Emanuel Maeß – Alles in allem

Ganz und gar unzeitgemäß. Emanuel Maeß in seinem zweiten Roman Alles in allem über einen Bummelstudenten, der weder bei der Verfertigung seiner Dissertation noch auf amourösem Gebiet so recht an Land gewinnen mag. Doch obschon die Handlung eher ein einem lauen Lüftchen gleicht, so erzeugt die Sprache Maeßens doch einen starken Windstoß, der mitreißt, wenn man sich auf dieses auf alte Meister schielende Erzählhandwerk einlässt.


Passt so etwas noch in die Zeit? Da eröffnet Maeß seinen Roman mit einer seitenlangen Beschreibung eines auf dem Bett hingestreckten weiblichen Körpers, über den der Blick des Erzählers schwelgerisch gleitet und seiner Faszination mit Beschreibungsmitteln irgendwo zwischen Nature Writing und Architekturkritik Ausdruck verleiht:

Nicht jene allgegenwärtigen, sich ebenfalls raffiniert aus der Kugel ableitenden Runddesigns von Brust und Gesäß schienen dann das Hinreißendste an einer Frau (an dieser hier sowieso), sondern die Täler, Furchen, Mulden und Gruben, jene inkommensurable Dynamik nach innen gehender Biegen und Krümmungen, ihrer unterschwelligen Spiralformen, Schraubenlinien und Trichter. Ganz zur Geltung kamen sie vermutlich erst durch die Nachmitternachtswärme und flaumweise Textur ihrer Inhaberin, auch eine leichte Note von Osterlilien spielte ohne eigentlich klaren Ursprung hinein.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 8

Von Berlin-Friedenau bis zum Parnass

Emanuel Maeß - Alles in allem (Cover)

Schon vor diesen ersten Seiten, die nach der sprachmächtigen Lobpreisung des weiblichen Körpers irgendwo in Griechenland am Fuße des Parnass beginnen, ist ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes Element gesetzt. Es handelt sich um das Zitat von Eckart von Hochheim, der, besser bekannt unter seinem Namen Meister Eckart, als Mytiker und einer der Väter der Theologe den Seelengrund beschrieb und das Gottesbild des Mittelalters entscheidend prägte.

Ebenso antiquiert mag einigen auch der Beruf des Helden von Maeß‘ Roman erschienen. Der namenlose Ich-Erzähler, hat sich – durchaus mit heißem Bemühen – der Theologie zugewendet. Nimmt nicht nur die Zahl der Kirchenaustritte hierzulande immer mehr zu, ist auch die Zahl der Theologie-Studierenden über die Jahre stark rückläufig. Doch der Erzähler hat sich der nicht mehr recht gefragten Theologie mit großer Ernsthaftigkeit verschrieben. So will er über das Thema der Ikonen promovieren. Eine Reproduktion der berühmten ikonischen Darstellung Wladimirskaja leistet ihm sogar zuhause Gesellschaft. Zuträglich für das Vorankommen in Sachen akademischer Meriten ist aber auch die Anwesenheit der Ikone nicht.

Auch mit meinem Professor, Dietrich von Staden, einem kurz vor der Pension stehenden Luther- und Melanchthon-Experten, hatte ich Glück, ein angenehmer und verständnisvoller Mann, der überdies und freundlicherweise nach drei Jahren aufgehört hatte, mich nach dem Stand meiner Arbeit zu fragen. Dafür war er auch zu sehr mit den eigenen Sachen beschäftigt. Er musste hohe Erwartungen in mich gesetzt haben, nachdem er mich bei der Diplomprüfung, damals noch mit manchem Charme und Schneid, über Thomas Müntzers Apokalyptik hatte reden hören, aus der ihm eine unübliche spirituelle Empfänglichkeit, wenn nicht gar Ergriffenheit zu sprechen schien.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 35

Verharren im Phlegma

Das Voranschreiten in Sachen Fortschritt bei der Dissertation lässt auf sich warten – und auch ansonsten lässt der Bummelstudent nicht wirklich Ambitionen erkennen und verharrt ganz bequem im Phlegma. Ein anspruchsloser Job als Hiwi beim Lehrstuhl, die bequeme Beziehung mit seiner Freundin Clara, die er einst bei einer Studienreise an biblische Schauplätze kennenlernte, das kennzeichnet den Alltag des ebenso unsportliche wie nicht sonderlich attraktiven Denkers.

