder Werken wie Das Wetter vor 15 Jahren kennt:

Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text. Und weg damit. Ein Text, der davon lebt, dass er mit dem Tod um die Wette rennt (nur noch zwei Tage). Keine Zeit für Formulierungen. Oder Selbstzensur. Gratuliere, super Idee.

Wolf Haas – Eigentum, S. 9

Und so springt Haas immer wieder hin und her, zwischen den Lebenserinnerungen seiner Mutter, die einst aufgrund ihres Intellekts die Schule und anschließend einen Servierkurs besuchen durfte, ehe der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs alle geplanten Lebensläufe zerstörte. Er selbst reist den Orten ihres Lebens nach, besucht ein Hotel in der Schweiz, in dessen Zwillingsgebäude seine Mutter nach einem Dienst beim Flugwachkommando diente und versinkt während des Besuchs im Altersheim und an prägenden Lebensstationen immer wieder in eigenen Erinnerungen und gedanklichen Abschweifungen, sollte er eigentlich doch auch sein Programm einer Poetikvorlesung langsam zu Ende bringen, von dem aber nichts außer der Titel steht.

Ein typischer Wolf Haas-Roman

Eigentum ist ein typischer Wolf Haas-Roman, auch wenn hier keine eigentlicher Plot im Sinne eines seiner Krimis um Simon Brenner im Mittelpunkt steht. Aber der Plot, um ihn ging es Wolf Haas ja erkennbar wenig in seinen bisherigen Büchern. Vielmehr zelebrieren seine Titel ja schon immer das Abschweifen der Gedanken und das Ausweichen vor allzu dicken roten Erzählfäden.

Wolf Haas - Eigentum (Cover)

Wie schon beim Interview, das den Rahmen seines Romans Das Wetter vor 15 Jahren bildete und in dessen Verlauf sich erst langsam die Handlung herausschälte oder bei seiner phlegmatischen Kultfigur Simon Brenner geht es auch hier ähnlich umständlich zu. Haas‘ Sätze stehen für sich bisweilen markant schief und krumm da und enteilen der erzählten Gegenwart immer wieder in die Erinnerung (was er ja in der Einleitung seines Romans selbst schon so als literarisches Konzept formuliert und absolut einhält).

Es ist auch der Humor, der typisch für das Schreiben des österreichischen Autors ist. So weckt etwa das greise Wegschlummern vor den vollen Suppentellern im Altersheim beim Erzähler Assoziationen zu einer alten Werbekampagne aus England, in der gewarnt wurde: „Vorsicht, die meisten Menschen ertrinken in seichten Gewässern!“

Oftmals erscheint der schwarze Humor als Bewältigungsmittel der eigenen Hilflosigkeit, um das absehbare Sterben der eigenen Mutter irgendwie zu verarbeiten. Bisweilen erfährt Haas als Erzähler sogar die Gültigkeit von Friedrich Nietzsches Worten der Tragödie, die sich als Farce wiederhole, etwa wenn er im noblen Schweizer Hotel auf Spuren seiner eigenen Mutter mit den vom Mund abgesparten Schweizer Franken zahlen möchte, nur um festzustellen, dass diese nach einer Währungsreform gar nicht mehr gültig sind.

Ein Mutterbuch aus Sohnperspektive

In solchen Momenten verbinden sich Humor, Lebenserinnerung und Einfühlen in die eigene Mutter ganz großartig. Überhaupt: Eigentum ist ein Mutterbuch aus Sohnperspektive, das die Fülle der Vaterschaftsbücher in letzter Zeit gut kontrastiert. Haas spürt hier dem Leben einer Frau nach, die beständig im Clinch mit anderen Menschen ihres Dorfes dort irgendwo in der Mitte Österreichs lag. Und deren Lebensmotto eines war, nämlich Sparen, Sparen, Sparen – stets mit dem großen Ziel des Erwerbs von Immobilieneigentum vor Augen.

So sammelte sie schon während ihrer Zeit als Servierkraft in der Schweiz beständig Franken, um sie nach Hause zu schicken, wo von dem Geld ein Haus errichtet werden sollte. Immer wieder war die Wohnsituation Thema, war die Wohnung mit achtundzwanzig Quadratmetern zu klein für die vierköpfige Familie, schrieb Haas‘ Mutter an Behörden, rackerte und sparte sich ab, um wie Sisyphos immer wieder die Unmöglichkeit ihres Traums vor Augen gestellt zu bekommen, schon etwa durch die Erfahrungen der Hyperinflation in ihrem eigenen Geburtsjahr 1923, die für eine Entwertung sämtlicher Vermögen sorgte.

Der Quadratmeterpreis ist immer einen Schritt voraus

Wenn es eine Erkenntnis gibt, die dem Leben dieser Frau innewohnte, dann der, das man sich mühen und eilen kann, wie man möchte, der Quadratmeterpreis, er ist einem stets einen Schritt voraus. Das zeigt Wolf Haas in den Erinnerungen, in der dieses Phantasma eines eigenen Heims immer wieder Thema war und an dessen Ende tatsächlich die eigene Immobilie steht. Nur befindet sie sich jetzt auf dem Friedhof in Form von circa 1,7 Quadratmetern, dafür mit unverstellter Bergsicht, wie der Erzähler in einem dieser Momente hilflos-schwarzen Humors feststellt

Was bleibt am Ende? Dokumente und Formulare, Geldnoten und das letzte Eigentum sind es, die dem Erzähler von seiner eigenen Mutter bleiben und die sich in diesem Wettlauf zwischen Text und Tod herauskristallisieren. Die Schreiben und das Geld entwerten sich und das Eigentum, es ist auch ein flüchtig Ding, frühestens, wenn die Bank zur Räumung der Immobilie auffordert, spätestens, wenn es ans Sterben geht. Eigentum ist möglich, aber nicht für „einfache“ Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Nicht damals, nicht heute. Das ist die bittere Erkenntnis, die Eigentum innewohnt.


  • Wolf Haas – Eigentum
  • ISBN 978-3-446-27833-2 (Hanser)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €
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