Und doch gerät das vergeistigte Leben des Theologen schon bald in Aufruhr, als er nämlich bei einer Tagung in Wittenberg die Bekanntschaft mit Katharina macht. Schon bald kommt es zu einer Affäre mit der Frau, die mit spirituellen Interventionen und Kunstinstallationen Kirchenräume verwandelt. Eine Trennung von Clara und ein „Ghosting“ mit Katharina wird folgen, weitere Frauenbekanntschaften und Umzüge von Berlin-Friedenau bis Lichterfelde werden das Leben des Denkers kennzeichnen.

Dabei ist die Handlung von Alles in allem nicht das, was das Buch ausmacht. Vielmehr sind es die mit Sprachmacht und Bildung manchmal schon fast prunkenden Gedanken- und Beschreibungsorgien, in denen sich der Denker verliert. Die Füße Katharinas erinnern ihn dabei gleich an frühantike Statuen Polyklets (S. 134) oder ein gemeinsamer Spaziergang durch den Apollensberg bei Wittenberge führt den Nature-Writing/Architektur-Blick fort, mit dem der Erzähler schon eingangs den weiblichen Körper beschrieb.

Wir gingen auf den Wallpfad hinauf und liefen eine Weile auf ihm entlang, zur einen Seite und Elbaue hin die fernen Waldungen und Äcker mit mächtigen Solitäreichen, die den Park nahezu übergangslos in die Landschaft auslaufen ließen, zur anderen das verhaltene Lächeln des Garten. So etwas stelle man also auf, wenn einen Winckelmann ein halbes Jahr lang durch Rom geführt hatte. Zur südlichen Aufschmückung der Landschaft hatte man sich Lombardische Pappeln, italienische Schwarzkiefern und Koniferen kommen lassen, die wie Pinien und Zypressen aussehen sollte. Als wollte jemand zeigen, welch irrsinniges Spektrum sich allein aus der Farbe Grün auffächern lasse, arrangierte man das alles in ausgeklügelter Raumseligkeit um Alleen, Hecken, verschwiegene Eckchen, Lauben und Sitze herum.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 112

Antiquiert und artifiziell und großartig

Das ist manchmal mitreißend, manchmal vielleicht sogar etwas zu viel des Guten, etwa wenn der Erzähler feststelle, dass „man (…) nicht um die Einsicht herum[kam], dass das jahrelang eingespielte Miteinander – ähnlich wie der freiheitlich-säkularisierte Staat im Böckenförde-Theorem – von Voraussetzungen lebte, die es nicht garantieren konnte“ (S. 85).

Zugegeben – es ist eine spezielle Prosa, die man mögen muss. Emanuel Maeß schielt mit seinem Erzählen klar auf alte Meister wie Thomas Mann oder Heimito von Doderer. Wie schon in Gelenke des Lichts gelingt es dem 1977 in Jena geborenen Autor, männliche Seelenerkundung, Humor und sprachliche Wucht zu einem Buch zu vereinen, bei dem sich das Antiquierte mit dem Artifiziellen großartig verbindet. Seine Landschaftsschilderungen von Griechenland bis Wittenberg stehen schon fast in romantischer Tradition und tragen zum rückwärtsgewandten Eindruck des Romans bei.

So entsteht ein Werk, das ganz und gar unzeitgemäß wirkt – mich dafür aber umso mehr einnahm, weil es keiner der aktuellen Moden folgt oder folgen will, obgleich es im letzten Drittel etwas an Spannkraft verliert, wenn die Lust und Triebe in ihrer ganzen Ausführlichkeit etwas zu sehr überdramatisiert werden. Angesichts dessen, was Maeß zuvor aber richtig macht, ist das mehr als verzeihlich.

„Ich kann ja nur für mich sprechen, aber ich verdanke deiner Gegenwart ganz erhebliche Zugewinne an Immanenz, Komplexität und Einsichtsvermögen. Leider auch meinen Niedergang, aber immerhin habe ich wenigstens einmal im Leben an den Kern der Dinge gerührt.“

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 334

Fazit

Alles in allem hat mich Alles in allem sehr eingenommen, auch wenn man den Retro-Faktor dieses Erzählhandwerks natürlich ebenso ablehnen kann, wie ich diese Spracharabesken genossen habe. Da schreibt jemand mit einer eigenen Agenda – und ich schätze es sehr!


  • Emanuel Maeß- Alles in allem
  • ISBN 978-3-7371-0155-4 (Rowohlt)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen

Australien, unerschöpfliche Quelle der Kriminalliteratur. Mit Hayley Scrivenor präsentiert der Eichborn-Verlag eine weitere Autorin aus Down Under, der mit ihrem Debüt Dinge, die wir brennen sahen ein ordentlicher, aber keinesfalls hitziger Krimi gelingt.


Dirt Town. So wird das kleine australische Städtchen Durton von seinen Bewohnern, besonders der Jugend geheißen. Wenig ist hier los auf dem australischen Land. Doch dann verschwindet die Schülerin Esther Bianchi auf dem Nachhauseweg von der Schule – und die Sorge ist groß.

Für die Suche nach der Schülerin werden auch die Detective Sergeant Sarah Michaels und ihr Kollege, Detective Constable Wayne Smith hinzugezogen. Eigentlich befinden sie sich nach der Bearbeitung eines anderen Falles auf dem Rückweg nach Sidney. Doch nun kommt alles anders. Am 30. November 2021 kommen sie nach Durton, vier Tage später wird ein im Boden vergrabener Fund entdeckt werden. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen schildert Hayley Scrivenor dabei aus verschiedenen Perspektiven.

Eine Krimi mit vielen Perspektiven

Hayley Scrivenor - Dinge, die wir brennen sahen (Cover)

Das macht diesen nach bekannten Strickmuster erzählten Krimi etwas variabel und ist wohl die größte Besonderheit des ansonsten konventionellen Stücks Kriminalliteratur. So wird die Polizeiarbeit aus der personalen Perspektive Sarahs erzählt, die neben der Ermittlung noch an der Trennung von ihrer Partnerin laboriert. Involvierte Kinder treten in Form der Schulfreundin Veronica „Ronnie“ Thompson und Lewis Campbell im Roman auf.

Während Ronnie aus der Ich-Perspektive auf ihr Verhältnis zur verschwundenen Esther blicken darf, kommt Lewis ebenso wie Sarah in der personalen Erzählform zu Wort. Daneben gibt es noch ein „Wir“, das chorisch erzählt auf die Geschehnisse im Ort blickt und sich immer wieder in die Erzählung einmischt.

Das ist klug gewählt, wäre der Krimi bei Verwendung einer einzigen Erzählperspektive doch reichlich fad, denn in Bezug auf die Motive bietet Dinge, die wir brennen sahen nicht viel Neues.

Die beiden Schüler*innen wissen mehr, als sie auf den ersten Blick zugeben. Sarah und ihr Kollege müssen sich in der Schule und den Familien umhören. Spuren gibt es wenig, dafür steht bald die Presse vor der Tür. Das sind alles Motive, die man aus anderen Krimis oder Fernsehfilmen schon dutzendfach kennt und die in ihrer Erzählweise außer des multiperspektivischen Erzählansatzes nicht wirklich überraschen. Dass hier zwei queere Beziehungen gestreift werden, ist zwar angesichts des Pridemonth und dessen Eintreten für queere Repräsentation eine nette Erzählidee und verdient Lob. Viel erwächst daraus nicht, außer dass zwei Personen durch ihr queeres Begehren in Gewissenskonflikte gestürzt werden.

Ein Debütroman mit Luft nach oben

Viele der Figuren, die Dinge, die wir brennen sahen bevölkern, bekommen nicht einmal solche inneren Konflikte zugestanden, sondern bleiben Staffage. Es gebricht Hayley Scrivenors Debüt stellenweise an der Nuancierung ihress Personals. Der Detective Constable bleibt dabei genauso blass wie etwa der Familientyrann der einfach böse ist, indem er seine Familie tyrannisiert und mit Drogen dealt. Auch andere Figuren können hier aus der Kulisse der australischen Kleinstadt nicht wirklich hervortreten und die schlussendliche Überführung des Täters wird auch eher pflichtschuldig abgehandelt. Ein bisschen Drogenschmuggel, ein bisschen Geheimnisse, ein bisschen klassische Ermittlungsarbeit, ein bisschen Spannung – aber auch nicht viel mehr.

Und obschon es so klingen könnte: Dinge, die wir brennen sahen ist beileibe kein schlechter Krimi. Aber von der australischen Gluthitze und den brennenden Dingen, die die deutsche Version des im Original schlicht Dirt Town lautenden Titels verspricht, von all dem findet sich im Krimi leider wenig. Das lässt dieses Buch zwar zu einem soliden, aber keinesfalls rundum überzeugenden Werk geraten.

Das fällt besonders auf, weil es in Down Under ja ein gutes Dutzend anderer Autor*innen gibt, die vormachen, wie so etwas aussehen kann, heißen sie Garry Disher, Candice Fox, Peter Papanathasiou oder Jane Harper In diese Riege schaffte es Hayley Scrivenor mit Dinge, die wir brennen sahen leider noch nicht. Ihr wäre es zu wünschen, dass sie in ihren kommenden Büchern den Mut beweist, sich von herkömmlichen Motiven und Plotanlagen wegzubewegen, um ihre Stimme im Konzert der anderen Krimiautor*innen etwas unverkennbarer werden zu lassen. Mit dem multiperspektivischen Erzählstil ist ein Ansatz ja schon vorhanden, diese könnte Scivenor noch gut ausbauen, um dann einen wirklich hitzigen Roman vorzulegen, in dem es dann auch mal wirklich brennen darf.


  • Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8479-0115-0 (Eichborn)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €
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Arno Frank – Seemann vom Siebener

Ein Tag im Freibad, der zum Brennglas aufs Leben wird. Arno Frank inszeniert in Seemann vom Siebener das Freibad als Wimmelbild und erzählt von Träumen, Tod und dem Wagnis, sich vom Sprungbrett in die Tiefe zu stürzen. Großartige Lektüre, nicht nur für den Sommer!


„Ich will den Seemann nicht vom Einer machen.“

„Sondern?“

Wortlos mache ich mit dem Daumen eine Aufwärtsbewegung.

„Vom Dreier? Respekt!“

Ich schüttele den Kopf: „Nicht vom Brett…“

„Vom Fünfer?“ Er packt mich an der Schulter und dreht meinen Oberkörper, sodass er mir direkt ins Gesicht sehen kann: „Bist du irre?“

Ich schüttele den Kopf, versuche ein Lächeln und schiebe sanft seine Hand von meiner Schulter: „Ich mache einen Seemann vom Siebener“.

Arno Frank – Seemann vom Siebener, S. 126

Es ist geradezu ein prototypisches Schwimmbad, welches Arno Frank in seinem Roman Seemann vom Siebener skizziert und das Erinnerungen an die eigene Kindheit weckt: Eine Liegewiese, Betonplatten, eine alte Linde, die Schatten spendet. Der Schwimmbad-Kiosk, ein Feld mit überlebensgroßen Schachfiguren, eine rote Pilzdusche im Kinderschwimmbereich – und vor allem ein echter Zehn-Meter-Sprungturm.

Das Freibad als Bühne des Lebens

Arno Frank - Seemann vom Siebener

So sieht es aus, das irgendwo in der Pfalz gelegene Freibad, das bei Arno Frank zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens wird. Wir schreiben Freitagmorgen bei bestem Wetter, es ist der letzte Freitag in den Sommerferien. Dem Freibad steht also ein Besucheransturm bevor, doch hiervon merken die Kassiererin Renate und Bademeister Kiontke, eine Art Faktotum des Bads, früh am Morgen noch wenig. Die Wassertemperatur wird per Kreide auf die Tafel aufgebracht, das Morgenmoderationsteam im Radio treibt seine Scherze – die meisten Gäste sind aber noch zuhause, wovon Arno Frank durch die multiperspektivische Erzählweise seines Romans berichtet.

Erst allmählich finden sie sich im Bad ein. Die schon demente ehemalige Lehrerin und zugleich Gattin des Schwimmbad-Erbauers, die Ich-Erzählerin, die der Plan eines Seemannsköpfer vom 7-Meter-Brett umtreibt. Josefine, der es nach Meinung einiger Badbesucher*innen besser zu Gesicht stehen würde, sich bei den Vorbereitungen der Trauerfeier denn beim Schwimmen im Bad zu betätigen.

Da ist Lennart, der nach Jahrzehnten der Absenz wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt und im Freibad auf viele Jugenderinnerungen trifft. Die Kindergartengruppe mit ihrer Kindergärtnerin, der Kioskbetreiber und viele mehr. Wimmelbildgleich ergeben diese von jung bis alt reichenden Figuren an diesem Freitag einen Chor, der in verschiedenen Tonlagen und Stimmungen erzählt.

Leben und Tod, Sonne und Schatten

Da sind nicht ergriffene Chancen für die Liebe, da ist das Vergessen und zugleich Erinnerungen an die zurückliegende Partnerschaft, da sind Vorbehalte gegenüber Geflüchteten, da sind Bienenstiche und da ist Aufbruch. Bittersüß ist sie, diese Hommage an das Treiben im Freibad, die uns Arno Frank präsentiert.

Zwar strahlt die Sonne und das kühle Wasser verheißt Lebenslust, genauso sind aber auch die Schatten in Form von Tod, Suizid und Endlichkeit in diesem namenlosen Freibad präsent. Das ist großartig gemacht und in seiner Vielstimmigkeit ein Buch, das über eine platte Wie-schön-war-das-damals-im-Freibad-Verklärung weit hinausgeht, obwohl es sich natürlich für eine Lektüre im Bad empfiehlt. Aber über so kurze saisonale Dutzendware hinaus besitzt Seemann vom Siebener eben große Qualitäten, auch im literarischen Sinn.

Konnte mich Arno Frank mit seinem Debüt So, und jetzt kommst du, der Aufarbeitung seiner eigenen Biographie als Sohn eines Hochstaplers literarisch nicht wirklich überzeugen, muss ich doch feststellen, dass er sein erzählerisches Instrumentarium im Vergleich zu seinem Erstling deutlich geschärft hat. Souverän spielt er mit Motiven und Weiterführungen von Erzählfäden, bietet sein chorisch erzählter Episodenroman immer wieder kleine Aha-Momente, wenn zuvor Angeklungenes weitergeführt wird, wenn Menschen und Schicksale plötzlich ein Bild ergeben und selbst vermeintlich kleine Dinge auf Großes rückschließen lassen.

Ein Brennglas aufs Leben

Seine indirekten Porträts der Menschen, die Charakterisierung des Freibads als Brennglas der Gesellschaft, die genaue Schilderung aller Figuren im ganzen möglichen Altersspektrum, die Spannung ob des riskanten Sprungversuchs, die sich immer weiter steigert – und das alles innerhalb eines einzigen Tags inszeniert. Das wusste mir ausnehmend gut zu gefallen. Mal besitzt Seemann vom Siebener einen Hauch von „Tatsächlich… Liebe“, dann erinnert Franks Erzählung wieder an andere multiperspektivische Erzählprojekte wie etwa Robert Seethalers Das Feld.

Es ist ein Roman, aus dem man endlich lernt, dass es sich beim Sprungturm fälschlicherweise von einem Siebenmeter-Brett spricht, handelt es sich eigentlich einen 7,5-Meter hohes Brett. Zudem funktioniert das Buch aufgrund des detailliert beschriebenen Freibads wie eine Zeitkapsel, die eigene Erinnerungen an sonnendurchglühte Nachmittag mit Schwimmbad-Pommes, Slush-Eis und dem Hinfiebern auf die Freigabe des Sprungturms durch den Bademeister weckt.

Fazit

Seemann vom Siebener ist ein Roman für den Sommer – aber auch für weit darüber hinaus. Literarisch ambitioniert, groß in Sachen Emotionen und Kindheitserinnerung. So muss sie aussehen, die perfekte Freibadlektüre!


  • Arno Frank – Seemann vom Siebener
  • ISBN: 978-3-608-50180-3 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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J. Todd Scott – Weiße Sonne

Zurück im Big Bend County. Dort in der Einöde zwischen Texas und Mexiko bekommt es Sheriff Cherry und sein Team diesmal mit einer Gruppe Neonazis zu tun, die in Cherrys Bezirk eine Schneise der Gewalt und Verwüstung schlagen. Weiße Sonne von J. Todd Scott.


Es ist wirklich augenfällig: auf den letzten Seiten dieses Romans greift der nach den Geschehnissen in J. Todd Scotts Erstling Die weite Leere zum Sheriff beförderte Chris Cherry zum Stift, um den langgehegten Traum eines Romans endlich anzugehen. Auch John Bassoff weist in seinem Nachwort auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, geht Scotts Sheriff doch hier den umgekehrten Weg, den der Erschaffer der Figur selbst ging. Denn bevor sich Scott dem Schreiben zuwandte, arbeitete er als DEA-Agent im amerikanisch-mexikanischen Grenzland.

Nun gibt es mit Weiße Sonne den zweiten Roman rund um Chris Cherry und das Leben im Big Bend County zu lesen, geboren im Schatten von Scotts Erstling, wie er es im Nachwort seines Krimis selbst bezeichnet. Denn wo er für sein Debüt frei vor sich hin schreiben konnte ohne Druck und Abgabefristen im Nacken, da hat nun Die weite Leere die Erwartungshaltung für einen zweiten Roman gesteigert.

Outlaws und Gesetzeshüter im Big Bend County

Tatsächlich verfolgt J. Todd Scott in seinem zweiten Roman einen ähnlich multiperspektivischen und handlungsreichen Ansatz, wie er es bereits bei seinem ersten Roman tat. So ist Sheriff Chris Cherry nur eine Person im Personengefüge der Ordnungsmacht. Neben ihm kommen auch seine Deputys, die mexikanischstämmiger América „Amé“ Reynosa und der erfahrene Ben Harper, in Erzählsträngen zu Wort. Erstere kämpft noch immer mit den Erlebnissen aus dem Vorgängerband und ihren familiären Verflechtungen mit den mexikanischen Kartellen, letzerer versucht Chris Cherry in der Angelegenheit der der ABT zu mehr Aktion denn Reaktion zu drängen. Denn bei der ABT handelt es sich um die Aryan Brotherhood of Texas, die ausgerechnet im kleinen Städtchen Killing eingefallen ist.

J. Todd Scott - Weiße Sonne

Im Falle eines ermordeten Flussführeres gelten die gefährlichen Männer als die Hauptverdächtigen. Doch richtig zu packen bekommt sie weder Chris noch seine beiden Deputys. Besonders Amé steht unter Druck, lastet die Begegnung mit einem mexikanischen Autodieb auf ihrem Gewissen. Denn sie schlug diesen im Affekt im gefesselten Zustand, während da dieser scheinbar kompromittierendes Wissen vor allem über Amés Vergangenheit besaß.

Gewalt gegen Gefangene, im Hintergrund lauernde Kartelle, eine Neonazi-Bande voller Outlaws und ein ermorderter Flussführer. J. Todd Scott führt einige Erzählstränge ein, die die Gesetzeshüter im Big Bend County mehr als herausfordern. Dazu erzählt Scott parallel auch noch aus der ABT-Vereinigung heraus, denn hier kommen sowohl die Outlaws als auch ein verdeckter Ermittler zu Wort, der noch eine ganz persönliche Agenda innerhalb der Gruppierung verfolgt.

Erneut ein multiperspektivischer Erzählansatz

Viele Personen und Erzählstränge also einmal mehr, die in einem großen und gewaltgeladenen Finale enden, dass über Murfee hereinbricht wie jene Regenschauer, die sich dort wenig später entladen.

J. Todd Scott mutet sich und den Leser*innen einiges zu, schafft es aber wieder, sein multiperspektivisches Erzählkonstrukt über die fast 500 Seiten nicht zum Einsturz zu bringen. Zwischen Outlaws, FBI-Agenten und Gesetzeshütern springt er immer wieder hin und her, bringt Rückblenden zum Geschehen in Die weite Leere und der Vergangenheit seiner Figuren an und findet darüber immer wieder Zeit für ruhige Momente und etwas Durchatmen, ehe das hochexplosive Finale dann startet.

Hierbei zeigt sich wie in der ganzen Anlage dieses Buchs, dass im Motorblock dieses Krimis ein Western alter Schule vor sich hinschnurrt. Der wüstenähnliche Schauplatz der Handlung, die verkommenen Verbrecher, die Gesetzeshüter um Chris Cherry, die sich den Bösen entgegenstellen, aber auch selbst nicht davor gefeit sind, die Grenze zum Unrecht zu überschreiten. Weiße Sonne hat all die Zutaten, die eine packende Lektüre ausmachen.

Mir imponiert die Unbarmherzigkeit, die J. Todd Scott seinem Ensemble zumutet. Hier löst sich eben nichts in Wohlgefallen auf, vielmehr ist dieser Krimi geradezu schmerzhaft konsequent und macht mit seiner ganzen Erzählweise Lust auf einen dritten Streich des schreibenden DEA-Agenten.


  • J. Todd Scott – Weiße Sonne
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • Mit einem Nachwort von John Bassoff
  • ISBN 978-3-948392-71-0
  • 496 Seiten. Preis: 27,00 €
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Caroline Wahl – 22 Bahnen

Turnte Friedrich Liechtenstein vor einige Jahre noch durch einen Edeka-Supermarkt und erklärt alles vom Dorsch bis zum Klopapier für „supergeil“, so ist das Leben der Edeka-Kassiererin Tilda in Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen nicht ganz so supergeil. Denn auch günstige Preise bei Eigenmarken helfen nur bedingt, wenn man sich daheim mit der Betreuung der alkoholkranken Mutter und der jungen Schwester, einem Mathematikstudium und dann auch noch einer zarten Liebesbande befassen muss.


Eine junge Frau aus prekären Verhältnissen, viele Bahnen im Schwimmbad, ein junger Mann dort, mit dem sich eine widerspenstige Romanze entspinnt – nein, ich bin nicht auf den Copy-und-Paste-Tasten der Tastatur eingeschlafen. Es ist tatsächlich eine erstaunlich hohe Kongruenz , die Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen mit dem Roman Nordstadt von Annika Büsing auf den ersten Blick aufweist.

Doch gelingt es der 1995 in Mainz geborenen Autorin in ihrem Roman auch, eine eigene Erzählstimme zu finden, die nicht ganz so stark wie Büsings Sound heraussticht, aber dennoch mit einigen literarischen Stilmitteln versehen eine durchgängige Formsprache findet. Dazu zählt das Kassenspiel, das Tilda immer wieder mit sich spielt und das viele Abschnitten des Roman einläutet. Immer wieder betrachtet die Ich-Erzählerin die vor ihr auf dem Kassenband vorbeilaufenden Waren, um Rückschlüsse auf den oder die Käufer*in zu ziehen, ehe sie ihm ins Gesicht blickt.

Neben solchen erzählerischen Muster sind es vor allem die Dialoge, die ins Auge fallen. Sie sind nicht in den Erzähltext eingebunden, sondern stehen wie in einem Drehbuch oder Theatertext für sich und treiben einerseits den Text voran und zeigen andererseits auch das Fremdeln der Protagonistin mit anderen Menschen, denen sie teilweise abweisend begegnet.

Ein Leben mit vielen Anforderungen

Caroline Wahl - 22 Bahnen (Cover)

Warum das so ist, das zeigt Wahl, indem sie uns als Leser*innen Stück für Stück die Lebenswelt von Tilda aufschließt. Sie wohnt in einer nicht näher benannten Stadt, in der sich auch eine etwas weiter entfernte Universität befindet, an der Tilda neben dem Job an der Edeka-Kasse studiert. Das Geld reicht zumeist nur für die Gut-und-Günstig-Variante der Miracolinudeln und Feiern steht nicht wirklich häufig auf der Tagesordnung von Tilda. Doch was auch andere Student*innen mit finanzieller Mangellage als Belastung während des Studiums kennen, erhält in Tildas Fall noch eine ganz eigene Schwere, die sich durch die familiäre Komponente begründet.

Denn Tilda muss für gleich zwei Generationen da sein und sorgen. Da ist ihre Mutter, die schwer alkoholkrank ist und immer wieder in Phasen der völligen Verwahrlosung und der Indolenz abgleitet. Besonders Tildas kleine Halbschwester Ida leidet unter der Situation, ist sie doch die Hauptleidtragende, die immer wieder vor den Ausfällen ihrer Mutter in ihr Kinderzimmer flüchten muss, wo sie sich in die Welt der Bücher und der Malerei versenkt, um die Lebenswelt zu ertragen.

22 Bahnen im Schwimmbad

Ablenkung vor dieser hochgradig belastenden Situation finden Ida und Tilda im Schwimmbad, das so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer ist. Stets 22 Bahnen sind es, die Tilda ziehen will, was mal besser und mal schlechter klappt. Besonders als Viktor auftaucht, gerät der getaktete Bahnenplan gehörig ins Trudeln. Denn Viktors kleinen Bruder Ivan und Tilda verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, die Wahl ebenso einführt, wie sie auch in den Charakter Tildas immer tiefere Einblicke gibt.

Dabei beweist Caroline Wahl Talent in der Anlage ihres Romans, der Stück für Stück die Hintergründe zu ihren Figuren und deren Geschichte preisgibt. Wo andere Autoren wie Heinz Strunk den Alkoholismus ihrer Figuren für Pointen und Ekel ausschlachten, da nutzt Caroline Wahl die treffenden Beobachtungen und Beschreibungen, um einfach die Lebenswelt ihrer Heldin auszumalen, der so etwas wie Abscheu vor ihrer Mutter gar nicht übrigbleibt, weil sie als junge Frau einfach für das Funktionieren des Familienverbundes sorgen muss.

Fazit

22 Bahnen zeigt das Bild einer starken Frau, der gar nichts anderes übrig bleibt, als stark zu sein. Die Masterarbeit in Mathematik, das Funktionieren an der Kasse, die entspinnende Liebesgeschichte zu Viktor, gegen die sie sich zunächst mit allen Mitteln sperrt, der Kampf, für Mutter und kleine Schwester da zu sein und alles irgendwie am Laufen zu halten. Dieses Bild aus dieser prekären Lebenswelt gelingt Caroline Wahl ausnehmend gut, ohne in Voyeurismus oder Mitleid abzurutschen.

Und auch wenn 22 Bahnen auf einer großen Welle der Schwimmbücher gerade ja – mitschwimmt – (siehe die schon erwähnte Annika Büsing, Arno Frank oder Kristin Bilkau), so ist 22 Bahnen doch auch etwas Eigenes und in meinen Augen ein tolles Debüt, das auch Bildung als Weg aus der Unmündigkeit der eigenen Situation zeigt.


  • Caroline Wahl – 22 Bahnen
  • ISBN 978-3-8321-6803-2 (Dumont)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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